cr-2Die Sprache schafft Scheinproblemedow54 KB    
 
HARALD WEINRICH
Wort, Text und Begriff

"Die Sachen sind das erste, die Wörter das zweite."

Die Lüge ist in der Welt. Sie ist in uns und um uns. Man kann die Augen nicht vor ihr verschließen. "Omnis homo mendax", sagt ein Psalmvers. Wir können übersetzen: Der Mensch ist ein Lebewesen, das der Lüge fähig ist. Das ist eine Definition, die ebenso richtig ist wie jene Definitionen, die den Menschen ein Lebewesen nennen, das zu denken, zu sprechen oder zu lachen versteht. Es mag wohl eine misanthropische Definition sein, aber sie ist nicht widerlegbar. MOLIÈREs Misanthrop nimmt sich aus ihr das Recht, das ganze Menschengeschlecht zu hassen.

Die Linguistik kann die Lüge nicht aus der Weit schaffen, und sie kann nicht verhindern, daß die "Lügenfahnen" (GOETHE) so oft entrollt werden. Zwar lügen die Menschen - meistens - mit der Sprache; sie sagen die Unwahrheit, und sie reden doppelzüngig. Aber es ist sehr fraglich, ob ihnen die Sprache beim Lügen hilft. Wenn sie es tut, wird sich die Linguistik dem "großen Problem der Lüge" (AUGUSTIN) nicht entziehen können. Hilft die Sprache jedoch beim Lügen nicht oder setzt sie dem Lügen sogar Widerstand entgegen, so kann dennoch die Linguistik beschreiben, was sprachlich geschieht, wenn die Wahrheit zur Lüge verdreht wird. Die Lüge geht die Linguistik allemal an.

AUGUSTIN, der als erster die Lüge zum Gegenstand der philosophischen und theologischen Reflexion gemacht hat, hat auch als erster den linguistischen Aspekt der Lüge gesehen. Er erinnert daran, daß den Menschen die Sprache nicht gegeben ist, damit sie sich gegenseitig täuschen, sondern damit sie einander ihre Gedanken mitteilen. Wer also die Sprache zur Täuschung gebraucht, mißbraucht die Sprache, und das ist Sünde.

THOMAS von AQUIN und BONAVENTURA nehmen diesen Gedanken auf: Die Wörter der Sprache sind Zeichen des Geistes; es ist wider ihre Natur und wider den Geist, sie in den Dienst der Lüge zu stellen. Die Sprache soll die Gedanken offenbaren, nicht verbergen. Die Zeichenfunktion der Sprache steht auf dem Spiel. Sie ist die elementarste, aber ebendarum die fundamentalste Leistung der Sprache. Die Lüge ist ihre Pervertierung.

Die Menschen sind aber so beschaffen, daß sie die Zeichen der Sprache zugleich zum Guten und zum Bösen gebrauchen. So sagen die Moralisten. Von TALLEYRAND wird ein Wort überliefert, das in einer Unterredung mit dem spanischen Gesandten IZQUIERDO 1807 gefallen sein soll. Es lautet: La parole a ètè donnèe à l'homme pour dèguiser sa pensèe. Es ist geflügeltes Wort geworden. Man schreibt es auch FOUCHÈ oder METTERNICH zu. Das bedeutet: Wenn schon nicht alle Menschen mit der Sprache ihre Gedanken verbergen, bei Politikern und Diplomaten gehört die Lüge zum Beruf. Sie ist eine Kunst. HERMANN KESTEN nimmt den Gedanken auf und entfaltet ihn wie einen Fächer:
"Es gibt ganze Berufe, von denen das Volk von vornherein annimmt, sie zwängen ihre Vertreter zur Lüge, zum Beispiel Theologen, Politiker, Huren, Diplomaten, Dichter, Journalisten, Advokaten, Künstler, Schauspieler, Banknotenfälscher, Börsenmakler, Lebensmittelfabrikanten, Richter, Ärzte, Gigolos, Generäle, Köche, Weinhändler." Spricht hier ein Dichter?

Wort und Text

Lügt man mit Wörtern? Lügt man mit Sätzen? Soll sich die Semantik oder soll sich die Syntax für das Phänomen Lüge interessieren? Wir versuchen es zuerst mit der Semantik und haben zu sagen, was eigentlich Bedeutung ist.

Wenn eine Sprache ein Zeichensystern ist, dann darf man sich vielleicht folgenden Vorgang vorstellen. Da ist ein Sprecher, und da ist ein Hörer. Zwischen beiden, so wollen wir annehmen, wird eine sprachliche Kommunikation hergestellt, indem der Sprecher das Wortzeichen "Feuer" dem Hörer übermittelt. Ein Kontext, so wollen wir weiter annehmen, ist nicht vorhanden. Desgleichen denken wir uns um die Kommunikation herum jede Lebenssituation fort.

Darf ich gleich sagen, daß die beschriebene Kommunikation rein fiktiver Natur ist und nur den Wert eines Modells hat? Denn wir reden normalerweise nicht in vereinzelten Wörtern, sondern in Sätzen und Texten, und unsere Rede ist eingebettet in eine Situation. Darf ich aber auch gleich sagen, daß die Semantik in dem knappen Jahrhundert ihrer Geschichte als Wissenschaft immer mit dieser Fiktion gearbeitet und fast nur das isolierte Wort vor Augen gehabt hat? Wir wollen das hier auch tun, aber nur für einen Augenblick.

Der Hörer, der nach dem beschriebenen Kommunikationsmodell das Wortzeichen "Feuer" empfangen hat, kann nicht viel damit anfangen. Der Informationswert ist gering. Immerhin weiß er etwas. Aus der sehr großen Zahl der Wörter, die in diesem Kommunikationsvorgang möglich waren, ist eines herausgegriffen, und damit sind bereits viele Gegenstände als mögliche Themen des Gesprächs unwahrscheinlich geworden. Aber der Hörer weiß noch nicht, um was für ein Feuer es sich handelt. Es kann ein Herdfeuer sein oder ein Strohfeuer, eine Feuersbrunst oder ein Kerzenlicht, ein loderndes oder ein glimmendes, wirkliches oder gedachtes Feuer. Er weiß nicht einmal ganz sicher, ob die Rede überhaupt von einem Feuer ist. Es kann ja das Feuer des Weins, das Feuer der Liebe oder ein Gewehrschuß sein. Der Hörer hat die Bedeutung des Wortes "Feuer" aber die Bedeutung ist ihrem Umfang ("Extension") nach weitgespannt. (Der Artikel "Feuer" im Wörterbuch, der ja einen gewissen Umfang hat, spiegelt die Weite der Wortbedeutung graphisch.)

Erster Hauptsatz der Semantik: Jede Bedeutung ist weitgespannt.

Kann man sich nun überhaupt klar verständigen, wenn grundsätzlich jede Bedeutung weitgespannt ist? Der Sprecher möchte vielleicht von einer Feuersbrunst erzählen, und der Hörer denkt an ein Herdfeuer oder etwas ganz anderes. Genauer gesagt, er weiß noch gar nicht, an was er denken soll. Sein Verstehen bleibt suspendiert in einem Zustand der Erwartung auf weitere Information. Solange diese nicht eintrifft, und so war ja die Annahme unserer Modellsituation, ist die (weitgespannte) Bedeutung des Wortzeichens "Feuer" dem Inhalt ("Intension") noch für den Hörer vage.

Zweiter Hauptsatz der Semantik: Jede Bedeutung ist vage.

Es ist dennoch nicht ganz unnütz, wenn der Sprecher das Wortzeichen "Feuer" den Schallwellen anvertraut, sofern er mit ihnen Hörer seiner Sprachgemeinschaft erreicht. Denn "Feuer" hat die gleiche (weitgespannte, vage) Bedeutung für sie alle, die einer Sprachgemeinschaft angehören. Sie haben nur wenig, wenn sie die Wortbedeutung haben, aber dieses Wenige ist gemeinsamer Besitz einer großen Gruppe. Das bedeutet: die ganze Gruppe hegt in bezug auf weitere Information die gleichen Erwartungen. Das macht die Wortbedeutung zu einem sozialen Gebilde.

Dritter Hauptsatz der Semantik: Jede Bedeutung ist sozial.

Jetzt mag für einen Augenblick die Annahme gestattet sein, wir hätten als unbeteiligte Zuschauer aus irgendwelchen Anzeichen erschlossen, daß es dem Sprecher um eine Feuersbrunst geht, deren Zeuge er geworden ist. Diese Feuersbrunst ist in ihrer Besonderheit als einmaliges Ereignis genau beschreibbar. Von all diesen Merkmalen erfährt der Hörer, dem bloß das Wort "Feuer" und seine Bedeutung gegeben ist, fast nichts. Gegeben ist ihm mit der (weitgespannten, vagen, sozialen) Bedeutung nur eine karge Information, die sich grob umschreiben Iäßt nach den Merkmalen "heiß", "brennend". Alle anderen Merkmale gerade dieses Feuers erfährt er nicht. Mit dem Wortzeichen "Feuer" wird also eine Relevanzgrenze durch die Merkmale dieses einen Feuers gezogen; einige Merkmale (sehr wenige) werden als relevant gesetzt, die anderen (sehr viele, ad libitum) werden als irrelevant gesetzt und nicht in die Bedeutung des Wortes hineingenommen.

Das Insgesamt der von einer Sprachgemeinschaft als relevant gesetzten Merkmale eines Gegenstandes nennen wir Bedeutung. Dieser Prozeß nun, die Merkmale eines Gegenstandes unter Relevanzgesichtspunkten zu sichten, ist ein Abstraktionsverfahren. Die Bedeutung eines Wortes, die man auf diese Weise erhält, ist ein Abstraktum. Das gilt für alle Bedeutungen, nicht nur für die solcher Wörter wie "Wahrheit", "Demokratie", die man abstrakt nennt.

Vierter Hauptsatz der Semantik: Jede Bedeutung ist abstrakt.

Die vier Hauptsätze der Semantik hängen natürlich zusammen, sind nur vier Aspekte einer Sache. Weil die Bedeutungen der Wörter weitgespannt sind, sind sie nur vage. (Umfang und Inhalt der Bedeutungen entsprechen einander in der Umkehrung.) Aber weil die Bedeutungen vage sind, sind sie in einer sozialen Gruppe verwendbar. Sie sind jedoch nur verwendbar, insofern sie abstrakt sind. So ist die Wortbedeutung zugleich arm und reich. Welche Armut an Information in dem Wort "Blume", welcher Reichtum an Merkmalen in jeder einzelnen Blume! Aber umgekehrt auch: Welche Begrenztheit im einzelnen Ding, welche Evokationskraft im Wort! MALLARMÈ hat das gewußt: "Die Blume als Wort, die man in keinem Strauß finden kann, ist jeder wirklichen Blume überlegen. Sie enthält mehr Geheimnis".

In MALLARMÈs Bekenntnis steht jedoch auch ein beunruhigendes Wort. Es ist das Wort "Idee". Für jeden Semantiker ist es ein Warnzeichen, daß er sich in die Nähe der platonischen Ideenlehre begeben hat. Die Bedeutungen als weitgespannte, vage, soziale und abstrakte Gebilde ähneln tatsächlich bedenklich den Ideen PLATONs mit dem Unterschied freilich, daß man sich zu jeder Sprachgemeinschaft ein Reich der Ideen oder Bedeutungen, einen "Begriffshimmel" (NIETZSCHE) oder eine "sprachliche Zwischenwelt" (WEISGERBER) denken muß.

Die vier Hauptsätze der Semantik, die hier aufgeschrieben worden sind, bezeichnen erst die Hälfte der Semantik. Sie gelten nur für das kaum mehr als fiktive Modell einer Kommunikation mittels isolierter Wörter ohne Kontext und Situation. Sie gelten nicht für Wörter schlechthin, und sie gelten vor allem nicht für die Wörter, so wie wir sie meistens gebrauchen, nämlich im Text (gesprochen oder geschrieben).

Die Semantik der Wörter im Text ist grundverschieden von der Semantik isolierter Einzelwörter, und die Wortsemantik ist zu ergänzen durch eine Textsemantik. Die alte Semantik war weitgehend Wortsemantik; sie verwies alles, was die Wortgrenze zum Satz hin überschreitet, in die Syntax. Aber Syntax ist etwas ganz anderes. Sie beginnt erst jenseits der Textsemantik.

Die Textsemantik kennt nun zu den vier Hauptsätzen, die bereits genannt worden sind, vier Korollarsätze, die ebenso wichtig sind wie jene. Man kann sie sich klar machen, wenn man sich in eine beliebige lebendige Situation versetzt. Da ist der Sprecher scheinbar in einem Dilemma. Er will dem Hörer von einem bestimmten, unverwechselbaren Feuer berichten, das für ihn wichtig und mitteilenswert geworden ist, und er hat doch nur Wörter mit ihren weitgespannten, vagen, sozialen und abstrakten Bedeutungen zu seiner Verfügung.

Was sonst noch in der Bedeutung "Feuer" stecken mag, interessiert ihn gar nicht, das meint er nicht. Er hat also, während er sich der Bedeutung bedient, eine Meinung, die nicht mit dieser identisch ist. Diese Meinung ist nicht weitgespannt, sondern engumgrenzt. Sie geht ja auf diesen einen Gegenstand, jene Feuersbrunst, von der man berichten will. Die Meinung ist auch nicht vage, sondern sehr präzise. Sie ist ferner nicht sozial, sondern individuell als das, was er persönlich hic et nunc sagen will. Und sie ist schließlich nicht abstrakt, sondern konkret.

Bedeutung und Meinung sind die beiden Grundbegriffe der Semantik. Alles, was zur Semantik zu sagen ist, gruppiert sich um diese beiden Pole. Und nur, was sich zugleich auf beide Pole bezieht, verdient den Namen Semantik. Wir sind in der bisherigen Darstellung vom Bedeutungspol ausgegangen und haben von ihm aus den Meinungspol anvisiert. In einer mehr sprachgenetisch orientierten Darstellung würde man umgekehrt vorgehen. Man erwirbt Sprache durch Sätze und Texte. Man hat also am Anfang nur Meinungen, zuerst wenige Meinungen, dann mit zunehmender Sprachpraxis viele Meinungen, die aus den gehörten und erinnerten Sätzen stammen.

Aber man hat nicht nur Meinungen, sondern bildet aus ihnen - das ist eine richtige Hypothesenbildung - die Bedeutung. Damit hat man den zweiten semantischen Pol erworben, und das Wort ist erlernt. Man kann es nun selber gebrauchen. Im Wortgebrauch in eigenen Sätzen wird dann die Bedeutungshypothese ständig korrigiert. Es ist interessant, daß wir als Sprecher einer Sprache alltäglich das Spiel der Hypothesenbildung und ihrer Verifikation oder Falsifikation spielen, das gleiche Spiel, auf dessen Regeln sich die Wissenschaft verpflichtet hat. Die Sprache ist eben ihrer Struktur nach eine vorwissenschaftliche Wissenschaft.

Ich komme zurück auf das Dilemma des Sprechenden, der eine Meinung (im angegebenen Sinne) hat, sich aber der Wörter mit ihren Wortbedeutungen bedienen muß. Für VOLTAIRÈ stellt sich das Dilemma folgendermaßen dar. Man hat zu seiner Verfügung, so schreibt er in seinem Dictionnaire philosophique, die Wörter "Liebe" und "Haß". Aber Liebe und Haß sind im Leben tausendfach verschieden. Wie soll man allen Nuancen gerecht werden! VOLTAIRÈ zieht daraus einen pessimistischen Schluß: Alle Sprachen sind unvollkommen wie wir Menschen.

NATHALIE SARRAUTE hat die gleichen Skrupel. Sie, oder genauer, der Erzähler des Romans Portrait d'un inconnu kommt auf die große Liebe des Fürsten BOLKONSKI in TOLSTOIs Krieg und Frieden zu sprechen und verzagt sogleich, die Gefühle des Fürsten mit dem Wort "Liebe" zu bezeichnen: "... immer diese brutalen Wörter, die einen niederschlagen wie Keulenschläge".

Nein, das ist keine Semantik. Gewiß, nichts ist vielgestaltiger als die Liebe; jeder weiß es. Gewiß auch, es gibt nur das eine Wort "Liebe" (im Französischen hat es noch wenigstens einen Plural). Aber das ist noch kein Grund, die Sprachen unvollkommen zu schelten. Denn gegenüber der tausendförmigen Liebe gibt es nicht nur das eine Wort "Liebe", sondern auch tausend Sätze um die Liebe. Und während die Bedeutung des Wortes "Liebe" immer gleich ist, sind die Meinungen des Wortes "Liebe" in allen Sätzen verschieden. Nicht in zweien sind sie gleich.

Der Satz ist die Brücke zwischen Bedeutung und Meinung. Der Satz, mitsamt dem weiteren Kontext und der umgebenden Situation, grenzt die (weitgespannte, vage, soziale, abstrakte) Bedeutung auf die (engumgrenzte, präzise, individuelle, konkrete) Meinung ein. Wenn man ein isoliertes Wort hört, kann der Geist im ganzen Umkreis der Bedeutung schweifen. Hört man das Wort im Text, geht das nicht mehr. Der Kontext stellt fest. Er stellt nämlich die Bedeutung fest. Die Wörter des Textes begrenzen sich gegenseitig und schränken sich ein, und zwar um so wirksamer, je vollständiger der Text ist.

Die Sprachkritik ist so alt wie das Nachdenken über die Sprache überhaupt. Sie besagt, daß die Sprache immer und mit Notwendigkeit hinter dem Denken zurückbleibt. Denn das Denken zielt auf die eine Wahrheit ab, die Wörter aber gehören den vielen Einzelsprachen an und führen uns bestenfalls zu einer deutschen, englischen, französischen Wahrheit, niemals zu  der  Wahrheit.  Rem tene, verba sequentur,  (Die Sache halte fest, dann werden die Wörter schon folgen.) riet schon der alte CATO, und so haben nach ihm noch viele geraten, mehr auf die Sachen als auf die Wörter zu achten. Seine Empfehlung aufs genaueste zu beherzigen, hat sich in unserem Jahrhundert sogar die Sprachwissenschaft angeschickt. "Wörter und Sachen" heißt die Formel einer sprachwissenschaftlichen Methode, die sich besonders bei der Mundartbeschreibung anzubieten schien. "Weniger Wörter, mehr Sachen", so ist diese Formel zu lesen.

Der Mundartforscher glaubte sich der Sache des Pfluges gewisser als der verschiedenen Wörter, mit denen diese Sache in den einzelnen Mundarten bezeichnet wird. Daraus entwickelte sich ein eigener Zweig der Sprachwissenschaft, die sogenannte Bezeichnungslehre (Onomasiologie). Ihr methodisches Prinzip: von den Sachen her nach den Wörtern fragen. Die Sachen sind das erste, die Wörter das zweite. In der Bezeichnungslehre ist die Sprachwissenschaft an sich selber irre geworden.

Die Bezeichnungslehre holte aber nur auf dem Gebiet der konkreten Gegenstände noch, was in der Weit des Geistes schon lange offenbar war, nämlich ein Minderwertigkeitskomplex der Sprachwissenschaft gegenüber den anderen Wissenschaften des Geistes und der Natur, vor allem aber gegenüber der Logik und Mathematik. Es schickte sich eigentlich nicht, mehr auf Wörter als auf Gedanken zu achten, und man mußte schon den Logos aufbieten und die anstößigen "Wörter" hinter den besser vorzeigbaren "Worten" verstecken, wenn man als Gesprächspartner angenommen werden wollte. Was sind schon Wörter! NIETZSCHE schrieb:
"Die verschiedenen Sprachen nebeneinandergestellt zeigen, daß es bei den Worten nie auf die Wahrheit, nie auf einen adäquaten Ausdruck ankommt: denn sonst gäbe es nicht so viele Sprachen."
Was sind also schon die Sprachen! Natürliche Sprachen nennt man sie, und sie sind natürlich, wie natürliche Töchter natürlich sind. Illegitim kann man auch dafür sagen. Will man der Lüge der natürlichen Sprachen entgehen, muß man auf sie verzichten und künstliche Sprachen bilden. So verfährt die Logik, und so verfährt die Mathematik. CONDILLAC sagt deutlich, was er sich davon erhofft: "Die Algebra ist eine wohlgeordnete Sprache und zwar die einzige; nichts erscheint in ihr willkürlich." Die Verwendung einer Kunstsprache ist der Logik und Mathematik so selbstverständlich geworden, daß es größtes Aufsehen erregt, wenn ein "popularisierender" Logiker oder Mathematiker auf sie verzichtet.

Hinter all dem steht deutlich die in der Wissenschaft weitverbreitete Überzeugung, daß die Wörter nur mangelhafte Einkleidungen der Gedanken sind, veraltete Nationaltrachten. Man legt sie besser ab, sie hindern nur. Die Sache festhalten, damit sich dann die Wörter von selber einstellen: diese Maxime gilt auch, wo die Sache ein Begriff ist. Wenn die Sprachwissenschaft hier und dort bekundet, es sei nun an der Zeit, begriffliche Wörterbücher zu schaffen, in denen die Wörter nur in die vorgegebenen Fächer eines allgemeinen Begriffssystems eingeordnet werden, so ist das nur die methodische Konsequenz aus einer unvordenklichen Kleingläubigkeit der Sprachwissenschaft.

Die natürlichen Sprachen brauchen sich aber ihrer Natur nicht zu schämen. In ihnen ist nicht weniger Wahrheit als in der Sprache der Logik und Mathematik. Man sieht das sogleich, wenn man die Sprachen mit ihrem eigenen Maß mißt, nicht mit einem Maß, das den Sondersprachen anderer Wissenschaften entnommen ist. Wörter verstellen den Gedanken nicht, und zwar allein deshalb nicht, weil wir gar nicht in isolierten Wörtern reden, sondern in Sätzen und Texten. Wenn also Wörter mit Begriffen verglichen werden sollen, muß man verlangen, daß sie unter adäquaten Bedingungen verglichen werden, nämlich in Texten. Dann löst sich allerdings die Mystik der Begriffe in Rauch auf.

Was sind eigentlich Begriffe? Begriffe sind vor allen Dingen - nichts Besonderes. Wir begegnen ihnen alle Tage, und wir verwenden sie alle Tage. Wer krank ist, begegnet dem Begriff "Fieber"; wer vor Gericht steht, hat mit dem Begriff "Eid" zu tun; und wer Chemie treibt, geht mit dem Begriff "Katalysator" um. Ort der Begriffe ist vornehmlich die Sprache der Wissenschaften. Es ist, so hört man nun sagen, für die Begriffe ganz unerheblich, daß sie hier zufällig mit den drei deutschen Wörtern "Fieber", "Eid", "Katalysator" bezeichnet sind, ebensogut kann man sie mit den englischen Wörtern "fever", "oath", "catalyst" oder mit den französischen Wörtern "fièvre", "serment", "catalyseur" bezeichnen.

Ebenso wie die Mundartforscher auf den Pflug zeigen und damit verschiedene Wörter hervorlocken, können die Wissenschaftler auf ihre Begriffe zeigen und mit ihnen deren Bezeichnungen in den verschiedenen Sprachen hervorlocken. Daß es überhaupt verschiedene Bezeichnungen für den jeweils einen Begriff gibt, gilt als Übel und Quelle möglicher Mißverständnisse. Es ist darüber hinaus prinzipiell Fehlerquelle der Wissenschaft. Die Wissenschaft hat daher ein Interesse daran, die Bezeichnungen ihrer Begriffe in den Einzelsprachen möglichst zu normieren. Sie tut das, indem sie Wörter der griechischen oder lateinischen Sprache in den Rang neutraler Normwörter erhebt und den Einzelsprachen für die Bezeichnung wissenschaftlicher Begriffe empfiehlt.

So kommt es beispielsweise, daß sich die Wörter "Fieber", "fever", fièvre" sowie die Wörter "Katalysator", "catalyst", "catalyseur" in ihrer Lautgestalt ähneln. Besser wäre natürlich, so hören wir weiter sagen, die Bezeichnungen glichen sich ganz, so wie das Zeichen x der mathematischen Sprache überall gleich ist. Aber seit Babel sind die Sprachen verschieden, und man muß sehen, wie man mit der Unzulänglichkeit der natürlichen Sprachen als einer conditio humana fertig wird. Normierungsausschüsse sind überall am Werk, ihre störenden Auswirkungen zu vermindern.

Alle diese Argumente, sooft sie auch wiederholt werden, sind keine Einwände gegen die Wahrheit der Sprachen. Das alles ist kein Grund, in den Begriffen der Wissenschaft etwas Besonderes zu sehen, dem die Wörter der Einzelsprachen wie einem unerreichbaren Idol nachstreben, ohne es je zu erreichen. Es gibt keine Begriffe, die den Einzelsprachen vorgelagert wären. Begriffe sind vielmehr nichts anderes als Wörter, und das heißt immer: Wörter einer Einzelsprache. Aber sie sind Wörter, deren Bedeutungen besonders präpariert sind.

Definitionen sind Sätze. Da nun die Begriffe der Wissenschaft durch Definitionen und nur durch Definitionen gebildet werden, hört der Semantiker hier vor allem heraus, daß Begriffe durch Sätze und nur durch Sätze entstehen. Begriffe gehören damit in die Zuständigkeit der Textsemantik, nicht der Wortsemantik. Die Definition ist Kontext für den Begriff. Begriffe haben nicht den semantischen Status isolierter Wörter, sondern von Wörtern im Text.

Hinter dieser Präzision eines durch Kontext und Situation vollständig determinierten Wortes bleibt die Präzision eines jeden Begriffes, auch des naturwissenschaftlich exaktesten, weit zurück. Begriffe sind Wörter, die nur unvollständig determiniert sind. Eine Determination der Wortbedeutung auf Meinung hin findet auch statt, aber nur in beschränktem Maße. Denn der determinierende Kontext ist relativ klein, und eine determinierende Situation ist "per definitionem" ausgeschlossen. Der Begriff ist demnach ein Wort, das zwischen dem Bedeutungspol und dem Meinungspol in der Schwebe bleibt. Sein Begriffswert ist weder ganz scharf noch ganz unscharf, sondern er hat genau jenen Grad von Schärfe bzw. Unschärfe, der für den wissenschaftlichen Gebrauch zweckmäßig ist.

Es gibt nämlich zwischen den Polen Bedeutung und Meinung eine gleitende Skala, die sich zwischen den Werten weitgespannt und engumgrenzt, vage und präzise, sozial und individuell, abstrakt und konkret erstreckt. Kontext und Situation sind die Regulative, mit denen wir auf dieser Skala jeden beliebigen Wert einstellen können. Alltägliche Rede, bei der meistens eine starke Beteiligung von Situationsdeterminanten zu verzeichnen ist, hält sich gewöhnlich am Meinungspol oder doch sehr nahe bei ihm. Eigennamen befinden sich ebenfalls schon als Wörter sehr nahe am Meinungspol und haben daher auch eine starke Determinationskraft. Wörter im Buchtitel, die keine Situationsdeterminanten kennen und oft gar keinen oder nur einen spärlichen Kontext bei sich haben, halten sich demgegenüber am Bedeutungspol oder doch nahe bei ihm. (Erst die Lektüre des Buches gibt die fehlende Kontextdetermination hinzu und löst die Spannung des Titels.)

Begriffe sind nun, je nach der Art und dem Geschick der Definition, irgendwo in der Mitte jener semantischen Skala eingestellt, meistens näher am Bedeutungspol als am Meinungspol. Sie sollen ja nicht nur einen individuellen, konkreten, präzisen, engumgrenzten Fall decken, sondern auf den Gesamtbereich der Wissenschaft anwendbar sein. Das kranke Kind also, das dem konsultierten Arzt sagt: "Ich habe ganz schlimmes Fieber", gibt diesem Wort mittels Kontext und Situation eine so präzise Meinung, wie sie der Begriff "Fieber" in einer wissenschaftlichen Abhandlung niemals haben kann und vor allem auch nicht haben darf, wenn er ein Terminus der allgemeinen Wissenschaft bleiben soll. Mag sein, daß dieser Begriff dann, angewandt auf den Einzelfall unseres kranken Kindes, weiter determiniert wird, etwa durch den Text der Krankengeschichte, und damit auch weiter an den Meinungspol herangleitet, aber für den Begriffscharakter des Wortes "Fieber" gilt das als unerheblich.

Begriffe liegen also nicht vor der Sprache in einem ich weiß nicht wie gearteten sprachfreien Denken, sondern in der Sprache, genauer: in der jeweiligen Einzelsprache, noch genauer: in Sätzen dieser Sprache. Sie sind schärfer als isolierte Wörter, unschärfer als - meistens - die Alltagswörter in Texten und Situationen. Ihre mittlere Schärfe hat sich in den Wissenschaften bewährt.

Mögen die deutschen, englischen, französischen Wörter ruhig verschieden sein: als Begriffe, d.h. teildeterminiert durch die kurzen Kontexte der Definitionen, sind sie identisch. Sie hören dabei nicht auf, Wörter ihrer jeweiligen Sprache zu sein, aber sie sind auf bestimmte Kontexte verpflichtet und haben insofern denselben Begriffswert.

Das meine ich, wenn ich eingangs gesagt habe, Begriffe seien nichts Besonderes. Sie sind nicht näher an der Wahrheit als andere Wörter. Sie offenbaren Gedanken nicht besser als andere Wörter. Anderen Wörtern haben sie nichts voraus als ihre Zweckmäßigkeit für den Gebrauch in der internationalen Diskussion der Wissenschaft.

Sie stehen ihnen jedoch auch in nichts nach. SPENGLERs Behauptung "Begriffe töten das Dasein" ist genauso falsch wie die komplementäre Behauptung "Wörter verkleiden das Denken".
LITERATUR - Harald Weinrich, Linguistik der Lüge - Kann Sprache die Gedanken verbergen?, Heidelberg 1970

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