tb-1M. PlanckH. HerringJ. S. MillF. ÜberwegO. NeurathR. Eucken    
 
PHILIPP FRANK
Positivistische Einheit

Nach unserer Wissenschaftslehre ist die Metaphysik die Zufammenfassung der physikalischen Theorien früherer Zeiten in einem versteinerten Zustand.

Die dänischen Zollbeamten haben uns an der Grenze sofort als Teilnehmer an einem "philosophischen" Kongreß begrüßt. Die zur Zeit des Kongreßbeginnes so zahlreich in Kopenhagen anwesenden Physiker haben uns mit dem halb mißtrauischen halb herablassenden Blick angesehen, mit dem Physiker eben "Philosophen" anzusehen pflegen. Von den als richtige Fachphilosophen anerkannten Gelehrten ist aber unser Kongreß wohl allgemein als das Gegenteil eines philosophischen Kongresses angesehen worden, und seine Teilnehmer gelten, wie ein Professor der Philosophie sich ausdrückte, als "Sophophoben", nicht als Philosophen.

Aber wer weiß so ganz sicher, wo die Physik aufhört und die Philosophie anfängt. Viele Experimentalphysiker werden sagen, daß die Relativitätstheorie nicht mehr zur Physik gehört, sondern schon zur Philosophie, weil alle Formeln dieser Theorie auch als Aussagen innerhalb einer Äthertheorie gedeutet werden können, also das kennzeichnende der Relativitätstheorie nur in der erkenntnistheoretischen Interpretation der Formeln liegt. Dieselben Anhänger des reinen Experimentes werden oft nicht abgeneigt sein, die abgebrauchtesten Sätze der Schulphilosophie als eine passende Einleitung in physikalische Bücher und Vorlesungen zu betrachten, aber zugleich werden sie unsere Bestrebungen nach einem logisch reinlichen Aufbau der Wissenschaft eine "logistische" oder "positivistische Philosophie" nennen und daher als eines richtigen Physikers unwürdig abweisen.

Der Name "Positivismus" wurde übrigens zuerst von den Gegnern als Name unserer Bewegung verwendet, besonders von PLANCK. Am Anfang stand die ganz neutrale Bezeichnung "Wiener Kreis", die heute nicht viel mehr sagt als die Bezeichnung "Wiener Brot" für das berühmte Kopenhagener Gebäck. Aus dieser Keimzelle ist die Bewegung entstanden, die nun in den angelsächsischen Ländern meist als "logischer Empirismus" oder "logischer Positivismus" bezeichnet wird.

Haben wir es nun hier mit einer Strömung innerhalb der Philosophie oder mit einer antiphilosophischen Bewegung zu tun? Man kann als "philosophisch" jede Tätigkeit bezeichnen, die darauf ausgeht, den Zustand zu beseitigen oder wenigstens zu lindern, in dem jede Einzelwissenschaft isoliert dasteht und eine Sprache spricht, die bereits im nächsten Nachbargebiet zu Mißverständnissen führt. Da die Grenzen zwischen den Wissenschaften oft im Grunde nur konventionell oder historisch bedingt sind, ist es auch vollkommen willkürlich, welche Fragen man als Fragen "innerhalb einer Einzelwissenschaften" bezeichnet. In diesem Sinne ist unser Kongreß sicher ein "philosophischer" es ist aber in diesem Sinne offenbar nur konventionell, welche Probleme man bereits der Philosophie zurechnet. In diesem Sinne waren HELMHOLTZ und DARWIN Philosophen, ebenso wie es heute EINSTEIN und BOHR sind.

Wenn man aber, wie das meist an unseren Universitäten geschieht, unter "Philosophie" das Bestreben versteht, veraltete Theorien der Einzelwissenschaften, dadurch dauernd am Leben zu erhalten, daß man sie als Ergebnisse einer Erkenntnisart ansieht, die auf einer höheren Ebene vor sich geht als die der Einzelwissenwissenschaften selbst, so sind wir ganz entschieden ein antiphilosophischer Kongreß. An dem ewigen Kampf dieser Art von Philosophie gegen den Fortschritt der Wissenschaft sind wir nicht beteiligt. Wir sind uns bewußt, daß ebenso wie ARISTOTELES die antike Physik, KANT die NEWTONsche Physik durch Argumente höherer Art verknöchern und dadurch konservieren wollten, auch viele heutigen Fachphilosophen arbeiten. Ein Teil kämpft gegen die neuen physikalischen Theorien, insbesondere gegen Relativitätstheorie und Quantenmechanik, weil diese einer höheren Art von Wahrheit widersprechen sollen, während eine andere Gruppe beweist, daß mit den Theorien des 20. Jahrhunderts erst jene ewigen Wahrheiten von den Physikern zugegeben werden, die von den Philosophen längst erkannt waren, z.B. die Willensfreiheit.

In unserer Bewegung gibt es mancherlei verschiedene Tendenzen und Meinungen. Aber es läßt sich doch eine große gemeinsame Linie herauslesen. Man kann sie etwa so kennzeichnen: die Sätze der Wissenschaft mögen was für Ausdrücke immer enthalten, so haben sie doch, welcher Spezialwissenschaft sie auch angehören mögen, und mag dieses Spezialgebiet heute schon ausgebaut sein oder vielleicht erst in der Zukunft sich entwickeln, einen gemeinsamen Zug. Es müssen sich aus ihnen durch logische Umformungen Sätze ableiten lassen, die der Sprache des täglichen Lebens angehören, wie z.B. "hier steht um zehn Uhr vormittags ein Glas Wasser". Sie können daher alle durch Erfahrungen von der Art unserer ganz gewöhnlichen täglichen Erfahrungen kontrolliert werden. Die Sätze der Wissenschaft selbst können dabei mit Begriffen beliebiger Art arbeiten und die logischen Umformungsregeln können beliebiger Art sein, wenn es nur festgstellt ist, wie man von einem Satz zum anderen in eindeutiger Weise kommt. Um als "wissenschaftliche" anerkannt zu werden, muß ein Satzsystem nur geeignet sein, Tatsachen, die beobachtbar sind, miteinander zu verknüpfen. Ich glaube, daß es gerade auf unserem gegenwärtigen Kongreß gelungen ist, diese Hauptlinie deutlicher herauszuarbeiten als es vielleicht vorher immer der Fall war.

Ein Hauptthema des Kongresses war ja die Bedeutung der Quantenmechanik für den logischen Aufbau der verschiedenen Wissenschaften. Es war für uns ein großer Vorteil, daß wir hier direkt mit NIELS BOHR sprechen konnten, der wohl am meisten für die Aufklärung der charakteristischen logischen Struktur der Quantenmechanik getan hat. Es ist ja gerade BOHR, der immer von dem Gedanken ausgeht, daß alle Sätze der als so abstrakt geltenden Quantenmechanik schließlich doch zu Sätzen der täglichen Erfahrung führen müssen, die alle in der Sprache der klassischen Mechanik ausdrückbar find, daß also die Quantenmechanik von der Sprache der klassischen Mechanik teilweise Gebrauch machen muß.

Es ist manchmal behauptet worden, daß ein gewisser Gegensatz zwischen der Auffassung des logischen Empirismus und der BOHRschen Auffassung der Quantenmechanik besteht. Ich glaube, daß auf dieser Tagung ganz klargestellt wurde, daß das nicht der Fall ist. BOHR hat in seinem Vortrage sehr klar herausgearbeitet, daß seine Auffassung nichts mit einer metaphysischen Naturphilosophie zu tun hat. In dem Vortrag, den SCHLICK noch kurz vor seinem Tode für unsere Tagung geschrieben hat, und der nun erst nach diesem für uns alle so furchtbaren Ereignis verlesen wurde, hat er sehr deutlich gekennzeichnet,welche der häufig verbreiteten Darstellungen der Quantenmechanik nur metaphysische, also unwissenschaftliche Sätze ergeben. In der Ablehnung derartiger Auslegungen stimmt BOHR mit SCHLICK ganz überein, wenn auch in den mehr hypothetischen Aussichten für die Verwendbarkeit der Komplementaritätsvorstellungen in Psychologie und Biologie Differenzen bestehen bleiben.

Daß die Quantenmechanik sich am besten in eine positivistische Darstellung der Wissenschaften einreiht, hat LENZEN in seinem Vortrag hervorgehoben, und schließlich hat STRAUSS gezeigt, daß der vom logischen Empirismus, besonders von CARNAP und MENGER vertretene Gedanken der logischen Toleranz gestattet, BOHRs Theorie der Komplementarität mit Hilfe einer besonderen Syntax zu formulieren und so auch äußerlich ihr die Struktur zu verleihen, die nach den Ansichten des logischen Empirismus die Sätze aller Wissenschaften haben.

Von verschiedenen Rednern wurde von der Gefahr einer "Erstarrung" des logischen Empirismus zu einem philosophischen System gesprochen, wodurch neue Fragestellungen geradezu gehemmt werden könnten. JÖRGENSEN hat schon in seiner Einleitung von der Gefahr einer Gleichschaltung der wissenschaftlichen Fragestellungen nach einem zu engen Schema gewarnt, SOMMERVILLE hat befürchtet, daß diese Schemen, die vielleicht für fertigen Wissenschaften gut anwendbar sind, werdende Wissenschaften in ihrer Entfaltung hemmen könnten, und RUBIN hat schließlich mit einer erfrischenden Deutlichkeit darauf hingewiesen, daß es "einfach eine Frechheit" wäre, jemandem eine Fragestellung zu verbieten, weil man sie nach irgendeinem Schema für unerlaubt hält.

Man hat der Bewegung des logischen Empirismus, insbesondere dem "Wiener Kreis", schon im vorigen Jahre auf dem Kongreß in Paris eine "rigiditè Germanique" (deutsche Strenge) vorgeworfen. Ich glaube, daß wir nach unseren jetzigen Erfahrungen ziemlich deutlich sagen können, wo diese Gefahr steckt und wie sie zu vermeiden ist. Was den eindrucksvollsten Vorwurf betrifft, daß durch eine willkürliche Einschränkung fruchtbare Fragestellungen im Keime erstickt werden könnten, wie dies RUBIN in hervorgehoben und drastisch charakterisiert hat, so muß man darauf erwidern, daß der logische Empirismus keine Fragestellung ausschließt, sondern nur verlangt, daß die Frage in einer allgemein verständlichen, d.h. intrasubjektiven Sprache formuliert wird. Nach dem Prinzip der logischen Toleranz ist auch jede beliebige Sprache zugelassen, nur muß beim Gebrauch einer nicht allgemein verständlichen Sprache deren Grammatik mitgeteilt werden. Das ist keine willkürliche Forderung, sondern nur die objektive Feststellung der Tatsache, daß jeder, der diese Forderung nicht erfüllt, sich damit von der gemeinsamen wissenschaftlichen Arbeit, die allein einen Fortschritt bringen kann, selbst ausschließt.

Wenn manche, wie es hier SOMMERVILLE getan hat, hervorheben, daß der logische Aufbau der Wissenschaft, wie ihn unsere Bewegung fordert, für die Forschung selbst hemmend und unfruchtbar sein kann, so braucht man dem gegenüber nur auf zwei unzweifelhafte Tatsachen hinzuweisen. Die erste wurde von PLANCK selbst, dem entschiedensten Gegner der positivistischen Wissenschaftsauffassung unter den heutigen Physikern, in einer seiner letzten Vorträge hervorgehoben. Es fällt ihm auf, daß in einer Zeit, wo in der Wissenschaft keine neuen Entdeckungen gemacht werden, sondern nur eine Sammlung und Ordnung stattfindet, die metaphysische Auffassung der Physik vorherrscht, während in einer Zeit großer Umwälzungen, wie wir sie heute erleben, man sich gerne auf die positivistische Auffassung zurückzieht. Nach unserer Wissenschaftslehre ist das selbstverständlich. Denn danach ist die Metaphysik ja die Zufammenfassung der physikalischen Theorien früherer Zeiten in einem versteinerten Zustand. Aber jedenfalls ist diese historische Feststellung PLANCKs nicht damit zu vereinigen, daß die positivistische Auffassung die Forschung hemmt.

Zweitens aber, und das kann nicht oft und nachdrücklich genug in die Erinnerung gerufen werden, sind die beiden großen neuen Theorien der Physik, die Relativitätstheorie und Quantenmechanik, aus positivistischen Gedankengängen hervorgegangen. Sowohl EINSTEIN als HEISENBERG heben an den entscheidenden Stellen ihr Anknüpfen an Gedankengänge ERNST MACHs ganz explizit hervor.

Es kann kein Zweifel bestehen, daß der logische Empirismus mit keiner lebendigen wissenschaftlichen Strömung in Widerspruch stehen kann. Auf dem Kongreß hat HALDANE über Vererbungslehre gesprochen, RASHEVSKI über Anwendung mathematisch-physikalischer Gesichtspunkte in der Biologie. Wir haben diese beiden Forscher ein-geladen, um neue Anregungen für das Suchen nach der logischen Struktur der Wissenschaft zu gewinnen, die man in jeder rein wissenschaftlichen, von Metaphysik freien Theorie finden kann. Jede exakte Formulierung, die über die Grenzen der Einzelwissenschaften hinausgreift, liefert einen neuen Baustein zu dem , was wir die Einheitssprache der Wissenschaft nennen. Denn jede Formulierung, die exakt wissenschaftlich ist, ist damit schon in der Einheitssprache ausdrückbar.

Ganz besondere Bedeutung hat für unsere Ziele die moderne naturwissenschaftliche Psychologie, wie wir sie in den Vorträgen von TOLMAN und RUBIN kennenlernten.

Wenn man oft darauf hinweist, daß die Metaphysik doch so viel für die menschliche Geistesentwicklung getan hat, daß es eine Verarmung bedeutete, wenn man sie einfach ausschalten wollte, so muß man dazu sagen:

Es besteht keine Möglichkeit, Sätze, die von der Wissenschaftslogik als sinnleer im Bereiche der Wissenschaft erkannt sind, irgendwie innerhalb der Wissenschaft unterzubringen. Gegenüber solchen Versuchen kann keine andere als eine radikal ablehnende Haltung angenommen werden. Auf der anderen Seite darf aber die Tatsache, daß die metaphysischen Sätze sehr gerne ausgesprochen werden, daß zu ihrer Verteidigung viel Energie und Scharfsinn verwendet wird, ja daß sie im praktischen Leben des Einzelnen wie der Völker eine große Rolle spielen, nicht geleugnet werden, ja sie darf in ihrer Bedeutung auch nicht verdunkelt und herabgesetzt werden, wenn die Wissenschaft wirklich für das gesamte Leben der Menschen von Wert sein soll.

Die Metaphysik als menschliche Betätigung ist eine Tatsache, die ebenso feststehend ist wie der Umlauf der Planeten um die Sonne und die Wirkung der metaphysischen Sätze, oder, genauer gesagt, die Wirkung der die metaphysischen Sätze bildenden Schriftzeichen oder Klänge ist oft im Leben eine größere als die der bestbegründetsten wissenschaftlichen Theorien. Diese Wirkung läßt sich aber in einer konsequent wissenschaftlichen Sprache beschreiben und ist ein wichtiger Gegenstand der Wissenschaft.

Die symbolische Sprache der Metaphysik ist, wie ARNE NESS hier hervorgehoben hat, ein von der Psychoanalyse zu behandelnder und oft schon behandelter Gegenstand, und die Wirkungen dieser Art von Sätzen ist ein wichtiger Gegenstand der Soziologie. Die sogenannten metaphysischen Probleme sollen also nach dem Programm des logischen Empirismus keineswegs, wie man das oft in oberflächlicher Weise behauptet, geleugnet oder beiseite geschoben werden, sondern sie sollen nur in der Sprache der Wissenschaft ausgedrückt werden und dann in dem Zusammenhang behandelt werden, in den sie nach dieser Formulierung gehören, in der Psychoanalyse und Soziologie. Dann werden sie auch eine Bedeutung für das bewußte menschliche Leben bekommen und nicht nur die Rolle eines Betäubungsmittels spielen.

Die Bewegung des logischen Empirismus ist heute noch sehr jung, kaum ein Jahrzehnt. Wir sehen aber eine Entwicklung, wie sie stürmischer bei keiner geistigen Bewegung der letzten Zeit beobachtet wurde.

Die Welt beginnt des Nebels und Dunstes müde zu werden, mit dem man gerade in unserem Jahrhundert das klare Denken zu gern betäubt. Der wissenschaftlich denkende Mensch will sich nicht länger bevormunden lassen. In einem Lande nach dem anderen gewinnt die neue Bewegung Boden. Wenn noch vor zehn Jahren jede Art des Positivismus als ausgestorben und "überwunden" galt, gibt es heute keine Darstellung des Denkens unserer Zeit, in der die Bewegung gegen die metaphysische Verzerrung der Wissenschaft nicht als eine der wichtigsten und einflußreichsten geistigen Strömungen bezeichnet würde.

Mag man von dein "Wiener Kreis", den "Logistikern", den Physikalisten, der Einheitswissenschaft, der Wissenschaftslogik, dem logischen Empirismus, logischen Positivismus oder logischen Pragmatismus sprechen, so beginnen heute alle diese Bewegungen eine einheitliche Front zu bilden; die metaphysische Verzerrung der Wissenschaft beginnt ihre Selbstsicherheit überall zu verlieren und sich zu verteidigen. Auf der anderen Seite ist nun auch für jeden Willen zu neuem Aufbau des Lebens Raum geschaffen, es ist gezeigt, daß die Versuche, eine bestimmte Lebensordnung rationalistisch zu begründen, zum Pseudorationalismus und damit schließlich zur Metaphysik führen und daß jede neue Lebensordnung in Wirklichkeit ein Werk des Willens ist, dem die Wissenschaft, die nun von Scheinsätzen befreit ist, die Mittel zur Erreichung seiner Zwecke liefern kann.

Auf diesem Wege war der Kongreß in Kopenhagen ein weiterer Schritt. Wir danken allen Mitgliedern des Kopenhagener Lokalkomitees für die Mühe, die sie sich mit der Veranstaltung des Kongresses gegeben haben, insbesondere aber den Herren NIELS BOHR und JÖRGEN JÖRGENSEN für den großen Anteil, den sie an allen Arbeiten des Kongresses genommen, und für die Anregungen, die sie uns dabei so oft gegeben haben.
LITERATUR - PHILIPP Frank, Schlusswort zum zweiten Internationalen Kongress für Einheit der Wissenschaft (Kopenhagen 21. - 26. Juni 1936) in Rudolf Carnap / Hans Reichenbach (hrsg), Erkenntnis 6/1936, Amsterdam 1967