p-4A. RiehlK. LewinHönigswaldC. PrantlP. Duhem    
 
KURT LEWIN
Der Übergang von der
aristotelischen zur galileischen Denkweise

(in Biologie und Psychologie)
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Die Psychologie spricht von kindlichen  Fehlern,  vom  Üben,  vom  Verlernen  im gleichen anthropomorphen Sinne, wie etwa die junge Botanik von  Nutzpflanzen  und  Schädlingen. 

a) ARISTOTELISCHE BEGRIFFSBILDUNG

1. Wertartige Begriffe. Abstraktive Klassifikation
Obschon die Unterscheidung "irdisch-himmlisch" den heutigen Forscher außerordentlich anthropomorph anmutet, spielt die gleiche Denkweise in der Psychologie bis in die Gegenwart hinein eine sehr große Rolle. Hier hat z.B. die nicht minder von Wertbegriffen herkommende Unterscheidung "normal- und "pathologisch" lange Zeit hindurch zwei Gegenstandssphären in der Psychologie scharf getrennt und sachlich eng Zusammengehöriges auseinandergerissen.

Nicht minder wichtig ist, daß wertartige Begriffe die Einzelprobleme völlig beherrschen oder bis vor kurzem beherrscht haben, Nur allmählich tritt z.B. an Stelle des von erkenntnistheoretischer Kategorien herkommenden Begriffes der optischen Täuschung (durch den diese Täuschungen ungerechtfertigterweise begrifflich zusammengefaßt und gegen die übrigen Phänomene der psychologischen Optik isoliert werden) die Kennzeichnung jenes Gestaltzusammenhanges, um den es sich jeweils handelt. Die Psychologie spricht von kindlichen "Fehlern", vom "Üben", vom "Verlernen" im gleichen anthropomorphen Sinne, wie etwa die junge Botanik von "Nutzpflanzen" und "Schädlingen". Sie ordnet also Gesamtprozesse nach der Werthaltigkeit des Produktes, nicht nach der Natur der jeweils vorliegenden psychologischen Prozesse.

Gewiß ist die Psychologie gegenwärtig darüber hinaus, wenn sie von "Störungen", von Minder- oder Mehrleistungen in der Entwicklung, von der Güte der Leistung beim Test spricht, die Geschehnisse nur nach Wertkategorien zu ordnen. Allenthalben gibt es Ansätze, zu den wirklich psychologischen Prozessen vorzustoßen- Aber es kann kaum zweifelhaft sein, daß man hier noch in den Anfängen steht. Viele Begriffe zeigen jene für die aristotelische Physik charakteristische Zwischenstellung zwischen werthaltigem und wertfreiem Charakter, der z.B. für die Gegenüberstellung von Intelligenz und Schwachsinn, von Trieb und Wille charakteristisch ist. Die Abgrenzung der Begriffsbildung der Psychologie von den "Leistungsbegriffen" der Pädagogik, Medizin und Ethik ist nur zum Teil vollzogen.

Auch die für die abstraktive Klassifikation typische Denkweise und der allmähliche Übergang zu Funktionsbegriffen tritt in der jüngsten Entwicklung der Psychologie eindringlich zutage. In der Wahrnehmungspsychologie sind z.B. innerhalb der psychologischen Optik schon lange für gewisse Phänomene an Stelle sprunghafter Klassifikationen wesensverschiedener Elemente kontinuierliche Ordnungen getreten und gegenwärtig beginnt sich auch die starre Klassifikation nach Sinnesgebieten (Gesicht, Gehör, Geruch) wesentlich aufzulockern. In der Charakterlehre allerdings beherrscht die aristotelische Klassifikationsmethode trotz des wachsenden Gefühls für die Unzulänglichkeit des Verfahrens im Grunde noch immer die Typeneinteilung.

Die Trennung von Intelligenz, Gedächtnis, Trieb, Wille trägt noch durchaus aristotelisches Gepräge, und auf manchen Gebieten, z.B. bei der Einteilung der Gefühle (Lust, Unlust), der Temperamente oder Triebe sind zweischnittartige (=gegensatzbedingte) Klassifikationen auch gegenwärtig von großer Bedeutung. Nur allmählich verlieren diese Klassifikationen an Gewicht und weichen einer Auffassung, die die gleichen Gesetze durch alle diese Gebiete hindurch zu verfolgen sucht und die das Gesamtgebiet nach anderen, wesentlich funktionelleren Verschiedenheiten zu gruppieren unternimmt.

2. Zufälligkeit des Individuellen
Ganz ähnlich wie die aristotelische Physik ist die Begriffsbildung der Psychologie beherrscht von der Frage der Regelmäßigkeit und zwar der Regelmäßigkeit im Sinne der Häufigkeit. Das äußert sich in der unmittelbaren Stellung zum einzelnen Phänomen ebenso wie in ihrer Stellung zur Gesetzlichkeit.

Zeigt man etwa im Film einen konkreten Geschehensverlauf bei einem bestimmten Kinde, so pflegt die erste Frage des Psychologen zu sein: "Machen das alle Kinder so, oder ist das wenigstens häufig?" Ist diese Frage zu verneinen, so verliert der betreffende Vorgang nicht selten den Anspruch auf wissenschaftliches Interesse ganz oder fast ganz. Sich mit einem solchen "Ausnahmefall" zu befassen erscheint als eine wissenschaftlich nicht sehr wichtige Marotte.

In dieser tatsächlichen Haltung des Forschers kommt klarer vielleicht als in manchen Theorien seine Stellung zum individuell Einmaligen und zum Problem der Individualität zum Ausdruck. Das Einmalige erscheint als "zufällig", ohne Gewicht, als wissenschaftlich gleichgültig. Es sei denn, daß es sich um etwas "Außergewöhnliches" handelt, um ein "großes" Erlebnis, daß das Schicksal der betreffenden Person maßgebend beeinflußt hat, oder um eine geschichtlich bedeutsame Persönlichkeit. In solchen Fällen pflegt betont zu werden, daß aller Individualität eine "Originalität" zu kommt, die letzten Endes einen mystischen nur noch intuitiven, aber nicht mehr wissenschaftlich erfaßbaren Charakter besitzt.

Bagatellisierung wie Überbewertung des Individuellen führen gleicherweise dazu, daß das, was nicht wiederholt auftritt, außerhalb des Bereiches der begrifflich faßbaren Gegenstände bleibt.

Nach dem Versuch einer physikalisch strengen Dynamik endet man also bei einer zum Indeterminismus hinneigenden Auffassung, wenigstens für das Individuum. "Philosophisch" wird diese These damit begründet, daß sich Individuum und Gesetz prinzipiell widersprechen: das Gesetz sei nur in der nicht-individualistischen Welt der Physik möglich, im Leben aber herrsche letzten Endes Freiheit.

3. Gesetzlichkeit als Häufigkeit
Die Wertschätzung der Häufigkeit beruht in der gegenwärtigen Psychologie und Biologie ebenso wie in der aristotelischen Physik letzten Endes darauf, daß es fraglich ist, ob und wieweit es Gesetzlichkeit in der Welt des Psychischen gibt. Ich brauche hier nicht ausführlich darzustellen, welches Schicksal die These von der Gesetzlichkeit der Lebensvorgänge in der philosophischen Diskussion gehabt hat. Es genügt darauf hinzuweisen, daß in der Psychologie von manchen Forschern auch gegenwärtig noch die Beschränktheit der Gesetzlichkeit auf bestimmte "niedere" Sphären des Psychischen vertreten wird.

Für uns wichtiger ist es, daß sich, selbst wo man "prinzipiell" anderer Meinung war, in der tatsächlichen Forschung der Psychologie und zwar auch der experimentellen Psychologie das Gebiet dessen, was als gesetzlich angesehen wird, nur sehr allmählich verbreitert hat. Wenn die Psychologie sich nur zögernd über das Gebiet der Sinnespsychologie hinaus an eine experimentelle Untersuchung der Willens- und Affektprozesse heranwagt, so sind dafür sicher nicht nur sachliche Schwierigkeiten verantwortlich zu machen, sondern vor allem auch der Gedanke, daß auf diesen Gebieten eine Wiederkehr des Gleichen nicht oder nur in geringem Ausmaße zu erwarten ist.

Derartige Wiederholungen aber bleiben für diese Einstellung eine Voraussetzung der Gesetzlichkeit, ja der begrifflichen Faßbarkeit eines Vorganges.

In der Tat braucht jede Psychologie, für die die Gesetzlichkeit nicht zur "Natur des Psychischen" gehört und also nicht ohne weiteres auch für die einmaligen psychischen Prozesse Geltung hat, ebenso wie die aristotelische Physik notwendig  Kriterien  dafür,  ob  im einzelnen Falle etwas Gesetzliches vorliegt oder nicht. Und ganz ebenso wie in der aristotelischen Physik wird die Häufigkeit des Vorkommens zu diesem Kriterium. Es spricht für die Tiefe und die Zwangsläufigkeit dieses inneren Zusammenhanges, daß sich dieser Sachverhalt selbst am Experiment, also an einem seiner Bedeutung nach relativ modernen wissenschaftlichen Hilfsmittel dokumentiert. Noch für WUNDT gehört Wiederholbarkeit geradezu zum Begriff des Experimentes. Erst in den letzten Jahren beginnt man zögernd diese Forderung aufzugeben, die große Gebiete des Psychischen dem Experiment prinzipiell vorenthält.

Wichtiger aber als selbst diese Einengung der experimentellen Forschung ist vielleicht der Umstand, daß die Bewertung der Wiederholung bzw- der Häufigkeit des Vorkommens als Dokument und Ausdruck einer Gesetzlichkeit die gesamte Begriffsbildung vor allem der weniger entwickelten Zweige der Psychologie beherrscht.

4. Klasse und Wesen
Ganz ähnlich wie in der aristotelischen Physik wird z.B. in der Kinderpsychologie das als wesentlich für ein bestimmtes Alter oder in der Affektpsychologie das als wesentlich für einen bestimmten Ausdruck, etwa die Furcht, angesehen, was einer Gruppe von Einzelfällen gemeinsam ist. Es ist der Begriff der Klasse im aristotelischen abstraktiven Sinne, der die Begriffsbildung und die Art der Zusammenfassung im einzelnen bestimmt.

Deutlich genug zeigt sich auch jener Zug des aristotelischen Denkens, der in der abstraktiv definierten Klasse zugleich das Wesen der Sache sieht, also das, was das Verhalten des einzelnen Gegenstandes "erklärt". Das, was Kindern eines bestimmten Alters gemeinsam ist, wird zum Wesen der Kinder dieses Alters erhoben. Die Tatsache z.B., daß dreijährige Kinder relativ häufig trotzig sind, läßt den Trotz als etwas zum Wesen des Dreijährigen gehöriges erscheinen, und der Begriff des Trotzalters wird dann als eine (wenn auch vielleicht noch nicht ganz ausreichende) Erklärung für das Auftreten des Trotzes im gegebenen Falle angesehen.

Ganz analog ist der Begriff des Triebes, etwa des Nahrungstriebes oder des Triebes zur Fürsorge für das Kind, im wesentlichen durch ein abstraktives Herausheben des Gemeinsamen einer Gruppe von relativ häufig vorkommenden Handlungen gewonnen; dieses Gemeinsame wird zum Wesen dieser Handlungen erhoben, und soll nun seinerseits die Tatsache des häufigen Vorkommens der entsprechenden Triebhandlung, also etwa der Fürsorge für das Kind erklären. Ähnlich verfährt man bei den meisten Erklärungen des Ausdrucks, des Charakters, der Temperamente. Hier wie in einer ganzen Reihe anderer grundlegender Begriffe, etwa dem Begriff der Fähigkeit, der Begabung oder ähnlicher bei den Tests verwendeten Begriffe (Intelligenz) liegt im Grunde die gleiche aristotelische "Wesenserklärung" vor, die man seit langem als Vermögenspsychologie, als eine im Zirkel laufende Erklärung bekämpft hat, ohne daß es gelungen ist, sie wirklich durch eine andere Begriffsbildung zu ersetzen.

5. Statistik
Der klassifikatorische Charakter der Begriffsbildung und die Betonung der Häufigkeit äußert sich methodisch in der überragenden Bedeutung, die die Statistik in der gegenwärtigen Psychologie hat.

Das statistische Verfahren ist jedenfalls in der Art, wie es gegenwärtig in der Psychologie meist angewendet wird, vielleicht der handgreiflichste Ausdruck dieser Begriffsbildung: Aus einer Gruppe von vorgefundenen Fakten wird das Gemeinsame herausgestellt, es wird der Durchschnitt berechnet. Dieser Durchschnitt bekommt repräsentativen Wert und charakterisiert z.B. als Intelligenzalter die Eigenheiten "des" zweijährigen Kindes. Äußerlich unterscheidet sich das Verfahren der gegenwärtigen psychologischen Statistik, die viel mit Zahlen und Kurven arbeitet, allerdings wesentlich von der aristotelischen Physik. Aber dieser Unterschied betrifft mehr die Technik der Durchführung als den Gehalt der Begriffe. Denn die statistische Denkweise, die eine notwendige Konsequenz der aristotelischen Begriffsbildung ist, zeigt sich, wie erwähnt, auch in der aristotelischen Physik. Nur läßt die Entwicklung der Mathematik und der Ausbau der allgemeinen wissenschaftlichen Methodik dieses statistische Verfahren in der Psychologie ungleich deutlicher und durchstrukturierter zum Ausdruck kommen.

Dieser formale Ausbau der Methodik hat die Art der dahinter stehenden Begriffsbildung nicht geändert, hat ihr nichts von ihrem aristotelischen Charakter genommen. Ja, diese Mathematisierung und Durchbildung der Methodik macht die Herrschaft des Geistes dieser Begriffsbildung nur um so schrankenloser und stabiler. Sie bedeutet zweifellos eine Erschwerung der Erkenntnis ihres wirklichen Charakters und des Überganges zu einer anderen Begriffsbildung, eine Erschwerung, mit der die Physik nicht zu kämpfen hatte, weil die Mathematisierung der aristotelischen Denkweise dort nur einen relativ geringen Ausbau erfahren hatte.

6. Erkenntnisschranken. Ausnahmen
Gesetzlichkeit wird zur Regelmäßigkeit in Beziehung gebracht und als Gegensatz zum individuellen Fall aufgefaßt.

Soweit die Psychologie explizit auf die Geltungsform ihrer Sätze eingeht, geschieht ihre Zurechnung zu den nur regelmäßig geltenden Sätzen zum Teil in der Form, daß man sich eines Gegensatzes von Regelmäßigkeit und Gesetzlichkeit bewußt bleibt, daß man aber dem Biologischen und vor allem dem Psychischen (im Gegensatz zum Physischen) generell "nur" Regelmäßigkeit zuspricht. (Oder aber man glaubt, Gesetzlichkeit sei an sich nur ein Extremfall der Regelmäßigkeit.) Damit entfallen alle prinzipiellen Unterschiede, zugleich allerdings besteht dann die Notwendigkeit, den Grad der Regelmäßigkeit jeweils zu bestimmen.

Der Umstand, daß Gesetzlichkeit und Individualität als Gegensätze aufgefaßt werden, wirkt sich in der tatsächlichen Forschung nach zwei Richtungen aus. Er bedeutet einmal eine Beschränkung der Forschung. Er läßt es als hoffnungslos erscheinen, den wirklich einmaligen Ablauf eines Affekts, die wirkliche Struktur des Charakters des einzelnen Individuums zu erkennen. Er drängt also auf eine nur durchschnittliche Behandlung dieser Probleme (etwa durch Tests oder Fragebogen). Wem diese Methoden unzulänglich erscheinen, der vertritt, wie erwähnt, häufig genug mit müdem Skeptizismus oder aber mit schwärmerischer Hochschätzung der Individualität die These, daß solche Gebiete, in denen ein Vorkommen hinreichend gleicher Fälle nicht häufig genug zu erwarten ist, der begrifflichen Erfassung unzugänglich sind.

Die Art, wie die These: qualitative Eigenheit und Gesetzlichkeit seien Gegensätze, in der Diskussion über die experimentelle Psychologie immer wieder verwendet wird, gleicht bis ins einzelne jenen Argumenten, mit denen die galileische Physik zu kämpfen hatte. Wie, meinte man damals, kann man es wagen, qualitativ so Verschiedenartiges, wie die Bewegung der Gestirne, das Fliegen der Blätter im Winde, den Flug des Vogels und den herabrollenden Stein unter ein Gesetz der Bewegung zusammenfassen zu wollen. Die These einer Gegensätzlichkeit von Gesetz und Individualität entspricht so sehr der aristotelischen Auffassung und der primitiven Denkweise, die die Philosophie des täglichen Lebens ausmacht, daß sie häufig genug selbst den Physiker erfaßt, wenn er nicht Physik treibt, sondern philosophiert.

Die Unmöglichkeit, den konkreten Einzelfall als solchen begrifflich zu erfassen, bedeutet neben dieser Beschränkung in Wirklichkeit auch eine Annehmlichkeit für die Forschung. Es genügt Regelmäßigkeiten aufzuzeigen. Das Anspruchsniveau der Psychologie in bezug auf die Stringenz ihrer Sätze geht lediglich soweit, daß eine Geltung im "allgemeinen", im Durchschnitt verlangt wird. Bei der "Kompliziertheit" und der "flüchtigen Natur" der Lebensvorgänge, so sagt man, erscheint es unbillig, eine ausnahmslose Gültigkeit zu verlangen. Nach dem Satze: "Ausnahmen bestätigen die Regel", werden Ausnahmen in der Psychologie nicht als Gegenargumente gewertet, sofern nur die Häufigkeit des Vorkommens solcher Ausnahmen nicht zu groß ist.

Auch in der Stellung zum Begriff der Gesetzlichkeit zeigt sich also klar und eindringlich der aristotelische Charakter dieser psychologischen Begriffsbildung. Er beruht auf einem geringen Zutrauen zur Gesetzlichkeit des Psychischen, hat für den Forscher aber zugleich die Annehmlichkeit, nicht allzu hohe Anforderungen an die Geltung und an den Beweis der psychologischen Sätze zu stellen.

7. Historisch-geographische Begriffe
Für die Auffassung vom Wesen der Gesetzlichkeit und für die Betonung der Wiederholung war in der aristotelischen Physik, wie wir gesehen haben, neben den eben genannten Motiven der unmittelbare Bezug auf die vorliegende "Wirklichkeit" im historisch-geographischen Sinne grundlegend. Auch die Begriffsbildung der gegenwärtigen Psychologie - und das ist charakteristisch für die Tiefe der Verwandtschaft dieser Denkweisen - ist in breiten Bereichen beherrscht von der gleichen unmittelbaren Bezugnahme auf das historisch-geographisch Gegebene. Diese historischen Züge der Begriffsbildung treten wiederum nicht immer klar als solche zutage, sondern sind noch in eigentümlich undifferenzierter Weise mit der ahistorischen Systematik verknüpft. Die quasi-historische Denkweise bildet meines Erachtens den Kernpunkt für das Verstehen und die Kritik dieser Begriffsbildung.

Wenn wir z.B. auf das "statistische" Verfahren verwiesen haben, so ist letzten Endes nicht das mathematisch Formale für die hier zur Diskussion stehenden Fragen entscheidend. Nicht der Umstand, daß ein arithmetisches Mittel genommen wird, daß man addiert und dividiert, ist Gegenstand unserer Erörterung. Diese Rechenoperationen werden gewiß auch in Zukunft von der Psychologie verwendet werden. Nicht daß das statistische Verfahren angewendet wird, sondern wie es angewendet wird, insbesondere welche Fälle zur statistischen Weiterverarbeitung zu Gruppen vereinigt werden, ist entscheidend.

In der gegenwärtigen Psychologie hängt die Art dieser Zusammenfassungen mehr oder minder unmittelbar von historischgeographischen Konstellationen und von der Häufigkeit des tatsächlichen Vorkommens ab. Die Art etwa, wie das Wesen des ein-, zwei- oder dreijährigen Kindes durch statistische Durchschnittsberechnungen gewonnen wird, entspricht in der unmittelbaren Bezugnahme auf das historisch Gegebene durchaus der Sammlung der vorkommenden Fälle von Trockenheit in den tabulae praesentiae BACONs. Eine gewisse gröbste Rücksichtnahme auf solche Gruppierungen, wie sie von einer ahistorischen Begriffsbildung gefordert würden, geschieht allerdings: Man pflegt z.B. eklatant pathologische Fälle und eventuell auch Fälle, in denen "ungewöhnliche" Milieubedingungen vorliegen, in solche Durchschnittsberechnung nicht mit einzubeziehen. Abgesehen von dieser Berücksichtigung allergröbster Abweichungen geschieht die Abgrenzung der Fälle, die zu einer Gruppe statistisch zusammengefaßt werden, im wesentlichen jedoch mit historisch-geographischen Mitteln.

Aus einer historisch-geographisch definierten Gruppe, etwa den einjährigen Kindern Wiens oder New Yorks im Jahre 1928 werden Durchschnittswerte ermittelt, die für den Geschichtswissenschaftler oder für den praktischen Schulmann zweifellos von größter Bedeutung sind, die aber die begriffliche Gebundenheit an die "Zufälligkeiten" der historisch-geographischen Gegebenheit auch dann nicht verlieren, wenn man etwa vom Durchschnitt der Kinder Berlins zum Durchschnitt der Kinder Deutschlands, Europas oder der Erde fortschreitet, oder wenn man eine größere Gruppe von Jahrgängen (etwa 1920-1930) zusammenfaßt. Eine solche Verbreiterung der geographischen und historischen Basis beseitigt nicht die spezifische Abhängigkeit dieser Begriffe von der Häufigkeit, in der die einzelnen Fälle in historischgeographisch definierten Bereichen vorkommen.

Eher wären hier jene Verfeinerungen der Statistik zu nennen, die auf einer Verengung der historisch-geographischen Basis beruhen, also zum Beispiel darauf, daß man nur die einjährigen Kinder eines Berliner Proletarierviertels im ersten Nachkriegsjahrgang betrachtet. Denn bei solchen Gruppierungen pflegt neben der historisch-geographischen Abgrenzung die qualitative Eigenart der konkreten Einzelfälle schon stärker zum Ausdruck zu kommen. Aber solche Beschränkungen widersprechen im Grunde bereits dem Geist dieser auf Häufigkeit eingestellten Statistik; sie bedeuten methodologisch schon eine gewisse Hinwendung zum Konkret-Einzelnen. Im übrigen wird man nicht vergessen dürfen, daß selbst in den Extremfällen solcher Verfeinerung, etwa bei der statistischen Untersuchung des "einzigen Kindes", die tatsächliche Abgrenzung gegenwärtig im wesentlichen nach historisch-geographischen, bestenfalls soziologischen Kategorien erfolgt, also nach Kriterien" die psychologisch sehr verschiedene, ja entgegengesetzte Fälle in derselben Gruppe vereinigen. Solche statistische Untersuchungen sind daher in der Regel unfähig, eine Aufklärung über die Dynamik der vorliegenden Prozesse zu geben.

Die unmittelbare Bezugnahme auf die historisch gegebene Wirklichkeit, die für die aristotelische Begriffsbildung charakteristisch ist, zeigt sich auch in der Diskussion über Experiment und "Lebensnähe". Gewiß kann man mit Recht den einfachen Reaktionsversuchen, den Anfängen der experimentellen Willenspsychologie oder den Experimenten der Reflexologie gegenüber auf die "Lebensferne" dieser Experimente hinweisen Aber diese Lebensferne beruht zum guten Teil auf der Tendenz, solche Prozesse zu untersuchen, die nicht die individuelle Eigenheit eines einzelnen Falles darstellen, sondern die als "einfache Elemente" (etwa einfachste Bewegungen) allem Verhalten gemeinsam sind, die sozusagen immer und überall vorkommen.

Man hat demgegenüber, z.B. von der Willenspsychologie "Lebensnähe" verlangt. Es komme darauf an, jene experimentell nicht herstellbaren Fälle zu untersuchen, in denen die wichtigen Entscheidungen des Lebens getroffen werden. Auch hier liegt eine Orientierung an der "historischen Bedeutsamkeit" vor. Es wird eine Forderung aufgestellt, die auf die Physik übertragen, bedeuten würde, es sei falsch, Hydrodynamik im Laboratorium zu treiben. Man müsse statt dessen die größten Ströme der Erde untersuchen. In dieser Wertschätzung des historisch Wichtigen in Fragen der Systematik (insbesondere der Gesetze), in der Geringschätzung des "Alltäglichen", so wie in der Einstellung des Experiments auf Vorgänge, die häufig vorkommen (bzw. auf Eigenschaften, die vielen Individuen gemeinsam sind), äußert sich gleichermaßen jene aristotelische Vermengung von historischen und systematischen Fragen, die für die Systematik die Bindung an die abstraktive Klasse und die Abwendung von der vollen Wirklichkeit des konkreten Falles mit sich bringt.
LITERATUR - Kurt Lewin, Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie, in Erkenntnis Bd.9, Heft 6, Leipzig 1931