cr-4ra-2J. CohnB. KernL. KühnP. Stern    
 
F. A. SCHMID-NOERR
Friedrich Heinrich Jacobi
[5/5]

"Künstler und Philosophen sind die Zwillingskinder einer vernunftoffenbarten Urgenialität des Geistes, die in den Einzelpersönlichkeiten nach einem Gesetz, das wir als das Gesetz der Individuation hinreichend kennengelernt haben, ausfließen muß. Künstler und Philosophen, Heroen und Heilige sind das, was ihr Wollen und Wirken ausspricht am vollkommensten, wenn sie sich in vollkommenster Konzentration dieser  einen Idee hingeben, die beherrschend und unbeweglich hervorleuchten muß, wenn sich an ihr  ein System, ein Werk der Ideen, kristallisieren soll."

Dritter Abschnitt
Die Lehre vom Schönen

Eine einigermaßen systematische, ja auch nur über die gelegentliche Bemerkung, über den bloß vergleichenden Hinweis hinausreichende Lehre vom Schönen findet sich nicht bei JACOBI. Auf den ersten Blick möchte das denjenigen wundernehmen, der an die zeitweilg wenigstens doppelt gerichtete Interessenenergie JACOBIs sich erinnert und es für selbstverständlich hält, beim philosophierenden Dichter auch Aufschlüsse über das Wesen seiner Kunst anzutreffen.

Das Verhältnis dieser Persönlichkeit kann aber nur gewinnen, wenn der innere Grund deutlich wird, warum der Philosoph JACOBI kein Bedürfnis hatte, den Künstler, der er selber bis zu einem gewissen Grad war, und dessen Kunst ausdrücklich sich zum Problem zu machen. Man kann ganz allgemein sagen: Zum Beruf des Kunstphilosophen kann zweierlei die Voraussetzung sein. Einmal das unterschiedslose, eigentlich systematische Interesse des objektiven Forschers an der Totalität der wissenschaftlichen Einsicht. Für einen solchen Forscher ist das weite und beziehungsreiche Tatsachengebiet der Kunst und der Kunsturteile unausschließbar aus dem Zusammenhang seiner erkenntnistheoretischen Probleme.

Außerdem aber neigt zum Beruf des Ästhetikers der Künstler, dessen logisches Bewußtsein und Bedürfnis gleichzeitig stark genug ist, um sich aus dem Lebensinteresse heraus, das ihn mit seiner Kunst verbindet, Klarheit über die Natur der Kunsttatsachen erarbeiten zu wollen. Für ihn wird geradezu jene Menschheitsfrage nach dem Sinn des Daseins zur Frage nach dem Sinn der Kunst, von der er seine Daseinsberechtigung herleiten möchte. Der systematische Denker und der grübelnde Künstler sind auf solche Weise die eigentlichen Kunsttheoretiker, und in ihrer Ergänzung, auf ihrem Ausgleich beruth der Fortschritt der Kunstphilosophie. Keines von beiden war JACOBI.

Sowohl zum leidenschaftslosen, allgerechten Forscher, wie zum reinen Künstler war er verdoren; und nicht darum, weil er als Philosoph zu leidenschaftlich und als Künstler zu reflektiert gewesen wäre, sondern darum, weil sein stärkstes Lebensinteresse weder in der Richtung der nüchternen und abstrakten Forschung, noch auch in der des künstlerischen Sichauslebens lag.

JACOBIs Lebenszentrum ruhte in seinen moralischen Interessen, oder, um sogleich auf den bewegenden Mittelpunkt dieses Interesses zu zielen: in seinem religiösen Bedürfnis.

Ein bloßes Gefühlsbedürfnis, wie es das der Religion in den jüngeren Jahren eines ideenliebenden Mannes zu sein pflegt, verschwistert sich gern mit einer gewissen lyrischen und wohl auch epischen Schwärmerei; und wo diesem Umstand zufällig einige Begabung der Phantasie, der Rede und der Gestaltung begegnet, da läßt sich unschwer begreifen, daß jede aus solchen Gefühlen erwachsene, innere Spannung des Gemüts sich in Gedichten, in lyrischen Selbstbekenntnissen, oder in epischen Schilderungen entlädt.

Von dieser Art, halb  confessions [Bekenntnisse - wp], halb beschaulich-lehrhafte Darstellungen, sind die beiden Romane JACOBIs. Von dieser Art sind auch späterhin noch alle diejenigen Stellen in seinen Schriften, wo das Gefühl und das Gemütspathos des Schriftstellers über den Beweisgang und die logische Evidenz der Urteile den Sieg davonträgt und die philosophische Deduktion in einen frei improvisierten, nicht selten registergewaltigen und sprachprächtigen Dithyrambus [Versform - wp] ausklingt.

Denn JACOBI ist in seinem Temperament zeitlebens ein Jüngling geblieben. Aber die Kunst, die bei seiner ersten Berühung mit GOETHE in ihm wie ein ursprünglicher Quell aufzusprudeln schien, vermochte doch viel zu wenig über den von einem Erkenntnisdrang und religiösen Zweifeln unablässig bewegten Geist des jungen Pietisten, als daß ihr Problem in ihm mehr, als nebensächliche Bedeutung hätte erlangen mögen. Weder sein Lebens- noch sein Erkenntnistrieb bedurfte ihrer als Zweck. Als Mittel allein, und wegen der zufälligen Beziehung eines natürlichen Talents der Rede zu ihr, konnte ihm die Kunst und ihre kosmische Weltansicht nützlich sein und gelegentlich als bequemes Beispiel für eine Sache dienen, für die ein Beweis aus Begriffen unbequemer und der Aufwallung seines Gemüts zu langwierig gewesen wäre.

Wo daher JACOBI über Kunst und Kunstwert redet, da handelt es sich der Natur der Sache nach für ihn meist um bloße Exemplifikation [Verbeispielung - wp] theoretischer und ethischer Denkresultate, um ausdrückliche Parerga [Zusätze - wp] zur Erkenntnis-, Sitten- oder Religionslehre.

Das Wahre, Gute und Schöne führt JACOBI als ererbtes Schlagwort seines aufgeklärten Jahrhunderts im Mund. Und da es nicht gut angeht, im Schlagwort zwar die drei Begriffe gleichberechtigt nebeneinander zu nennen, in der Praxis aber beständig nur von den beiden ersten zu handeln, so ist es in den Schriften JACOBIs nicht selten wie ein plötzliches Sichererinnern an die Pflicht der vollkommenen Repräsentation, wenn an irgendeinem passenden Gedankenende der Kunst und der Idee der Schönheit Erwähnung geschieht.

"Was die Vernunft wahrhaft ist: das Vermögen der Voraussetzung des ansich Wahren, Guten und Schönen", (204) das ist für JACOBI die natürliche Basis seiner ästhetischen Ansicht. An einer anderen Stelle verrät JACOBI durch die Reihenfolge, in der er die Begriffe anordnet, notorisch die Wertordnung, in der sie für ihn stehen:
    "Das Gute und Schöne setzen das Wahre voraus, auf welches alle Vernunft gegründet ist. Das Vermögen der Voraussetzung des Wahren,  und mit ihm des Guten und Schönen, heißt Vernunft." (205)
Erkenntnis, und in der Erkenntnis das Wissen von Gott, oder die Religion, das ist für ihn Anfang und Ende der Weisheit. Aus ihr begreift sich das Gute, und aus ihr, durch die Vermittlung des Guten hauptsächlich, erklärt sich die Schönheit der Welt und der Drang der Menschen, sie zu genießen.

Im Großen und Ganzen und in vielen Einzelheiten ordnen sich JACOBIs ästhetische Ansichten durchaus dem unter, was KANT in der Kritik der Urteilskraft gelehrt hat. Von der Annahme dieser Lehre hält JACOBI auch nicht die Überzeugung zurück, daß das "Vermögen des Schönen" sich durchaus in nichts vom Vermögen des Wahren oder Guten unterscheidet, dem Wesen nach, während KANT doch unzweideutig das irrationale Bedürfnis des ästhetischen Gefühls aus der Reihe der objektiven Vernunfttatsachen auszusondern sich bemühte. Im Gegenteil. JACOBI benutzt die Gelegenheit mit der ihm eigentümlichen Anpassungskraft zu einer Verschmelzung seiner Auffassung mit der KANTs, gegen die der kritische Philosoph freilich mancherlei einzuwenden hätte. (206) JACOBI aber erklärt:
    "Das Vermögen der Gefühle, behaupten wir, ist im Menschen das über alle andere erhabene Vermögen. - Es geht uns das, was wir Vernunft nennen, und über den  bloßen, der Natur allein zugewandten Verstand erheben, aus dem Vermögen der Gefühle einzig und allein hervor. - Die Vorstellungen des im Gefühl allein Gewiesenen nennen wir Ideen." (207)
Diese Ideen, in gewissem Sinne bei KANT gleichfalls Ausdruck eines erhabenen Vermögens, insofern diese Ideen immerhin eine regulative Bedeutung in sich tragen, sind hier zugleich nun Vorstellungen eines Wirklich-Absoluten, einer im Gefühl gewiesenen Urwahrheit, und darum unmittelbar selbst zugleich gut, wahr und schön. Sie sind keine Regeln der Beurteilung, sondern selber Gegenstände, und führen daher, so wie Wahrheit und Gutheit, so auch die Schönheit selber mit sich und konstituiern sie für unser Urteilsvermögen. Sie sind konstitutive Prinzipien. Diese Ideen, unter einem bestimmten Gesichtspunkt des Gefühls beurteilt, sind die Schönheit selber in ihrem Wesen und Wert.

Da ist nun freilich KANTs "Kritik der Urteilskraft" auf den Kopf gestellt; aber doch: nur dies, wie immer bei JACOBI; und es bleibt der Schein einer weitgehenden Übereinstimmung bestehen, und mehr als das, weil an der inneren Ordnung, der gegenseitigen Beziehung der Teile, nichts geändert wird und in vieler Hinsicht daher im Einzelnen Geist und Geschmacksrichtung der ästhetischen Anschauungen übereinstimmt.

In seiner einzigen, dem Kunstproblem, oder eigentlich sehr viel eingeschränkter, der Poesie gewidmeten Abhandlung: "Alexis und vom goldenen Zeitalter" (208), hat JACOBI ausführlicher zu erklären unternommen, wie er sich das Zustandekommen eines objektiv schönen Gegenstandes aus dem Zusammenwirken der Ideen denkt. Um aber dies wiederzugeben, dazu ist die Voraussetzung, zu erläutern, in welchem Sinn JACOBI das Wort  Idee  genommen zu wissen wünscht. Im allgemeinen und kurz läßt sich sagen: er gebraucht das Wort im Sinn einer überlieferten Platon-Auslegung. Die Ideen sind "die treuen Abdrücke der wirklichen Dinge", oder wohl richtiger ausgedrückt, die Ideen sind die Urbilder der Dinge, die, auf eine im letzten Grund wunderbare Weise in unserem Geist erzeugt, für unser empirisch-psychologisches Erleben erst aus Anlaß der wirklichen Dinge im Bewußtsein auftauchen und so als Wirkungen, als Abdrücke erscheinen, während sie in Wahrheit die Ursachen unserer Fähigkeit zur sinnlichen und geistigen Wahrnehmung überhaupt sind. Ideen in diesem allgemeinen und keineswegs kritisch sehr klar gestellten Sinn sind so gleicherweise die Konstitutiven für die Sinnenwelt, insofern sie für uns da ist, wie auch für die Welt der Erkenntnis, der Wahrheit und der sittlich-religiösen Gesetzgebung. Eben deshalb gibt es Ideen nicht nur von wirklichen, sondern auch von möglichen Dingen, das heißt von solchen Dingen, die nicht als die erfahrungs- und tatsachenmäßigen Verursacher der Ideen-Erinnerung (ganz platonisch) angesprochen werden können.
    "Wenn nun durch irgendein Mittel die Ideen von vielen wirklichen oder möglichen Dingen, einander so nahe gebracht werden können, daß sie einige Augenblicke lang im Kopf fast zugleich da sind, so wird gewiß der Verstand (das heißt das Vermögen der Begriffe!) zwischen diesen Ideen, am schnellsten diejenigen Verhältnisse wahrnehmen, die sich mit der größten Leichtigkeit fassen lassen; das heißt diejenigen, die für uns die reichste, die wahrste und einfachste Schönheit ausmachen." (209)
Auf den ersten Blick eine ziemlich grob psychologische Begründung des aus Aufklärungs- und klassizistischem Geschmack gemischten Schönheitsideals der Zeit. Bei näherem Zusehen ergibt sich folgendes:

Diese möglichst genaue "Annäherung von Ideen im Kopf" ist nicht bewirkt durch die Gesetze der bloßen Assoziation, ist also wenigstens keineswegs empirisch-psychologisch gemeint; vielmehr wirft JACOBI sogleich die Frage auf:
    "Wer ist ... nun der Urheber, oder die Ursache dieser glücklichen Annäherung?" - "Geschieht es vielleicht durch das Ungefähr? Ganz gewiß nicht; denn sonst würde sich dies ebenso oft im Kopf eines Narren, wie eines Weisen zutragen." - "Soll es denn durch die eigene Natur dieser Ideen geschehen? Das kann nicht sein; denn zwischen Ideen kann es so wenig wirksame Beziehungen geben, ... wie zwischen Schatten." - Wer also sonst, als derjenige, der den  Homer singen lehrte und zu Dodona oder Delphi uns mehr oder weniger von einem ungewissen Zukünftigen (nach dem Möglichkeitscharakter der Dingideen) unterrichtet?" (210)
JACOBI lehnt die äußere Kausalität der Assoziation wie die innere Kausalität einer metaphysischen Natur der Ideen ab, und entscheidet sich für die Wirkung "einer Kraft, deren Natur uns sogar vollkommen unbekannt ist und die wir  Enthusiasmus  nennen." (211)
    "Wenn wir aber in uns selbst diese Fähigkeit, in jenen glücklichen Augenblicken des Enthusiasmus, wo wir dem Schoß der Natur einen Funken des Wahren und Schönen entreißen, näher ansehen, so finden wir, daß, was wir von unserer Seite dabei tun, sehr wenig ist. - Alles, was wir von unserer Tätigkeit dabei wahrnehmen, ist eine unbestimmte, blinde Anstrengung, deren Erfolg jene Annäherung von Ideen ist. Hierauf tritt der Verstand seine gewöhnliche Arbeit an." (212)
Ganz so unbekannt, wie hier JACOBI annimmt, ist uns in seinem Sinne diese Kraft gar nicht. Es ist jene Kraft, die sich überall durch die Vernunft vernehmen läßt. Wir kennen sie als den allgegenwärtigen und in allen Verwandlungen seiner Wirksamkeit ewig gleichen, göttlichen Instinkt. Durch ihn offenbart die Vernunft auch Schönheit.

Dies ist das erste. Bemerkenswert ist sodann bei dieser Erklärung des Kunstphänomens der Umstand, daß JACOBI dem Verstand die ganze, ausführende Arbeit nach der Konzeption der "schönen Idee" (als eben der Summe aus jener Annäherung vieler Ideen) sowohl im produktiven Verfahren des Künstlers, wie im reproduktiven Verhalten des Kunst genießenden Beschauers zuschiebt. In diesem nicht unwesentlichen Moment einer gewissen Nüchternheit der Beurteilung ästhetischer Prozesse unterscheidet sich JACOBI einmal vorteilhaft von der vollkommenen Gefühlsschwärmerei der vorkantischen Schönheitslehre (soweit sie nicht die Nützlichkeit zum Prinzip erwählt hatte), wie auch vom genialen Unwesen der nachfichteschen, ästhetischen Romantik. Das Geltenlassen der funktionellen Gesetze des gesamten Erfahrungs- und Begriffsvermögens auch im Bereich der scheinbar ausschließlichen Gefühlswelt des Schönen zeigt den Denker JACOBI auch hier zumindest ebenso kritisch hoch über dem Durchschnitt seiner philosophischen Zeitgenossen, wie ihn die metaphysische Verschwommenheit seines ästhetischen Grundprinzips hinter KANT zurückbleiben läßt. Wie in vielen Fällen, so darf auch hier der Abstand an kritischem Vermögen, der ihn von KANT trennt, nicht vergessen machen, daß er trotz alledem vor fast allen andern KANT am nächsten steht.

Wie im Guten so im Schlimmen.

Denn dies ist das Dritte: JACOBI teilt mit KANT, als ein Sohn der gleichen Zeit, Kultur und Erziehung, die im tiefsten Grund eine durchaus unkünstlerische und kunstmißverständliche Bevorzugung und ernst gemeinte Rangordnung einer höchsten, gegenüber der übrigen Reihe untergeordneter Künste. Die heillose Kunstvergessenheit der Aufklärungsepoche liebte nicht die Schönheit, sondern vielmehr die Wahrheit. Und die Wahrheit fühlt sich zwischen Pinsel, Meißel und Musikschlüsseln doch schließlich niemals so wohl, wie unter dem sprachlichen Ausdruck und Begriff. Darum ist es für JACOBI, wie für KANT und alle ähnlichen Geister dieser Zeit, eine ausgemachte und triumphierende Sache,
    "daß die Poesie, sie mag aus der Anstrengung eines großen Genies, oder durch einen göttlichen Hauch entstehen, bei allen Künsten und Wissenschaften (!) den Vorsitz hat; und der erhabenen Wahrheit nicht allein das ist, was die Grazien dem Liebesgott sind; sondern was  Aurora der Bildsäule des  Memnon ist, wenn sie dieser Licht und Sprache gibt." (213)
Diese Worte, in ihrer Bildlichkeit ohne weiteres auf die Kupferplatte oder den zierlichen Holzstock übertragen: das sind die elegant radierten, altklugen Vignetten, die lustigen und pathetischen Allegorien und die putzigen Schnörkel WILHELM MEILs oder SALOMON GESSNERs, DANIEL CHODOWIECKIs und des JOHANN FACIUS. Rokoko. Dasselbe Rokoko, das seine Vorsatz- und Endleisten auch auf die Titel- und Schlußblätter der drei Vernunftkritiken mit naiver Selbstverständlichkeit gesetzt hat. Und wenn es uns heute wundernehmen und als eine nicht ganz sinngemäße Zusammenstellung anmuten mag: KANT hat es so gefallen; und nicht von weitem mag es ihm vorkommen sein, daß der Geist und die Kraft der Worte, die sich zwischen diesen Blumenkörbchen und Ziergirlanden bequemen mußten, selber es mit verursachen sollten, daß sich auch die Ausdrucksformen der Schönheit und des Geschmacks in der Folge gewaltig veränderten.

Die Gottheit, die nach JACOBIs Überzeugung beim Zustandekommen der schönen Idee "die Hand im Spiel hat", ist in der Tat  Appolon,  der Delphier, nicht  Dionysos; Apollon,  der die Flöte von sich wirft, weil sie ihm das Antlitz verunstaltet, oder vielmehr weil sie ihn an der weissagenden Rede, an der Offenbarung der Erkenntnis und der Wahrheit verhindert. Der offenbarende Lehrgesang über Gott und sein Wesen wäre höchste Kunst und höchste Wissenschaft zugleich; am Ende auch die höchse sittliche Tat: im Meer der Religion gehen alle die getrennten Ströme menschlier Vernunftoffenbarung unter. Der Klassiker einer solchen Poesie war doch KLOPSTOCK, - nicht GOETHE.

KANT war gewiß kein Künstler; JACOBI war weder ein Künstler, noch ein unbeirrbar kritischer Kopf. Wo er Gott gewinnen konnte, da gab er die Kunst ebenso unbedenklich, wie die Mühe kritischer Wahrheitsordnung preis. Trotzdem rückt ihn ein angeborener Instinkt für das Künstlerisch-Wirkliche, ein Tropen echten Künstlerbluts und ein Bruchteil vom Realismus GOETHEs diesem im echten Verständnis für die Kunstaufgaben fast näher als SCHILLER, den die doppelte Gefahr des eigenen Intellektualismus und des KANT-Studiums bedrohte. Und wenn ihn auch hier mit HAMANN die Schätzung des Wortes, als Ausdrucksmittel religiöser Offenbarung zu einer gefährlichen Einseitigkeit fortriß, so steckte doch zuviel Humanismus, allgemeines Bildungsinteresse und HERDERscher Sinn für "die Stimmen der Völker" unausrottbar in ihm, als daß er am Ende, wie jener, die Bibel als das einzige Kunst- und Weisheitswerk zu nehmen sich hätte entschließen und wünschen können, daß neben diesem Buch alles sonstige Menschenwerk und Kunstwollen, als eitel Allotria [Albernheit - wp], beiseitegestellt werden möge.

Zuletzt ist JACOBIs Bemerkung, "daß die Philosophie der Poesie viel zu verdanken hat" (214) auch in diesem Zusammenhang eine, wie Schlaglicht wirkende, Bestätigung für die Tatsache, die wir schon öfter zu beobachten Gelegenheit hatten; nämlich für die Meinung JACOBIs, daß das Zusammenwirken aller unserer Vernunfttätigkeit fließend ist und daß wir ebensowenig imstande sind, einen Gedanken zu fassen und Gedanken zu Urteilen und zu Schlüssen zu verknüpfen, ohne elementaren Beistand des künstlerischen Vermögens; wie auch umgekehrt kein schönes Bild in Worten oder Werken zustandekommen könnte, ohne die verständige Arbeit des Begriffsvermögens und aller theoretischer und willensmäßiger Funktionen:

Alle künstlerischen Anschauungen sind blind, ohne Begriffe. Aber auch die Begriffe sind leer ohne eine künstlerische Anschauung. Bedeutsam erweitert sich KANTs Erklärung in solcher Näher jacobischer Gedanken; und es deuten sich Probleme an, die JACOBI keineswegs gelöst, die er jedoch vielleicht dringender erlebt hat als KANT, und von denen er die Überzeugung besaß, daß sie durch die drei Kritiken nicht erledigt waren. Und noch eins weiter: Alle Formen menschlicher Vernunftwirkungen können sich  gegenseitig  zum Objekt werden. "Alles ist Gegenstand der Philosophie" (215), sagt JACOBI; und er sagt es in einem Atem mit den Worten vom Sonnenaufgang der Poesie und der klingenden Memnonsäule der Wissenschaft. Erkennen und Handeln, Wissenschaft und Tugend sind, wenn man sie nur unter einer bestimmten Wirkungsweise der Vernunft anschauen und erzeugt denken will, Formungen eines allumfassenden Kunstwillens, der sich am deutlichsten immer wieder in dem Umstand verrät, daß er das begriffsmäßige Regel- und Grammatikwesen nicht dulden mag. Alle großen Taten der Menschheit, all die tafelzerbrechenden Lebenswirkungen der Heroen sind "solche Lizenzen hoher Poesie". (216)
    "Unermüdet der Sache das Wort, dem Wort die Sache zu finden, zu fügen: bringt die Vernunft, lösend und bindend Wissenschaft und Kunst hervor; gründet theoretische und praktische Systeme." (217)
Die Vernunft ist die gemeinsame Verkünderin aller Arten von Genies. Wer aber, durch sie wirkend, solche Systeme, seien es theoretische, praktische oder Bildsysteme eines idealen Zusammenhangs, das heißt: Kunstwerke, hervorbringt, der ist ein Genie. Nicht weiter können plötzlich wieder die Anschauungen vom spezifischen Wesen und Wirken des Künstlers und des Philosophen zwischen JACOBI und KANT auseinanderklaffen, als in dieser Art der Beurteilung des Genies. Was für KANT undenkbar erscheint, das ist gerade JACOBIs innerste Meinung. Der Künstler und der Philosoph, beide bringen ihr Werk hervor aus der Kraft der Zusammenschauung verschiedener Ideen, wobei nicht der "Zufall", kein Gesetz kausaler Begriffsverkettung, und auch nicht die Natur dieser Ideen, keine eingeborene Prästabilierung das Resultat des harmonischen Weltbildes erwirkt, sondern allein der Einfluß jener Kraft, die in aller persönlichen Tat gegenwärtig und wirksam ist und die ihre Urmanifestation im Instinkt gefunden hat. Daher sind Künstler und Philosophen die Zwillingskinder jener vernunftoffenbarten Urgenialität des Geistes, die in den Einzelpersönlichkeiten nach einem Gesetz, das wir als das Gesetz der Individuation hinreichend kennengelernt haben, ausfließen muß. Künstler und Philosophen, Heroen und Heilige sind das, was ihr Wollen und Wirken ausspricht am vollkommensten, wenn sie sich in vollkommenster Konzentration dieser einen Idee hingeben, die beherrschend und unbeweglich hervorleuchten muß, wenn an ihr "ein System", ein Werk der Ideen, sich kristallisieren soll. Daß sie es vermögen, beweist, daß sie Genies sind. Denn "das charakteristische Zeichen des Genies ist das Vergessen seiner selbst durch das Leben in einer Idee." (218) Und deshalb gilt auch im Leben für sie alle, daß "das Leben in der Idee das eigene, natürliche Leben ganz verschlingen muß." (219)

Alle echten Genies sind, in irgendeinem Sinn, immer Asketen oder Selbstüberwinder gewesen.

Umgekehrt erkennt man am nüchternen Kopf, den weder der Enthusiasmus der Wahrheit, noch der Tugend oder der Schönheit zu ergreifen vermag, deutlich den Mangel jeglichen Genies, und damit, im Hinblick auf den Philosophen, jenen bezeichnenden Mangel jeder systembildenden Kraft, welcher das Wesen inferiorer [untergeordneter - wp] Denker negativ charakterisiert. Für JACOBI war der Typus dieser Art von Philosophen zu seiner Zeit MOSES MENDELSSOHN und danach versteht sich erst durchaus die Charakteristik, die er von diesem seinem literarischen Gegner gibt:
    "Mendelssohn (war) zwar ein heller, richtiger, vorzüglicher, aber kein metaphysischer Kopf.  Mendelssohn brauchte Philosophie, fand, was er brauchte, in der herrschenden Lehre seiner Zeit und hielt sich daran. Anderen Systemen nachzuforschen, sie  einzufangen, und in Saft und Blut zu verwandeln, hatte er weder Lust, noch Beruf. Ihm mangelte der philosophische Kunsttrieb." (220)
Dies in seinem Wert hier gleichgültige Urteil charakterisiert besser, als eine ausführliche Schilderung, JACOBIs eigentliche Schätzung vom Wesen eines rechten Philosophen und seine eigene Geistesart.

Ursprünglich, wie alle Vernunftäußerung, ursprünglich daher, wie Wahrheit und Tugendsinn, ist auch die Schönheit. Ebenso wie die gute Tat nur gemacht wird durch einen guten Mann, so wird auch "das Gefühl des Schönen unmittelbar aus dem Schönen geschöpft", und "ein Mann von Geschmack ist der, welcher das Schöne unmittelbar empfindet." (221) "Das Schöne hat mit allem Ursprünglichen das gemein, daß es ohne Merkmal erkannt wird. Es ist und zeigt sich; es kann gewiesen, aber nicht bewiesen werden." (222)

Aus Sätzen von so allgemeiner Bedeutung und solcher, bloß beiläufiger, geistreich hingeworfener Aphoristik ließe sich trotzdem kaum ein klares Bild von JACOBIs sachlicher Meinung zusammenstellen, wenn nicht auch hier der Umstand zu Hilfe käme, der, an manchen anderen Orten übel empfunden, an dieser Stelle doppelt willkommen scheint: der Umstand nämlich, daß JACOBIs Gedankenlinien sich eng um ihren gemeinsamen Mittelpunkt anordnen, und daß dieser Mittelpunkt, der alle Linien auf das Innigste untereinander in Beziehung setzt, genau bekannt und von allen Seiten her erörtert ist. Hält man vor Augen, daß die Vernunft die einzige Vermittlerin des absolut Gewissen und Wirklichen im Bewußtsein und der Instinkt dasselbe im Wurzelgefühl alles Bewußten, im Daseinsgefühl ist, und ferner, daß weder Vernunft noch Instinkt anders, als im vernünftigen  Individuum  gemeinsam in Wirkung zu treten vermögen, so erklärt sich auch der scheinbare Widerspruch, der sich in JACOBIs Andeutungen einer objektiven Lehre vom Schönen anzukündigen scheint. Denn die für das Schicksal der neueren Ästhetik entscheidende Frage, ob das Schöne als eine objektive, substanzielle, und damit irgendwie metaphysisch zu begründende Eigenschaft der Dinge, oder ob es eine bloß subjektive Form der Beurteilung, ein psychologisch, oder sonstwie zu erklärendes, subjektives Moment des Geschmacks sei, diese von KANT zugunsten der Subjektivität aller Geschmacksurteile entschiedene Frage scheint durch JACOBI aufs Neue der engegengesetzten Lösung zuzudrängen. Denn ein  Gefühl  des Schönen, das aus dem  Schönen  schöpfen muß, scheint gegenüber einer dinghaften Objektivität des Schönen von nur sekundärer Qualität.

Diese Auslegung beruth jedoch auf einem Irrtum. In Wahrheit fühlt sich JACOBI mit KANT auch in dieser Sache in Übereinstimmung. Denn zunächst zumindest liegt die Betonung auf dem Charakter der Ursprünglichkeit und der Unbeweisbarkeit des Schönen.

Ein objektiv Schönes im Sinne eines tatsächlich und dinghaft Erfahrbaren müßte beweisbar sein, wie jede andere, quantitative oder qualitative Eigenschaft der Dinge. Und von der anderen Seite her versteht JACOBI unter dem Ursprünglichen niemals und nirgends etwas anderes, als jene Quelle alles Erfahrbaren selber, jene triebartige Elementarform allen Lebens, die, wo immer sie auch in Erscheinung tritt, durch den Prozeß der Individuation Leben bildend und Einzelwesen formend sich verkündet. Dieser ursprüngliche Lebenstrieb aber ist schlechterdings gebunden an die individuierten Erscheinungen der Subjekte; und deswegen kann eine ursprüngliche Schönheit niemals irgendwo anders angetroffen werden, als im subjektiven Bewußtsein, in den Geschmacksideen vernünftiger Subjekte. (223)

Nun hat es sich aber erst vor kurzem erwiesen, daß der Zusammenschluß jener Ideen, die durch den Charakter ihrer inneren Beziehungen das Schöne konstituieren, allein erwirkt werden kann durch "die unbekannte Kraft des Enthusiasmus", die auch den HOMER singen lehrte.

Wohl also ist alle Schönheit allein im Urteil der vernünftigen Subjekte; aber die vernünftigen Subjekte sind alle beschlossen in der Wirkung jenes ersten, elementaren und absoluten Urtriebs, der hier die unbekannte Kraft, anderswo der göttliche Instinkt und zuletzt immer irgendwie so genannt wird, daß seine Bezeichnung in die Perspektive einer spekulativen Religionsphilosophie hinausläuft. Die Gottheit, deren offenbarende Gewißheitsvermittlerin für JACOBI die Vernunft ist, ist am Ende auch die Veranlassung des Urphänomens der Schönheit, wohl subjektiv erfaßt und nur im subjektiven Geschmacksurteil formulierbar, aber doch objektiv vorausgesetzt, wie alles "ursprüngliche Leben". "Wie ein Gesicht schön wird dadurch, daß es  Seele,  so die Welt dadurch, daß sie einen Gott durchscheinen läßt." (224); so faßt JACOBI den Sinn seiner Meinung in einem schönen Vergleich zusammen. In gewisser Hinsicht möchte man also JACOBI mit Recht auch in diesem Punkt seiner Lehre als den Vermittler zwischen zwei Zeitaltern, zwischen einer untergehenden, realistischen Metaphysik und einer kritischen, wahrhaft anthropozentrischen Problemstellung ansehen.

Übrigens verharrt JACOBI nun in der Konsequenz dieser zuletzt erwähnten Gedanken. Die Schönheit ist, wie Wahrheit und Güte, die Offenbarung einer göttlichen Liebe, von den Menschen aufgefaßt in Ahnung und Glauben. "Wir können nichts Schönes wahrnehmen, ohne daß der Gedanke zumindest dunkel in uns entsteht: Liebe hat es geschaffen und Wohlwollen. Schönheit und blindes Ungefähr widersprechen sich." (225) Und diese Liebe hat in jeder Art ihrer Äußerung erzieherischen Wert. Freilich nicht im Sinne einer Erziehung zu künstlerischer Kultur. Eine Kunst um ihrer selbst willen gibt es für JACOBI nicht. Sondern jene Liebe, sofern sie sich in Schönheit kundtut, ist auch dann
    "ein Mittel der Erhebung aus dem Sinnlichen zum Übersinnlichen, aus dem Sterblichen zum Unsterblichen: - Von allem Überirdischen kann allein das Schöne gleichsam mit Augen gesehen werden; darum ist es die Stufe, auf welcher vom Vergänglichen zum Unvergänglichen aufgestiegen wird. Das Schöne flößt Liebe ein, das ist ein Verlangen, mit ihm zu leben und fortzupflanzen." (226)
Wir bewegen uns, auch auf dem Gebiet der Ästhetik, bei JACOBI nur immer wieder in den Gedanken seiner Sittenlehre und zwischen Hinweisen auf die Religionsphilosophie.

Unter diesem Gesichtspunkt unterscheidet sich auch in der Kunst das göttliche vom menschlichen Werk, das Naturschöne im weitesten Sinn des Wortes, vom Kunstschönen. Denn während die Natur und das Schöne aus göttlicher Bildung erscheint, wie die kosmische Repräsentation einer ursprünglichen, großartig- einfachen Uride in höchster, einmaliger und unwiederholbarer, in göttlich-persönlicher Ausprägung,
    "vermag die menschliche Kunst nicht Individua, oder irgendein  reales Ganzes hervorzubringen; denn sie kann nur zusammensetzen,  so daß das Ganze aus den Teilen entspringt, und nicht die Teile aus dem Ganzen. Auch ist die Einheit, welche sie hervorbringt, bloß ideal, und liegt nicht im hervorgebrachten Ding, sondern außerhalb von ihm inm Zweck und Begriff des Künstlers. Die Seele eines solchen Dings ist die Seele eines andern." (227)
Soviel sich aus so einzeln hingestreuten Bemerkungen, wie diese eine ist, herauslesen und herausfolgern läßt, scheint ihn ihnen, wie in einer Nuß, der ganze Gegensatz der beiden Hauptteile in KANTs "Kritik der Urteilskraft" zusammengefaßt und unterschieden. Schönheit und Zweckmäßigkeit, Kunstphilosophie und Naturteleologie erscheinen als getrennt begriffene Probleme; und an vielen Orten wiederholt sich der Eindruck, als befinde sich JACOBI durchaus auf kantischem Boden. Bis zu welchem Grad dies möglich ist, geht schon aus der bisherigen Darstellung einigermaßen deutlich hervor. Was über diesen Gegenstand bei JACOBI zu sagen übrig bleibt, wird diese Grenze bestätigen und ergänzen. Es ist notwendig, über die Entstehung und das Wesen des eigentlich Kunstschönen noch einige Bemerkungen JACOBIs zusammenzutragen.

Im menschlichen Künstler ist niemals, wie in der gottdurchleuchteten Natur, Form und Stoff, Kunstwille und Dingschöpfung in Eins gegossen. Es fehlt dem Menschen an einem schöpferischen Vermögen, das durchaus konstitutiv, nicht diskursiv wäre. Im Menschen ist nur ein Nacheinander der Ideen und ihre Ineinsschauung bedarf schon der "unbekannten Kraft". Immerhin, diese Kraft wirkt sich im Künstler aus; und insofern ist in ihm zumindest auf Augenblicke die Kraft der Form, die es vermag, die  disjecta membra [versprengten Glieder - wp] des Bloß-Stofflichen aus dem Formlosen zur Gestalt zu zwingen; wobei allerdings der Stoff als solcher gegeben sein muß. Eine Schöpfung im menschlichen Sinn also beschränkt sich von vornherein auf die Herausführung des bedeutungsentlegenen Stofflichen zum Bedeutenden der Gestalt durch die Vermittlung der Formidee.
    "Wenn wir sagen, daß etwas aus dem Nichts zum Dasein übergeht, so verstehen wir darunter, daß eine bloße Konzeption realisiert wird.  Wir setzen das Nichts in die Abwesenheit der Materie, des Stoffes, des Objekts. Wo die Form den Stoff hervorbringt, die Gestalt die Sache ausmacht, da erblicken wir Schöpfung."
Wir sagen deshalb vom Künstler, daß er eschafft. Zum Beispiel der Maler erschafft seine Darstellung; sie liegt nicht in den Farben, sondern sie ist bloß aus der Form entstanden, die im Geist des Künstlers war." (228) Es erübrigt sich fast, noch zu betonen, daß demgemäß der Akt der Kunstschöpfung ein Akt der Freiheit im Sinne JACOBIs ist, nämlich ein Akt, aus dem Urtrieb der Menschennatur, sich über sich selber hinauszuheben, oder  Genie (229).

Das sittliche Genie und das poetische berühren sich. Einen Augenblick schillern auch hier wieder JACOBIs Äußerungen in romantischem Glanz. Aber unter Berufung auf die gleichen Gründe der Ablehnung, die auf sittlichem Gebiet das ironische Genie vom frommen scharf unterscheidet, setzt auch hier JACOBI eine deutliche Grenze fest zwischen sich und denen, die die Gedanken der neuen Zeit verwirren und mißdeuten:
    "Der Dichter ist Seher, und darf eine Lüge ersinnen, ihr dienen, sich ihr hingeben. Die entgegengesetzte Lehre: er müsse nur Lüge ersinnen, bloß Gestaltungen ohne Inhalt und der absolute Phantast sei das wahre Götterkind, ist ein neuer Einfall, dessen eine bessere Nachwelt spotten wird",
schreibt JACOBI an GOETHE (230). Und er wußte wohl, wie richtig er für diese Ansicht die Adresse gewählt hatte. Was ihn GOETHE verwandt machte, das stieß ihn mit dem sichersten Gefühl ab von den "Intellektuellen" der neuen Kunst, von den ideenumnebelten Theorien der zünftigen Romantik. Wahrheit und Erdnähe muß in allen Kunstschöpfungen sein, damit sie nicht wie blutleere Schatten kaum den Beschwörungen ihrer eigenen Erzeuger gehorchen und im Nichts zerrinnen, wenn man sie greifen will. In einem durchaus prächtigen und sehr lesenswerten Brief, den JACOBI im Februar 1776 an den Mannheimer Kupferstecher und Maler-Radierer FERDINAND KOBELL gerichtet hat (231), sagt er unter anderem dies zur Bestätigung seiner Auffassung vom Wesen der Kunst:
    "Diejenigen Dichter und Künstler, welche Genie oder wahre Laune zu ihrem Werk hinriß, welche sich nicht lange vorher fragen durften:  was will ich tun? ja, die oft nicht einmal zu fragen hatten:  wie richte ich es aus? ... die, weil sie wirklich sahen, hörten und fühlten, in ihr Werk das allgenugsame  Hephata [Öffne dich! - wp] aufnahmen, ... diese wackeren Leute machen mir alles recht."
Aber im Grunde ist es an diesem Punkt mit JACOBIs Lehre vom Schönen auch schon zu Ende. Die Aufforderung: "bilde Künstler, rede nicht" ist ganz nach seinem Sinn und bricht frühzeitig jede weitere Erörterung dieses Themas ab. Aber in seinem Mund ist es nicht die Aufforderung des theorienüberdrüssigen Künstlers an die Künstler; auch bis in diesen äußersten und scheinbar zufälligen Umstand hinein ist der Anschein trügerisch, als rede aus dem Philosophen die Ungeduld des Schaffenden. Aus ihm spricht die Ungeduld des Religiösen, der gerne alle Formen der Äußerung des Göttlichen gelten lassen will, der aber vielmehr auf die lebendige Erfüllung, als auf die theoretisierende Zergliederung der Aufgaben auch in der Kunst hindrängt:
    "Nach meinem Gefühl", schreibt  Jacobi an  Kobell, "hat die Kunst nichts anderes zum Zweck, als das Leben der Natur ... in Gefäße zu sammeln. - Es kommt nur darauf an, ob wir mächtig zum Genuß sind." (232)
Dies ist die Hauptsache. Daß wir davon den richtigen Begriff haben, und wissen, warum und wozu das dient, was wir das Schöne nennen, das kommt erst in zweiter Linie in Betracht. Der schlimmste Irrtum aber ist es, zu meinen, daß man das höchste Wesen einer Sache ergriffen hat, wenn man nur seinen vollkommenen Begriff erjagt hat.
    "Das Schöne, Gute und Wahre in der zweiten und dritten Abschattung, im Begriff, im Wort, halten wir für etwas Höheres, als seine leibhaftige Darstellung im Einzelnen und Besonderen, wo doch etwas aus dem Schönen, Guten und Wahren wirklich ist. Wir verwechseln das abstrahierte  Gemeinsame mit dem ursprünglichen  Einen und halten das unterste und letzte für das oberste und erste." (233)
Scharf und deutlich kommt in diesen Worten JACOBIs Auffassung von der Wertbedeutung des Individuellen zum Ausdruck. Vor allem aber erscheint eines unzweifelhaft: Es gibt keine Schönheit im Begriff, sondern ausschließlich nur eine Schönheit am schlechthin Individuellen. Schönheit entsteht, besteht und vergeht allein mit der Individuation und ihrem Stufenbau. Darum ist über die Einsicht hinaus, daß alle Schönheit, die in Produktion und Genuß erlebt werden kann, Wirkung eines lebenerzeugenden und erfüllenden Enthusiasmus, göttlichen Instinktriebes ist, jede weitere Theoretisierung dieses Gegenstandes ist von Übel. Denn sein Wesen ist Lebendigkeit, nicht Abstraktion. JACOBI reagiert auf die Versuche in theoretischer Richtung schließlich mit dem Temperament der praktischen Natur:
    "Ich bin dem schändlichen Theoriewesen so gram, daß mir auch die Kunstgriffe sogar verdächtig scheinen, ... die etwas anderes, als geschärfter Sinn, als vervollkommnetes Organ - die nur blinder Mechanismus sind." (234)
Nicht anders, wenn auch von einer anderen Seite her, stellt sich JACOBI zu einer Theorie des Erhabenen; und wenn es bisher, in Anbetracht der Theorie vom Schönen, mehr eine allgemeine Opposition gegen die ästhetisierenden Kannegießer [Schwätzer - wp] und Allesversteher war, was JACOBI in seiner Ablehnung bestimmte, so macht es an dieser Stelle schon mehr den Eindruck, als entferne sich JACOBI mit Bewußtsein von der Lehre der Kritik der Urteilskraft. Das Erhabene nämlich hat nach JACOBIs Auffassung überhaupt keinen Platz in der Philosophie des Schönen. Das Erhabene ist ein durchaus moralisches, ja mehr als das, ein eigentlich und durchaus religiöses Gefühl. Und JACOBI erklärt:
    "Zu einem transzendentalen Begriff des Erhabenen weiß ich keinen Weg; nach menschlicher Vorstellungsart scheint  mir das Erhabene das mehr, als Mögliche zu sein; es ist überall, wo ein Zusammenhang zwischen entgegengesetzten Eigenschaften entsteht,  oder, wo ein Widerspruch aufgehoben wird - eine Definition scheitert, eine Regel zugrunde geht; es ist ein Gespenst; es ist ein Wunder; es ist die Wirklichkeit, der die Möglichkeit die Schleppe trägt." (235)
Wo Definitionen scheitern und Regeln zugrunde gehen, da ist weder der Ort für die harmonisierende, Schönheit gebärende Ineinsschauung der Ideen, noch für Definitionen und Regeln des Verstandes und der Begriffe: Das Erhabene deutet auf die Wunder des über alle Begriffe aus dem Willen der Gottheit heraus wirkenden Lebens, unmittelbar im Gefühl, in Ahnung und Glaube.

Das Gefühl des Erhabenen ist so allerdings die nächste und offenkundigste Brücke vom Genuß des Schönen zum Genuß der Gottheit, denn es verknüpft gewissermaßen die ästhetische Empfänglichkeit der menschlichen Natur, auf dem Gipfel ihrer Erziehung zur Vollkommenheit des Lebensgefühls, mit der religiösen. Der Übergang von der Kunstlehre zur Religionslehre ist gemacht. Da aber einleuchtet, daß im Gefühl des Erhabenen die Gottheit selber an unsere Sinne pocht, und da vom Wesen des Göttlichen vor allem der Charakter der sittlichen Vollendung und Zwecksetzung unablöslich ist, so fließen an diesem Punkt die Qualitäten der Schönheit, Güte und Wahrheit in Eins zusammen mit der Wirkung der Gefühlserzeugung des Erhabenen im vernünftigen Individuum. "Sine bonitate nulla majestas" [Wo keine wahre Erhabenheit ist, gibt es keine Majestät. - wp], (236) das ist der höchste, erkenntnismäßige Inhalt dieses Gefüls. In unmittelbarer Reflexion dieses Gefühls, gegenüber der höchsten Vorstellung von persönlicher Wirklichkeit, auf das menschliche Individuum erwächst aber auch die Forderung an das Wesen der vernünftigen Person im Menschen: Ein allweiser, allgütiger und in Schönheit wirkender Gott verlangt diesen dreifachen Ausdruck seines Wesens auch von den sterblichen Naturen, die nach seinem Bild geschaffen, und seiner Vollkommenheit zuzustreben ausersehen sind. Daher muß sich dem nach Wahrheit und Sittlichkeit ringenden Menschen notwendig das Gebot aufdrängen, in all seinem Denken, Fühlen und Wollen als sittliche Persönlichkeit gleichzeitig auch schöne Persönlichkeit zu sein; den harmonischen Ausgleich aller Triebe und Wirkungen als den Grundton seiner gebildeten Natur festzuhalten und zu verstärken.

Auf dem Übergang vom Schönen zum Heiligen steht neben dem Gefühlsphänomen des Erhabenen die Forderung der  schönen Seele. Nirgends findet sich bei JACOBI eine direkte Bezugnahme auf SCHILLER und dessen "ästhetische Erziehung". Aber der Sache nach ist an keiner anderen Stelle im System der jacobischen Philosophie eine solche verwandtschaftliche Nähe ihrer Gedanken gegenüber denen des deutschen Klassizismus zu bemerken, als hier. Und diese Übereinstimmung erstreckt sich - was übrigens ja nicht überraschen kann - bis auf die Gemeinsamkeit des klassischen Ideals. Auch für JACOBI ist es ein Genuß, den hohen Sinn der Alten zu preisen, "daß bei ihnen Gutes und Schönes  unzertrennlich,  in  einem  Gefühl, Begriff und Wort verknüpft gewesen" ist. - "Wir nennen eine  Seele  schön und schöner, wenn sie leicht und leichter durch ihre Hülle dringt,  überall Seele offenbar macht." (237) Aus diesem Standpunkt fließt, was an hundert Stellen der jacobischen Schriften in wechselnder Sprache und mit wechselnden Absichten über das Wirken der Person, vor allem der praktisch-sittlichen, geurteilt wird (238), und überall aufs Genaueste mit SCHILLERs Denkungsart übereinstimmt, auch im Hinblick auf die gemeinsame Polemik gegen KANT im Punkt des ethischen Rigorismus. Doch davon war früher an seinem Ort die Rede. (239)

Zuletzt ist eben weder die theoretische, noch die sittlich-ästhetische Seite in der menschlichen Vernunftperson die am meisten betonte oder zu betonende; sondern diese Eigenschaften alle müssen, je gründlicher, desto besser, zu leichten und immer leichteren Äußerungsformen der Grundnatur alles Vernünftigen werden, das heißt der Religion. Die Schönheit der Natur und die Schönheit der Seele treffen im Grunde in ihrer innersten Natur, darin zusammen, daß sie einen Gott durchscheinen lassen. Und wieder ist es ein Wort des mystischen Poeten, das diesen Übergang von der Schönheit zur Heiligkeit, auch im Sinne JACOBIs, am besten zum Ausdruck bringt:

Die Morgenröt' ist schön, noch schöner eine Seele,
Die Gottes Strahl durchleucht in ihres Leibes Höhle.



LITERATUR: Friedrich Alfred Schmid-Noerr, Friedrich Heinrich Jacobi, Heidelberg 1908
    Anmerkungen
    204) Werke II, Seite 10f
    205) Werke III, Seite 318
    206) Vgl. u. a. die Kantbriefe der Königlich Preußischen Akademie, Bd. X (I der Briefe), Kant an Marcus Herz vom April 1786, Seite 419.
    207) Werke II, Seite 61f
    208) Werke VI, Seite 463f
    209) Werke VI, Seite 522
    210) vgl. dazu Werke VI, Seite 520-524
    211) Werke VI, Seite 526
    212) Werke VI, Seite 523
    213) Werke VI, Seite 524
    214) Werke VI, Seite 528
    215) Werke VI, Seite 528
    216) vgl. Werke V, Seite 111
    217) Werke V, Seite 123
    218) Werke VI, Seite 157
    219) Werke VI, Seite 157
    220) siehe Werke IV, Abteilung II, Seite 211
    221) vgl. Werke VI, Seite 162
    222) Werke VI, Seite 162. Vgl. dazu Werke III, Seite 317: "Wie das Schöne im reinen Gefühl der von ihm eingeflößten Bewunderung und Liebe ohne Merkmale erkannt wird: Das Schöne unmittelbar nur an seiner Schönheit; so - im reinen Gefühl der Achtung, der Hochachtung und Ehrfurcht das Gute unmittelbar nur am Guten. Beide aber: das Gute und Schöne, setzen das Wahre voraus ..." usw.
    223) Vgl. dazu u. a. Werke II, Seite 253: "Die Form, welche ihre (der Kunstwerke) Einheit ausmacht, wohnt in der Seele des Künstlers, der sie erfand, oder des Kenners, der sie beurteilt, nicht in ihr selbst. In ihr selbst ist sie ohne wesentlichen Zusammenhang, wie der roheste Klumpen." Schärfer läßt sich der kantische Standpunkt kaum formulieren.
    224) Werke VI, Seite 153
    225) Werke VI, Seite 93
    226) Werke VI, Seite 93
    227) Werke II, Seite 210
    228) Werke VI, Seite 160
    229) vgl. Werke II, Seite 520
    230) den 19. Februar 1808; vgl. Briefwechsel, Bd. II, Seite 406
    231) vgl. Briefwechsel, Bd. I, Seite 232f
    232) vgl. den oben erwähnten Brief
    233) Werke VI, Seite 221f
    234) Vgl. den Brief an Kobell
    235) JACOBI an LAVATER, Briefwechsel, Bd. I, Seite 339
    236) Vgl. Briefwechsel, Bd. III, Seite 402
    237) Werke V, Seite 419
    238) vgl. u. a. Werke V, Seite 87, 100, 182, 193
    239) Auch von der notwendigen Einschränkung, die im Hinblick auf diesen Punkt der Übereinstimmung mit SCHILLER gemacht werden muß. Man mag sich jedoch immerhin gegenwärtig halten, daß, bei aller Kompliziertheit der verschiedenen Persönlichkeiten, doch bei beiden das künstlerische Interesse das zeitweilig stärker betonte (bei SCHILLER überhaupt das stärkere), das ethische Interesse aber das eigentlich und durchgehends grundbetonte war, woraus sich auch die Modifikation im beiderseitigen Verhalten KANT gegenüber erläutert.