Ernst TroeltschBernhard SchmeidlerHeinrich RickertWilhelm Windelband | |||
Fragen der Geschichtswissenschaft [4/4]
II. Unrecht und Recht der "organischen" Gesellschaftstheorie [Fortsetzung] Im Begriff des "geistigen Organismus" ist auch ein Moment mitbezeichnet, das zuerst WILHELM WUNDT (1) und später auch F. H. GIDDINGS (2) mit Recht hervorgehoben haben, daß es nämlich besser sei, ein soziales Ganzes "Organisation" als Organismus zu nennen, da es ja auf der "freien Selbstbestimmung" der Individuen beruhe. Im Begriff des Geistigen ist auch das Merkmal der Aktivität gegenüber der Passivität der Sinnesempfindung enthalten. Immer denken wir bei Geist, der ja "lebendig macht", an eine schöpferische Initiative, nicht an passives Verhalten. Und das Unrecht aller bisherigen Vertreter der "organischen" Theorie besteht eben darin, daß sie die geistige Wesenheit des sozialen Organismus nicht erkannten, sondern bloß möglichst viele Merkmale entdecken wollten, die ihm mit dem tierischen Körper gemeinsam sind. Man kann deren eine große Menge aufweisen, man kann sogar die ganze Organisation des Tierkörpers in großen Zügen in den Gesellschaften der Menschen, wie sie die Geschichte zeigt, wiederfinden. Das ist durchaus notwendig. Denn der Tierkörper ist eine Vereinigung von lebendigen Elementen, die einen gemeinsamen Kampf ums Dasein führen. Und die Gesellschaft ist ebenfalls zunächst nur eine Vereinigung lebendiger Elemente zu dem gleichen Zweck. Denn wenn sie eine Vereinigung von Willenseinheiten ist, so sind gewisse Teile dieser Willenseinheiten eben auf dem Kampf um das physische Dasein gerichtet und erhalten nach dem unter allen Lebendigen herrschenden Prinzip der Arbeitsteilung eine Organisation, nach demselben Prinzip, nach dem sich die Zellen organisieren und differenzieren. Schon COMTE hat auf diese Übereinstimmung hingewiesen, manche Politik treibenden Juristen, z. B. BLUNTSCHLI, haben sie, meist auf den Vergleich mit dem menschlichen Organismus beschränkt, bereits ausgeführt, SPENCER hat sie mehr ins einzelne, aber noch unvollständig aufgezeigt, seine Nachfolger, besonders SCHÄFFLE, FOULLIÉE, WORMS, haben sie vollständig durchgeführt und damit das Wesen der Gesellschaft zu erschöpfen geglaubt. Aber wie richtig auch die Beleuchtung der Gesellschaft durch die Begriffe des organischen Lebens sein mag, wie viele früher weniger klar gesehene Wahrheiten auch dabei in helleres Licht treten, diese Beleuchtung kann immer nur einen Teil der sozialen Erscheinungen durchdringen, diejenigen, die sich aus dem animalen Wesen der Mitglieder der Gesellschaft ergeben; sie wird nur solange zulänglich sein, als die Gesellschaften noch ein Werk der Natur sind, etwa bis zum Ende der Gentilverfassung, sie wird aber unzulänglich sein, sobald der Geist auf die Ordnung und die Tätigkeit der naturwüchsigen Gesellschaften in ihrer weiteren Entwicklung Einfluß übt oder neben der alten Gesellschaft neue, auf geistiger Gemeinschaft beruhende Verbände entstehen, die natürlich, weil zum Teil dieselben Menschen umfassend, wie der alte Verband, auch auf dessen Zweck und Ziele notwendig zurückwirken. Darum fehlt bei SPENCER, dem durchaus biologisch gerichteten Vertreter der organischen Theorie, der Hinweis auf alle diejenigen Eigenschaften sozialer Organismen, die auf den Vorzügen der geistigen Tätigkeit beruhen. Wie eine nationale Gesellschaft im Gegensatz zum Tierkörper bewußt ihren Umfang regulieren kann, indem sie Bevölkerungspolitik treibt, wie sie eine zweite, religiöse oder ideale Welt erzeugt, die der wirklichen zum Vorbild dient, wie sie, vermöge einer gewissen Allgegenwart und Ewigkeit des Gedankens, von zeitlich und räumlich entfernten Völkern Ideen empfangen kann, durch die das "natürliche" Leben eines Volkes sehr modifiziert wird, das alles sind Erscheinungen, die bei den biologischen Soziologen entweder nicht beachtet oder in ihrer spezifischen Bedeutung als eine neue, der biologischen durchaus heterogene Kausalität begründend nicht anerkannt werden. (3) Die ganze bisherige organische oder, wie man sie vielleicht besser nennt, die biologische Soziologie ist darum unvollständig.
Der zweite Einwand, der von den Gegner der organischen Theorie am häufigsten erhoben wird, ist der, daß das Individuum allein existiere, die Gesellschaft aber keine Einheit, kein Individuum sei. Dagegen hat schon R. WORMS eingewandt, (9) daß auch das Individuum zusammengesetzt sei, daß es überhaupt nicht unité, sondern unification in der Natur gebe und zwar, wie er hätte hinzufügen können, eine unification in verschiedenen Graden. Und NOVIKOW macht mit Recht darauf aufmerksam, wie schwierig für die Zoologie bei niederen Tieren, besonders gewissen Quallen, die Bestimmung der Grenzen des Individuums sei. (10) Sie lassen sich vor allem, weil sie den Begriff des Organismus zu eng fassen, nur als Naturwesen, verleiten, in der Gesellschaft nur all das zu sehen, was "natürlich" ist. Und die ganze Kultur, die über die Schranken der Natur hinausstrebt, bleibt außerhalb ihres Systems, das eben dadurch ein naturalistisches wird. Sie nehmen ferner, durch das Wort "Natur" verleitet, einen Begriff an, der, weil nicht natürlich, sondern im Gegenteil sehr künstlich konstruiert, von ihren Voraussetzungen aus gar keine reale Gültigkeit haben sollte, nämlich den des Naturrechts. Es ist bekanntlich nicht das natürliche Recht des Stärkeren, sondern ein Recht allgemeiner Freiheit und Gleichheit, beruhend auf einer Konstruktion, die keinen organischen Zusammenhang der Glieder einer Gesellschaft, keine Über- und Unterordnung derselben, sondern nur ihr mechanisches Nebeneinander kennt. Dennoch gründet SPENCER seine Forderungen an die Gesellschaft der Gegenwart alle auf das Naturrecht und verlangt eine völlige Isolierung der Einzelnen, völliges aufhören staatlicher Herrschaft eines Individuums über das andere, völlige Abwesenheit staatlicher Gesetze, soweit sie nicht lediglich den gewaltsamen Angriff eines auf den andern verbieten, so daß jedes Individuum nur durch einen frei geschlossenen Kontrakt und die Pflicht ihn zu halten gebunden ist. Demselben "Kontraktualismus" huldigt aus ähnlichen Gründen. A. FOUILLÉE. Damit wird zwar nicht der Geschichte Gewalt angetan, aber ein Programm für die Zukunft aufgestellt, das dem bisherigen Gang der Geschichte widerspricht. Immer haben bisher die an Geist und an Willen Stärkeren über die Schwächeren geherrscht. Sollte es in Zukunft anders werden? Dann jedenfalls nur auf Kosten des menschlichen Fortschritts, der zum großen Teil darauf beruth, daß die Schwachen zum Dienst für den Fortschritt von den Starken gezwungen werden. Diejenigen also, welche jede organische Eigenschaft an der Gesellschaft leugnen und die, die in ihr bloß ein Naturwesen sehen, scheinen mir gleich weit von der Wahrheit entfernt. Der Begriff des geistigen Organismus dagegen deckt sich mit den Tatsachen der Geschichte. Und einige derselben möchte ich noch anführen, die mir für die Gesellschaft die Realität der drei KANTschen Merkmale des Organismus zu beweisen scheinen. Was von den drei Merkmalen zunächst die Einheit betrifft, so zeigt sie sich deutlich nicht nur in der Gesellschaft, soweit sie den physischen Kampf ums Dasein nach außen führt, nämlich in der Einheit des Staates, sondern auch, soweit sie ein geistiger Organismus ist. Die bürgerliche Gesellschaft muß zugleich eine Vereinigung der Geister sein, je fester diese ist, desto fester wird die Einheit jener sein. Vereinigung der Geister aber ist nur möglich aufgrund gemeinsamer Weltanschauung. Darum sehen wir auch in der Geschichte, die ja die konkrete Soziologie ist, überall innerhalb einer Gesellschaft die Tendenz Differenzen in der Weltanschauung auszugleichen. Diese Tendenz wirkt entweder unbewußt infolge der suggestiven Wirkung einer irgendwie geäußerten Vorstellung auf andere Menschen oder infolge des Triebes zur Nachahmung von Handlungen, die den ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen den Weg bahnen. Zum Teil aber wird jene Tendenz von den maßgebenden Persönlichkeiten, den herrschenden Ständen, bewußt festgehalten, werden abweichende Anschauungen bewußt unterdrückt, in der Erkenntnis, daß nur gleich denkende Menschen gleich gesinnt und einträchtig sein können, vielleicht auch in der dunklen Ahnung, daß die Erziehung, wie PLATO erkannte, desto wirksamer ist, je einheitlicher die geistige Atmosphäre ist, in der die neue Generation aufwächst. (11) Darum konnte, solange die Religion die Herrscherin des Lebens war, zwar eine Religion in verschiedenen Staaten, konnten aber nicht in einem Staat verschiedene Religionen herrschen. Energie der Überzeugung ist notwendig, da die Wahrheit nur eine ist, mit Intoleranz verbunden. Wo zwischen verschiedenen Bekenntnissen Toleranz herrscht, da ist eben das Bekenntnis nicht mehr der den ganzen Menschen allein beherrschende geistige Inhalt, da gibt es noch über ihm Ideen, die den einander Tolerierenden gemeinsam sind. Die Toleranz nahm seit der Renaissance in demselben Maß zu, in dem über den Konfessionen die "natürliche Religion" und die Wissenschaft gemeinsame geistige Wert wurden. Und wo eine Minorität nicht bloß eine von der der großen Majorität abweichende Konfession, sondern eine ganz verschiedene Religion mit notwendig sich ergebenden verschiedenen Sitten festhält, ohne daß die Differenz zwischen Majorität und Minorität durch philosophische Ideen überbrückt wird, da wir diese Minorität ein geistiger Fremdkörper sein.
So ist sowohl die Einheit des geistigen Organismus, als auch die Abhängigkeit des Einzelnen von ihm genügend erwiesen. Die Wechselwirkung aber der Glieder desselben ist handgreiflich, wie etwa die zwischen dem Künstler und dem Publikum, dem Schüler und dem Lehrer. Daß aus dem einen Teil andere Teile hervorgehen, ist überall da der Fall, wo, wie in der Kirche, eine Hierarchie besteht und mit der Zeit aus den Dienenden Befehlende werden, oder wo eine neue Arbeitsteilung ein Mitglied einer wissenschaftlichen Organisation zwingt, neue Funktionen zu übernehmen. Wenn wir endlich das dritte Merkmal KANTs ins Auge fassen, die Fähigkeit des organisierten Körpers, aus sich neue Körper zu erzeugen, so ist auch diese Fähigkeit leicht zu finden und zwar in der der größeren Macht des Geistes angemessenen Steigerung. Die alltägliche Fortpflanzung der Gesellschaft, soweit sie ein geistiger Organismus ist, geschieht durch die Erziehung, die mit fortschreitender Kultur immer extensiver und immer intensiver wird. In den Naturformen der Gesellschaft mehr ein Nebenerfolg des Zusammenlebens der Alten mit den Jungen, als eine besondere Tätigkeit der ersteren, - bei HOMER gibt es keinen Stand der Erzieher, nicht einmal ein Wort für Erziehen, sondern nur für das physische "Aufziehen" - wird sie immer bedeutungsvoller, je geistiger eben die Gesellschaft wird. - Aber neben dieser Fortpflanzung, die sich alltäglich vollzieht, kann ein geistiger Organismus über Jahrhundert hinaus in einem viel jüngeren Volk eine Auferstehung erleben, als gewissermaßen nach Ablauf einer langen Zwischenzeit noch ein Wesen seiner Art erzeugen. Die Akademie der Platoniker lebte im 15. Jahrhundert in Florenz wieder auf, nachdem im Abendland fast ein Jahrtausend lang keine lediglich der Philosophie gewidmete Vereinigung bestanden hatte. Und diese Akademie wurde der Prototyp für viele spätere Organisationen, die nur ihre Aufgabe als "Akademie der Wissenschaften" erweiterten. Das hierarchisch organisierte Priestertum der Juden lebte wieder auf in der Beamtenschaft der katholischen Kirche, die, zuerst nur auf Arbeitsteilung und dem Vorzug der Gnadengaben (Charismata) beruhend, nach der Epoche des Montanismus in bewußter Berufung auf das Alte Testament Ansprüche auf Herrschaft erhob und durchsetzte. (15) Wenn ich die drei KANTschen Merkmale auch in ihren von ihnen abzuleitenden Erscheinungen verfolgen wollte, so wäre noch manche Frage zu erledigen. Zum Beispiel wie stirbt ein geistiger Organismus? Offenbar nicht so, wie ein physischer, daß er aufhört und seine Nachkommenschaft an seine Stelle tritt. Die Generationen wechseln, der geistige Organismus bleibt. Erst, wenn ihn gar niemand mehr vertritt, dann ist er tot. Sein Tod wäre nicht dem Sterben des tierischen Individuums, sondern dem Aussterben der Gattung zu vergleichen. Aber alle solche Fragen muß ich späteren Betrachtungen vorbehalten. Nur einem Einwand möchte ich zum Schluß noch begegnen. Man könnte, wie es neuerdings geschehen ist, sagen: "Schließlich ist es ein Wortstreit, ob man die Gesellschaft im ganzen aufgrund mancher Übereinstimmungen als einen Organismus bezeichnen will oder nicht ... Wenn aber auch die Berechtigung zu einer solchen Konstruktion (nämlich der Gesellschaft als eines Menschen im großen) im allgemeinen nicht geleugnet werden kann, so muß man doch gleichzeitig wiederholt und nachdrücklich hervorheben, daß ihr wissenschaftlicher Wert - abgesehen von der bloß bildlichen Darstellung und Ausdeutung für pädagogische Zwecke - vollständig nichtig ist." (16) Dies Urteil aber ist durchaus unrichtig. Zunächst hat jede berechtigte Analogie - und die Berechtigung wird ja im vorliegenden Fall in den angeführten Worten zugegeben - einen heuristischen Wert. Sie zeigt gewisse Eigenschaften in beiden Fällen auf und reizt uns, zu untersuchen, ob auch weitere Eigenschaften gemeinsam sind oder nicht. Und diese heuristische Hilfe ist nicht bloß "pädagogisch", nicht bloß für den ersten orientierenden Unterricht verwertbar, sondern auch für den Fortschritt der Erkenntnis selbst wichtig. Was insbesondere die Analogie des Organismus mit der Gesellschaft betrifft, so ist sie lange vergessen worden, nämlich vom "System der natürlichen Freiheit", vom ökonomischen Liberalismus, der in Individualismus ausartete und die Gesellschaft atomisieren wollte. Als nach der ersten Handelskrise dieses Jahrhunderts in England eine Hungersnot ausbrach, da gab es praktische Politiker, die sich nicht scheuten zu rufen: "Lasset die Arbeiter auf den Straßen Hungers sterben". Sie hätten dies nicht getan, wenn sie sich der Solidarität der Gesellschaft als eines Organismus erinnert hätten. Und RODBERTUS (17) rühmt es der organischen Schule der Staatswissenschaften nach, daß sie "schon bei ihrem ersten Auftreten die Wissenschaft mit den glänzendsten Ideen bereichert hat". Wenn freilich die "organische" Methode rein naturalistisch ist, dann muß sie zu Irrtümern führen, wie oben in Bezug auf den "Kontraktualismus" SPENCERs und FOUILLÉEs und die Ignorierung der Kultur bei SPENCER bewiesen wurde. Wenn wir aber die differenziellen Merkmale der Gesellschaft als eines geistigen Organismus festhalten, so finden wir in den sich daraus ergebenden Folgerungen nirgends einen Widerspruch gegen die Geschichte, wohl aber eine Erklärung für manche Erscheinungen derselben, wenigstens eine vorläufige Erklärung, die uns antreibt, die letzten psychologischen Ursachen der Erscheinungen aufzusuchen. In der von der Kunstkritik einstimmig angenommenen Unterscheidung zwischen dem "Echten" und dem "Unechten" liegt ein wichtiges Problem für die Psychologie. Warum ist HOMER echter als VIRGIL und VIRGIL wieder echter als PETRARCA in seinen lateinischen Gedichten? Die Pflanzen bedürfen ebenfalls der Anlehnung an ihresgleichen. Eine Eiche kan sich im Fichtenwald nicht halten und umgekehrt eine Fichte nicht im Eichenwald. Auch der Roggenhalm kommt einzeln nicht fort, er bedarf des Zusammenseins mit dem ganzen Saatfeld zu seiner Existenz. Die Botanik hat wohl schon die Ursachen erkannt, warum so viele Pflanzen nur in Gesellschaft, herdenweise gedeihen. Warum aber der Mensch nicht bloß zur Erreichung seiner durchschnittlichen Fähigkeiten, sondern auch zur Hervorbringung der höchsten Kunstwerke der geistigen Gemeinschaft mit seinem Volk bedarf, ist von der Psychologie noch zu erklären. Diese ganze Erscheinung wäre jedoch nicht bloß unerklärt, sondern sogar unbegreiflich, wenn wir nicht die Analogie der Abhängigkeit der physiologischen Einheit vom Organismus zur Jllustration, zum vorläufigen Verständnis jener menschlichen Abhängigkeit verwenden könnten. (18) Hier, im Zusammennhang der Frage nach den Aufgaben der Geschichte, ist besonders noch eine Folgerung wichtig, die sich aus der organischen Theorie ziehen läßt. Wie eng der Begriff des Geschichtlichen mit dem des Organischen zusammenhängt, geht daraus hervor, daß die ganze Reaktion des Anfangs unseres Jahrhunderts gegen die ungeschichtliche "Aufklärung", wie oben dargetan, sich unter der Antithese: "Organisch gegen Mechanisch" vollzogen hat. (19) Die in meiner ersten Abhandlung definierte "begriffliche Geschichte" betrifft alles, was die Gesellschaft angeht. Sie sucht die Veränderungen der Zustände zu erklären, d. h. in einen kausalen Zusammenhang zu bringen. Für die Möglichkeit der Lösung dieser Aufgabe gibt die "organische" Theorie eine starke Stütze. Ist die Gesellschaft eine bloße Anhäufung von Elementen, dann sind ihre Veränderungen selbst in bescheidenster Weise nicht meßbar. Ein Sandhaufen ist das Spiel des Windes und des Regens, in seinen Formen und seiner Größe von unberechenbaren, von außen angreifenden Kräften abhängig, also selbst unberechenbar. Eine Pflanze aber, ein Tier, und nach unserer Annahme auch eine Gesellschaft hat ein beständiges inneres Prinzip oder mehrere solcher inneren Prinzipien des Lebens, Wachstums und Sterbens; darum sind die Erscheinungen an ihnen erklärbar, ja sogar durch sorgfältiges Vergleichen und Schließen einigermaßen im voraus bestimmbar. Diese Aufgabe freilich kann die darstellende Geschichte als solche nicht lösen. So wichtig, so unentbehrlich sie aus künstlerischen und pädagogischen Gründen oder zum Zweck der Arbeitsteilung sein mag, für die wissenschaftliche Erkenntnis ist sie nur eine Vorarbeit. Das Erkennen ist Aufgabe der begrifflichen Geschichte und der an sie sich anschließenden Philosophie der Geschichte. Anmerkung zum 1. Teil dieser Abhandlung Im ersten Teil dieser Abhandlung habe ich ausgeführt, daß der Historiker, wenn er nicht bloß Beschreibungen der Zustände und empirische Gesetze aufstellen, sondern die letzten Ursachen ergründen will, auf die psychologischen Prinzipien zurückgehen muß. Als Beispiel führe ich das Prinzip der Kontrastverstärkung an und sage, daß schon die alltägliche Erfahrung es kennen lehre, daß aber noch vertrauter damit als der "Gelegenheitspsychologe" derjenige werde, der es im Laboratorium studiere. Dies hat GEORG von BELOW (Beilage zur Münchener Allgemeinen Zeitung, Jahrgang 1899, No. 279) dahin verstanden, ich "schlage allen Ernstes vor, der angehende Historiker solle im Laboratorium studieren": Das habe ich nicht gemeint, sondern nur, daß ein solches Studium ihm nicht schaden würde und mehr habe ich auch nicht gesagt. Ich wollte damit nur wieder hervorheben, daß es nur eine Psychologie gibt, nicht zwei, eine "naturwissenschaftliche" und eine historische, was ja des weiteren dargelegt ist. DILTHEY hat meiner Ansicht nach sicherlich Recht, wenn er eine unbefangene Betrachtung der psychologischen Erscheinungen der Geschichte fordert, er scheint mir aber Unrecht zu haben, wenn er entweder auf Erklärung derselben verzichtet oder die heutige "erklärende" Psychologie dazu unfähig findet. Daß diese den Schlüssel zu manchen Erscheinungen geben kann, wollte ich an einem Beispiel zeigen. Auch sonst enthält der Aufsatz BELOWs manche irrtümliche Auffassung meiner Ansichten. So z. B. ruckt er mir als empirisches Gesetz die oft aufgestellte bestimmte Reihenfolge der Verfassungen vor: "Monarchie, Aristokratie, Demokratie, Ochlokratie, Cäsarismus". Ich habe dieses empirische Gesetz nirgends genannt und nirgends anerkannt. Dieses "Gesetz" gebe ich sehr gerne preis, nicht so die anderen "Gesetze", die ich angeführt habe. Auf die Einwände, die BELOW gegen eines davon erhebt, gegen "die extensiv und intensiv wachsende Autonomie der Persönlichkeit", werde ich bei späterer Gelegenheit in dieser Zeitschrift zurückkommen. K. LORY (Die Umschau, VI. Jahrgang Nr. 3, Seite 54) findet wegen der Erwähnung des psychologischen Laboratoriums an mir die "Überhebung des modernen Psychologen" und hält mir vor, "die Historie ist nicht dazu da, um eine Hilfswissenschaft der Psychologie abzugeben". Nein, gewiß nicht. LORY möge sich überzeugen, daß ich das Verhältnis geradezu umgekehrt, die Psychologie als Hilfswissenschaft der Geschichte dargestellt habe.
1) WILHELM WUNDT, Logik II, Leipzig 1895, Seite 605f 2) F. H. GIDDINGS, The principles of sociology, New York und London 1986, Seite 420 3) Auch nicht von ALBERT SCHÄFFLE in seinem "Bau und Leben des sozialen Körpers", wie sehr es ihm auch SPENCER gegenüber zum Verdienst anzurechnen ist, daß er "das soziale Geistesleben" überhaupt in sein System eingeordnet hat. Was ich mit "heterogener Kausalität" in meinem oben genannten Buch gemeint habe, ist SPENCER nach seinen in der Kritik dieses Buches (Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Jahrgang 1898, Seite 758) gemachten Bemerkungen nicht klar geworden. Ich meinte damit nichts weiter, als die oben charakterisierte Kausalität des Willens im Gegensatz zu der des Triebes. 4) Im oben zitierten Buch. 5) In der Zeitschrift für Sozialwissenschaft, herausgegeben von JULIUS WOLF, 1. Jahrgang, Berlin 1898, Seite 198 6) Zur Verteidigung der organischen Methode in der Soziologie, Berlin 1898 7) La théorie organique des sociétes. Défens de l'organicisme. In den Annales de l'Institut International des Sociologie, V. Paris 1899, Seite 71 - 223 8) a. a. O., Seite 77f, 109f 9) Organisme et société, Seite 44 10) A. a. O. Seite 116 11) PLATO, Politeia III, 12 (401 C): "Diejenigen Künstler müssen wir suchen, die imstande sind, das Wesen des Guten und Schönen in edler Weise zu zeigen, damit die Jünglinge, gleichsam in einer gesunden Gegend wohnend, von allen Seiten gefördert werden, gleichsam ein von gesunden Gegenden her wehender Wind ihnen nur von edlen Werken zu Gesicht oder zu Gehör etwas zutrage und unbemerkt sie von Kindheit an zur Gleichheit, zur Freundschaft und zur Harmonie zwischen Worten und Werken führe." 12) A. RAUBER, Homo sapiens ferus oder die Zustände der Verwilderten, Leipzig 1885, besonders Seite 63 13) RAUBER, a. a. O., Seite 71 14) So verurteile HERDER jede Nachahmung der Dichter einer fremden Sprache, auch der des klassischen Altertums und wies auf die dichterische Kraft der Naturvölker hin. Vgl. RUDOLF HAYM, Herder nach seinem Leben und Wirken I, Berlin 1880, Seite 149f, 158. Die Romantiker bemühten sich bekanntlich um die Sammlung der Volkslieder. SAVIGNY (Vom Berufe unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, Seite 117f) sagt: "Ihr (der historischen Methode der Rechtswissenschaft) Bestreben geht dahin, jeden gegebenen Stoff bis zu seiner Wurzel zu verfolgen und so sein organisches Prinzip zu entdecken, wodurch sich von selbst das, was noch Leben hat, von demjenigen absondern muß, was schon abgestorben ist und nur noch der Geschichte angehört." Und FR. A. WOLF sah eben darum in den Griechen das Vorbild für uns, weil nur bei ihnen "uns das Schauspiel einer organischen Volksbildung zuteil wird. Denn bei welchem Volk der heutigen Welt könnte wir hoffen, etwas Ähnliches zu finden? Wo wäre eines, das seine Kultur aus innerer Kraft gewonnen, das die Künste der schönen Rede und Bildnerei aus nationalen Empfindungen und Sitten geschaffen, das seine Wissenschaften auf eigentümliche Vorstellungen und Ansichten gebaut hätte?" (Museum der Altertumswissenschaft, herausgeg. von Fr. A. WOLF und PH. BUTTMANN, I. Bd., Berlin 1807, Seite 138). 15) Vgl. A. RITSCHL, Die Entstehung der altkatholischen Kirche, 2. Auflage, Bonn 1857, Seite 449, 561, 576 16) TH. KISTIAKOWSKI, Gesellschaft und Einzelwesen, Berlin 1899, Seite 203 und 204 17) Vgl. TH. KOZAK, Rodbertus-Jagetzows sozialökonomische Ansichten, Jena 1882, Seite 19 und Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. IV, 1865, Seite 351 18) Ein wenig näher der psychologischen Erklärung führt uns vielleicht die Erwägung, daß der Volksgeist, d. h. die Gesamtheit der einzelnen Volk bildender Geister unter allem Neuen, z. B. den Sprachformen und Redewendungen, die ein Einzelner "erfunden" hat, eine Auslese trifft und nur die besten, die zweckmäßigsten bewahrt, so daß jede lebendige Sprache einem beständigen Vervollkommnungsprozeß unterworfen ist, dessen eine tote entbehrt. Daß eine solche Auslese überhaupt unter den volkstümlichen geistigen Werten stattfindet, zeigen ganz klar die Sprichwörter. Alljährlich entstehen, besonders in den Hauptstädten, triviale und kindische sprichwörtliche Redensarten, neben einigen wenigen, die einen guten Inhalt haben. So ist es gewiß auch in der Vergangenheit gewesen. Aber aus ihr sind nur die guten Sprichwörter übrig geblieben, die trivialen und kindischen sind verschwunden. 19) Vgl. FRIEDRICH PAULSEN, Die Geschichte des gelehrten Unterrichts, Leipzig 1885, Seite 514 |