ra-2 tb-1Helmut ViebrockDas Problem des IchRobert Saxinger    
 
WILHELM DILTHEY
Dichterische Einbildungskraft
und Wahnsinn


"In der herrschenden Psychologie werden Vorstellungen als feste Tatsachen behandelt und Gesetze werden aufgestellt, nach denen sie einander reproduzieren und verdrängen. Diese Gesetze sind eine Abstraktion, obwohl eine nützliche. Im realen Seelenleben ist das Schicksal eines Bildes, d. h. einer unzerlegten Einzelvorstellung, von den Gefühlen und der Verteilung der Aufmerksamkeit abhängig. Das Bild erhält so eine triebartige Energie. Es ist Leben, Vorgang. Es entsteht, entfaltet sich und erlöscht wieder. Dasselbe Bild kehrt so wenig wieder, als ein abgefallenes Blatt im neuen Frühling."

"Und wenn das Leben dieser Erde erstarrte und irgendwo entstände eine neue Menschheit aus denselben Keimen: es würde wieder dieselbe beschränkte Zahl von Motiven, Situationen und Typen entstehen; das Wesenhafte von Faust, Richard, Hamlet, Don Quichotte müßte sich wiederholen; von Neuem sähe man den bescheidenen Jüngling, Wilhelm Meister oder Copperfield - er hat noch viele andere Namen - sich aus einfachen Anfängen durch widrige Verhältnisse zur Freiheit des Lebens emporarbeiten: denn das ist doch unsere moderne  Ilias und  Odyssee. Das alles müßte wiederkehren. Denn dieselben Gesetze beherrschen überall die Einbildungskraft und die Natur des Menschen. Glücklich wer in ihrem Studium leben darf."

Wenn ich am Stiftungstag dieser militär-ärztlichen Bildungsanstalten zu Ihnen reden darf, so verdanke ich das dem weisen und festen Willen, welcher hier den Zusammenhang des medizinischen Studiums mit der Philosophie festgehalten hat. Aus diesem Zusammenhang haben seit den Tagen des GALILEI die Heroen der Naturerkenntnis Klarheit umfassender Begriffe und Wärme der Begeisterung empfangen, und etwas vom Licht, das aus einer solchen Betrachtung der tiefsten Gründe alles Lebens stammt, soll auch über der ärztlichen Kunst und dem der sie ausübt liegen. Im neunzehnten Jahrhundert entstand ein neues Band zwischen dem ärztlichen Beruf und dem philosophischen Denken, indem sich die Psychologie anhand der Physiologie zu einer Erfahrungswissenschaft entwickelte. Sie ist dem Arzt unentbehrlich, nicht nur als eine Hilfsdisziplin der Psychiatrie, sondern auch als eine Ergänzung seines auf körperliche Vorgänge eingeschränkten Studiums. Der Arzt kämpft beständig gegen die Störungen des seelischen Gleichgewichts, von der Reizbarkeit des Hypochonders bis zur Wahnidee des Irren. Er kann seine Wirksamkeit nur als Freund des Hauses entfalten, in das er tritt, und so bedarf er der Fähigkeit, in Seelen zu lesen. Ja selbst im harten Wettkampf der Konkurrenz sind ihm humane Bildung und Verständnis des Menschlichen mächtige Hilfsmittel. In unseren Tagen knüpft sich ein anderes Band. Der Begriff der Medizin als einer Kunst wird von den bedeutenden Ärzten wieder mehr hervorgehoben; denn die Grenzen derselben als einer angewandten Naturwissenschaft erweitern sich nur langsam; will nun diese Richtung folgerichtig sein, so muß sie auch für die Ausbildung des Denkens, sonach für die Philosophie als Geistesbildung wieder eintreten.

Unsere Psychologie kommt einem solchen Bedürfnis entgegen. Sie ist Erfahrungswissenschaft geworden. Sie hat seit HERBART von der älteren reiferen Schwester, der Naturwissenschaft, zu lernen gesucht. Sie geht seit WEBER, FECHNER und LOTZE den Beziehungen zwischen körperlichen und seelischen Vorgängen nach. Und sie vermag schon heute dem Mediziner ein Bild zu bieten, das von den elementaren Vorgängen aufwärts die Erscheinungen des gesunden wie des kranken Seelenlebens bis zu den Leistungen des Genies beschreibend und in gewissen Grenzen erklärend umfaßt. Ich will das nicht abstrakt auseinandersetzen, sondern an einem Beispiel veranschaulichen. Ich wähle eine der höchsten Leistungen des Seelenlebens, deren Wurzeln doch tief in die Physis hinabreichen, deren Verwandtschaft mit Traum und Geisteskrankheit oftmals hervorgehoben worden ist: die Einbildungskraft des Dichters.

Schon die Alten haben die Verwandtschaft zwischen der Einbildungskraft des Dichters und den Träumen, Halluzinationen und Wahnideen beobachtet. DEMOKRIT sagte, ein großer Dichter sei nicht ohne einen gewissen göttlichen Wahnsinn zu denken. PLATO erklärte, die Leistungen dieser göttlichen Verrückung könnten nie von denen des bloßen Kunstverstandes erreicht werden. ARISTOTELES behauptete nach SENECA: nullum magnum ingenium sine mixtura dementiae fuit [Nie hat es einen großen Geist ohne eine Beimischung von Wahnsinn gegeben. - wp] Und HORAZ nannte die dichterische Begeisterung eine amabilis insania [liebenswürdiger Wahnsinn - wp] Das war also ein stehender Lehrsatz antiker Poetik. Nun die Modernen. SCHILLER spricht vom "vorübergehenden Wahnwitz", der sich "bei allen eigenen Schöpfern" findet. GOETHE hat im TASSO das Mißverhältnis des Genies zum Leben und die Nachbarschaft seiner Einbildungen mit denen des Wahnsinns dargestellt. SCHOPENHAUER hat dann seine Lehre von der pathologischen Verfassung des Genies unter dem Beifall aller, die unter ihrem eigenen Genie zu leiden glaubten, aufgestellt. Ein übermächtiges Zerebral-Leben [Gehirnleben - wp] gibt nach ihm dem genialen Menschen eine abnorme Reizbarkeit. Die Loslösung der überragenden Intelligenz in demselben vom Dienst des Willens bewirkt seine totale Einsamkeit und tiefe Melancholie. Seine Erhabenheit über Zeit und ursächliche Relationen bringt ihn geradezu in die Nachbarschaft des Wahnsinns, da dieser eine Erkrankung des Gedächtnisses ist. In Frankreich ist diese Ansicht mit dem Prunk der psychiatrischen Theorie ausstaffiert worden. Ist doch Frankreich nicht nur seit dem großen PINEL lange der Hauptsitz der psychiatrischen Wissenschaft gewesen, die ganz wohl mit unseren naturphilosophischen verglichen werden können. Sie sind eine Romantik des Materialismus. RENAUDIN behauptete, mehr als ein Genie habe der Halluzination seine schönsten Inspirationen verdankt. LÉLUT faßte als eine solche Halluzination den Dämon des SOKRATES und MOREAU wollte in einem dickleibigen Buch beweisen, Genie sei überhaupt ein Zustand der Exaltation [Aufgeregtheit - wp], der jenseits der Gesundheitsgrenze liege. Unter diesen Paradoxien verbrigt sich ein echtes Problem. Die Natur selber macht uns in den höchsten Leistungen der künstlerischen Einbildungskraft wie in den Zuständen, die von der Norm des wachen Lebens abweichen, Experimente vor, die vielleicht einen induktiven Schluß ermöglichen. Denn diese Zustände sind sonst sehr verschieden, aber gemeinsam ist ihnen allen die Stärke der Einbildungsvorstellungen, ihre Sinnfälligkeit und ihre freie Ausbildung über die Grenzen der Wirklichkeit hinaus. So können wir hier die Entfaltung der Einbildungsvorstellungen studieren.


I.

Beginnen wir in regelrechtem medizinischen Schlußverfahren mit den Symptomen des angeblich pathologischen Zustandes, der dichterisches Genie heißt. Wir wollen dem Dichter gleichsam den Puls fühlen und seine Bluttemperatur messen, ob er wirklich krank sei.  Das Genie zeigt überhaupt Züge, die von der Norm des Durchschnittsmenschen abweichen.  Außergewöhnliche Energie und Leichtigkeit in den Geistesprozessen; daher lebhafte Freude an ihnen; somit ist die Freiheit und Aufrichtigkeit des Bildens und Schaffens sein eigentliches Lebensbedürfnis; dieses kann es nie anderen Zwecken in einer Rechnung des Lebens opfern. So muß es mit der vulgären Praxis in Widerspruch geraten. Wenn es nun gar seinen grüblerischen Tiefsinn ausnahmsweise seinen eigenen Lebensinteressen zuwendet, dann wird es das Leichte schwer, das Flache tief empfinden, bald melancholisch, bald reizbar heftig, immer aber was die Dutzendmenschen unpraktisch, ja phantastisch nennen. Da müssen viel häufiger als bei Menschen von nüchterner geistiger Diät Überreizungen des Nervensystems auftreten. Hierzu kommen  im poetischen Genie weitere Organisationsbedingungen,  die es abnormen Seelenzuständen noch mehr annähern. Es schafft Gestalten, die alle Erfahrung überschreiten. Der Realist unserer Tage kokettiert damit, das Wirkliche zu kopieren: er arbeitet ängstlich nach Modellen; aber stets wird das Merkmal des großen Dichters sein, daß er einen Typus hervorbringt, der alle Erfahrung überschreitet und durch welchen wir doch die gemeinen Erfahrungen besser begreifen uns sie näher an unser Herz heranziehen. Daher findet sich die schöpferische Phantasie immer geheimnisvoll angezogen von den Grenzen des Menschlichen, dem Ungeheuren der großen Tat oder des Verbrechens, dem Rührenden des ganz geläuterten Herzens, das wie ein holder Schatten durch diese harte Welt hindurchschreitet. Über diese Existenz sterblicher Menschen auf unserer Erde spannt sich gleichsam ein Himmel der Phantasie aus: da ruhen oder bewegen sich unsterbliche Gestalten: PROMETHEUS, ANTIGONE, DON QUICHOTTE, HAMLET, FAUST: und auch SANCHO PANSA, FALSTAFF, der eingebildete Kranke, ja Herr PICKWICK sind unter ihnen. Mit diesen leben wir, wie mit wirklichen Menschen, lieben, fürchten und belachen sie, können sie niemals entbehren. Ein Symptom höchst außerordentlicher Art, diese Einbildungskraft, welche einen solchen uns alle überdauernden und überragenden unsterblichen Menschen zu schaffen vermag. Auch sind die Geistesprozesse in diesem Dichter höchst auffällig. Er erblickt seine Gestalten und Situationen sinnfällig wie Wahrnehmungen. So kann er ihnen eine Wahrhaftigkeit geben, die sie Halluzinationen annähert. Mit seinen eigenen Gebilden lebt er wie mit wirklichen Personen und die Schmerzen derselben fühlt er als wirkliche Schmerzen. Er wandelt das eigene Ich in das seiner Helden, empfindet, denkt und redet aus ihnen. Gegenüber der philisterhaften Auffassung, die von dem biederen dichterischen Handwerker ausgeht, zeigt die biographische Forschung in dämonischen Naturen wie ROUSSEAU, GOETHE, BYRON, ALFIERI, DICKENS eine solche Mächtigkeit der sinnlichen Organisation, einen so elementaren, unwillkürlich und unwiderstehlich wirkenden Bautrieb der Phantasie, daß uns ihr Seelenleben ganz geheimnisvoll fremdartig erscheint und daß die Vorgänge in ihnen uns immer wieder an Traum und Wahnsinn erinnern. Denn auch der Träumende gibt in die von ihm erschaffenen Gestalten sein eigenes Innerstes und dann fürchtet er sie und erschrickt vor ihnen wie vor Wirklichkeiten. Und im Geisteskranken steigert sich dies Alles zu Halluzinationen und Wahnideen, sein eigenes Ich kann untergehen und er kann sich als eine andere Person wiederfinden. Worin ist diese Verwandtschaft begründet? Das Schlußverfahren aus den angedeuteten Symptomen kann nun beginnen: Erkenntnis der Ursachen.


II.

Ich bezeichne das, was dem Träumenden, dem Hypnotischen, dem Irren mit dem Künstler oder Dichter gemeinsam ist, als eine freie Gestaltung der Bilder und ihrer Verbindungen, uneingeschränkt von den Bedingungen der Wirklichkeit. Diese findet statt, wenn DANTE oder MILTON die Vision des Paradieses haben oder wenn ein Träumer im engen Gemach von Stern zu Stern fliegt, oder wenn der arme, misanthropische und fast irre JEAN JAQUES an einem Gewebe eingebildeter Verfolgungen spinnt. In allen diesen so verschiedenen Fällen muß die frei Gestaltung der Bilder  aus der Unabhängigkeit von den Bedingungen  erklärt werden,  die sonst Vorstellungen regulieren  und in klaren richtigen Verhältnissen zur Wirklichkeit erhalten. Ich behaupte nun, diese einander verwandten Wirkungen werden im Träumenden, dem Irren, dem Hypnotischen durch Ursachen ganz anderer Art hervorgebracht als im Künstler oder Dichter. Die höchste und schwierigste Leistung des Seelenlebens besteht darin, den erworbenen Zusammenhang desselben auf die gerade im Blickpunkt des Bewu8ßtseins befindlichen Wahrnehmungen, Vorstellungen und Zustände wirken zu lassen. Sie versagt im Traum und Wahnsinn; so fällt hier gleichsam der regulierende Apparat weg, welcher die Eindrücke, Vorstellungen und Gefühle in der Anpassung an die Wirklichkeit erhält; und nun entfalten und verknüpfen sich die Bilder in spielender Willkür. Dagegen in der Einbildungskraft des Dichters ist dieser Zusammenhang wirksam und nur die ausnahmsweise Energie des Gefühls, der Affekte, der sinnlichen Organisation hat eine freie Entfaltung der Bilder über die Grenzen des Wirklichen hinaus zur Folge.  Das Genie ist keine pathologische  Erscheinung, sondern der  gesunde, der vollkommene Mensch. 

Ich begründe diesen Satz. Zunächst aus der Zergliederung der Zustände, die von der Norm des wachen Lebens abweichen. Die Geisteskrankheiten, in denen sich eine Wahnidee ausbildet, haben ein gemeinsames Merkmal. Der Kranke vermag nicht, den erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens für die Vorgänge an den zur Zeit bewußten Vorstellungen, Gefühlen oder Antrieben zu verwerten. Daher fällt die Regulierung seiner Vorstellungsbildung durch die festen und allen gesunden Personen gemeinsamen Maßstäbe des Wirklichen aus. Gleichviel welche sonstige Störungen die Geisteskrankheit herbeiführt, Halluzinationen, Lähmung, Veränderung des Selbst- und Gemeingefühls: immer ist in ihr mit diesen Störungen die Minderung in der Energie des erworbenen psychischen Zusammenhangs verbunden. Von hier aus erhalten Merkmale, die sonst als charakteristisch für Geisteserkrankung gelten, ihre Begründung. GRIESINGER findet als solches Merkmal darin, daß für die psychischen Vorgänge zureichende äußere Veranlassung fehlen und so das harmonische Verhältnis zur Außenwelt aufgehoben ist. Aber es ist möglich hinter dieses charakteristische und wesentliche Merkmal der Geisteskrankheit auf das zurückzugehen, welches den Grund desselben enthält. Auch wo positive Reizerscheinungen auftreten, vermögen sie doch das harmonische Verhältnis zur Außenwelt nur dann zu stören, wenn die Regulierung vom Zusammenhang des Seelenlebens aus nicht mehr ausreichend wirksam ist. Hier liegt also die letzte uns faßbare psychologische Bedingung für das Auftreten der Erkrankung. -

Und zwar umfaßt dieser Zusammenhang unsere Vorstellungen, die in unseren Gefühlen gegebenen Wertbestimmungen und die in unserem Willen entstehenden Zwecke. Er besteht nicht in den Inhalten allein, sondern auch in den Verbindungen zwischen ihnen. Diese Verbindungen werden als Verhältnisse von Vorstellungen, als Wertabmessung, als Ordnung der Zwecke erfahren, erlebt und dann dem Zusammenhang des Seelenlebens eingeordnet.  Eine  Struktur gliedert in jedem von uns dieses Ganze: von der Außenwelt her ruft das Spiel der Reize Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellungen hervor; nun wird im Mannigfachen der Gefühle der Wert dieser Veränderungen für das Eigenleben erfahren; und die von den Gefühlen erregten Antriebe und Willensakte wirken dann wieder nach außen zurück. Diese beständige Wechselwirkung zwischen unserem Eigenleben und dem Milieu, in dem es atmet, leidet und handelt: das ist unser Leben. - Dieser Zusammenhang des Seelenlebens wirkt nun auf die im Blickpunkt des Bewußtseins befindlichen Vorstellungen oder Zustände. Er wird besessen und wirkt und ist doch nicht bewußt. Seine Bestandteile sind nicht klar vorgestellt, nicht deutlich getrennt; ihre Verbindungen sind nicht unterscheidbar herausgehoben; und doch sind die im Bewußtsein befindlichen Vorstellungen und Zustände zu diesem Zusammenhang orientiert, an ihm begrenzt, bestimmt und begründet. Dunkel, wie wir ihn besitzen, reguliert und beherrschaft er Affekte und Eindrücke. Genie ist der Blick für das Wesenhafte, der aus der Vollkommenheit und der Energie diese Zusammenhangs entspringt. Verglichen mit dieser höchsten und schwierigsten Leistung des Seelenlebens erfordert das logische Schließen eine viel geringere Energie des Bewußtseins oder auch der Gehirnfunktion. Denn es ist nur die Herstellung einer äußerlichen Vergleichung oder Beziehung zwischen wenigen Begriffen, die sich dazu im Blickpunkt des Bewußtseins befinden. So wirkt dieser erworbene Zusammenhang in einer sehr feinen und doch kraftvollen Weise regulierend. Er erhält das feste Verhältnis zu der ganzen erarbeiteten Einsicht in die Wirklichkeit. Mindert sich seine Energie, dann verliert der Geist die Kontrolle gegenüber der willkürlichen Auslegungen des auf ihm lastenden Gefühlsdrucks, gegenüber auftretenden Halluzinationen. Die Schlußvorgänge bleiben erhalten, aber verlieren ihr fein und sicher verkettetes Material. -

Ich stelle das physiologische Gegenbild neben diese psychologische Darlegung. In der Großhirnrinde sind die Bedingungen für die Reproduktion von Vorstellungen und ihren Verbindungen angesammelt, aufgespeichert. Sie ist gegenüber den einzelnen Reizungen, welche die subkortikalen Zentren in die Hemisphären werfen, gleichsam ein großer Ordnungs-, Hemmungs- und Regulierungsapparat. Versagt die normale Leistung dieses Apparats in Folge von Schwäche oder krankhafter Erregung, dann wird das Spiel der Reize frei, dann werden die Bewegungen der Vorstellungen unregelmäßig. Solche Reizungserscheinungen, die von den subkortikalen Zentren aus in die Hemisphären geworfen werden, sind die Halluzinationen. Sie können ansich vom Bewußtsein ihres subjektiven Charakters begleitet sein und sind es öfters. Aber wenn jener große Regulierungsapparat versagt, dann erhalten sie den Charakter der Wirklichkeit und werden die Unterlage von Wahnideen. Dann haben die pathologischen Veränderungen des Gemeingefühls kein Maß mhr an den erworbenen Wertbestimmungen. Einseitige, von der anormalen Gemütslage getragene oder zugleich von Halluzinationen gestützte Deutungen und Schlüsse werden nun nicht mehr von dem an der Wirklichkeit entwickelten und mit ihr harmonischen Zusammenhang des Seelenlebens reguliert. Man sieht, weder das logische Denken noch die gedächtnismäßige Reproduktion der Vorstellungen vermögen hier zu helfen. Sie können erhalten bleiben, denn sie sind bei einer geringeren Energie der Gehirnleistung noch möglich. Aber sie nützen nichts mehr. Die Wahnidee entsteht.

Der Traum ist dem Wahnsinn verwandt. An diesem Punkt erkennen wir nunmehr den nächsten Grund dieser Verwandtschaft. Mit dem Eintritt und während der Dauer des Schlafs findet eine Veränderung der Blutbewegung im Gehirn statt. Die Leistung der Großhirnrinde wird modifiziert. Unter solchen Bedingungen sehen wir nun auch hier den erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens in seiner Energie gehemmt. Je tiefer der Schlaf ist, desto weniger regelt dieser Zusammenhang das Spiel der einzelnen Reize, Assoziationen und Denkvorgänge. Zugleich sind die Pforten der Sinne geschlossen. Nur vereinzelnte unbestimmte Eindrücke schleichen sich ein. Nun entsteht das Traumbild. Es entstehen die stoffarmen Schlüsse des Traumes, welche diese Bilder miteinander verknüpfen. So ist auch hier die herabgesetzte Leistung des erworbenen psychischen Zusammenhangs eine augenscheinliche Bedingung für die freie Entfaltung der Bilder. Dieselbe Bedingung besteht für das Eintreten der Bilder im hypnotischen Zustand oder in der Narkose.

Im völligen Gegensatz gegen diese Zustände zeigt uns die geniale Einbildungskraft eine freie Entfaltung der Bilder und ihrer Verbindungen, welche bei großer Enerige des seelischen Zusammenhangs aus einer ganz ungewöhnlichen Stärke der Eindrücke, Gefühle und Phantasievorstellungen entspringt. - Alle Gebilde des Seelenlebens setzen sich aus Wahrnehmungen zusammen. Auch DANTE und MILTON hatten für die Schilderung der höllischen Flammen nur das Feuer zur Verfügung, das in jeder Küche brennt. Und will man sich mit VISCHER vorstellen, wie unseren Vorfahren auf den Pfahlbauten zumute war, so muß die Phantasie auf unseren Schnupen und unsere Rheumatismen zurückgreifen. Den Dichter unterscheidet zunächst der Reichtum farbensatter Bilder. Sie haften in seinem Gedächtnis. Alle Dichter, die ich sah, waren große Erzähler. Diese Bilder sind von der erregenden Kraft der Gefühle und Affekte erfüllt. Sie leben sich aufgrund eines selbständigen Interesses an ihnen aus. Denn dem gewöhnlichen Menschen sind seine Wahrnehmungen Zeichen für etwas, das in der Rechnung seiner Absichten eine bestimmte Stelle einnimmt; dagegen das künstlerische Genie gleicht einem Reisenden, der sich den Bildern eines fremden Landes hingibt, ohne Absichten, ohne Berechnung, in völliger Freiheit. Ein dunkler Drang treibt es, den ganzen Reichtum des Lebens mit allen Organen zu erfassen. Welche Erfahrungen sammelte SHAKESPEARE, als Sohn eines Landbesitzers aufwachsend, dann Advokatenlehrling, darauf, fast noch ein Knabe, hinter sich die Erfahrungen von Liebe und Ehe, in das Meer des Londoner Lebens geworfen, darin zu schwimmen, von da ab in höchst zusammengesetzten Lebensverhältnissen, im Zeitalter der ELISABETH, in dem die heroischen Leidenschaften nackt gingen und die blutigsten Staatsaktionen vor aller Augen stattfanden. Was durchlebte CERVANTES, als Sekretär eines päpstlichen Legaten, als Soldat in so vielen Feldzügen, in den Ketten des Sklaven, im Handwerk des Schriftstellers. Wieviele unzählige Bilder sammelte DICKENS, nacheinander Lehrjunge, Advokatenschreiber, Reporter im Parlament und auf allen Straßen Englands, in Europa wie in Amerika zuhause, und überall, in Schulen, Gefängnissen, Irrenhäusern wie in Palästen und Theatern den Menschen studierend. Die großen erfindenden Dichter waren nicht müssige Zuschauer des Lebens, sondern sie haben mitgespielt in allen Komödien und Tragödien desselben. -

Wir gehen weiter. Die aus diesen Erfahrungen stammenden Erinnerungsbilder und Einbildungsvorstellungen haben in der sinnlichen Organisation des großen Poeten einen ungewöhnlichen Charakter. FECHNER untersuchte zuerst die Verschiedenheit der Bilder nach der Klarheit der Zeichnung, der Stärke der Empfindungen, der Energie der Projektion in das Sinnesfeld. Von den fast farblosen, formunbestimmten Schattenbildern in abstrakten Köpfen geht eine Reihe von Stufen aufwärts zu den bestimmt gezeichneten, energisch gefärbten, in den Sinnesraum projizierten Gestalten: auf dem Gipfel steht der Künstler, der Dichter. Seine Gestalten bewegen sich vor ihm und er vernimmt ihre Stimme. Ihre Schmerzen und ihre Schicksale sind ihm Wirklichkeiten. Als sich DICKENS dem Ende seiner Erzählung  Sylvesterglocken  näherte, schrieb er: "seit ich das ausdachte, was geschehen muß, habe ich soviel Kummer und Gemütsbewegung ausgestanden, als wäre die Sache etwas Wirkliches. Ich mußte mich einschließen als ich fertig war, denn mein Gesicht war zum Doppelten seiner Größe angeschwollen und gewaltig lächerlich." BALZAC sah von Kindesbeinen an Erinnerungsbilder so deutlich und farbig wie Wahrnehmungen und er vergleicht sein sonderbares Vermögen, "wie der Derwisch in Tausend und eine Nacht Seele und Körper anderer Personen anzunehmen" mit einem wachen Traum oder zweiten Gesicht. FLAUBERT erzählt:
    "die Gestalten meiner Einbildungskraft affizieren mich, verfolgen mich, oder vielmehr ich bin es, der in ihnen lebt. Als ich beschrieb, wie EMMA BOVARY vergiftet wird; hatte ich einen so deutlichen Arsengeschmack auf der Zunge, war ich selbst so richtig vergiftet, daß ich hintereinander davon zwei Indigestionen [Verdauungsstörungen - wp] akquirierte [zuzog - wp], zwei reelle Indigestionen; den ich habe mein ganzes Diner wieder von mir gebrochen."
Und GOETHE äußerte an SCHILLER, er erschrecke vor dem bloßen Unternehmen, eine wahre Tragödie zu schreiben und sei beinahe überzeugt, daß er sich durch den Versuch zerstören könne. - Wir fahren wieder fort. Diese Bilder entfalten sich nun aber im Dichter frei vom Zwang des Wirklichen, nach dem Gesetz, eine möglichst vollständige und dauernde Befriedigung der Gefühle zu gewähren. Im wirklichen Leben wechseln unruhig Begehren und Genuß; das Glück ist nur ein flüchtiger Silberblick desselben; dagegen atmen die großen Kunstwerke eine Ruhe, die sie der Zeit entnimmt, weil sie immer neu den zurückkehrenden Betrachter mit totaler Befriedigung erfüllen. Das ist das einzig wesentliche Merkmal der Schönheit. Und zwar ruft der Poet absichtlich die Entfaltung der Bilder in dieser Richtung hervor. Er trennt dieses Reich des schönen Scheins von der Wirklichkeit. So bildet sich eine Traumsphäre der Dichtung, innerhalb deren im Augenblick der Begeisterung die Bilder volle Realität haben. Die Art von Jllusion, die hier stattfindet, ist der vergleichbar, die wir am spielenden Kind gewahren. Die Kunst  ist  ein Spiel. Der Dichter und das spielende Kind glauben beide, das Kind an das Leben seiner Puppen und Tiere, der Poet an die Wirklichkeit seiner Gestalten. Und glauben beide doch nicht. - So ist der Künstler, der Dichter in der außerordentlichen Macht der sinnlichen Organisation, aber dann auch in der Trennung des aus ihr entspringenden schönen Scheins von der unbezwinglichen Wirklichkeit, der gesunde und vollkommene Mensch.


III.

Wir haben die große Verschiedenheit der Bedingungen erkannt, unter denen die freie Entfaltung der Bilder über das Wirkliche hinaus stattfindet. Aber überall vollzieht sich diese Entfaltung nach denselben Gesetzen. So treten wir vor die Frage:  welches sind diese Gesetze?  Von neuem wenden wir uns an den Traum, die Geisteskrankheit, den Vorgang im Genie. Die Beziehung der physiologischen Vorgänge zu dieser Entfaltung der Bilder entzieht sich uns noch. Aber psychologisch angesehen hat in diesen Zuständen die Natur Versuche für uns angestellt. Sie hat hier auf verschiedene Art die regulierende Macht der erworbenen Vorstellungen vermindert. So läßt sie hier Lebensgesetze erkennen, die sonst leicht unbemerkt blieben.

In der herrschenden Psychologie werden Vorstellungen als feste Tatsachen behandelt und Gesetze werden aufgestellt, nach denen sie einander reproduzieren und verdrängen. Diese Gesetze sind eine Abstraktion, obwohl eine nützliche. Im realen Seelenleben ist das Schicksal eines Bildes, d. h. einer unzerlegten Einzelvorstellung, von den Gefühlen und der Verteilung der Aufmerksamkeit abhängig. Das Bild erhält so eine triebartige Energie. Es ist Leben, Vorgang. Es entsteht, entfaltet sich und erlöscht wieder. Dasselbe Bild kehrt so wenig wieder, als ein abgefallenes Blatt im neuen Frühling. Diese Lebendigkeit der Bilder erweist sich nun an einigen höchst merkwürdigen Vorgängen.  Bilder verändern sich, indem Bestandteile ausfallen oder ausgeschaltet werden.  Wenn der Physiker im Traum fliegt, sind die Erfahrungen der Schwere für ihn verloren. Wenn der Maler aus dem Modell die Madonna bildet, werden widerstrebende Züge ausgeschaltet.  Bilder verändern sich, indem sie sich dehnen oder zusammenschrumpfen, indem die Intensität der Empfindungen,  aus denen sie zusammengesetzt sind,  sich verstärkt  oder  vermindert.  Dem Träumer wird der Schall des entfallenen Buches zum Schuß, das Schnarchen neben ihm zur tosenden Brandung, er fühlt die Wärmflasche unter seinen Fußsohlen und glaubt auf der Spitze des Aetna zu wandern. Oder die Zahl der Bilder wächst ihm. Eben sah er einen Fremden neben sich liegen, wie er wieder hinblickt liegen da zwei, mehrere fremde Personen. Oder die Bilder dehnen sich. Das dem Hypnotisierten vorgehaltene Zündholz wird ihm zur Feuersbrunst und diese verbreitet sich über sein ganzes Gesichtsfeld. So wächst auch das, was auf dem Hypochondrischen oder Gestörten lastet, weit über die Tatsachen hinaus.  Bilder und ihre Verbindungen ändern sich, indem in ihren innersten Kern neue Bestandteile und Verbindungen eintreten  und so diesen ergänzen. Assoziationen leiten vielfach solche Veränderungen ein. So wird der Stil des bildenden Künstlers durch Gewöhnungen der Phantasie beeinflußt, die schon sein Sehen leiten. Er zieht die Körper ins Schlanke. Er gewahrt sie unter den Bedingungen eines bestimmten Materials. Ich hebe aber besonders einen Vorgang hervor, der für die Poesie entscheidend ist. In unserem psycho-physischen Wesen ist uns die Beziehung eines Innen und Außen gegeben und diese übertragen wir überall hin. Wir deuten oder versinnlichen unsere Zustände durch äußere Bilder und wir beleben oder vergeistigen Außenbilder durch innere Zustände. Hier ist eine mächtige Wurzel von Mythos, von Metaphysik, vor allem aber von Poesie. Die kernhafte Idealität des Kunstwerks liegt in dieser Symbolisierung eines ergreifenden inneren Zustandes durch Außenbilder, in dieser Belebung äußerer Wirklichkeit durch einen hineingesehenen inneren Zustand. - Diese Veränderungen im Kern der Bilder vollziehen sich im Zeitverlauf. Denn die Aufmerksamkeit als ein begrenztes Quantum von Kraft vermag nur in diesem die Bilder zu gestalten. So entfalten sich die Bilder.

Aus diesen Vorgängen können nun die Selbstzeugnisse der Dichter über das Wirken der Einbildungskraft in ihnen verstanden werden. Der einfachste Fall, gleichsam das Urphänomen der Einbildungskraft, liegt in der Entfaltung der Bilder vor, welche GOETHE an sich beobachtete. "Ich hatte die Gabe, wenn ich die Augen schloß und mit niedergesenktem Haupt mir in die Mitte des Sehorgans eine Blume dachte, so verharrte sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, sondern sie legte sich auseinander und aus ihrem Innern entfalteten sich wieder neue Blumen aus farbigen, wohl auch grünen Blättern. Es waren keine natürlichen Blumen, sondern phantastische, jedoch regelmäßig wie die Rosetten der Bildhauer. Es war unmöglich die hervorsprossende Schöpfung zu fixieren." GOETHE fügt hinzu: "man sieht deutlicher, was es heißen wolle, daß Dichter und alle eigentlichen Künstler geboren sein müssen. Es muß nämlich die innere produktive Kraft jene in der Erinnerung zurückgebliebenen Idole freiwillig, ohne Vorsatz und Wollen lebendig hervortun, sie müssen sich entfalten." In den Wahlverwandtschaften, diesem echten Roman des 19. Jahrhunderts, in dem sich überall die physiologische Bedingtheit der höchsten Gemütsvorgänge ausspricht, läßt GOETHE seine OTTILIE zwischen Schlaf und Wachen den abwesenden Geliebten in wechselnden Situationen innerhalb eines erleuchteten Raumes gewahren. - Nun mag der russische Poet GONTSCHAROF den Phantasievorgang schildern, in welchem eine Dichtung entsteht. Dieser zeigt sich dem Urphänomen der Phantasie verwandt, wie es GOETHE in sich fand und dessen Analogon wir Phantasiearme in den Schlummerbildern erleben. "Immer schwebt mir eine bestimmte Gestalt und dabei ein Hauptmotiv vor: an seiner Hand schreite ich vorwärts. Ich arbeite dann so rasch, daß die Feder kaum folgen kann, bis ich an eine Mauer stoße. Unterdessen arbeitet mein Kopf weiter, die Personen lassen mir keine Ruhe, erscheinen in verschiedenen Szenen, ich glaube Bruchstücke ihrer Gespräche zu hören, und schon oft ist es mir vorgekommen, als seien das nicht meine Gedanken, sondern als schwebe dies Alles um mich her und ich brauche nur hinzusehen." Zu diesem Selbstzeugnis GONTSCHAROFs fügen Sie nun die anderen, in denen die mächtige Einwirkung der Gefühle und Affekte auf die Verwandlung der Bilder beschrieben wird. SCHILLER bemerkt, wie die "Werke der Begeisterung" oft durch einen "unbestimmten Drang nach Ergießung strebender Gefühle" erzeugt werden. ALFIERI berichtet, wie seine meisten Tragödien während oder nach dem Anhören großer Musik den Schlüsser für das Verständnis der Poesie.

Diese Zeugnisse nehmen Sie also mit den vorigen zusammen; nun wird das folgende Bekenntnis OTTO LUDWIGs, des Dichters des Erbförsters, nicht zur  zu  wundersam erscheinen. "Mein Verfahren ist dies: es geht eine Stimmung voraus, eine musikalische, die wird mir zur Farbe, dann sehe ich Gestalten, eine oder mehrere, in irgendeiner Stellung oder Gebärdung, für sich oder gegeneinander. Wunderlicherweise ist jenes Bild oder jene Gruppe gewöhnlich nicht das Bild der Katastrophe, manchmal nur eine charaktistische Figur in irgendeiner pathetischen Stellung. Von der erst gesehenen Situation aus schießen blad nach vorwärts bald nach dem Ende zu immer neuen plastisch-mimischen Gestalten und Gruppen an, bis ich das ganze Stück habe. Das alles in großer Hast, wobei sich mein Bewußtsein ganz leidend verhält."

So walten in den Werken der dichterischen Einbildungskraft psychologische Gesetze. Wie diese Werke aus dem Gefühl gestaltet sind, erregen sie es wieder. Daher ist jede wahre Dichtung eine mächtige Lebendigkeit, aber für den Verstand unfassbar, GOETHE sagte: inkalkulabel. Sie stellt nicht eine Idee dar, wie schulmeisterliche Poetik annimmt. Doch entsteht sie nach Gesetzen. Und aus dieser Gesetzmäßigkeit, mit welcher die Einbildungskraft im Dichter wirkt, folgt, daß sie das Typische, das Idealische hervorbringt. Wir finden schon in Traum und Wahnsinn mit merkwürdiger Regelmäßigkeit an Sensationen und innere Zustände stets bestimmte Bilder gebunden, welche jene Zustände deuten, erklären und darstellen. Eine Art von armen verkümmerten Symbolen. Man könnte den Kreis dieser typischen Bilder beschreiben. Reich und doch gesetzmäßig entfalten sich aber in der Menschheit die großen festen Symbole des Mythos, der Metaphysik, der Poesie. Und wenn das Leben dieser Erde erstarrte und irgendwo entstände eine neue Menschheit aus denselben Keimen: es würde wieder dieselbe beschränkte Zahl von Motiven, Situationen und Typen entstehen; das Wesenhafte von FAUST, RICHARD, HAMLET, DON QUICHOTTE müßte sich wiederholen; von Neuem sähe man den bescheidenen Jüngling, WILHELM MEISTER oder COPPERFIELD - er hat noch viele andere Namen - sich aus einfachen Anfängen durch widrige Verhältnisse zur Freiheit des Lebens emporarbeiten: denn das ist doch unsere moderne  Ilias  und  Odyssee.  Das alles müßte wiederkehren. Denn dieselben Gesetze beherrschen überall die Einbildungskraft und die Natur des Menschen. Glücklich wer in ihrem Studium leben darf.

Die Stifter dieser militär-ärztlichen Bildungsanstalten haben gewollt, daß der humane Geist, der aus einer solchen allseitigen Betrachtung der Menschennatur fließt, auch in den heranwachsenden Ärzten gepflegt werde. So haben in ihrem Lehrplan auch der Philosophie einen bescheidenen Platz eingeräumt. Möge eine solche vornehme Gesinnung immer in diesen Räumen herrschen. Möge Gott Sr. MAJESTÄT unseren Kaiser erhalten und schützen, in welchem wir ein Vorbild aller vornehmen, humanen und hohen Gesinnung verehren.
LITERATUR: Wilhelm Dilthey, Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn, Rede gehalten zur Feier des Stiftungstages der militär-ärztlichen Bildungsanstalten am 2. August 1886, Leipzig 1886