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ROBERT SAXINGER
Über die Natur der Phantasiegefühle
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"Wir wollen uns hier an die Tatsachen halten, daß auch die Gefühle dem Einfluß der Suggestion unterliegen. Gefühle kann man verändern, wenn man ihre Disposition ändert. Diese letzteren bilden also den eigentlichen Angriffspunkt der suggestiven Einwirkungen. Mit Recht führt daher von Ehrenfels die Suggestion unter jenen Tatsachen auf, durch welche Gefühlsdispositionen Veränderungen erfahren. Ist es nun möglich durch Suggestion Gefühle, die man nicht hat, zu erzeugen und solche die man hat, zum erlöschen zu bringen, so muß es auch gelingen, die Gefühlstöne der Allgemeinvorstellungen und Wortvorstellungen, falls diese wirkliche Gefühle sind, auf suggestivem Weg zu beseitigen, bzw. hervorzubringen."


§ 4. Die Gefühlstöne der Allgemeinvorstellungen
und Wortvorstellungen

Da WITASEK zugunsten seines Standpunktes in Bezug auf Phantasiegefühle die Behauptung aufstellt, daß alle Phantasiegefühle ohne Ausnahme Annahmen und niemals Urteile zur psychologischen Voraussetzung haben, so müssen wir auch diesen Punkt hier zur Sprache bringen. (1) In der MEINONGschen Darstellung erscheinen die Phantasiegefühle nur im Zusammenhang mit den Annahmen behandelt. Dieser Umstand berechtigt jedoch nicht, die Ausführungen des zuletzt genannten Autors dahin zu interpretieren, daß die Phantasiegefühle ausschließlich den Annahmen vorbehalten sind. Die Frage, ob alle Phantasiegefühle auf Annahmen zurückgehen, muß vielmehr als eine noch offene bezeichnet werden. Wir wollen uns nun bei der Fragestellung, ob die Phantasiegefühle nur in Gesellschaft von Annahmen vorkommen oder auch andere intellektuelle Phänome begleiten, nicht bloß auf das Urteil beschränken, sondern auch die Vorstellngen mit einbeziehen. Und zwar deshalb, weil gerade manchmal Vorstellungen zusammen mit eigenartigen emotionalen Gebilden angetroffen werden, deren Herkunft noch nicht genügend aufgeklärt ist und die vielleicht Phantasiegefühle oder wenigstens diesen verwandte Tatsachen sind. Ich meine das gefühlsmäßige Kolorit oder besser gesagt, das lust- bzw. unlustartige Gepräge, das gewissen Allgemeinvorstellungen und Wortvorstellungen anhaftet. Das Verdienst, diese Tatsachen zuerst gründlich untersucht zu haben, gebührt ELSENHANS (2).

Bekanntlich vertritt ELSENHANS die Ansicht, daß die mit manchen Allgemeinvorstellungen und Wortvorstellungen auftretenden emotionalen Erscheinungen das Ergebnis einer Gefühlsverallgemeinerung sind. Die Unhaltbarkeit dieser Auffassung habe ich an anderer Stelle dargetan und dort darauf hingewiesen, daß prinzipiell nichts im Wege steht, in Allgemein- und Wortvorstellungen die intellektuelle Grundlage von Gefühlen zu sehen. (3) Damit war ein Standpunkt gewonnen, von dem aus sich die fraglichen Phänomene ohne Bezugnahme auf eine Verallgemeinerung der Gefühle begreiflich machen ließen. Bis vor kurzem war ich auch der Meinung, daß diese Position zur Erklärung genügt. Nun hat aber die Feststellung der Tatsache der Phantasiegefühle durch MEINONG in Bezug auf diese Sache eine Wendung in meiner Anschauung herbeigeführt.

Sind denn die Gefühlstöne, die nach ELSENHANS z. B. den Allgemeinvorstellungen "Waldesrauschen", "Eisenbahnunglück" anhaften, überhaupt noch wirkliche Gefühle? (4) Läßt sich von diesen emotionalen Begleittatsachen nichts anderes Wesentliches sagen, als daß sie Gefühle sind, die zur psychologischen Voraussetzung allgemeine Vorstellungen haben? Wenn man die mit gewissen Allgemeinvorstellungen und Wortvorstellungen verbundenen Gefühlsphänomene einer eingehenden Prüfung unterwirft, so kann man sich der Überzeugung nicht verschließen, daß sie mit dem, was wir sonst über die Gefühle wissen, nicht recht in Einklang zu bringen sind und daß die oben berührte Erklärungsweise in Anbetracht dieser Erscheinungen den Tatsachen nicht voll und ganz gerecht wird. Unabweislich drängt sich die Vermutung auf, daß wir es hier am Ende überhaupt nicht mit wirklichen Gefühlen zu tun haben. Ob wir Grund haben, dieser Vermutung Raum zu geben, werden die folgenden Darlegungen zeigen.

Unter anderen Allgemeinvorstellungen und Wortvorstellungen besitzt für mich der Ortsname Ebensee in besonders auffallender Weise eine eigenartige gefühlsmäßige Färbung, die ich vorläufig nach ELSENHANS als Gefühlston beschreiben will. Ich bin nicht im geringsten im Zweifel, daß dieser Gefühlston den Charakter der Unlust an sich trägt. Damit soll aber keineswegs schon gesagt sein, daß ich gesonnen bin, den Gefühlston für ein wirkliches Unlustgefühl zu halten; sondern damit soll lediglich die Stelle innerhalb des Gegensatzes von Lust und Unlust bezeichnet sein, welche derselbe einnimmt. Dieser Gefühlston stammt daher, daß ich im September 1899 Augenzeuge der Verheerungen war, die das Hochwasser in Ebensee verursacht hatte.

Die nächstliegende Erklärung des dem Wort "Ebensee" anhaftenden Unlusttones ist die, daß man denselben mit reproduktiven Elementen in Zusammenhang bringt. Zuerst waren es die Erinnerungen an jene Ereignisse, die durch das Wort "Ebensee" ins Bewußtsein gehoben, das Gefühl vermittelten. Einzelne Züge aus den Erinnerungen sind in das anschauliche Substrat der an das Wort Ebensee geknüpften Vorstellungen übergegangen und nunmehr bedarf es zur Hervorrufung des Gefühls nicht mehr der vollen Erinnerung; das anschauliche Substrat besorgt jetzt dieselbe und der fragliche Gefühlston beruth also auf der Reproduktion des anschaulichen Substrates der Wortvorstellung "Ebensee". Wer auf diesem Standpunkt steht, wird jedenfalls zugeben müssen, daß, falls das anschauliche Substrat gelegentlich durch die volle und deutliche Erinnerung ersetzt wird, die Gefühlsreaktion durch diese Erinnerung ausgelöst wird. Wäre nun die angedeutete Erklärungsweise richtig, so müßte dann, wenn durch den Namen Ebensee die volle Erinnerung geweckt wird, nur der Unlustton und sonst nichts anzutrefffen sein. Das ist aber nicht der Fall. Die Beobachtung zeigt vielmehr nicht nur, daß die betreffende Erinnerung diesmal noch immer ein schwaches Unlustgefühl mit sich führt, sondern auch, daß sich von diesem Unlustgefühl der mit dem Wort Ebensee verbundene Gefühlston deutlich abhebt. Da man zwei Unlustgefühle aus einer Sache heraus nicht haben kann, so muß der erwähnte Unlustton anderswo seinen Ursprung haben. Nicht anders steht es auch in anderen Fällen, in welchen mit allgemeinen Vorstellungen und Wortvorstellungen Gefühlstöne verknüpft sind. Die Ansicht, daß die fraglichen Gefühlstöne Gefühle sind, die durch das anschauliche Substrat der Allgemeinvorstellungen und Wortvorstellungen hervorgerufen werden, erweist sich demnach als unzulänglich.

Wir müssen es also auf andere Weise versuchen, Aufklärung über das Wesen der Gefühlstöne gewisser Allgemeinvorstellungen und Wortvorstellungen zu erhalten. Bei emotionalen Erscheinungen, deren Natur noch nicht feststeht, ist es immer zweckmäßig zu untersuchen, ob sie einerseits dem Gesetz der Gefühlsabstumpfung unterliegen und andererseits durch andere Gemütsbewegungen beeinflußt werden. Der Erlös einer solchen Untersuchung ist der, daß man darüber Klarheit erlangt, ob man in den fraglichen emotionalen Phänomenen wirkliche Gefühle vor sich hat oder nicht. Prüfen wir also das Verhalten der Gefühlstöne der Allgemeinvorstellungen und Wortvorstellungen nach den angedeuteten Richtungen hin.

Zu diesem Zweck müssen wir nochmals auf das Ebenseer Beispiel zurückkommen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Erinnerung an die Hochwasserkatastrophe in Ebensee ihren Gefühlswert bereits erheblich eingebüßt hat. An den betreffenden Gefühlen sind im Laufe der Jahre deutlich bemerkbare Veränderungen vor sich gegangen: Dieselben haben sich abgestumpft. Dagegen ist zu konstatieren, daß der Unlustton, der dem Wort Ebensee anhaftet, nach wie vor besteht und sich an ihm keine merklichen Veränderungen zugetragen haben. Da am fraglichen Gefühlston die Folgen der Abstumpfung nicht bemerkbar sind, so müßte sich eine Unveränderlichkeit, falls er seinem Wesen nach ein wirkliches Gefühl wäre, aus temporären Dispositionsverstärkungen, die den Fortgang der Abstumpfung aufhalten, erklären lassen. Und zwar kämen hier als dispositionsverstärkende Momente wiederholte Besuche des Ortes Ebensee und damit im Zusammenhang stehende Gedächtnisauffrischungen in Betracht. Da ich mich aber auf solche Vorkommnisse nicht berufen kann, so muß die Unveränderlichkeit des Gefühlstons anderswo ihren Grund haben. Dieser kann nur in der dem Gefühlston zugrunde liegenen Disposition gelegen sein, welche offenbar von solcher Beschaffenheit ist, daß die Wirkungen der Abstumpfung nicht in der Weise zutage treten, wie bei den wirklichen Gefühlen. Wollte man nun sagen, der Gefühlston sei ein psychisches Phänomen von viel zu kurzer Dauer, um sich abstumpfen zu können, so müßte man diesem Einwand das nämliche entgegenhalten, was gegen denselben im vorhergehenden Paragraphen in Ansehung der Phantasiegefühle vorgebracht wurde. In diesem Falle ist es nur unzweifelhaft leichter, die Probe zu machen, daß der Gefühlston auch trotz vielfacher Wiederholungen, die in Bezug auf die Abstumpfung die Dauer ersetzen, sich nicht verändert. (5) Das, was am Unlustton des Wortes Ebensee dargetan wurde, ließe sich unschwer an vielen anderen Beispielen zeigen. Es genügt hier aber, die Tatsachen an einem konkreten Fall aufgehellt zu haben.

Nun fragt es sich noch, ob aktuelle Gefühle auf die Gefühlstöne der Allgemeinvorstellungen und Wortvorstellungen einen Einfluß auszuüben vermögen. Die Erfahrung zeigt in dieser Hinsicht, daß die fraglichen Gefühlstöne weder von gegenwärtigen noch von vorhergehenden Gefühlsreaktionen in irgendeiner Weise beeinträchtigt werden. Die Allgemeinvorstellungen "Ferien", "Urlaub" behalten für Lehrer und Schüler ihren freundlichen Klang auch dann bei, wenn sie mitten in Unlustzustände hineingeraten oder diesen nachfolgen. Ebenso verbleibt den Allgemeinvorstellungen "Tod", "Leichenbegängnis" ihr düsteres Gepräge auch während einer Gemütsbewegung lustvollen Charakters.

Da also aus den einschlägigen Erfahrungen hervorgeht, daß die Gefühlstöne der allgemeinen Vorstellungen und Wortvorstellungen Eigenschaften besitzen, die wir sonst bei den Gefühlen nicht anzutreffen gewohnt sind, so dürfen wir vermuten, daß diese Gefühlstöne überhaupt nicht Gefühle im strengen Sinn des Wortes sind.

Auf einen Umstand möchte ich hier noch hinweisen, der zugunsten der These, daß die in Rede stehenden Gefühlstöne nicht wirkliche Gefühle sind, spricht. Man wird demselben freilich nicht allzuviel Gewicht beilegen können; immerhin verdient derselbe aber hier angemerkt zu werden. Bekanntlich kann man auf suggestivem Weg nicht bloß den Ablauf des intellektuellen Geschehens, sondern auch die emotionalen Vorgänge beeinflussen. Und zwar können die suggestiven Eingriffe sowohl in Schlafzuständen, als auch im Wachzustand geschehen.

Durch welche Art der Suggestion sich bessere Resultate erzielen lassen und auf welche Weise inbesondere die Autosuggestion, richtig angewendet, zu dauernden Erfolgen führt, mag hier dahingestellt bleiben. (6) Wir wollen uns hier nur an die Tatsachen halten, daß auch die Gefühle dem Einfluß der Suggestion unterliegen. Gefühle aber kann man verändern, wenn man ihre Disposition ändert. Diese letzteren bilden also den eigentlichen Angriffspunkt der suggestiven Einwirkungen. Mit Recht führt daher von EHRENFELS (7) die Suggestion unter jenen Tatsachen auf, durch welche Gefühlsdispositionen Veränderungen erfahren. Ist es nun möglich durch Suggestion Gefühle, die man nicht hat, zu erzeugen und solche die man hat, zum erlöschen zu bringen, so muß es auch gelingen, die Gefühlstöne der Allgemeinvorstellungen und Wortvorstellungen, falls diese wirkliche Gefühle sind, auf suggestivem Weg zu beseitigen, bzw. hervorzubringen. Einige in dieser Richtung angestellte Versuch haben ergeben, daß den Allgemeinvorstellungen und Wortvorstellungen ein Gefühlston durch Suggestion so wenig okroyiert [aufgezwungen - wp] werden kann, als solche Vorstellungen, wenn sie mit einem Gefühlston behaftet sind, von demselben durch suggestive Einwirkungen zu befreien sind. (8) Sollte dieses Ergebnis durch weitere Versuche bestätigt werden, so würde dies zu dem Schluß berechtigen, daß die fraglichen Gefühlstöne zu jenen psychischen Phänomenen gehören, die nicht der Einwirkung durch Suggestion unterliegen. Es wäre dann auf experimentellem Weg der Nachweis erbracht, daß zwischen den fraglischen Gefühlstönen und den wirklichen Gefühlen ein fundamentaler Unterschied besteht.

Sofern nun die in Rede stehenden Gefühlstöne der Allgemeinvorstellungen und Wortvorstellungen nicht wirkliche Gefühle sind, entsteht die Frage, in welche Kategorie psychischer Phänomene diese emotionalen Tatsachen eingereiht werden müssen. Es könnte vielleicht die Ansicht platzgreifen, daß die besagten Gefühlstöne vorgestellte Lust- und Unlustgefühle seien. Die Ablehnung dieser Auffassung vermag sich auf eine ähnliche Beobachtung zu stützen wie die oben mitgeteilte, daß die Gefühlstöne gewisser Allgemeinvorstellungen und Wortvorstellungen gleichzeitig mit den an konkrete Erinnerungen gebundenen Gefühlen vorhanden sind. Es zeigt sich nämlich, daß gelegentlich des Auftretens einer mit einem Gefühlston behafteten Allgemeinvorstellung oder Wortvorstellung sich auch das deutliche Bewußtsein einstellen kann, diese oder jene Gefühle anläßlich bestimmter Ereignisse, an welche wir durch die betreffende Vorstellung erinnert werden, erlebt zu haben. Wäre der Gefühlston seinem Wesen nach ein vorgestelltes Gefühl, so ginge er in jenen Fällen, in welchen sich das Bewußtsein an erlebte Gefühle, im Tatbestand des bezüglichen Erinnerungsurteiles völlig auf. Der Gefühlston könnte nicht gleichzeitig neben dem Erinnerungsbewußtsein in bezug auf Gefühlserlebnisse vorhanden sein.

Um die oben aufgeworfene Frage, welche psychischen Phänomene wir in den Gefühlstönen vor uns haben, einer Entscheidung zuführen zu können, werden wir nun prüfen, wie sich die fraglichen Gefühlstöne in der inneren Wahrnehmung darstellen, mit einem Wort, wie sie denn eigentlich aussehen. ELSENHANS behauptet von ihnen, daß sie durchwegs von sehr geringer Intensität und unbestimmter Qualität seien. (9) Was den ersten Punkt anbelangt, so kann man ELSENHANS beistimmen. Psychische Phänomene von bedeutender Intensität sind die fraglichen Gefühlstöne jedenfalls nicht. Dagegen muß hinsichtlich der Qualität gesagt werden, daß man doch stets durch direkte Beobachtung ohne Schwierigkeit feststellen kann, ob ein Gefühlston auf der Lust- oder Unlustseite steht. Ist aber der Charakter der Gefühlstöne leicht bestimmbar, so kann man ihnen doch wohl nicht unbestimmte Qualität zuschreiben. Die innere Erfahrung zeigt, daß die Gefühlstöne gefühlsartige Erscheinungen sind, die den Gefühlen im eigentlichen Sinne des Wortes ähnlich sind und mit diesen darin übereinstimmen, daß sie gleichfalls innerhalb des Gegensatzes von Lust und Unlust stehen. Emotionale Tatsachen aber, deren wesentlichstes Merkmal eben die Gefühlsähnlichkeit bildet, haben wir bereits in den Phantasiegefühlen kennen gelernt. Mit der Konstatierung der Tatsache, daß die bisher als Gefühlstöne bezeichneten emotionalen Erscheinungen sich in der inneren Wahrnehmung als gefühlsähnliche Vorkommnisse darstellen, ist deren Einreihung in die Phantasiegefühle vollzogen.

Es gibt also Phantasiegefühle, die an Vorstellungen gebunden sind. Vielleicht gibt es nun auch Phantasiegefühle, die Urteile begleiten. Die Dinge stehen für eine Lösung dieser Frage im affirmativen [bejahenden - wp] Sinne nicht ungünstig. Bei genauerer Selbstbeobachtung wird man nämlich im Bereich der Erinnerungen auf Urteile stoßen, denen man nicht alle und jede Beziehung zum Gefühlsleben absprechen kann, obgleich die ihnen seinerzeit zugeordneten Gefühle längst erloschen sind. Dem Gedanken an einen in Verlust geratenen, wertvollen Gegenstand z. B. haftet immer ein gewisses gefühlsartiges Etwas an, obgleich man sich über den Verlust getröstet hat und vielleicht ein anderer Gegenstand den Platz des verlorenen recht gut auszufüllen vermag. Das Urteil, daß man den ersteren Gegenstand nicht mehr besitze, ruft kein Unlustgefühl hervor: trotzdem kann man aber nicht sagen, daß dasselbe gänzlich frei von allen emotionalen Zutaten sei. Auch die Erinnerungsurteile in bezug auf angenehme Erlebnisse besitzen zuweilen noch nach Jahren ein gefühlsmäßiges Aussehen, obwohl die seinerzeiten Eindrücke keine so nachhaltige Einwirkung auf das Gemütsleben ausgeübt haben, daß die bezüglichen Urteile der Erinnerung noch Gefühle auszulösen vermöchten.

Vergleicht man nun das gefühlsmäßige Gepräge, insoweit sich dasselbe an gewissen Urteilen beobachten läßt, mit anderen Gefühlen, so zeigt sich, daß sich jenes im Gegensatz zu diesen unveränderlich erhält. Das Merkmal der Unveränderlichkeit deutet natürlich wie bei den Gefühlstönen der Allgemeinvorstellungen und Wortvorstellungen darauf hin, daß die fragliche emotionale Erscheinung auf dispositionellen Eigentümlichkeiten beruth, die wir bei den wirklichen Gefühlen nicht antreffen. Bemerkenswert ist weiter, daß die in Rede stehenden emotionalen Urteilszutaten von aktuellen Gefühlen nicht berührt werden. Man kann sich leicht davon überzeugen, indem man die betreffenden Urteile im Zustand intensiven Fühlens oder unmittelbar nach erlebten Gemütsbewegungen fällt. Das gefühlsartige Aussehen, das manchen Urteilen unwandelbar anhaftet, beruth also auf emotionalen Vorkommnissen, die jedenfalls nicht wirkliche Gefühle sind. Ich wüßte nun nicht, wie man diese emotionalen Begleittatsachen der Urteile anders als durch die Bezugnahme auf die Phantasiegefühle zu beschreiben vermöchte. (10)


§ 5. Einiges über Phantasiebegehrungen.
S c h l u ß w o r t.

Wie schon im ersten Paragraphen dieser Untersuchungen erwähnt wurde, gibt es auf emotionalem Gebiet Tatsachen, die sich zu den Begehrungen in ähnlicher Stellung befinden, wie die Phantasiegefühle zu den wirklichen Gefühlen. MEINONG nennt solche Tatsachen sinngemäß Phantasiebegehrungen. Dieselben sind nach Ansicht des Genannten wie die Phantasiegefühle psychische Grundphänomene. Dagegen steht WITASEK auch hinsichtlich der Phantasiebegehrungen auf dem Standpunkt, daß zur Erklärung ihrer Eigenart die Differenzierung der psychologischen Voraussetzung ausreiche. (11)

Es fragt sich also vor allem, ob für das Verständnis des Wesens der Phantasiebegehrungen etwas geleistet wird, wenn man auf die Eigenart ihrer intellektuellen Grundlage, die der Hauptsache nach aus Annahmen besteht, hinweist. Daß bei den Phantasiebegehrungen durch die Berufung auf die psychologische Voraussetzung nichts gewonnen wird, erhellt sich einfach aus der Tatsache, daß auch wirkliches Begehren auf Annahmen gestellt erscheint. (12) Wenn Phantasiebegehrungen und wirkliche Begehrungen Annahmen zur psychologischen Voraussetzung haben und beide Arten von Begehrungen nicht ihrem Wesen nach verschieden sind, dann läßt sich gegebenenfalls nicht entscheiden, ob eine Phantasiebegerhung oder eine wirkliche Begehrung vorliegt. Nun wird im einzelnen Fall in dieser Hinsicht kaum ein Zweifel entstehen, indem man bei einigermaßen genauer Beobachtung leicht bestimmen kann, ob es sich um eine wirkliche Begehrung oder um eine Phantasiebegehrung handelt. Es muß also der emotionale Faktor der Phantasiebegehrungen anders geartet sein, als der der wirklichen Begehrungen. Worin aber besteht nun der Unterschied?

Wer begehrt, begehrt etwas uns wie man auch sagen kann, wer begehrt, begehrt die Realisierung des Begehrten. Jeder Versuch, das, was wir innerlich beim Begehren erleben, näher zu charakterisieren, läuft schließlich auf eine Umschreibung der Tatsache hinaus, daß wir beim Begehren einen innerlichen Drang verspüren, das Begehrte zu verwirklichen. Die Realisierungstendenz bildet also ein allen wirklichen Begehrungen wesentliches Moment. Im ersten Augenblick mag es nun zweifelhaft erscheinen, ob unter diesem Gesichtspunkt auch das Wünschen noch als ein echtes Begehren bezeichnet werden kann. Man hat das Begehren bekanntlich in "Wünschen" und "Wollen" unterteilt. Und diese Unterteilung ist aus der Erkenntnis entsprungen, daß beim Vorhandensein gewisser psychischer Antezedentien [Vorwegnahmen - wp] zwar das Wünschen, nicht aber das Wollen zustande kommt. Man kann, wie HÖFLER bemerkt, Projekte, die man für unverträglich hält, zugleich wünschen, aber nicht zugleich wollen. Daraus folgt allgemein, daß man auch Unmögliches wünschen kann. Die Frage ist also eigentlich die, ob dasjenige Wünschen, welches sich auf etwas richtet, das nach der Überzeugung des Wünschenden unerreichbar ist, für ein wirkliches Begehren gelten kann. Die Frage ist ohne weiteres zu bejahren, wenn in den Akten eines solchen Wünschens auch ein Drang nach Reallisierung innerlich wahrgenommen werden kann. Die Empirie bestätigt nun in der Tat, daß sich auch in Fällen des auf Unerreichbares gerichteten Wünschens die Realisierungstendenz geltend macht. Ein Beispiel: Denken wir uns einen Menschen, der gegen seinen Willen in einen ihm nicht zusagenden Beruf hineingedrängt wurde. Derselbe wird nichts unterlassen, um eine Wendung der Verhältnisse herbeizuführen. Das Fehlschlagen aller Versuche in dieser Richtung muß aber endlich in ihm die Überzeugung festigen, daß das Ergreifen eines anderen Berufes eben nicht mehr möglich ist. Gleichwohl wird der Wunsch nach Änderung der Berufstätigkeit fortbestehen, und daß diesem Wunsch auch der Drang nach Verwirklichung innewohnt, geht daraus hervor, daß trotz der Überzeugung der Unmöglichkeit die Versuche zur Änderung der Lage nicht eingestellt werden. Beispiele für das Vorhandenseine der Realisierungstenden in Wünschen, die sich Unmöglichem zuwenden, bietet auch die Pathologie des Geschlechtslebens. Der Wunsch nach geschlechtlichem Verkehr enthält, wie sich in pathologischen Fällen nachweisen läßt, auch den Drang zur Verwirklichung des Begehrten in sich. Es liegt also kein Grund vor, im Wünschen, sofern es auf Unerfüllbares abzielt, kein echtes Begehren zu sehen. Damit ist freilich die Möglichkeit vorweg abgeschnitten, etwa die Akte des Wünschens für die Phantasiebegehrungen zu reklamieren.

Wir müssen nun die Phantasiebegehrungen daraufhin einer Prüfung unterziehen, ob sich vielleicht auch bei ihnen die Realisierungstendenz bemerkbar macht. Zu diesem Zweck sei daran erinnert, daß wir mit den Personen eines Dramas oder einer Erzählung nicht bloß Leid und Freud teilen, sondern auch mit ihnen und für sie wünschen und wollen. (13) Diese Begehrungserlebnisse sind handgreifliche Beispiele von Phantasiebegehrungen. Betrachtet man derartige Phantasiebegehrungen, so kann man jedenfalls von ihnen sagen, daß sie wie die wirklichen Begehrungen innerhalb des Gegensatzes von Streben und Widerstreben stehen und daß sie den wirklichen Begehrungen ähnlich sehen. Aber kann man vom Wünschen und Wollen solcher Art auch behaupten, daß man dabei einen inneren Drang, das Gedachte in die Tat umzusetzen, verspüre? Auch in allen anderen Fällen, in welchen wir uns in Situationen hineindenken und an die betreffenden Annahmegedanken Phantasiewünsche geknüpft sind, läßt sich an den bezüglichen Begehrungsakten nichts bemerken, was auf das Vorhandensein einer Realisierungstendenz hindeuten würde.

Die Phantasiebegehrungen unterscheiden sich also von den wirklichen Begehrungen durch den Mangel jeglicher Tendenz, das Begehrte zu verwirklichen. Emotionale Tatsachen nun, die so aussehen wie Begehrungen, gleichwohl aber nicht wirkliche Begehrungen sind, weil ihnen gerade das fehlt, was das Begehren zum Begehren macht, lassen sich unter keine der bestehenden psychologischen Kategorien unterbringen. Sie sind also, so wie die Phantasiegefühle, psychische Grundphänomene.

Nun noch eines. Überblickt man das Tatsachengebiet der Phantasiegefühle und Phantasiebegehrungen, so kann man sich eines gewissen teleologischen Eindrucks, den diese emotionalen Erscheinungen machen, nicht erwehren. Die Phantasiegefühle sind dort an Annahmen geknüpft, wo die Urteile wirkliche Gefühle hervorrufen. Dieselben geben also, wenn man so sagen darf, ein Bild, wie sich die Gefühlsreaktionen im Falle der Wirklichkeit gestalten würden. Weiter sind die mit Allgemeinvorstellungen und Wortvorstellungen verbundenen Phantasiegefühle ein emotionales Zeichen, daß diese Vorstellungen zu unserem Gefühlsleben irgendwie in Beziehung stehen. Und endlich stellen die im Verein mit gewissen Urteilen auftretenden Phantasiegefühle gleichsam einen Nachklang früherer Gefühlserlebnisse dar. Denkt man sich nun, daß es Phantasiegefühle überhaupt nicht gebe und in allen diesen Fällen sich statt der Phantasiegefühle wirkliche Gefühle einstellen würden, so tritt die Zweckmäßigkeit der ersteren klar zutage. Denn offenbar bedingen wirkliche Gefühlsreaktionen einen größeren Energieverbrauch als Phantasiegefühle und bei dem bekannten Einfluß, den Gefühlsvorgänge auf gewisse organische Funktionen besitzen, ist es auch für den Organismus nicht gleichbedeutend, ob sich die Gemütsbewegungen durch wirkliche Gefühle oder nur durch Phantasiegefühle manifestieren. Ähnlich verhält es sich mit den Phantasiebegehrungen. Auch ihre Bedeutung liegt darin, daß sie die Stelle des wirklichen Begehrens überall dort einnehmen, wo lediglich ein "Wünschen und Wollen in der Phantasie" in Frage kommt. Auch sie sind eine zweckmäßige psychische Einrichtung, weil durch sie Willensenergie erspart wird.
LITERATUR - Robert Saxinger, Über die Natur der Phantasiegefühle und Phantasiebegehrungen, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Ergänzungsband 2, Leipzig 1902
    Anmerkungen
    1) STEPHAN WITASEK, Ästhetik, Seite 118
    2) THEODOR ELSENHANS, Über Verallgemeinerung der Gefühle, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 24, Seite 194
    3) Vgl. meinen Aufsatz: Dispositionspsychologisches über Gefühlskomplexionen, Zeitschrift für Psychologie etc., Bd. 30, Seite 417f
    4) ELSENHANS, Über Verallgemeinerung der Gefühle, a. a. O., Seite 199
    5) Vgl. LEWY, Die natürliche Willensbildung, Seite 20f
    6) CHRISTIAN von EHRENFELS, System der Werttheorie I, Seite 122
    7) Diesbezügliche hypnotische Versuche habe ich unter Assistenz von Dr. HEISER in Linz angestellt. Auch autosuggestive Versuche wurden von mir und zwei weiteren Versuchspersonen ohne nennenswertes Ergebnis unternommen.
    8) THEODOR ELSENHANS, Über Verallgemeinerung der Gefühle, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. XXIV, Seite 199
    9) Auf die Frage, wie die Allgemeinvorstellungen, Wortvorstellungen und Urteile zu begleitenden Phantasiegefühlen kommen, ob dies durch die Vermittlung von Annahmen oder mit Hilfe anderer Zwischenglieder erfolgt, kann hier nicht näher eingegangen werden.
    10) STEPHAN WITASEK, Ästhetik, Seite 119
    11) Vgl. ALEXIUS von MEINONG, Über Annahmen, § 45
    12) ALOIS HÖFLER, Psychologie, Seite 565
    13) MEINONG, Über Annahmen, Seite 238