p-4W. JerusalemGoedeckemeyerLippsW. Jerusalem    
 
OTTO von der PFORDTEN
Versuch einer Theorie
von Urteil und Begriff

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    I. Einleitung
II. Vorstufe des Urteils
III. Impersonalien und Existenzialsätze
IV. Wesen des Urteils
V. Gültigkeit - Definition
VI. Frage - Negation
VII. Eindruck und Begriff
VIII. Beschreibung und Erklärung

"Schwanken, Zweifeln erregt direkt Unlust; qualitätsloses Kombinieren von Gedanken weder Unlust noch Lust; Urteilen dagegen  macht  direkt  Vergnügen.  Rein an sich; ohne Rücksicht auf das Objekt. Wissenschaft und Menschenkenntnis bestätigen das; Urteile fällen (über Nebenmenschen, öffentliche Einrichtungen, interessante Ereignisse usw.) erregt dem einzelnen immer eine Lustempfindung; nicht aber die Folgen des Urteilens, die zur Richtigkeit führen können und denen darum viele heftig widerstreben."

"Die Ordnung loser Gedanken im Urteil schafft logisch  und  psychologische Werte."


V. Gültigkeit - Definition

Will man, wie ich es tue, das Urteil von den bloßen Kombinationen von Gedanken scheiden, so muß man ihm  Gültigkeit  zuschreiben. Es frägt sich nur, welche Art von Gültigkeit. Deren sind dreierlei zu unterscheiden:  subjektive, objektive  im Kantischen Sinne und objektive im gewöhnlichen Sinne, (1) besser der Klarheit halber:  Richtigkeit. 

KANT (2) nennt das Urteil "ein Verhältnis, das objektiv gültig ist und sich vom Verhältnis eben derselben Vorstellungen, worin bloß subjektive Gültigkeit wäre, hinreichend unterscheidet. ... Die beiden Vorstellungen sind  im Objekt,  das ist ohne Unterschied des Zustandes des Subjekts, verbunden und nicht bloß in der Wahrnehmung (so oft sie auch wiederholt sein mag) beisammen". Dasselbe meint wohl SIGWART (3), wenn er sagt: "Das Urteil macht durch seine Form (4) Anspruch darauf, daß die Verknüpfung die Sache betreffe und daß sie eben darum von jedem anderen anerkannt werde" und damit begründet, daß in jedem vollendeten Urteil als solchem das Bewußtsein der objektiven Gültigkeit der Ineinssetzung verschiedener Vorstellungen liegt. Diese Art objektiver Gültigkeit und ihre Diskussion gehört in die Erkenntnistheorie.

Denn für eine Definition des Urteils muß es belanglos sein, ob es Realitäten, Vorstellungen oder Begriffe betrifft. Aus dem beliebten Beispiel: "Schnee ist weiß", das heißt aus diesen drei für sich allein hingesetzten Worten  ohne Zusammenhang  kann sich niemals ergeben, ob Realitäten oder nur Vorstellungen gemeint sind; ob etwas wissenschaftlich Begründetes ausgesprochen oder nur einer momentanen subjektiven Anschauung Ausdruck gegeben werden soll. Alles logische Zerquetschen isolierter Sätze ist meist zwecklos; den Sinn ergibt erst der Zusammenhang mit anderen Sätzen. Jedenfalls sind bei  Wahrnehmungsurteilen  immer Realitäten gemeint, so daß sich die Kantische Objektivität von selbst versteht; im Kantischen Sinn  rein  subjektive Urteile werden tatsächlich nur bei psychologischen Studien und Selbstbeobachtungen vorkommen. Im Leben ist man sich  dieses  Unterschieds, ja seiner Möglichkeit gar nicht bewußt. Der Unterschied wiederholter Wahrnehmungen von einem "allgemeinen" Urteil (aller Schnee ist weiß, Schnee ist immer weiß) gehört nicht in die grundlegende Definition des Urteils, sondern in die Erörterung seiner weiteren Entwicklung. Ein Urteil "ich fühle Schmerz" aber fiele ganz  außerhalb  der Kantischen Definition, da hier das Subjektive Objekt ist.

Ähnlich steht es, wie mir scheint, mit der Forderung der "inneren Gewißheit" beim Urteilen, wie sie SIGWART in den Sätzen erhebt: "weil wir in uns selbst die unmittelbare  Gewißheit  über die Notwendigkeit unseres Einsetzens und die Unmöglichkeit des Gegenteils haben, also jeden, bei dem wir ein anderes Resultat voraussetzen, von der Gemeinschaft des Denkens ausschließen müßten". Gegen diese Ansichten polemisiert auch FRANZ BRENTANO. (5) Die Logik kann es ruhig der Psychologie bzw. Erkenntnistheorie überlassen, zu untersuchen, ob es eine solche innere Gewißheit gibt und wie weit sie sich erstreckt.

Für diese Forderung kommt vor allem in Betracht, daß wir bei einer großen Gruppe von Urteilen diese Gewißheit zweifellos haben, gerade bei diesen aber das eventuelle Ausschließen eines anderen von der Denkgemeinschaft ganz wegfällt. Das sind alle Urteile über unsere eigenen Empfindungen, die sich jeder Kontrolle, außer durch uns selbst, entziehen. Es kann niemals festgestellt werden, ob ein zweiter den Eindruck einer Lieblingsspeise oder einer BEETHOVENschen Symphonie  genau  ebenso empfindet wie ich selbst und speziellere Urteile über solche Fragen bleiben für jeden anderen im strengsten Sinne wertlos, nämlich ehe er sie durch eigene ähnliche ergänzt. "Ich empfinde eben Zahnschmerzen" ist das zweifelloseste Urteil, das es gibt; es betrifft auch eine Realität, mich und meinen Zahn und doch kann es völlig erlogen sein - niemand kann das kontrollieren. Eine  Übereinstimmung mit Urteilen anderer  kommt hier gar nicht in Frage.

Praktisch ist der Weg, zu einer solchen zu gelangen, ein ganz anderer,  nicht  von der inneren Gewißheit getragener. Gerade in den Fällen, wo wir sie haben,  schweigen  wir meist. Die Tatsache unseres eigenen Zahnschmerzes äußern wir nur anderen, um Rücksicht darauf (ethisches Moment), oder dem Zahnarzt, um Abhilfe zu erzielen (praktisches Handeln). Auch auf dem großen Gebiet des  Selbstverständlichen,  wo die meiste Gewißheit herrscht, schweigen wir eben darum. Dahin gehören die meisten durch Deduktion gewonnenen Schlüsse und sehr viele Schulbeispiele der Logik. Aber wir schweigen auch dann meist, wo wir fürchten, daß andere unser Urteil gar nicht zu teilen oder zu verstehen vermögen.

Wir  reden  aber in Urteilen, um zu erforschen, ob und in wie weit unsere Urteile mit denen anderer übereinstimmen. Das ist der Weg, den die Wissenschaft, speziell die experimentelle, von jeher und mit Erfolg praktisch beschritten hat. Dabei ergibt sich für den einzelnen Denker oft ein hoher Grad von  Sicherheit  seines Denkens und Gewißheit seiner Urteile, der aber auf vielen vorangegangenen Urteilen ruht und nicht mit der Forderung "innerer Gewißheit" für das Wesen des Urteils vermengt werden darf. Man kann sehr häufig gerade bei den verkehrten Urteilen Ungebildeter beobachten, daß sie felsenfest überzeugt sind und außerordentlich schwer begreifen, daß irgendjemand anders denken könnte. Umgekehrt hat man sich in Physik, Chemie usw. nie auf die noch so große  Sicherheit  des Forschers oder Entdeckers verlassen, sondern ihre Urteile sorgsam der Nachprüfung und Kontrolle unterworfen. Die wunderbaren Eigenschaften des Radiums wurden erst dann als richtig angenommen, obwohl niemand den Entdecker beargwöhnte, seiner Sache  nicht  zu sicher zu sein, nachdem man sie geprüft und die Experimente wiederholt hatte. Ein Urteil im wissenschaftlichen Sinn kann geradezu als eine  Aufforderung  betrachtet werden, zuzustimmen oder zu widersprechen. Nicht anders verfährt auch tatsächlich die Wissenschaft von den einfachsten Behauptungen bis zu den kühnsten Hypothesen. Mag die Wärme der Überzeugung, (6) einer "inneren Gewißheit" entsprungen, dem Vortrag einer Lehre auch  leichter  Anklang verschaffen - dieses psychologische Moment ist nie das entscheidende für deren Annahme.

Daraus ergibt sich ungezwungen ein anderer Unterschied von subjektiv und objektiv gültig: jenes gilt nur für mich, dieses auch für andere. Besser sagt man aber dafür  richtig,  um die Verwechslung mit der Kantischen Objektivität zu vermeiden.

In die Definition des Urteils gehört nun lediglich die subjektive Gültigkeit, nicht aber die Richtigkeit und ebensowenig die Kantische objektive Gültigkeit. Das Objekt des Urteils kommt bei der Definition nicht in Frage; alle denkbaren Objekte können Gegenstand des Urteils sein. Von der Kombination von Gedanken, der Vorstufe, aber scheidet sich das Urteil genügend durch die subjektive Gültigkeit für den Urteilenden selbst, die die Kombination nicht besitzen kann, noch will. Mag es dann darüber hinaus Urteile geben, denen "innere Gewißheit" ihren Stempel aufdrückt - umso besser für den Urteilenden. Jedenfalls ist dies ein engerer Begriff, also ist der Definition der weitere der lediglich subjektiven Gültigkeit zugrunde zu legen. (7)

Es ist nur nochmals zu betonen, daß man nicht Urteile  über  fertige Begriffe ins Auge fassen und an den Anfang stellen darf. Meiner Auffassung nach war zum Beispiel das Urteil: "Rabe ist schwarz" (SIGWART II, § 96, Seite 511)  zunächst nur  subjektiv gültig. Das Wort  Rabe  zuerst eine onomatopoetische [lautmalerische - wp]  Benennung  nach dem Krächzen, noch kein Urteil, noch weniger ein Begriff. Nur dieses Stadium ist für eine Theorie und Definition des Urteils maßgebend. Alles weitere ist eine Verkettung und Häufung der verschiedensten Urteile, die endlich zu einem  Begriff  "Rabe" führten, der sie zusammenfaßt und in wissenschaftlicher Weise bestimmbar ist und zu dem die schwarze Farbe  nicht  die Hauptsache bildet. Dann, in diesem Stadium des Denkens, ist das Urteil "alle Raben sind schwarz" selbstverständlich und unwichtig geworden. Dann ist eben das zuerst subjektive gültige Urteil zweifellos  richtig  geworden.

Zu dieser  Richtigkeit  (8) der Urteile und Begriffe ist aber der einzelne Mensch niemals  allein  gekommen; sie ist ein Produkt einer Mehrzahl. Die Sammlung allgemein gültiger (richtiger) Urteile ist etwas  Soziales,  ein einzelner kann keine Wissenschaft gründen. Richtig ist, was sich für alle als gültig erweist; dem subjektiv gültigen Urteil: "alle Raben sind schwarz" muß der andere folgen; "allen urteilsfähigen Menschen erscheinen alle Raben schwarz" - sonst wird es niemals objektiv gültig = richtig. Die Erfahrung des einzelnen und der Gesamtheit muß zusammenwirken; der einzelne produziert das Urteil und jedes Einzelurteil ist eine Hypothese, die der Bestätigung bedarf. Diese Richtigkeit gehört aber nicht in die Definition.

Absolut unkontrollierbar und schlechthin assertorisch [behauptend - wp] sind nur die Urteile über persönliche Empfindungen und Tatsachen des eigenen Bewußtseins. (9) Hier ist der Punkt, wo Psychologie und Erkenntnistheorie erörtern müssen, wie der Mensch dazu kommt sie mit dem Gefühl der "inneren Gewißheit" zu fällen. Die Überzahl der anderen Urteile sind dazu nicht geeignet, weil sie sämtlich im SIGWARTschen Sinn  vermittelte  werden, sobald sie ausgesprochen sind und andere an ihrer weiteren Bearbeitung bis zur Begriffsbildung mitwirken.

Endlich ist noch festzustellen, daß die  psychologischen  Begleiterscheinungen beim Urteilen, seien sie auch noch so bedeutend, in die psychologische, nicht aber in die logische Definition des Urteils gehören. Von meinem Standpunkt möchte ich zum psychologischen Unterschied von der bloßen Gedankenkombination noch speziell die Lust- und Unlustempfindung hervorheben. Schwanken, Zweifeln erregt direkt Unlust; qualitätsloses Kombinieren von Gedanken weder Unlust noch Lust; Urteilen dagegen  macht  direkt  Vergnügen.  Rein an sich; ohne Rücksicht auf das Objekt. Wissenschaft und Menschenkenntnis bestätigen das; Urteile fällen (über Nebenmenschen, öffentliche Einrichtungen, interessante Ereignisse usw.) erregt dem einzelnen immer eine Lustempfindung; nicht aber die Folgen des Urteilens, die zur Richtigkeit führen können und denen darum viele heftig widerstreben (Widerspruch, Widerlegung, Kritik usf.)

Diese psychologische Freude am Festsetzen (10) entspricht durchaus dem logischen Unterschied von Kombination und Urteil und ergänzt ihn; die Ordnung loser Gedanken im Urteil schafft logisch  und  psychologische Werte.

Nach meiner Auffassung ist demnach zu einem logischen Aufbau des Urteils folgendes festzustellen:
    1.  Anschauungen  sind für die Logik etwas erstes und nur psychologisch zu definieren.

    2. Die erste Handlung auf dem Gebiet des Denkens ist die einfache reine Benennung, die ein Zeichen bedeutet, das eine Anschauung fixiert, noch nicht aber eine klassifikatorische  Ordnung.  (Spätere Benennungs urteile  bei der Begriffsbildung)

    3. Ein  Gedanke  (Kombination) ist die versuchsweise Eingliederung einer einheitlichen Anschauung in eine oder zwei Reihen von Anschauungen (Ding- und Bewegungsreihe), ohne Entscheidung über die Zusammengehörigkeit. Aus der Eingliederung in nur eine Reihe entstehen die unvollkommenen Urteile (einfachste Existenzialurteile und Impersonalien), aus der in zwei Reihen die vollkommenen. Der sprachliche Ausdruck für die Kombination, der häufig unterbleibt, (11) ist ein "hingeworfener Gedanke", eine "unsichere Vermutung" (begründete Vermutung setzt ein Urteil voraus), eine "Meinung", "Witz" und dergleichen. Psychologisches Stadium: unbewußter Zustand; oder Bewußtsein: man  will noch nicht  urteilen.

    4. Urteil  ist die Feststellung eines Gedankens als subjektiv gültig. Es ist unvollkommen (eingliedrig) oder vollkommen (zweigliedrig). Psychologisches Stadium: bewußter Wille zur Feststellung, begleitet von einer Lustempfindung.

VI. Frage - Negation

Auf der Kombination von Gedanken als  Vorstufe  des Urteils bauen sich zwei andere Formen des Ausdrucks auf: Frage und negatives Urteil. Daß beiden Denkformen irgendetwas vorhergeht, ist schon vielfach empfunden und ausgesprochen worden; von LOTZE, BRENTANO, in WINDELBANDs Theorie der "Beurteilungen". Nach SIGWART (12), der dieses Thema eingehend erörtert, ist "Objekt einer Verneinung ein versuchtes Urteil; das verneinende Urteil ist  nicht  dem positiven gleichberechtigt. Die Negation weist eine versuchte Behauptung ab, die Frage aber ist der reinste Ausdruck eines Stadiums zwischen Synthese und Urteil." (Seite 237)

Ein "versuchtes" Urteil und dieses Stadium sind eben noch keine Urteile, sondern Gedankenkombinationen; darum wird aber doch nicht, wie bei LOTZE, positives und negatives Urteil  gleichberechtigt.  Denn die Eigentümlichkeit der Kombination ist, daß sie  immer positiv  ist; eine negative Kombination wäre schon ein Urteil, eine Festsetzung. Das ursprüngliche, oft unbewußte Zusammensetzen von Anschauungen kann seiner Natur nach noch nicht negativ sein; darum steht das positive Urteil, das sich unmittelbar daraus ergibt, an erster Stelle. Das negative ist ein sekundäres Produkt; es kann unmittelbar durch Abweisung einer "versuchten Kombination (nicht Urteil) entstehen. Meist aber ist es erst die Folge mehrerer positiver Urteile, die durch die Erfahrung korrigiert worden sind.

Denn nur in seltenen, meist in künstlich konstruierten Fällen weist die Negation den ganzen Inhalt der Kombination, die Ding-  und  Bewegungsreihe ab. Ich gebrauche im folgenden kurz den Ausdruck Subjekt und Prädikat, obwohl es das natürlich in einer Kombination  noch nicht  gibt; nur die dazu führende vorbereitende Zweiteilung. Die Negation richtet sich zumeist nur entweder gegen das Subjekt oder gegen das Prädikat und fußt daher schon auf einem, allerdings unvollkommenen, positiven Urteil: den einfachsten Existential- oder Impersonalurteilen.

Ganz ebenso die  Frage.  (13) Hier muß man zunächst die  echten  oder Zweifelsfragen von den unechten, den Tatsachenfragen, unterscheiden. (14) Dieser liegen mannigfache Urteile zugrunde und die Frageform ist der Ausdruck einer schon bestehenden subjektiven Gültigkeit.

Die echte Zweifelsfrage ist immer positiv wie die Kombination. Sie kann sich  niemals  gegen beide Teile der Kombination richten, eines muß feststehen, die Ding- oder Bewegungsreihe. Darum ist die Frage entstanden aus der Zusammenwirkung eines  unvollkommenen  Urteils mit einer Kombination. Werden beiden Teile in dieser bejaht, so entsteht das positive vollkommene Urteil; wird nur ein Teil bejaht, der andere offen gelassen, so entsteht die Frage. Die wirkliche Frage ist an einen Dritten gerichtet; subjektiv muß daher mindestens schon irgendetwas feststehen. Will man  auch Fragen an sich selbst  in der Logik annehmen, so ist Gedankenkombination und Frage (an sich selbst)  identisch;  die Antwort gibt das positive oder negative Urteil. Man könnte also auch sagen: dem Urteil geht die Frage voraus; ich nenne eben Kombination die Fragen, die man sich dann selbst im Urteil beantwortet. Nur hier könnte auch die Existenz noch fraglich sein; denn diese Frage entscheidet man immer selbst. Es ist also denkbar, daß ein Kind z. B. sich selbst eine Frage stellt, die die Existenz eines Subjektes bezweifelt und der dann natürlich gar kein Urteil zugrunde liegt, auch kein unvollkommenes.

Kein Urteil liegt auch reinen  Benennungsfragen  zugrunde, wo mit der Benennung noch kein Begriff verbunden ist, sondern nur ein  Zeichen Die erfolgte Benennung legt zugleich die Existenz fest; z. B. wenn zwei Menschen viele Gegenstände rasch  sortieren  und ähnliches. In den meisten Fällen steht auch hier die Existenz des Dings schon fest. Bei einer Frage: "Gibt es eine Seele?" hat, wenn sie echt ist und nicht rhetorisch gemeint, der Fragende subjektiv schon die Existenz bejaht und will lediglich die Gedanken des anderen erfahren.

Die einfachste Form der Frage kommt wie die einfachen Existenzialurteile unendlich selten vor; denn die unvollkommenen Urteile erfolgen mit großer Sicherheit und werden selten mehr in Frage gestellt.

Weiterhin aber ergeben sich aus der Vereinigung solcher  mit  Kombinationen unendliche Fragemöglichkeiten. Entweder es wird zum Subjekt eine Bewegung oder zum Prädikat ein Ding gesucht. Ist  A  verreist (z. B. ein Freund), bzw. glänzt dort  B?  (oder etwas anderes, z. B. ein Kirchen- oder ein Schloßturm in der Ferne). Einmal stand die Person des  A  fest, das andere Mal die Lichterscheinung.

Aus der Frage entwickelt sich dann das sogenannte  problematische  (hypothetische) Urteil. Es ist eine Vereinigung eines unvollkommenen Urteils mit einer Kombination; der Ausdruck einer Vermutung, des Ratens, Schätzens. Fest steht das unvollkommene Existenzialurteil; durch die Form "A ist vielleicht B" wird eine Reihe möglicher Prädikate ausgeschlossen und die Zahl der erwägenswerten eingeschränkt. Die positive Arbeit dieses Urteils ist die Fixierung einer Grenze, die im unausgesprochenen Nachsatz liegen würde: jedenfalls nicht  C - X.  Wenn wir z. B. sagen: der Ort  A  ist vielleicht zwei Stunden von  B  entfernt, so ist der Sinn: jedenfalls nicht drei oder mehr Stunden. Das mögliche Prädikat ist eingeschränkt, aber nicht genau bestimmt.

Diese verschiedenen Ausdrucksformen unterscheiden sich mehr durch die psychologischen Begleiterscheinungen als durch die logische Form. Und zwar nicht durch Grade der Gewißheit (WINDELBAND), sondern durch Grade der  Wichtigkeit,  die wir der allen zugrunde liegenden Kombination von  A  und  B  beilegen. Völlige Ungültigkeit ist in der Kombination selbst; subjektive Gültigkeit im Urteil. Lassen wir einen Teil ungültig, so fällen wir problematische Urteile, bei denen es noch eine Anzahl feinerer Nuancen gibt: Vermuten, raten, schätzen usf., die nicht ganz dasselbe bedeuten. Die Entscheidung wird aber nicht direkt gefordert. Ist uns diese sehr wichtig und unser subjektives Urteil genügt uns nicht, so entsteht die Frage. Sie ist eine viel  intensivere  Ausdrucksform, als das problematische Urteil.

Dieses will SIGWART (15) aus der Reihe der Urteile streichen, weil er die unvollkommenen Existenzialurteile nicht zugibt und eine Festsetzung von Subjekt und Prädikat verlangt. Gibt man jene zu, so enthalten  sie  den Urteilsteil des Problematischen; die Kombination, die unentschieden bleibt, ist das Problematische dabei: Eine weitere Diskussion der möglichen Fälle läßt sich auf dieser Basis leicht durchführen. WUNDT führt dazu noch den Begriff der "Wahrscheinlichkeit" ein, der auf die experimentellen Wissenschaften hinweist. Auch dieser Begriff schränkt die Möglichkeiten ein und leistet so Positives.

In noch höherem Maß geschieht das bei der  Negation.  Sie ist nie Selbstzweck, sondern ein Mittel; der Zweck ist die Gewinnung positiver Urteile. Alles Denken geht vom Positiven aus (Kombination) und kehrt zum Positiven zurück (Urteil, Begriff); das Negierende ist eine Zwischenstufe, eine geistige Leistung zweiten Ranges. Dies gilt auch in den höchsten Stadien des Denkens; nicht die Abweisung des Falschen, sondern die Gewinnung des Richtigen ist das Ziel der Wissenschaft. Schon die ersten Stadien des Denkens aber weisen darauf hin.

Eine befriedigende Theorie der Negation ist noch nicht geschrieben, soviel Scharfsinn speziell SIGWART auch darauf verwandt hat. Von seinen Aufstellungen bleibt bestehen, daß etwas Positives jeder Negation zugrunde liegt; nur kein Urteil, sondern eine Gedankenkombination. Aber die weiteren Möglichkeiten der Negation bereiten unbesiegbare Schwierigkeiten. WUNDT unterscheidet das negativ-prädizierende, verneinende Trennungs- und negativ-alternierende Urteil, ohne daß es möglich würde, aus dem Satz selbst zu erkennen, in welche Kategorie das betreffende Urteil gehört.

Denn das ist die eigentümliche Unbestimmtheit der Negation, daß sie den  Sinn des Urteils  nie direkt erkennen läßt. Es kann das Subjekt verneint werden oder das Prädikat oder das ganze positive Urteil bzw. die Kombination. Im Urteil:  A  ist nicht der Täter (einer Mordtat), wird das Subjekt weggeschafft, das Prädikat bleibt; in  A ist nicht rot  umgekehrt das Prädikat. Aus der Struktur des Sätze läßt sich nicht schließen, daß der Zweck der Negation einmal die Gewinnung eines anderen Subjekts, das andere Mal eines anderen Prädikats ist. Sonst müßte man immer formulieren:  non A ist - B  (nicht A ist der Täter); dann aber besser:  B ist - non A  (der Täter ist - nicht A) zum Unterschied von:  A ist - non B  (nicht rot).

Die Kopula wird in keinem Fall verneint. Will man ihr mit SIGWART die Bedeutung (auch in schwachem Abglanz)  nicht  zugestehen, die Existenz des Subjekts zu behaupten, so behauptet sie nichts; und dieses  nichts  zu negieren, ist nicht der Mühe wert. Bedeutet sie den Sinn, das Ganze eines positiven Urteils überhaupt, ist sie die eigentliche Urteilsfunktion (nach verschiedenen Logikern, denen ich nicht zuzustimmen vermag, weil es zu viele Urteile ohne Kopula gibt, um sie als Ausnahmen zu betrachten), so kann sie nicht negiert werden, weil nicht jede Negation das ganze Urteil aufhebt. Ist die Kopula aber der (abgeschwächte) Ausdruck des zugrunde liegenden unvollkommenen Existenzialurteils, so kann ihre Verneinung nur in den reinen, einfachsten Existenzialurteilen die Leugnung der Existenz bedeuten. (Es gibt keine Seele, es lebt kein Gott.) Entsprechend in den negativen Impersonalien die Leugnung der Bewegung (es blitzt nicht, donnert nicht). Nicht die Existenz des Donners wird da geleugnet, nur die der momentanen Bewegung; "es gibt keinen Donner" würde ein Subjekt und seine Existenz negieren wollen.

Aber von den unvollkommenen Urteilen abgesehen, in denen der Sinn der Negation klar ist, bleibt die Unsicherheit bestehen. Eine Entscheidung gibt immer erst ein  positiver,  mit  sondern  beginnender Nachsatz, ausgesprochen oder nicht;  A  ist nicht der Täter, sondern  B; A  ist nicht rot, sondern blau. Und so in allen verschiedenen Fällen der Negation. Den klaren negativen unvollkommenen Urteilen (es donnert nicht) folgt, auch in Gedanken, kein Satz mit  sondern;  nur bei den vollkommenen ist er stets mitgedacht und nötig.

Hier zeigt sich mit voller Schärfe die  Minderwertigkeit  des negativen Urteils gegenüber dem positiven. Es ruht auf der Grundlage einer stets positiven Kombination und erhält seinen Sinn und Wert erst durch ein sich daraus ergebendes positives Urteil. Die Negation ist unfähig, eigenes zu leisten; negatives und positives Urteil sind  nicht  gleichwertige Denkformen.

LITERATUR - Otto von der Pfordten, Versuch einer Theorie von Urteil und Begriff, Heidelberg 1906
    Anmerkungen
    1) Von den bei HEINRICH RICKERT, Der Gegenstand der Erkenntnis, Seite 11f, festgestellten drei Gegensätzen des Subjekts zum Objekt der zweite.
    2) KANT, Kritik der reinen Vernunft, Seite 666
    3) SIGWART, Logik I, § 14, 3. Auflage, Seite 102f
    4) Das könnte doch nur die "Form" der Kopula sein, die die reale Existenz bejaht, was ja aber SIGWART selbst gerade auf das lebhafteste ablehnt. Ist aber eine erkenntnistheoretische "Form" im Sinne RICKERTs, a. a. O., Seite 169f, gemeint, so müßte das erläutert werden.
    5) FRANZ von BRENTANO, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, Seite 81 und 83f
    6) Das Gebiet, auf dem diese den Ausschlag gibt, ist das ethische, nicht das intellektuelle.
    7) Vgl. Speziell über "Evidenz": HUSSERL, Logische Untersuchungen I, Seite 13, 180f und 190: "In der unvergleichlichen Mehrheit der Fälle entbehren wir der Evidenz". Also sind die evidenten Urteile ein spezieller Fall, besonders in der Mathematik vorkommend.
    8) Genauer: Richtigkeit der Wahrnehmungsurteile, das, wonach die aktive Wissenschaft strebt. Etwas anderes ist die "Wahrheit" der evidenten Urteile in der reinen Logik, z. B. bei HUSSERL. Sie sind natürlich nichts "Soziales", aber eben ein spezieller Fall.
    9) Diese scheidet VOLKELT, Erfahrung und Denken, Seite 155, als eine besondere Klasse von Urteilen aus, die nach ihm lediglich "formelle" sind. Jedenfalls findet er auch einen speziellen Unterschied und konstatiert zwei verschiedene "Gewißheitsprinzipien".
    10) Über die erkenntnistheoretische Bedeutung dieses "Festsetzens" siehe HEINRICH RICKERT, Gegenstand der Erkenntnis, Seite 121 und 122 (Natur des Urteils).
    11) Er ließe sich etwa so fixieren: "Ein neues Ding! (Ausruf) Droschke!? Equipage!? Lokomotive!?" usw. Oder: "Es saust vorbei - mehrere Reiter!? Radfahrer!? Kanone!? das neue Ding!?" (Automobil-Beispiel).
    12) SIGWART, Logik I, § 20, Seite 155 und 165. Auch HEINRICH RICKERT, Der Gegenstand der Erkenntnis, Seite 91, hebt diesen interessanten Gedanken SIGWARTs hervor. Er bleibt bestehen, nur tritt anstelle des positiven Urteils die Kombination.
    13) Zur Frage vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus siehe HEINRICH RICKERT, Der Gegenstand der Erkenntnis, Seite 95, "eventuell ist psychologisch und zeitlich die Aussage (bei mir die Kombination) früher als die Frage" usw.
    14) Siehe WILHELM WUNDT, Völkerpsychologie I, 2, Seite 254
    15) SIGWART, Logik I, § 31, Seite 241