NovalisM. JoachimiE. KircherA. Ross | ||||
Die romantische Weltanschauung
I. Dichtung und Weltanschauung Wir denken an das Wort des Klassikers GOETHE, auf den sich die Formästhetiker so gern berufen: "Zeichnen, um zu zeichnen, wäre wie reden um zu reden. Wenn ich nichts auszudrücken habe, wenn mich nichts anreizt, wenn ich würdige Gegenstände erst mühsam aufsuchen muß, wo soll da der Nachahmungstrieb herkommen?" Und wir glauben nicht die Sphäre der Kunst zu überschreiten, wenn wir den Gehalt erforschen, den auszudrücken es den Künstler anreizt. Dabei ist es aber nicht der individuelle Bildungsgang des Dichters, aus dem heraus wir den Gehalt seiner Dichtung zu verstehen suchen; denn insofern die Gedanken des Dichters in der zufälligen Folge seiner Studien bedingt sind, bleiben sie in dieser zufälligen Besonderheit und temporären Bedingtheit seine Privatangelegenheit, die für die Psychologie des dichterischen Subjekts von Interesse sein mag, für den objektiven Wert der Dichtkunst aber nicht in Betracht kommt. Innerhalb des Zusammenhangs der Dichtung selbst suchen wir den Gehalt, als den lebendigen Kern, aus dem sie sich organisch entwickelt; und wo wir in allem Schaffen eines Dichters dieselbe ausgeprägte Einstellung dem Leben gegenüber erkennen, deren verschiedene Ausdrucksformen alle seine Werke sind, dort sprechen wir von der seine gesamte Dichtung beherrschenden Weltanschauung. So geht uns die Frage nach dem dichterischen Gehalt über in die Frage nach der Weltanschauung des Dichters, deren Bedeutung wir in einem ähnlichen überindividuellen Sinn auffassen, wie DILTHEY die Bedeutung des Erlebnisses des Dichters aufgefaßt hat. Große Dichter ziehen an uns vorbei, als Träger dichterischer Weltanschauung, und darüber erhebt sich die Frage, was das Wesen dichterischer Weltanschauung als solcher ausmacht. Was verstehen wir unter Weltanschauung, wenn wir von der Weltanschauung GOETHEs oder SCHILLERs, der Klassiker oder der Romantiker, der antiken oder der modernen sprechen? Zunächst nicht den Inbegriff der fachwissenschaftlichen philosophischen Bildung des Dichters; außer Beziehung zum inneren Wesen der Dichtung, bleibt dieser Inbegriff auch eine Privatangelegenheit des Dichters. Daß der Dichter philosophische Bildung besitzt, bedeutet noch keinen inneren Zusammenhang zwischen seiner Dichtung und seiner Philosophie, sondern nur den zufälligen Zusammenhang zwischen dem Dichter und dem Philosophen, die in einer Person vereinigt sind. Den Wert eines Dichters erhöht es nicht, daß er zugleich geschulter Philosoph ist, und er wird kein größerer Dichter dadurch, daß er auch noch ein mittelmäßiger Philosoph ist. SCHILLERs Studium der kantischen Philosophie oder die Beziehungen der Romantiker zur idealistischen Philosophie mögen nicht ohne Einfluß geblieben sein auf die Werke dieser Dichter; für den dichterischen Charakter dieser Werke aber bleibt ein solcher Einfluß so zufällig, wie nur der Einfluß heterogener Betätigungen aufeinander sein kann. Denn die Sphären der Dichtung und der systematischen Philosophie decken sich nicht, sie berühren sich nur im Begriff der Weltanschauung. Die Philosophie ist ihrer Methode nach Wissenschaft; und wenn sie auch, im Unterschied von anderen Wissenschaften, auf eine Weltanschauung zielt, so unterscheidet sie sich wiederum von jeder anderen Form der Weltanschauung dadurch, daß der Weg zu dieser in ihr durch eine systematische Beweisführung geht und weder durch ein unmittelbares Lebensgefühl, noch durch einen unbegründeten Glauben abgekürzt werden darf. Ohne die philosophische Grundlegung, die zurückgeht auf die Einheit der letzten Prinzipien der Erkenntnis, bleibt innerhalb der Philosophie die Weltanschauung wurzellos. Die philosophische Weltanschauung ist keine Blüte, die mühelos gepflückt sein will, und Wert hat sie nur, wenn sie sich aus dem ganzen Bau des philosophischen Systems ergibt. Eine Philosophie, welche die Weltanschauung an den Anfang stellt, statt damit den Bau abzuschließen, entbehrt eines sicheren Grundes und bleibt, mag der Inhalt der Weltanschauung noch so positiv sein, philosophisch bodenlos. Gerade diese systematische Grundlegung aber, die den philosophischen Charakter der Weltanschauung bedingt, liegt außerhalb der Sphäre der Dichtung; und so verbieten sich innerhalb der Dichtung direkte Anleihen bei der Philosophie umso mehr, je strenger der eigentümliche Charakter der letzteren gewahrt ist. Nur die Weltanschauung, als das letzte Ergebnis der philosophischen Forschung, kann dem schaffenden Dichter zustatten kommen, wobei es aber für seine dichterischen Zwecke ohne Belang ist, ob diese Weltanschauung, die er, als gefestigte Einstellung dem Leben gegenüber, zu seiner Kunst mitbringt, philosophisch erarbeitet oder auf einem anderen Weg gewonnen ist. Wir könnten von der Freiheitsdichtung SCHILLERs oder von der pantheistischen Dichtung GOETHEs sprechen, auch wenn wir nichts von den Einflüssen wüßten, die sie von KANT, SPINOZA oder SHAFTESBURY erfahren haben. Auch wo ein solcher Einfluß philosophischer Studien auf die Weltanschauung des Dichters stattgefunden hat, findet diese Weltanschauung nur losgelöst vom wissenschaftlichen Ursprung Eingang in die Dichtung, als unbedingte, auf sich selbst beruhende Einschätzung von Welt und Leben, die von der Dichtung aus, als lebendige Kraft, ihrerseits rückwirken kann auf die Entwicklung des philosophischen Denkens. So bleibt die Anleihe, die SCHILLER, als Dichter, bei KANT und FICHTE gemacht hat, an Bedeutung weit zurück hinter der großen Wirkung, welche er, als künstlerisch orientierter Denker, auf die nachfolgenden Philosophen ausgeübt hat. Als lebendige Kraft, die sich nicht in abstrakte Begriffe auflösen läßt, gewinnt die Weltanschauung des Dichters in seinem Schaffen Form, als jener "würdige Gegenstand", den es auszudrücken es den Dichter anreizt. Doch auch noch in einem anderen Sinn läßt sich bei einem Dichter von einer Weltanschauung sprechen; von einer Weltanschauung, die in viel engerer Beziehung steht zum Wesen der Dichtung, als jene vom Dichter unabhängig von seiner Kunst gewonnene und in dieser nur niedergelegte Einschätzung von Welt und Leben; von einer Weltanschauung, die die Dichtung nicht bloß ausdrückt, sondern auch selber hervorbringt. Der Begriff Weltanschauung besagt, daß die Welt, in der wir stehen, für uns zugleich Gegenstand der Betrachtung ist, daß wir also nicht restlos aufgehen in Genuß und Bedürfnis des Lebens, sondern uns Freiheit genug wahren, um uns die Wirklichkeit als Objekt entgegenzuhalten. In diesem Sinne ist die Kunst so gut eine Form der Weltanschauung, wie die Philosophie oder die Religion; denn wie diese, bedeutet auch sie eine Befreiung vom Zwang der Wirklichkeit, eine Objektivierung des Lebens, dem gegenüber sie Distanz schafft. Nicht dadurch, daß sie eine auf anderen Geistesgebieten erarbeitete Weltanschauung zum Ausdruck bringt, sondern erst dadurch, daß sie selbst eine weltanschauungsbildende Kraft wird, tritt die Kunst jenen als gleichwertig an die Seite. Weniger als irgendein Kulturwert dient die Kunst der Befriedigung realer Bedürfnisse des Lebens; als ihren Adelsbrief preist es SCHOPENHAUER, daß sie das Vorrecht hat, unnütz zu sein. Jene Freiheit aber von allen Bedürfnissen, die alle geistige Kultur erstrebt, gewäht sie in unmittelbarster Weise, ohne den Umweg der begründenden Beweisführung und ohne die Voraussetzung des verheißenden Glaubens; sie schenkt uns die Freiheit dem Leben gegenüber, nicht indem sie an die Stelle des Lebens andere Werte setzt, sondern indem sie das Leben selbst gestaltet. Insofern ist sie "Weltanschauung" im eigentlichen Sinn des Wortes: im unmittelbaren Schauen erfaßt sie ihre Welt; und was sie schaut, das subjektive Erleben, wird erst durch dieses Schauen zu einem objektiven, zur Welt. Im Unterschied von anderen weltanschauungbildenden Kräften erhebt sie uns über den Zwang des Lebens, ohne den Boden des Lebens zu verlassen; sie gibt uns Herrschaft über das Leben, indem sie es uns leben läßt; die Freiheit, die sie uns schenkt, muß weder durch Abstraktion, noch durch eine Überwindung von Lebensinhalten erkauft werden; sie nimmt den vollen Inhalt des Lebens in sich auf und, ihn gestaltend, bewirkt sie es, daß wir frei werden nicht vom Leben, sondern im Leben. Diese befreiende Wirkung der Kunst haben die Dichter immer gepriesen; GOETHE vor allen, der seine Dankesschuld an die Dichtung oft und gern gestand:
Die Leidenschaft sich rastlos durchgewühlt: Du hast mir, wie mit himmlischem Gefieder, Am heißen Tag die Stirne sanft gekühlt." Von jeher haben Dichter und Denker das Wesen dieser befreienden Wirkung zu erforschen gesucht. Am nächsten liegt es dabei an jene Erleichterung zu denken, die uns jede Äußerung unseres Leidens gewährt, ganz abgesehen von der Teilnahme, die sie uns sichert, bloß als Auswirken des Gefühls, als Kundwerden unseres Inneren.
Den Schrei des Schmerzens, wenn der Mann zuletzt Es nicht mehr trägt." Im Mitfühlen mit dem Dichter und seinen Gestalten geben wir uns vorbehaltlos Gefühlen hin, die wir im wirklichen Leben, uns beherrschend, zurückhalten. Dieses Nachlassen der Selbstbeherrschung gegenüber der dichterischen Darstellung von Leidenschaften ist es, worauf sich die große Anklagerede gegen die Dichtung in PLATOs "Staat" gründet:
Je weniger der Zustand der künstlerischen Betrachtung den Bedürfnissen und Normen des praktischen Lebens unterstellt ist, desto ungehinderter kommen darin alle Gefühle zur Auslösung. Diese Auslösung von Gefühlen, die sonst zurückgedrängt wurden, nicht abreagiert und daher drückende Spannungen zurückgelassen haben, muß als Erleichterung empfunden werden. Bei der BERNAYschen Deutung der aristotelischen katharsis [seelische Reinigung - wp] wird eben diese Seite der Kunstwirkung hervorgehoben. Deckt sich aber diese Entladung aufgespeicherter Gefühlsspannungen mit jener befreienden Wirkung, in der wir die weltanschauungsbildende Kraft der Kunst suchen? Wie ein Arzt zu Heilzwecken zur Aussprache bringt, was den Kranken drückt, so bedient sich auch die Dichtung zum Bewirken jener Befreiung durch die Kunst der lebhaften Erregung latenter Leidenschaften. Einem GOETHE war diese Analogie der Dichtung mit der Heilkunst wohl bekannt:
Das ist es, was PLATO der Dichtung zum Vorwurf macht, und weil er diese Wirkung auch auf die Wohlgesinnten unter uns befürchtet, bei denen "das Beste in unserer Natur noch nicht genügend durch Vernunft und Sitte erzogen ist", verweist er die Dichter aus seinem Erziehungsstaat. Damit soll kein Werturteil über den Dichter und seine Kunst gefällt werden; er soll nur unschädlich gemacht werden für die, welche noch nicht genügend erzogen sind: bekränzt läßt PLATO den Dichter, als einen heiligen Mann, aus seinem Staat hinausgeleiten. Offenbar erscheint PLATO die gefürchtete Wirkung nicht als notwendig, im Wesen der Dichtung begründet; er scheint vielmehr auch eine andere Wirkung zu kennen, auf jene wenigen, die er ausdrücklich von der Gefahr des Verderbens durch die Dichtung ausnimmt, eine Wirkung, die ihrem Wesen mehr entspricht und um derentwillen er sie, selber ein unvergleichlicher Dichter, verehrt; es ist die Wirkung, bei der die künstlerische Erregung die innere Fassung, wie sie zu PLATOs Ideal des genügend erzogenen Menschen gehört, nicht ausschließt, sondern sie vielmehr bedingt. Diese positive Wirkung der Kunst hat PLATO freilich im "Staat" nicht dargestellt (1); in den Rahmen seines "Staates", dessen Gedankengang in der Idee des Guten gipfelt, gehört sie nicht. Denn nicht durch höchste Einsicht, auf die PLATOs Ideengang im "Staat" abzielt, wird in der Kunst jene innere Fassung bewirkt, sondern durch rein künstlerische Mittel, durch das Waltenlassen der künstlerischen Form, die sich der Erregung bemächtigt, um erst durch deren Gestaltung das innere Gleichgewicht erstehen zu lassen. Das ist das Eigentümliche an der künstlerischen Wirkung, daß hier die innere Fassung, die Besonnenheit, auf die jede geistige Tätigkeit hinstrebt, sich verbindet mit der Erregung aller Lebensenergien. Sie tritt nicht an die Stelle der Erregung, diese verdrängend, sondern richtet sich auf sie, ihr die Unmittelbarkeit lassend. Wo der Dichter uns die Besonnenheit gegenüber den erregten Affekten dadurch wiedergibt, daß er uns ein Werturteil über sie nahelegt, bleibt diese nachträglich auf die Erregung folgende Beherrschung der Affekte außerhalb der rein künstlerischen Wirkung, die der Kunst allein eigen ist und in der die Gefühlserregung sich von Anfang an mit Besonnenheit verbindet. Durch das Waltenlassen der Form wird diese eigentümliche künstlerische Wirkung erzeugt. Ihrem Ursprung nach wurzelt die künstlerische Form in allen ihren Modifikationen in den natürlichen Ausdrucksbewegungen des Menschen (2). Aus unmittelbaren Äußerungen menschlichen Erlebens hat sich das Wort des Dichters, die rhythmische und melodische Tonbewegung des Musikers, die in der Linie festgehaltene Bewegung des bildenden Künstlers herausdifferenziert; und durch Analogie mit solchen natürlichen Lebensäußerungen sprechen auch die Formen der entwickelten Kunst zu uns. Aus diesem ursprünglich ausdrückenden Charakter der Kunstform erklärt sich auch jene unmittelbare lebhafte Gefühlserregung, die die Kunst in uns bewirkt ohne entsprechende sachliche Gründe, jenes neuerdings als "Einfühlung" viel besprochene künstlerische sympathein, das ohne ein vermittelndes Wissen von realen Leiden in uns erst die Vorstellung von leidenden Menschen lebendig macht. (3) Aber nicht unverändert hält die Kunst die Gesamtheit unserer natürlichen Lebensäußerungen fest, sondern sie unterwirft sie einer bewußten Umgestaltung nach ästhetischen Gesetzen: aus der Gesamterscheinung des leidenschaftlich erregten Menschen, dessen ganzer Organismus unter dem Druck der Erregung steht und davon zeugt, daß das innere Gleichgewicht verloren ist, bei dem die Stimme, die freien Bewegungen der Glieder, die dem Wollen entzogenen Reflexbewegungen, selbst die organischen Funktionen den inneren Aufruhr verraten, wird eine einzelne Bewegung losgelöst, eine Bewegung, die zwar mit den Erregungszentren in Verbindung steht, aber doch auch von einem Willen bewußt geregelt, gemäßigt werden, kann keine Reflexbewegung, keine durch organische Funktionen bedingte Formveränderung; und diese einzelne, aus dem ursprünglichen Ganzen losgelöste Bewegung, die schon durch die Isolierung in die Sphäre des Bewußtseins gehoben ist, wird nach ästhetischen Forderungen geformt: der Schrei des Schmerzes, den uns die Natur verleiht, "wenn der Mann zuletzt es nicht mehr trägt", wird rhythmisch und harmonisch gestaltet, in kunstvolle Melodie und Rede umgesetzt. Nicht der unmittelbare Ausfluß, nicht das unwillkürliche und unbewußte Produkt der Erregung, sondern ihr bewußt geformter Niederschlag ist die Ausdrucksform der Kunst; in ihr ist die natürliche Äußerung des Inneren vereinfacht, stilisiert, zu einem bewußten Symbol menschlichen Erlebens geworden. Und als bewußtes Symbol erregt sie uns nicht nur ein entsprechendes Erleben, sondern auch das Bewußtsein dieses Erlebens, eben jene Besonnenheit, welche den künstlerischen Eindruck scheidet vom unmittelbaren Erleben, jene Besonnenheit, welche bei aller Lebhaftigkeit der Gefühlserregung durch die Kunst uns die Freiheit und ästhetische Gleichmütigkeit sichert. Wie im Affektzustand die bewußte Mäßigung des Ausdrucks unserer Gefühle uns die Herrschaft über dieselben wiedergibt, so fühlt sich auch der Dichter, wie der Betrachter, durch die künstlerische Gestaltung des Lebens von dessen Zwang befreit. Für diese befreiende Wirkung der gestaltenden Form dankt der Dichter der gütigen Natur:
Die tiefste Fülle meiner Not zu klagen; Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide." Wir brauchen uns der Erregung, der Tränen vor der Kunst nicht zu schämen; haben doch die größten Dichter, unter ihnen auch GOETHE, eine lebhafte "pathologische" Wirkung der Kunst, deren sie sich nicht zu erwehren vermochten, gestanden; aber wenn wir in der Kunst nichts anderes suchen, als diese nervenreizende Rührung, dann ist es nicht Kunst, was wir suchen, dann flüchten wir uns nur darum zum Spiel der Kunst, weil wir zu schwach sind für den Ernst des Lebens und seine Forderung eines aktiven Verhaltens. Statt dieser aber stellt die Kunst eine andere Forderung an uns: daß wir uns lossagen vom eigenen Ich, als dem Mittelpunkt, von dem aus alles andere klein erscheint, und daß unsere Betrachtung des Weltgeschehens nicht in einer eitlen Selbstbespiegelung stecken bleibe, sondern sich zu jenem selbstlosen Schauen erhebe, das durch eigene Gefühle hinduch das Leben selbst erfaßt, zu einem Schauen des klaren Weltauges, das SCHOPENHAUER in jeder echten Kunst findet. Auch die Kunst verlangt von uns, daß wir reinen Herzens werden, daß wir jene wahre Demut erlangen, die aus Liebe zu einem Größeren fließt; auch sie will uns zurückführen zur Reinheit und Unschuld des Kindes, dessen Lebenswertung noch nicht von jener raffinierten Eitelkeit vergiftet ist, die in allem Weltgeschehen nur den Widerschein der eigenen Vollkommenheit sucht. Und diese Reinheit der Betrachtung verlangt die Kunst von uns in Bezug auf die ganze Fülle des Inhalts, den nur ein Leben voller Erfahrung bietet. Als GOETHE in Italien seine Dichtungen vornahm, um sie entsprechend seiner neuen reineren Kunstauffassung umzugestalten und in ihnen "bewußt die Form walten zu lassen", charakterisierte er selbst das Wesentliche dieser Umgestaltung als "fast gänzliche Entäußerung der Leidenschaft"; und er wies für die neue Kunst auf "ein artiges Gleichnis" seine Freundes TISCHBEIN hin: ein
Wenn wir diese Selbstentäußerung auf künstlerischem Gebiet kennzeichnen als das Waltenlassen der Form, so stimmt das auch überein mit dem Gebrauch des Begriffs Form im philosophischen Denken, das die Form der Erkenntnis oder die Form der Wertung der Materie des subjektiven sinnlichen Zustandes entgegensetzt. Was aber die künstlerische Form unterscheidet von den übrigen Formen gestaltender Bewußtseinstätigkeit, das ist das eigentümliche Verhältnis, in welches sie hier zur Materie des subjektiven Zustandes tritt. Diese letztere, also die Leidenschaft, deren Entäußerung der reinen Kunst eignet, das unmittelbare Leben, von dessen Andrang uns die Kunst befreit, sollen ncht wie die sinnliche Begierde, als Materie des sittlichen Wollens, oder das sinnliche Empfinden, als Materie der objektiven Erkenntnis, überwunden und aufgehoben werden, sondern sie bleiben in ihrer ganzen Subjektivität der eigentliche Inhalt der Kunst; das flüchtige Leben in seiner begrifflich überhaupt nicht faßbaren Flut will die Kunst festhalten; das rein Subjektive, was wir sonst nie ergreifen, weil das Leben es nur lebt, das Denken aber davon abstrahiert, will sie uns gegenständlich machen; nicht dadurch, daß sie dieses rein Subjektive in objektive Werte umsetzt, die lebendige Flut in Wellenbewegungen zerlegt und in Zahlen ausdrückt, sondern gerade dadurch, daß sie das fliehende Leben selbst ergreift und im Fluge festhält, "dem Augenblick Dauer verleihend". Als "Bewußtwerdung des Lebens, des bisher unbewußten Lebens" charakterisiert RICHARD DEHMEL die Kunst, und FRIEDRICH HEBBEL, der als "das Elementarische der Posie" die Lyrik bezeichnet, sagt von dieser: "Die lyrische Poesie soll das Menschenherz seiner schönsten, edelsten und erhabensten Gefühle teilhaftig machen", d. h. uns nicht bloß die Gefühle erleben lassen, sondern uns zum Bewußtsein bringen, daß wir sie erleben. Sie soll durch ihre Form aus dem ganzen Gefühlsleben das eine Gefühl herausheben, wie die Sonne durch ihr Licht den einzelnen Tropfen aus dem Regen heraushebt; sie soll das Leben "als werdend und doch zugleich geworden darstellen". (4) Durch ein solches Fixieren und Gegenständlichmachen des flüchtigen subjektiven Erlebens gibt uns die Kunst einen Halt gegenüber dem Andrang der Lebensmächte, den nur sie allein "auf der schwankenden Erde" zu geben vermag. Die großen Denker des 17. Jahrhunderts sprechen gern von der leidenschaftslosen Ruhe, mit welcher der Philosoph ohne jede Voreingenommenheit des Interesses das menschliche Leben betrachtet, "als handelte es sich um Linien, Flächen oder Körper". Die Ruhe des Mathematikers, der vom vollen Inhalt des Lebens abstrahiert, tritt uns aus Form und Inhalt von SPINOZAs "Ethik" entgegen. Auch die Kunst kennt eine "schöne Gleichheit des Gemüts", aber diese braucht nicht auf Kosten des lebendigen Reichtums der Wirklichkeit erkauft zu werden. Die Devise des Dichters ist nicht das DESCARTES'sche:
Diese künstlerische Befreiung vom Zwang des Lebens durch das Gestalten seiner Inhalte können wir auch als die eigentümliche dichterische Weltanschauung bezeichnen, als die Weltanschauung, die der Dichter nicht neben seiner Dichtung besitzt, sondern durch die Dichtung erst erlangt. Erst durch dieses Erheben des unmittelbaren subjektiven Erlebens zum objektiven Weltinhalt ist dem Dichter seine Dichtung selbst zu einer Weltanschauung geworden, einer Weltanschauung, die nicht, wie die philosophische, die Gesamtheit vorhandener Weltinhalte voraussetzt, sondern was sie schaut erst zur Welt erhebt, in einem einzelnen, voll erlebten Moment eine ganze Welt umspannend, einer Weltanschauung, die die Universalität philosophischen Denkens ersetzt durch die Tiefe des künstlerischen Schauens. Diese rein dichterische Weltanschauung hat GOTTFRIED KELLER im Sinn, wenn er, die Flut des Lebens zu fassen, die Götter um "zierliche Geschirre ... und Marmor bittet, um zu bauen den festen Damm zur Rechten und zur Linken". In diesem Sinne sind Form und Gehalt der Kunst nicht getrennte Erscheinungen, sondern der tiefste Gehalt ist in der Form selbst bedingt. Wenn wir der Form diese Bedeutung beilegen, so meinen wir natürlich nicht jene tote traditionelle Form, die der Dichter aus der Überlieferung schöpft, um einen beliebigen Inhalt in sie zu gießen, nicht die Fertigkeit der Technik, die gar keine Beziehung hat zum Gehalt, den der Dichter zum Ausdruck bringt, sondern jene lebendige Form, die aus dem, was der Dichter zu sagen hat, organisch erwächst und darauf zurückwirkt und die daher immer einzig in ihrer Art und nicht übertragbar ist, diesem Stoff angepaßt, dieses Erlebnis zu gestalten bestimmt, so daß der eigentlichen dichterischen Form nun auch ein geformter Stoff, was wir eben den Gehalt der Dichtung nennen, entspricht. So können wir SCHILLERs Wort verstrehen, "daß die Schönheit nur die Form einer Form ist und daß das, was man ihren Stoff nennt, schlechterdings ein geformter Stoff sein muß". (6) Eine Anwendung dieses Satzes auf dichterische Kritik enthält SCHILLERs Rezension von BÜRGER. Ihren Ausgangspunkt bildet die Forderung an den Dichter, die Individualität, die er uns in seiner Dichtung zeigt, "zur reinsten, herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern", daß sie es "wert sei, vor der Welt und Nachwelt ausgestellt zu werden." Darauf gründet sich SCHILLERs vernichtendes Urteil über BÜRGER, der sich in seinen Gedichten nicht als gereifter, vollendeter Geist darstellt, und dessen Produkten nur deswegen die letzte Hand fehlen möchte, weil sie ihm selbst fehlte; seine lyrischen Gedichte seien bei aller poetischen Diktion unpoetisch empfunden, gedichtet nur "aus der sanfteren und fernenden Erinnerung", sondern unter der gegenwärtigen Herrschaft des Affekts, nicht nur Gemälde, sondern auch Geburten einer ganz individuellen Seelenlage. Aber der
Es ist das Ideal des inneren Maßes, das Ideal der Harmonie, das für die klassische Weltanschauung darum besonders charakteristisch ist, weil es in ihr von der Kunst auf das ganze Leben übertragen wird und aller Wertung denselben ästhetischen Stempel aufdrückt. Und zwar gilt das nicht nur von der Weltanschauung GOETHEs und SCHILLERs, sondern ebenso von derjenigen der Renaissance und der Antike und jeder Epoche, die sich auf den Boden der Antike stellt und die wir darum ihrer Richtung nach als klassisch bezeichnen. Und so allgemein stehen wir auf dem Boden der klassischen Kunst, daß dieses klassische Ideal uns als die dem Künstler überhaupt eigentümliche Einstellung zum Leben erscheint. In diesem Sinn hat GOTTFRIED KELLER das Ideal des Maßes als dichterisches Motiv im "Grünen Heinrich" verwertet, in Form des Segenswunsches, den der alte Eichmeister dem jungen auf die Wanderschaft ausziehenden Künstler mitgibt:
Aber gerade die neuesten Richtungen der Dichtung weisen eine solche Beschränkung auf Prinzipien der klassischen Kunst, wie sie sich die Ästhetik bis vor kurzem gestatten konnte, zurück. Und ihnen reihen sich aus der Vergangenheit immer neue Erscheinungen der Kunst an, die alle darin übereinstimmen, daß sie im prinzipiellen Gegensatz zur klassischen Kunst stehen; und zwar nicht weil sie die Vollendung der klassischen Form noch nicht erreicht haben, sondern weil sie sich nicht unter das Joch der klassischen Form beugen wollen. Von der primitiven Kunst an, in der wir heute mehr als eine bloße künstlerische Unbeholfenheit zu sehen glauben, durch verschiedene Kreise der orientalischen Kunst und durch manche mit den Blüteperioden des klassischen Geschmacks abwechselnden Epochen der okzidentalen Kunst bis zu all den modernen Strömungen, bei deren Beurteilung der klassische Maßstab versagt, - eine Reihe, die sich uns in ihrer Unabhängigkeit von der Reihe der klassischen Kunstentwicklung immer mehr als eine ununterbrochene, nur mehr oder weniger deutlich sichtbar werdende Entwicklung offenbart. Am deutlichsten tritt wohl der Charakter dieser anderen, nicht klassischen Kunst bei der Romantik hervor, die uns historisch nahe genug steht, daß wir sie in ihren Tendenzen verstehen, und uns doch auch genügend Distanz läßt, daß wir sie unbefangener und objektiver beurteilen können, als es uns gegenüber der modernen Dichtung möglich ist. Noch erscheint uns, die wir an der klassischen Kunst erzogen sind, das Wesen dieser anderen Kunst rätselhaft, es fällt uns schwer, neben allen ihren Erscheinungen einen gemeinsamen Gegensatz zur klassischen Kunst auch den positiven gemeinsamen Grundzug dieser Erscheinungen zu bestimmen. Gelingt es uns aber den künstlerischen Charakter all dieser Erscheinungen einheitlich zu fassen, so haben wir damit auch einen neuen Typus der dichterischen Weltanschauung erkannt: neben der Weltanschauung der klassischen Kunst, die wir als Maßhalten in allen Dingen, als Waltenlassen der Form kennzeichneten, eine wesensverschiedene künstlerische Weltanschauung, deren Eigentümlichkeit vielleicht am besten als Durchbrechen der Form zu bezeichnen wäre. Damit soll nicht einfach eine natürliche Formlosigkeit bezeichnet werden, entsprungen aus einem bloßen künstlerischen Unvermögen, das die Form noch nicht gefunden hat, sondern eine bewußt auf das Amorphe gehende künstlerische Absicht, welche das Bewußtsein der Form und deren Negation in sich einschließt. Denn ohne eine bewußte künstlerische Absicht gibt es überhaupt keine Kunst; erst in der bewußten künstlerischen Absicht vollzieht sich jene Befreiung, die den Sinn aller Kunst ausmacht. Der bloße unmittelbare, formlose Naturlaut der Empfindung ist noch keine Kunst; nur der bewußte Ausdruck der Empfindung ist es, sei es bewußt in dichterische Form gegossener, sei es ebenso bewußt diese Form durchbrechender. Wenn FRANZ WERFEL, der so charakteristisch ist für das moderne Kunstwollen, den "creator spiritus" anruft:
Daß nicht mehr Mauer krank und hart, Den Brunnen dieser Welt umstarrt," Der Beispiele eines solchen Durchbrechens der Form bietet uns die romantische, wie auch die moderne Dichtung genug. Wenn etwa HEINE in seinem Nordsee-Zyklus die ergreifende Vision des verlorenen und wiedergefundenen Vaterlandes mit den nüchternen Worten unterbricht:
Ergriff mich beim Fuß der Kapitän, Und zog mich vom Schiffsrand, Und rief ärgerlich lachend, Doktor, sind Sie des Teufels?" Während aber in Bezug auf den Begriff des Waltenlassens der Form wir uns auf die herrschende und von den großen Dichtern in übereinstimmender Weise geäußerte Auffassung berufen können, sehen wir uns in Bezug auf das Durchbrechen der Form einem Problem gegenüber, das sich in jüngster Zeit aufgetan hat. So erscheint auch das neue ästhetische Prinzip des Durchbrechens der Form in seiner Formulierung bloß als Negation des positiven Prinzips des Waltenlassens der Form. Damit soll aber nicht gesagt werden, daß die künstlerische Richtung, deren Eigenart das neue Prinzip formulieren will, zeitlich der entgegengesetzten Richtung nachfolgt, noch daß sie ihr in ihrem Wert nachsteht. Denn bis in die ersten Anfänge der Kunstentwicklung können wir diese ihrem Wesen nach der klassischen entgegengesetzte Kunstrichtung verfolgen; und um zwischen den beiden Richtungen eine Wertuntscheidung zu machen, sind wir zu sehr Partei: ein jeder seiner ganzen Geistesverfassung nach zur einen oder anderen Richtung neigend. Dadurch daß wir den einen von den beiden Begriffen, die wir einander gegenüberstellen, als Negation des andern fassen, wollen wir diesem anderen Begriff weder die historische, noch die sachliche Priorität zuerkennen; vielmehr ist es ein rein methodischer Grund, der uns zu dieser negativen Begriffsfassung veranlaßt: verglichen mit dem Prinzip der klassischen Kunst, das uns nach unserer ganzen Erziehung und kraft der Überlieferung vertraut ist, erscheint das andere Prinzip für uns als ein Neues, Unbekanntes, Problematisches; und so definieren wir es durch seine Beziehungen zum Bekannteren. Problematisch ist das neue Prinzip auch seine Wesen nach; denn während das Waltenlassen der Form in der Kunst auf der Sonnenklarheit des Bewußtseins oder, wie GOETHE es ausdrückt, der Stil auf den tiefsten Festen der Erkenntnis ruht, auf dem Wesen der Dinge, sofern es uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greifbaren Gestalten zu erkennen, scheint dem Durchbrechen der Form eine Flucht aus der Klarheit der Erkenntnis in die dunklen Tiefen des Unbewußten, ein Verzicht auf das Licht der Vernunft zugrunde zu liegen. Denn wie beim künstlerischen Waltenlassen der Form, so ist auch beim Durchbrechen der Form der Begriff "Form" nicht in einem äußerlich-technischen, sondern in jenem tieferen Sinn gedacht, in dem er der Kunst gemeinsam ist mit der Philosophie: Form als Prinzip des gestaltenden Geistes im Gegensatz zum "gegebenen" Stoff des auf uns eindringenden Lebens. Das Waltenlassen der Form, als Prinzip der Kunst, bedeutet demnach den künstlerischen Ausdruck des Willens, das Leben der Einheit des zielbewußten Geistes unterzuordnen; und dem gegenüber bedeutet das Durchbrechen der Form den künstlerischen Ausdruck jener entgegengesetzten Einstellung, die auf dem Bewußtsein beruth, daß noch so unendlich Vieles bleibt und bleiben muß, was sich nicht gestalten läßt: es ist ein Verzicht des Geistes auf eine restlose souveräne Beherrschung des Lebens. Statt der Durchsetzung der nach einer Lebensbeherrschung strebenden geistigen Persönlichkeit, die ihre innere Einheit auf die gesamte Welt überträgt, ein Untergehen der geistigen Einheit in der Flut des auf uns eindringenden, unfaßbaren, ungestaltbaren, als gegeben hinzunehmenden Lebens. Darüber, was das bewegende Motiv dieses Verzichts auf eine rationale Beherrschung der Wirklichkeit ist, sind uns nur Vermutungen gestattet; denn die Dichter selbst sagen uns nicht, was sie dazu bewegt: sich darüber klare Rechenschaft geben, würde ja ihrem eigenen Grundprinzip widersprechen. Freiheit dem Leben gegenüber werden auch sie mit ihrem Durchbrechen der Form suchen; denn aus dem Verlangen nach Befreiung entspringt alle Kunst. Aber was wir Waltenlassen der Form nennen, das besonnene ins-Auge-fassen und dadurch Objektivieren des eigenen Erlebens, scheint für sie keine Befreiung zu bedeuten; offenbar widerstrebt ihr Inneres der Form. Die Spannung des Lebens muß bei Ihnen zu groß sein, und so wenden sie sich von aller Form ab. Statt die natürliche Form, die in der Einheit der geistigen Persönlichkeit liegt, noch durch ein bewußtes Waltenlassen der Form in ihrer geistigen Tätigkeit zu unterstützen, sie wie durch einen Damm gegen die anstürmende Flut des Lebens zu sichern, sprengen sie auch diese natürliche Form, durchbrechen sie die natürlichen Grenzen, die das principium individuations der geistigen Persönlichkeit gezogen hat. Statt der Bewältigung des Lebens durch innere Fassung, durch ein bewußtes Entgegenstemmen des Geistes sehen wir bei ihnen ein fassungsloses Durchbrechen des Dammes, der die Flut des Lebens von uns abhält, und ein Untertauchen in dieser Flut. Vielleicht ist da der Druck des Lebens zu schwer, als daß er durch die innere Fassung ausgeglichen werden könnte, der Schmerz zu groß, als daß die Form ihn mildern könnte; der wunden Zerrissenheit gegenüber erscheint da alle Form, alles Maßhalten, alle innere Fassung als falsche Beschönigung der Wirklichkeit, als Pose, als unwahre oder banale Geste. Und darum der Hohn, das Zerbrechen der Form. Man hat die Dichtung das Wiegenlied unserer Schmerzen genannt; es gibt aber Leiden, die kein einwiegendes Lied beschwichtigen kann; da weint man sich in den Schlaf hinein.
Aber gerade bei GOETHE tritt es deutlich hervor, wie sehr die Definition der beiden Geistesverfassungen als gesund und krank einen Wertunterschied bedeutet. Der gegebenen Gegensätzlichkeit der Kunst gegenüber, die WALZEL als deren Zweipoligkeit bezeichnet, und deren Erkenntnis sich heute kein unvoreingenommener Forscher mehr verschließen kann, dürfen wir aber nicht eine der beiden Richtungen von vornherein als eine nicht vollwertige der andern nachstellen. Man kann freilich auch ohne die beiden Typen der Weltanschauung zu werten, deren Verhältnis insofern mit demjenigen zwischen dem Seelenzustand des gesunden und dem des kranken Menschen vergleichen, als die charakteristische Eigentümlichkeit, die alle Modifikationen des seelischen Krankheit unterscheidet von seelischer Gesundheit, gerade jene Störung des seelischen Gleichgewichts ist, in der das Bewußtsein der Einheit der geistigen Persönlichkeit verloren geht. Aber so wenig die Idee der Bewußtseinseinheit, die allem Waltenlassen der Form zugrunde liegt, dadurch definiert wird, daß man sie als ein Symptom der seelischen Selbstvergessenheit des individualitätslosen Nirwana; ein vom eigenen Gesang nur übertönter, aber nie ausgeglichener, ein unlösbarer Schmerz, wie er uns etwa aus der Dichtung HEINRICH HEINEs so vernehmlich entgegenklingt:
Wir sprechen hier auch nicht mit WALZEL von zwei verschiedenen Richtungen des Formwillens innerhalb der Kunst, weil wir bei der einen der beiden entgegengesetzten Richtungen viel mehr eine Auflehnung gegen jede Form zu erblicken glauben. Eher könnten wir einem Willen zur Form entgegenstellen einen andern jede Form fliehenden Willen: ein Gegensatz, den wir über die Grenzen der Kunst hinaus verfolgen können auf alle Gebiete der geistigen Tätigkeit. Wenn WILHELM DILTHEY, dessen ganzes Streben auf die Form im weitesten Sinne dieses Wortes gerichtet war, und der zugleich wie wenige Formmenschen die Macht dessen empfand, was aller Form widerstrebt, das Wesen des philosophischen Strebens in die Worte faßt: "Der Tiefsinn des Gemütes und die Allgemeingültigkeit des begrifflichen Denkens ringen miteinander", so berührte er damit auf dem Gebiet der Philosophie denselben Gegensatz, den wir auf künstlerischem Gebiet durch die Gegenüberstellung von Waltenlassen und Durchbrechen der Form zu fassen versuchen. Den prinzipiellen Gegensatz innerhalb der Kunst, der selbstverständlich nicht erst heute, wenn auch heute allgemeiner als in früheren Epochen, empfunden wird, hatte seinerzeit NIETZSCHE zurückgeführt auf den Unterschied zweier exzeptioneller seelischer Zustände: der klaren apollinischen Vision und des dunklen dionysischen Rausches, des auf einen objektiven göttlichen Gehalt gehenden Entusiasmus und der alle Gegenständlichkeit fliehenden Ekstase. Muß man aber wirklich über das normale Verhalten des Menschen hinausgehen, um eine solche Polarität in der menschlichen Natur zu finden und kann man sie nicht im Wesen des menschlichen Geistes selbst erkennen? Denselben Gegensatz hatte HERDER, der Führer des Sturms und Drangs, der Vorläufer der Romantik, in den bekannten Worten, in die er das ihm fremde Wesen des GOETHEschen Geistes zusammenfaßte: "Es ist alles so Blick an Euch", zurückgeführt auf einen ursprünglichen Unterschied in der sinnlichen Anlage des Künstlers: dem Blick, dem "klaren Weltauge" gegenüber, wie es SCHOPENHAUER an GOETHE pries, und wie es dem modernen Menschen als vorbildlich erscheint für die klassische Weltanschauung, - jene tiefe Versunkenheit, in der der Mensch in sich hinein horcht, um in seinem tiefsten Innern gefühlsmäßig ahnend einen Widerhall des kosmischen Ganzen zu erleben. An ähnlichen Versuchen, die Gegensätzlichkeit in der Kunst zurückzuführen auf Unterschiede ursprünglicher Anlagen der Sinnes- oder auch der Phantasietätigkeit, fehlt es auch heute nicht. (8) Dürfte man aber da nicht weitergehen und von einem grundsätzlichen Unterschied zweier einander entgegengesetzter Prinzipien reden, nach denen der Geist in all seiner Tätigkeit verfährt, jener beiden Prinzipien, die schon PYTHAGORAS als peras [Begrenztes - wp] und apeiron [Unbegrenztes - wp] einander entgegengesetzt hat: der das Leben bewußt beherrschenden, aber auch beschränkenden Form gegenüber das alle Form als Schranke bewußt durchbrechende Unendlichkeitsbewußtsein. Erst im Zusammenhang mit einem solchen universalen grundsätzlichen Gegensatz würde sich uns die Zweipoligkeit der Kunst in ihrer inneren Notwendigkeit offenbaren; und erst von diesem Standpunkt aus betrachtet, ließen sich die Kämpfe und Wandlungen der ästhetischen Auffassung in eindeutiger Weise einreihen in den allgemeinen Zusammenhang des Geisteslebens. So erst, in seiner Tiefe aufgefaßt, würde sich der Begriff der dichterischen Weltanschauung mit dem der philosophischen Weltanschauung berühren: nicht dadurch, daß man in der Kunst direkten Anleihen bei der Philosophie nachforscht, sondern dadurch, daß man beide, wie alle geistige Tätigkeit, auf dieselbe Einheit des Bewußtseins zurückführt, die der Mensch auf der einen Seite zu behaupten und durchzusetzen strebt, während er auf der anderen Seite das im Zusammenhang des geistigen Lebens ebenso berechtigte Verlangen empfindet, diese Einheit vor einer Erstarrung zu bewahren. Allerdings müßten wir, wenn wir die beiden Geistesverfassungen als zwei Grundtypen der Weltanschauung einander gegenüberstellen wollten, den Begriff Weltanschauung über jenen präzisen Sinn hinaus, in dem wir ihn oben definiert haben, erweitern; denn dieser schließt die Form, deren die Wirklichkeit bedarf, um geschaut zu werden, in sich: ohne begrenzende Form gibt es in jenem präzisen Sinn keine Weltanschauung, sondern nur eine Stellung zur Welt, die man eher als Weltgefühl bezeichnen könnte. Und so müßten wir, wenn wir die Begriffe genau fassen wollten, nicht zwei verschiedene Typen der dichterischen Weltanschauung einander gegenüberstelle, sondern der einen dichterischen Weltanschauung, die auf eine objektive Gestaltung der Wirklichkeit, auf eine geformte Welt ausgeht, ein elementares, alle Form durchbrechendes dichterisches Weltgefühl entgegenhalten; ähnlich wie wir innerhalb der Philosophie nicht von einer doppelten Vernunft sprechen, sondern nur von einer, sich in ihrer Methode wie in ihren Inhalten immer wesensgleich bleibenden Vernunft und ihr gegenüber von einem dunklen, wenn nicht vernunftfeindlichen, so doch jedenfalls über den Bereich der Vernunft hinausgehenden Streben, für das DILTHEY nur den unpräzisen Ausdruck "Tiefsinn des Gemütes" fand, und, beim problematischen Charakter der in Betracht kommenden Erscheinung, keinen präziseren finden konnte.
1) Hingegen scheint das dritte Buch der "Gesetze" unter dem Bild des Rausches der Bejahrten auf diese positive Wirkung der Kunst hinzuweisen. 2) Schon PLATO weist an jener Stelle der "Gesetze", wo er die Kunst als eine Form des Rausches darstellt, auf diesen ihren Ursprung hin. 3) Näheres darüber in dem Aufsatz "Idealität der ästhetischen Gefühle", Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 125. 4) siehe HEBBELs Tagebücher 5) SCHILLER, Über die ästhetische Erziehung des Menschen. 6) Brief an KÖRNER, 25, l. 1793 7) Briefäußerungen über "Wilhelm Meister". 8) Vgl. z. B. WULFs Unterscheidung der plastischen und der zerfließenden Einbildungskraft, Deutsche Literatur-Zeitung 1918, Seite 49-52. |