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Die Erkenntnistheorie der Naturforschung der Gegenwart [4/7]
IV. Die Prinzipien der Erkenntnis in den einzelnen Wissenschaften. 1. Vorbemerkung Ist auch durch die Erörterungen des vorangegangenen Abschnitts der Begriff der Erkenntnis im allgemeinen festgelegt, so können sich doch noch Zweifel darüber erheben, ob das dort in allgemeinen Umrissen gezeichnete Programm einer Erkenntnis sich auch als durchführbar erweisen wird. Denn es lag ja in der Natur der Sache, daß nicht im Einzelnen die jeweiligen Mittel der besonderen Wissenschaften zur Erörterung kommen konnten, ohne den Charakter der Allgemeinheit der Darstellung aufzugeben. Nun ist aber der wirkliche Nachweis der Verwendbarkeit eines Erkenntnisbegriffs erst für seinen Wert maßgebend. Auch die platonische Definition der Erkenntnis wäre ja ansich ganz schön; schade nur, daß diesem Begriff kein Umfang zukommt! Amdererseits ist es aber wieder nicht möglich, eine vollständige Theorie der Erkenntnis der Einzelwissenschaften zu geben, denn das würde einen zu tiefen und für eine allgemeine Darstellung unangemessenen Eingriff in das Gebiet derselben bedeuten. Eine solche zu liefern muß eine Angelegenheit der jeweiligen besonderen Wissenschaft bleiben; kann sie doch, um auf den Hauptgrund dieser Abgrenzung zu kommen, nur jemand geben, der ihre Methoden sozusagen aus eigener Anschauung und womöglich auch aus eigener Arbeit kennt! Das ist aber eine Bedingung, die nicht leicht für mehrere Disziplinen zugleich erfüllt sein wird. Aus diesem Grund kann das, was hier geboten wird, nur Stückwerk sein, umsomehr als die Zahl und der Umfang der Arbeiten auf diesem Gebiet immer noch eine sehr geringe ist. Es muß der Zukunft vorbehalten bleiben, die hier fehlenden Lücken auszufüllen; Aufgabe der vorliegenden Darstellung kann es nur sein, auf sie hinzuweisen. Die Behandlung wird somit notgedrungen ungleichmäßig ausfallen müssen; je nach dem Grad der Ausbildung der einzelnen Theorien und der persönlichen Vertrautheit des Verfassers mit den Hauptaufgaben des Wissens wird der denselben zugewiesene Raum ein ungleicher sein müssen. Der Verfasser hat dies durch die Wahl des Titels einigermaßen zum Ausdruck zu bringen versucht und kann dem nur den Ausdruck der Hoffnung hinzufügen, es möchten die hier übergangenen Gebiete eine Darstellung von kundiger Hand finden. Dem Eingehen auf die speziellen Theorien der Erkenntnis muß natürlich eine Übersicht über die einzelnen Wissenschaften vorangehen, die zur Aufgabe einer Klassifikation derselben führt, sodann soll die Theorie der Erkenntnis der einzelnen Wissenszweige etwa so weit getrieben werden, daß die Prinzipien, von denen diese gewöhnlich auszugehen pflegen, abgeleitet und die allgemeinsten methodischen Verfahrensweise derselben skizziert werden. Klassifikationen der Wissenschaften gibt es eine Menge. Es ist dies auch natürlich, denn je nach Wahl des als maßgebend erachteten Gesichtspunktes muß ja, selbst wenn alles sonst in Ordnung ist, die Einteilung verschieden ausfallen. Je nachdem ins Auge gefaßten Zweck wird aber bald die, bald jene Einteilung sich als die vorteilhaftere empfehlen. Man muß sich daher bei der Beurteilung von Klassifikationen der Wissenschaften vor dem Fehler hüten, nach einem einzigen Ideal zu fahnden und dasselbe etwa in einer Gliederung zu erblicken, bei der alle Einzelzweige voneinander reinlich gesondert erscheinen und ferner eine bestimmte Reihenfolge der Wissenschaften von "höheren" zu "niederen" eingehalten wird. Beide Auffassungen liegen in nicht gar ferner Zeit hinter uns. Wer denkt nicht, wenn von einer peinlichen Gliederung die Rede ist, an KANT, der es eine Veranstaltung, aber nicht Vermehrung des Wissens nannte, wenn die Grenzen derselben ineinander fließen! Also ob eine faktische Abgrenzung durch chinesische Mauern möglich wäre! Der reichen Entwicklung des wissenschaftlichen Lebens des 19. Jahrhunderts verdanken wir die Erkenntnis, daß die Wissenschaften in Wirklichkeit ein Ganzes bilden, das nur aus praktischen Gründen, vor allem wegen des übergroßen Umfangs, in kleinere Partien geteilt werden muß. Aber immer mehr und mehr wächst die Erkenntnis von den Schattenseiten einer solchen kastenartigen Gliederung; jene Teile unseres Wissens, die bei dieser Einteilung das Unglück hatten, in die Grenzgebiete zu kommen, blieben infolge dieses Umstandes von der wissenschaftlichen Bearbeitung mehr als billig ausgeschlossen, und deshalb wendet sich die Forschung der Gegenwart wieder in besonderem Maße denselben zu; man denken nur an die Grenzgebiete zwischen den einzelnen Teilen der Physik, wie der elektronischen Optik oder der physikalischen Chemie! Der zweite Fehler einer hierarchischen Einteilung ist z. B. noch von COMTE begangen worden und war von jeher den Anschauungen der meisten Philosophen sehr nahegelegen. Zuerst müsse das Studium einer Wissenschaft beginnen, meinte man (erste Philosophie des ARISTOTELES, Logik bei HEGEL, Metaphysik bei HERBART u. a.), diese müsse die Prinzipien der anderen entwerfen, ohne ihrerseits selbst etwas vorauszusetzen; sodann kommt eine zweite weniger allgemeine Wissenschaft an die Reihe, die aber doch wieder noch Prinzipen für eine folgende noch niederer stehende enthalten kann und so fort bis zu den Disziplinen (wenn man überhaupt auch so noch reden darf) der "rohesten Empirie". In diesem Sinn ist noch heute der Streit sehr beliebt, ob die Logik Grundlage der Psychologie oder diese Grundlage der Logik sein muß. Früher frug man sich wohl auch, ob die Metaphysik oder die Erkenntnistheorie oder Logik die "erste" Wissenschaft sein soll. Allen solchen Bestrebungen mag die einfache Bemerkung entgegengehalten werden, daß es für das Wesen einer jeden Erkenntnis gleichgültig ist, wohin man sie einreiht. Nicht die Logik oder Psychologie oder Erkenntnistheorie ist es, die die Erkenntnis schafft, sondern der denkende Geist; das mögen sich all jene gegenwärtig halten, die von Rangstreitigkeiten abstrakter Begriffe ein Aufhebens machen, als handle es sich um höfische oder internationale Etikettenfragen. So ist es denn gewiß auch nicht notwendig, an das Studium der Erkenntnistheorie zu schreiten, bevor man sich an das Erwerben von Erkenntnis wagt. Müssen ja vielmehr geschichtlich letztere der ersteren vorangehen. Ebensowenig ist es notwendig, daß aus dem Grund, weil psychologische Tatsachen in jeder Erkenntnistheorie berücksichtigt werden müssen, ein Studium der ganzen Psychologie dem der Erkenntnislehre vorangehen muß. Aber auch das der Logik kann nicht im angestrebten Sinn an der Spitze stehen, denn um zu den Gesetzen des Denkens zu kommen, muß man bereits die Gesetze des Denkens anwenden, sie also schon voraussetzen. Diesen Paradoxien kann man sich dadurch entziehen, daß man sich stets gegenwärtig hält, daß alle Einteilung nur ein künstlicher Behelf ist, der zur Unterstützung unseres Verstandes zu dienen hat. Für den vorliegenden Zweck kommt es nun weniger auf eine möglichst praktische Abgrenzung der einzelnen Arbeitsgebiete an als auf eine Scheidung der verschiedenen Arten der Erkenntnis. Das wird gegen die üblichen Einteilungen einen Unterschied bedingen müssen, da ja fast in jeder Wissenschaft mehrere Arten der Erkenntnis vereinigt sind, die hier aber getrennt erscheinen werden. In diesem Sinn ist dann bereits die erste Einteilung getroffen worden: die in Erkenntnisse formaler und historischer Natur. Sie stimmt mit der Einteilung von HUME, bzw. GRASSMANN in formale und reale Wissenschaften nur insofern überein, als das Ziel der letzteren eine historische Erkenntnis bildet; sie stimmt aber wieder insofern mit ihr nicht überein, als sich die realen Wissenschaften zur Erreichung dieses Ziels formaler Hilfsmittel bedienen. Der Unterschied zwischen beiden Erkenntnisarten ist ferner hier bereits dahin charakterisiert worden, daß die formale Erkenntnis sich auf den Kreis unserer willkürlich erzeugten Bewußtseinsinhalte ("Beziehungen der Vorstellungen" bei HUME, "durch das Denken selbst gesetztes Sein" bei GRASSMANN) beschränkt, während die historische gerade auf jene Inhalte unseres Lebens gerichtet ist, die sich unabhängig von unserem Willen einstellen. Sie ist zwar nicht imstande die Richtigkeit, wohl aber die Falschheit eines Systems erkennen zu lassen, gegen welche Erkenntnis es dann keine Berufung mehr auf eine höhere Instanz gibt. Verbleiben wir zuerst bei den formalen Wissenschaften und fragen wir uns, in welcher Weise eine weitere Gliederung derselben möglich ist und welche bekannten Wissenschaften denselben zuzuzählen kommen, so können wir, uns auf unsere frühere Erklärung derselben stützend, wonach es bei ihnen auf eine Verbindung von Willkürhandlungen ankommt, von einer Einteilung dieser ausgehen. Geht man vom Besonderen aus und schreitet von da aus zu immer weiteren Abstraktionen vor, so käme zunächst zu bedenken, daß infolge unseres Erinnerungsvermögens bzw. unserer Phantasie unseren direkten Erlebnissen analoge Bewußtseinsinhalte sich als Willkürakte einzustellen vermögen. Wenn ich mir eine ferne Landschaft vergegenwärtige, so ist dies ein Willkürakt. Handelt es sich um das primäre Erlebnis, so ist schon die Tatsache, daß ich derartiges von der vorliegenden Beschaffenheit erlebe, ein Wissen zu nennen. Wenn ich irgendein Naturereignis erlebe, so erfahre ich dadurch etwas, was Erkenntniswert besitzt. Male ich mir hingegen in meiner Phantasie ein Erlebnis aus, so hat diese Vorgang ansich noch keinen Erkenntniswert. Soll es zu einer Erkenntnis kommen, so muß zunächst eine Beziehung vorliegen. Soll diese Beziehung einen Wissenswert besitzen, so muß sie eine gewisse Konstanz zeigen. Beständige Beziehungen dieser Art, d. h. Eigenschaften unserer Erinnerungs- und Phantasiebilder, werden somit Gegenstand eines formalen Wissens werden können. Sämtliche räumlichen Eigenschaften unserer Erinnerungs- und Phantasiebilder gehören hierher. Man kann in diesem Sinn von einer Raumanschauung sprechen, die wir unseren Erlebnissen zugrunde legen. Das heißt, der Sachverhalt ist folgender: Unsere Phantasiebilder - es ist wohlgemerkt nur von diesen jetzt die Rede - weisen gewisse gegenseitige Relationen ihrer Teile auf, die wir als räumliche zu bezeichnen pflegen. Diese Relationen haben eine allgemeine Bedeutung, denn sie sind erstens nicht Eigentümlichkeiten, die nur einzelnen Phantasieinhalten zukommen, zweitens erweisen sich dieselben außerdem noch von der Art der Elemente unabhängig. Die Anordnung der Teile eines Gesichtsbildes stellt sich als konform den Teilen eines Tast- oder Bewegungsbildes dar. Wir abstrahieren daher im gewöhnlichen Leben von den Elementen und sprechen kurz von einem "Raum". Dieser Raum ist nichts anderes als die Gesamtheit der gegenseitigen Anordnungsverhältnisse, die wir in gleicher Weise bei Gesichts-, Tast-, Bewegungsempfindungen usw. und deren Erinnerungsbildern wahrnehmen. Wir gewöhnen uns infolgedessen daran, alle unsere Elemente in diese uns bekannte und geläufige Ordnung einzuordnen, und auf diese Weise erhält der Raum für uns eine objektive Bedeutung. Nun ist Folgendes nicht außer acht zu lassen, um nicht in einen Irrtum zu verfallen. Wir haben hier durchweg von sogenannten sekundären Erlebnissen gesprochen, deren Eintritt von unserem Willen abhängig ist. Da es sich also bei ihnen um Willensakte handelt, ist die Art der Ausführung von uns abhängig und sind daher diese Gebilde unserer Phantasie von der Erfahrung insofern unabhängig, als nicht Experimente oder Beobachtungen, sondern unser freier Wille über ihre Gestalt entscheidet. Der Raum unserer Vorstellung ist unser subjektives Erzeugnis und als solches von einem Einfluß fremder Mächte im gleichen Grad unabhängig wie diese. Wir können uns daher nach Belieben Raumbilder ausdenken, und sind mehrere, d. h. unendlich viele solcher möglich. Etwas anderes wird natürlich die Sache, sobald es sich darum handelt, in dieses Raumschema unsere primären Erfahrungen einzuordnen. Der Raum unserer Empfindungen braucht nicht mit dem Raum unserer Vorstellung übereinzustimmen. Wir können Geometrie betreiben, ohne Experimente zu machen und uns um die Beschaffenheit der Wirklichkeit zu kümmern; allein wir können in diesem Fall nicht erwarten, daß unsere geometrischen Vorstellungen mit der Wirklichkeit übereinstimmen oder auf sie anwendbar sein werden. Tatsächlich sind unsere Phantasievorstellungen in sehr bedeutendem Maß durch unsere Empfindungen beeinflußt. Aus diesem Grund ist der faktische Unterschied zwischen dem Raum der Empfindungs- und der Vorstellungswelt ein geringfügiger, und daher kam es auch, daß man erst im 19. Jahrhundert (GAUSS, BOLYAI, LOBATSCHEWSKI) darauf verfiel, verschiedene Raumbilder zu konstruieren und nach dem Grad ihrer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu fragen. In diesem Sinne kann also von der Geometrie als einer formalen Wissenschaft gesprochen werden. Sie ist es nur solange, als sie auf jede Anwendbarkeit in der Sinnenwelt verzichtet, als sie rein theoretische Wissenschaft bleibt. Sie ist dann auch nicht auf die Eigenschaften unserer Phantasiebilder beschränkt und kann Gebilde konstruieren, die auch nicht einmal in unserer Phantasie existieren können. In diesem Sinn spricht man dann wohl besser von einer Mannigfaltigkeitslehre als von Geometrie, deren Name ja schon auf die Körperwelt hinweist. Geometrie als Lehre von den räumlichen Eigenschaften der Körper ist hingegen ein Teil der Physik, gehört also in die zweite Abteilung. In einem Sinn zumindest ist also die Geometrie, oder besser gesagt die Mannigfaltigkeitslehre, eine synthetische Wissenschaft a priori im Sinne KANTs. Allein sie ist, was bisher nur vereinzelt Beachtung gefunden hat (28), nicht die einzige in ihrer Art, weil ja die räumlichen Eigenschaften eines Komplexes unserer Phantasievorstellungen nicht die einzigen sind. Auch Ton- und Farbvorstellungen können ein Anlaß zur Ausbildung ähnlicher Erkenntnisse geben, und einige Anfänge hierzu finden sich auch schon in den Schriften neuerer Psychologen. Für die Wissenschaft praktisch wichtiger scheint mir eine zweite Möglichkeit, die der Ausbildung eines Systems mechanischer Vorstellungen analog den räumlichen. Zunächst dürfte ja unschwer einzusehen sein, daß es sich mit der Zeit ähnlich verhält wie mit dem Raum. An unseren Empfindungen wie auch an unseren Vorstellungen nehmen wir Relationen wahr, die wir als zeitliche bezeichnen. Bleiben wir bei den letzteren, so sind wir imstande, auf die Gestaltung derselben Einfluß zu nehmen, da eben die Vorstellungen Erzeugnisse unseres Geistes vorstellen, die von einer speziellen äußeren Erfahrung unabhängig sind. Wir könnten also ähnlich, wie wir mehrere Räume herstellen können, uns auch mehrere Zeiten konstruieren. Ich habe auf diese Möglichkeit in einem Aufsatz, der 1897 im "Archiv für systematische Philosophie" erschienen ist, hingewiesen (29). Tatsächlich findet sich nur ein Zeitbegriff in Gebrauch, und zwar der der gleichmäßig fließenden Zeit. Denken wir uns aber etwa alle Zeitereignisse zugeordnet den Gliedern einer konvergenten unendlichen Reihe, oder anschaulicher den Punkten einer Punktreihe mit einer Häufungsstelle, etwa jener, die durch eine beständige Teilung einer Strecke in zwei Hälften entsteht (entsprechend der Reihe 1 + ½ + ¼ + ⅛ ...), so kommen wir zu einem endlichen Zeitbegriff in ähnlicher Weise wie zum Begriff eines endlichen Raums. Ähnlich wie der Raum verschiedener Sinnesempfindungen verschieden sein kann und auch ist, verhält es sich auch mit der Zeit. Die Zeiten, die ich nach einer Sanduhr, einer Pendeluhr, astronomischen Beobachtungen usw. schätze, brauchen nicht übereinzustimmen - ganz abgesehen von den durch Unvollkommenheiten der praktischen Ausführung bedingten Unregelmäßigkeiten. Es kann also auch eine Wissenschaft von der Zeit geben, die sich als eindimensionale Mannigfaltigkeitslehre heraustellen würde. Ansich käme nun einer solchen keine besondere Bedeutung zu. Wohl aber ist dies der Fall, wenn sie in Verbindung gebracht wird mit der Wissenschaft vom Raum. Dann erhalten wir eine Wissenschaft, deren erkenntnistheoretische Stellung genau dieselbe ist wie die der Geometrie, und die gewöhnlich "Kinematik" (bei KANT Phoronomie) genannt zu werden pflegt. Es ist wohl einer der allerberechtigsten und daher auch verschwiegensten Vorwürfe, die man KANT machen kann, daß er die wesensgleiche Natur dieser zwei Disziplinen nicht einzusehen vermocht hatte. Beide sind formal und empirisch im gleichen Sinn. Heute lehrt freilich schon ein bloßer Blick in fast jedes Lehrbuch der Mechanik, daß die Kinematik eine Wissenschaft ist, die sich unabhängig von jeder speziellen Erfahrung ebenso behandeln läßt wie die Geometrie, und tatsächlich sind ja auch die Begriffe der nichteuklidischen Geometrie auch auf die Kinematik übertragen worden. Aber man kann noch weiter gehen. Nichts hindert, den Ausbau der mechanischen "Anschauung", wie man wohl sagen kann, noch weiter zu vervollkommnen und auch die Vorstellung von gegenseitigen Spannungen mit einzubeziehen. In diesem Sinn spricht HELMHOLTZ von einem mechanischen Anschauungsvermögen, das er sich durch stete Übung von Jugend auf erworben und hat und das ihm später beim Durchdenken physikalischer Probleme so behilflich gewesen ist. In ungewöhnlichem Maß muß dasselbe wohl auch bei FARADAY und MAXWELL vorhanden gewesen sein. Nachdem die Kraftvorstellung uns aus sinnlicher Erfahrung ebenso geläufig ist wie die räumlichen Vorstellungen, wobei ich noch bemerke, daß die Kraft ihrem heutigen physikalischen Begriff gemäß ("stress") ebenso eine relative Beziehung ist wie die Lage zweier Körper, so sehe ich keinen prinzipiellen Unterschied zwischen dieser Art von Anschauung und der rein geometrischen. Es ist nun naheliegend, diese Betrachtungen auf andere Teile der Physik zu übertragen, und es wird sich auch da etwas Ähnliches herausstellen. Heute allerdings kann hierüber noch nicht viel berichtet werden. Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß analog der Geometrie mehrere Theorien der Anschauung möglich sind. Dieselben sind theoretisch von der äußeren Erfahrung unabhängig, stehen aber praktisch mit derselben in einem innigen Zusammenhang, da unsere Phantasievorstellungen sich nie allzuweit von unseren primären Erlebnissen entfernen. Dieselben gehören solange den formalen Wissenschaften an, als die Frage nach ihrer Übereinstimmung mit der sinnlichen Erfahrung nicht in Betracht gezogen wird. Als bereits vorhandene und ausgebildete Wissenschaften dieser Art haben wir die Geometrie, die Kinematik [Bewegungslehre - wp] und bis zu einem gewissen Grad - natürlich unter Beibehaltung der eben angegebenen Einschränkung - die Dynamik zu verstehen, sofern man eben unter diesem Wort die Lehre von den Eigenschaften lediglich erdachter Kraftfelder und Kraftsysteme versteht. Was das Verhältnis der Anschauung in dem hier benützten Sinn zur direkten Erfahrung betrifft, so mag noch auf den wichtigsten Unterschied zwischen beiden hingewiesen werden, der darin besteht, daß die Anschauung, die wir uns selbst bilden, begrifflich scharf ausgeprägte Züge besitzt, während dem Inhalt unserer direkten Erfahrung ein solcher fehlt. Einen Winkel z. B. von genau 90 Grad können wir uns nur denken - und tatsächlich operieren wir in der Geometrie, d. h. in der Theorie unserer Anschauung, nur mit solchen -, von Empfindungsinhalten können wir dagegen nie behaupten, daß sie je einem Winkel von genau 90 Grad entsprechen; denn wir sind nicht imstande, diesen Winkel von einem zweiten, der um wenige Bruchteile eines Grades, einer Minute oder einer Sekunde größer oder kleiner ist, zu unterscheiden. Nur in Gedanken können wir uns einen exakten rechten Winkel vorstellen, er ist ein Idealgebilde unserer Phantasie. Es besteht daher stets ein Unterschied zwischen dem Raum des Geometers und dem Raum der Sinnenwelt. Am Inhalt des letzteren sind wir nie imstande, die räumlichen Relationen mit solcher Schärfe zu erfassen, wie an den Schöpfungen unserer Phantasie. Trotz der nahen Beziehung zwischen beiden dürfen dieselben doch nie verwechselt werden; durch die sinnliche Erfahrung werden wir zwar angeregt, ein Raumbild zu schaffen; doch unterscheidet sich das auf Veranlassung der Erfahrung von uns gebildete Phantasma stets vom Inhalt der direkten Wahrnehmung bzw. den dieser entnehmbaren Relationen. Fragen wir nicht nach der Verwendbarkeit desselben, so müssen wir dasselbe lediglich als eine Schöpfung unserer Phantasie, d. h. willkürlicher Denkakte ansehen, und solange befinden wir uns daher auf rein formalem Boden. Wegen der hier, wie ich glaube, schon genügend gekennzeichneten Beziehung zur direkten sinnlichen Erfahrung sind diese Zweige der formalen Wissenschaften diejenigen, die sich der realen Abteilung am nächsten anschließen. Ihr Gegenstand scheint sich auf den ersten Blick mit dem der realen Wissenschaften zu decken; erst ein schärferes Aufmerken lehrt uns den Unterschied erkennen. Wir entfernen uns weiter von der gemeinsamen Grenze, wenn wir von jedem Inhalt des Bewußtseinsaktes absehen und uns nur an die Tatsache seines Vorkommens halten. Sollen wir überhaupt einen Akt vom nächsten unterscheiden können, so muß zwischen beiden eine Verschiedenheit sein. Außerdem kann es vorkommen, daß beide Akte sich in einer Hinsicht gleich verhalten. Dabei sehen wir aber von jedem weiteren Inhalt eines Bewußtseins- oder Aufmerksamkeitsaktes ab und betrachten nur die Relation gegenseitiger Gleichheit oder Verschiedenheit. Erkenntnisse werden auf dieser Basis möglich sein, sobald durch eine Verbindung mehrerer Akte untereinander verschiedene Objekte des Denkens geschaffen werden. In der Sprache GRASSMANNs liegt dann ein durch das Denken gesetztes Sein vor, und ihm folgend können wir die Gesamtheit der hieraus entwachsenden Wissenschaften in zwei teilen, in die Kombinatorik und in die Arithmetik (im Sinne KRONECKERs) oder Zahlenlehre. Erstere operiert mit voneinander abweichenden Bewußtseinsakten (von denen höchstens einige gleich sind) und bedient sich daher zu deren Bezeichnung verschiedener Buchstaben, etwa a, b, c usw., von denen jeder das Stattfinden eines Bewußtseinsaktes, z. B. "hinblicken auf a" bedeutet. Die Arithmetik hingegen operiert mit lauter gleichen Bewußtseinsakten und bedient sich daher zu deren Bezeichnung nur eines Zeichens, der Einheit 1. a, b, c usw. bedeuten in der Arithmetik Gruppen von Einheiten, d. h. Aufmerksamkeitsakten. Auf diese Weise entstehen die ganzen Zahlen, die bekanntlich die Grundlage aller übrigen bilden, ja die nach KRONECKER die einzigen sind. Jedenfalls beruth der ganze stolze Bau der Mathematik auf den einfachen Gesetzen der Lehre von den ganzen Zahlen. Eine Zahl besteht demnach in der Ausführung einer Operation. Sie ist also von einer Rechenoperation nicht wesentlich verschieden. Eine gebrochene oder negative Zahl ist z. B. direkt identisch mit einer solchen. Auch die irrationale und imaginäre Zahl fällt mit bestimmten Operationen zusammen. Die Mathematik besteht demnach aus lauter Operationen, sie operiert mit Operationen, wie dies namentlich in der Gruppentheorie ganz deutlich hervortritt. Vor dem hier ins Auge zu fassenden Gesichtspunkt aus muß daher die Mathematik als eine Kombinierung von Willkürhandlungen angesehen werden. Bezeichnend speziell für die Arithmetik ist dabei die Gleichheit derselben. Insofer nun das Ziel der Mathematik darin erblickt werden kann, eine Reihenfolge von Operationen durch eine oder mehrere gleichwertige zu ersetzen, kann dasselbe mit dem der Logik als zusammenfallend betrachtet werden. Auch deren Aufgabe besteht ja in einer Ersetzung von Denkakten durch ihnen äquivalente oder in einer erlaubten Umformung derselben. Der Unterschied liegt in der noch größeren Allgemeinheit der logischen Operationen. Die gewohnte Aussage, daß die Logik vom Inhalt des speziellen Denkaktes absieht, bedeutet lediglich, daß die Schlüsse derselben eine sehr allgemeine Bedeutung besitzen, deren Gültigkeit nicht einen einzigen speziellen Fall eingeengt, sondern auf eine große Klasse derselben ausgedehnt ist. Zeigt sich so zwischen Kombinatorik, Arithmetik und Logik ein enger Zusammenhang, der diese Wissenschaften als Teile eines Ganzen erscheinen läßt, so scheint demgegenüber der Geometrie und ihren Verwandten eine Besonderheit zueigen zu sein. Die erstgenannten Wissenschaften sind methodischer Natur, d. h. sie haben keinen eigenen Gegenstand und bestehen nur aus Operationsmöglichkeiten. Die Geometrie aber hat es mit Gebilden zu tun, mit Gebilden allerdings, die sie sich selbst schafft (solange von einer Anwendbarkeit derselben auf Naturerscheinungen nicht die Rede ist). Sie nähert sich dadurch den historischen (realen) Wissenschaften, denen gleichfalls ein besonderer Gegenstand zukommt; der Unterschied zwischen beiden liegt darin, daß dieser Gegenstand oder Inhalt das eine Mal ein selbstgemachter, das andere Mal ein vorgefundener ist. Damit bilden dann die geometrischen Wissenschaften die Brücke von den operativen zu den realen (30). Es mag bemerkt werden, daß die Reihenfolge der historischen Entwicklung mit der hier gegebenen übereinstimmt. Die Geometrie ist die älteste der hier genannten Wissenschaften, es folgen Arithmetik und Kombinatorik, die im Altertum eine im Verhältnis zur Geometrie tiefere Stufe der Entwicklung erlangt haben, und daran reiht sich die Logik, die erst in unseren Tagen eine eigentliche Wissenschaft zu werden beginnt (31). Ein Umstand, der noch zu beachten kommt, ist der Folgende: Bei allen operativen Wissenschaften kommt es nicht nur auf die Erkenntnis der ihnen eigenen Wahrheiten, sondern sehr viel auch auf die Technik der Ausführung ihrer Operationen an. Man hat sich daher darüber gestritten, ob die Logik mehr eine Wissenschaft oder eine Technik (Kunst) zu nennen ist, und bei der Aneignung der Mathematik in unseren Schulen, namentlich denen der niederen Stufen, wird vornehmlich auf eine Aneignung von Technik gesehen. Die wissenschaftliche Einsicht ist auf denselben meist noch unerreichbar. Ferner ist zu berücksichtigen, daß die Tätigkeiten unseres Geistes im engeren Sinne des Wortes nicht die einzigen sind, denen eine wissenschaftliche Bedeutung zukommt. Auch sehr vielen vornehmlich manuellen Fertigkeiten kommt derselbe Anspruch zu. Hierzu gehören alle mechanischen Reproduktionsverfahren, wie namentlich die hohe Bedeutung besitzende photographische Technik. Ja, auch Sprache und Schrift fallen unter diese Kategorie. Berücksichtigt man, daß sich erstere auf photographischem Weg reproduzieren läßt, so haben alle diese Verfahren den Umstand gemeinsam, daß ihren Erzeugnissen eine Dauer zukommt. Sie haben den Charakter von Gebilden, die nicht mit dem Moment ihrer Entstehung wieder verschwinden, sondern die sich beliebig oft wiedererzeugen lassen. Das sichert ihnen einen Vorteil gegenüber den bloß gedachten Gebilden. Die zweite Art von Erkenntnis ist die historische. Auch sie besteht in einer Beziehung von mindestens zwei Elementen; Zeit und Ort des Ereignisses ist das erste, sein Inhalt das zweite. Der Satz "es regnet" bedeutet eine solche, denn er stellt nur eine sprachliche Abkürzung des vollständigen Gedankens "Jetzt regnet es hier" dar. "Jetzt hier" ist Subjekt, "regnet" Prädikat des Satzes, während dem Wörtchen "es" nur eine grammatische Funktion zukommt. Daß der Satz nicht etwa eingliedrig ist, geht schon daraus hervor, daß er nicht identisch ist mit der Aussage "regnen". Der Unterschied gegen früher liegt darin, daß die Verbindung der beiden Elemente des Satzes eine von außen her gegebene ist. Von dieser Art sind nun alle Wahrnehmungsurteile, die die Grundlage aller realen Wissenschaften, der historischen, psychologischen und naturwissenschaftlichen, bilden. Überall, wo es sich um die Feststellung eines Ereignisses handelt, mag dasselbe nun welchem Gebiet auch immer angehören, liegt ein historischer Erkenntnisakt vor. Der Geschichte im engeren Sinn des Wortes obliegt vornehmlich die Feststellung der stattgefundenen Ereignisse, die für dieselbe nach der gewöhnlichen Auffassung schon eine rein individuelle Bedeutung besitzen. In der Psychologie und in den Naturwissenschaften besitzt die rein historische Kenntnis einer Tatsache ansich noch keine Bedeutung, sie erhält erst eine solche, wenn es gelingt, die typische Natur der Einzeltatsache nachzuweisen, d. h. wenn sich dieselbe als Glied einer Regelmäßigkeit darstellt, wenn man imstande ist, "dieselbe" Tatsache unter verschiedenen Umständen immer wieder zu erhalten. Dasselbe gilt übrigens auch von der Geschichte, wenn man von derselben eine Einsicht in zukünftige Ereignisse verlangt, wenn uns dieselbe etwas "lehren" soll. Die Feststellung des tatsächlichen Vorgangs bildet dann einen Teil dieser Wissenschaft und zwar sozusagen den grundlegenden. Er liefert das Materialk, das zu bearbeiten kommt, und aus dem die eigentlichen Resultate der Wissenschaft, naturwissenschaftliche, psychologische oder historische Gesetze gewonnen werden. Die Wissenschaften werden nun weiter nach ihrem Gegenstand unterschieden. Die Geschichte im gebräuchlichen Sinn des Wortes bearbeitet die Ereignisse der Menschheitsentwicklung seit einem gewissen Zeitpunkt an, von dem ab "historische Dokumente" vorliegen. Die Geschichte der Menschheit vor diesem Zeitpunkt festzulegen ist Aufgabe einer anderen Wissenschaft, der Urgeschichte der Prähistorie. Diese Scheidung ist lediglich bedingt durch die Verschiedenartigkeit der Forschungsmittel. Wer sich der ersteren Aufgabe widmen will, muß ein Sprachenkenner sein, wogegen dem prähistorischen Forscher die Kenntnis von Sprachen nichts nützen kann, nachdem die Urmenschen die Dokumente ihrer Existenz uns in anderer als sprachlicher Form hinterlassen haben. An die Urgeschichte schließt sich weiter die Erdgeschichte oder Geologie an. Auch hier liegen Dokumente vergangener Ereignisse vor, auch hier handelt es sich um eine Feststellung von individuellen Tatsachen. Um dies aber tun zu können, ist die Anwengung von Naturgesetzen notwendig, weil die Dokomente der Erdgeschichte nicht in einer ohne Weiteres verständlichen Sprache geschrieben sind, sondern erst aufgrund der Kenntnis naturgesetzlicher Zusammenhänge gedeutet werden müssen. Gewiß ist auch schon bei der eigentlichen Geschichte die Kenntnis von Naturgesetzen zur Feststellung der Ereignisse vonnöten; allein entweder handelt es sich dabei um jedermann geläufige Gesetzmäßigkeiten, oder es handelt sich nur um wenige besondere Fälle, in denen eingehendere Kenntnisse vonnöten werden. An die Erdgeschichte könnte sich dann noch eine Weltgeschichte - im eigentlich richtigen Sinn des Wortes - schließen, die sich mit den Schicksalen des ganzen Weltalls befaßt, und die bei ihren Schlüssen noch mehr auf die Kenntnis von Naturgesetzen angewiesen ist. Gegenwärtig erscheint sie nur als ein Teil der Astronomie. Ähnliches gilt auch von der Geschichte der anderen Erdenbewohner, der Entwicklung der Pflanzen- und Tierarten, sowie der Geschichte einzelner Floren- und Faunengebiete. Auch hier treten, wiewohl es sich um die Erforschung geschichtlicher Tatsachen handelt, die naturgesetzlichen Zusammenhänge in den Vordergrund. Aus diesem Grund teilt man auch all diese genannten Wissenschaften nicht den historischen, sondern den Naturwissenschaften zu. Es liegt das daran, weil alle Einteilung der Wissenschaften dem praktischen Bedürfnis der Arbeitsteilung entsprungen ist und daher naturgemäß jene Wissenschaften, deren Jünger der gleichen Vorbildung bedürfen, beisammen gelassen worden sind. Man könnte also auch sagen, daß de facto die Forschungsmittel und nicht der Gegenstand, noch auch das Ziel oder die Methode den Einteilungsgrund der Wissenschaften gebildet haben. In allen bisher angeführten Fächern tritt mehr das historische Moment hervor. Es erscheint fast als Endziel, wiewohl man sich andererseits sagen muß oder sagen sollte, daß die Kenntnis vergangener Tatsachen ansich für uns höchst gleichgültig ist, - nachdem dieselben nicht mehr existieren - und dieselben für uns erst insofern eine Bedeutung erhalten, als sich aus ihnen Schlüsse für die Zukunft folgern lassen. In diesem Sinne würde Geschichte erst von dem Moment an Bedeutung erhalten, als sich aus den festgestellten Tatsachen allgemein (d. h. hier allezeit) gültige historische Gesetze entwickeln ließen. In den eigentlichen Naturwissenschaften ist nun dies bereits der Fall, da in ihnen die historische Kenntnis der Einzelvorgänge nur die Rolle eines Mittels zum Zweck, der Erkenntnis allgemeingültiger Beziehungen, der sogenannten Naturgesetze - spielt. Es scheint also, als ob diese Wissenschaften um eine Stufe in ihrer Entwicklung vor den eigentlich historischen voraus wären. Eingeteilt werden sie gewöhnlich nach der Stufe der erreichten Abstraktion. Unsere Erfahrung läßt uns zunächst das Vorhandensein von Gruppen unserer Bewußtseinselemente erkennen, die sich durch einen hohen Grad an Beständigkeit auszeichnen und die wir "Körper" nennen. Wendet sich nun unsere Aufmerksamkeit der Beschreibung, Vergleichung und Charakterisierung der verschiedenen vorgefundenen Gruppen (Körper) zu, dann sprechen wir von sogenannten "beschreibenden" Naturwissenschaften - eine allerdings wenig geeignete Bezeichnungsweise, da ja jede Naturwissenschaft beschreibend sein muß, und andererseits schon dadurch erklärend wirkt. Passender wäre etwa der Name "spezielle" oder "konkrete" Naturwissenschaft. Es gehören hierher Zoologie, Botanik, Mineralogie, Petrographie, Anatomie, Paläontologie, Technologie, Geographie, Anthropologie u. a. und zwar alle im engeren Sinn des Wortes. Findet nun eine Auflösung dieser Gruppen in ihre Elemente und ein Studium der gegenseitigen Beziehungen derselben statt, so gelangt man zu den abstrakteren Wissenschaften, die wieder nach dem Grad der stattgefundenen Analyse eingeteilt werden können. Gewöhnlich unterscheidet man zwei Hauptklassen, Chemie und Physik, zwischen denen eine strenge Scheidung freilich noch nicht möglich ist, von denen aber in grober Annäherung die erstere als Lehre von den Eigenschaften der Materie angesehen werden kann. Es bliebe also bei ihr der Elementenkomplex "Materie" noch unzerlegt, während die Physik von den einzelnen durch eine Analyse aus demselben gewonnenen Elementareigenschaften handelt wie Gravitation, Trägheit, Wärme, Magnetismus usw. Nach den Richtungen, in welche der Komplex "Materie" auflösbar ist, unterscheidet man dann die verschiedenen Teile der Physik, während die Chemie aus rein praktischen Gründen in eine anorganische und organische zerfällt wird. Die Erkenntnisse, die durch eine solche Analyse in die letzten auffindbaren Elemente und das Studium von deren gegenseitigen Beziehungen erhalten werden, können nun wiederum dazu verwandt werden, eine erhöhte Einsicht in das Verhältnis der einzelnen Naturkörper und insbesondere in deren Veränderungen zu gewinnen. Es entstehen so die verschiedenen gewöhnlich durch eine Kombination zweier Namen bezeichneten Wissenschaften, wie Mineralphysik und -Chemie, Pflanzenchemie usw., ferner Physiologie und Biologie. In all diesen Disziplinen der Naturwissenschaft besteht das eingehaltene Verfahren darin, daß zunächst Tatsachen beobachtet, das heißt stattgefundene Erlebnisse unseres Bewußtseins festgestellt werden. Sollen diese andern zugänglich gemacht werden - eine selbstverständliche Vorbedingung jeglichen wissenschaftlichen Wertes überhaupt - so müssen sie beschrieben werden. Diese Beschreibung muß so geschehen, daß die erlebten Tatsachen von jedermann in Gedanken nachkonstruiert werden können, muß also demnach in einer Anweisung zur Konstruktion der Tatsachen in Gedanken bestehen. Das geschieht durch eine Reihe von Willkürhandlungen, und somit bildet die Ausführung formaler Operationen ein notwendiges Hilfsmittel der Naturwissenschaften. Wurden jene früher als bloße Phantasieschöpfungen betrachtet und gaben sie als solche das Material für die sogenannten formalen Wissenschaften ab, so treten sie hier in den Dienst einer bestimmten uns aufgenötigten Aufgabe, nämlich der, eine Nachbildung einer ganz bestimmten und nicht einer erträumten Wirklichkeit zu geben. Daher bilden auch seit jeher Geometrie wie Arithmetik notwendige Hilfswissenschaften der Physik im weitesten Sinne des Wortes. Die Geometrie wird dabei selbst insofern Naturwissenschaft, als es ihre Aufgabe ist, die räumlichen Eigenschaften der wirklichen Körperwelt zu beschreiben. Sie ist formale Wissenschaft, sofern sie sich nur mit der Erforschung der Eigenschaften lediglich erdachter Räume beschäftigt, d. h. die Konsequenzen gewisser beliebig gewählter Definitionen weiter verfolgt, sie wird Naturwissenschaft, sobald sie den Anspruch erhebt, uns etwas über unsere Sinnenwelt zu sagen. Die Natur- oder realen Wissenschaften bestehen daher in ihrer Ausführung aus der Verbindung zweier verschiedenartiger Erkenntniselemente: der historischen und der formalen. Erstere bilden sowohl den Ausgangpunkt wie das Ziel der Erkenntnis; von der Beobachtung von Tatsachen geht der Naturforscher aus, während eine Feststellung nichtbeobachteter Tatsachen sein Ziel ist, das er mittels der Theorie, d. h. durch die Aufführung eines formalen Lehrgebäudes zu erreichen trachtet. Insofern stellen also die Naturwissenschaften eine Kombination historischer und formaler Elemente dar, während bei den eigentlichen historischen Wissenschaften letztere vielmehr zurücktreten, ohne freilich ganz zu verschwinden. Die historischen Wissenschaften erblicken ihr Ziel in der Feststellung individueller Tatbestände und ziehen zur Feststellung derselben die Hilfe anderer Disziplinen heran; bei den Naturwissenschaften sind aber die individuellen Tatsachen als gegeben zu betrachten - wenn es auch zu ihrer feineren, d. h. schärferen Erfassung einer besonderen Beobachtungskunst bedarf -, während das Ziel der Forschung die Erkennung neuer Tatsachen oder Tatsachenmöglichkeiten bildet. Die Aufgabe des Historikers entspricht demnach der des reinen Experimentalforschers, der auf eine Verarbeitung seines gesammelten Materials verzichtet (TYCHO de BRAHE), während dem Erforscher physikalischer Gesetze (KEPLER) die Geschichtsphilosophen an die Seite zu stellen sind. Es entspricht deshalb, wie ich glaube, auch unserem Sprachgebrauch sehr wohl, einen NEWTON einen Philosophen zu nennen. Im Altertum wäre er gewiß auch mit diesem Namen bezeichnet worden. Es erübrigt nur mehr die Besprechung der eigentümlichen Stellung der Psychologie, über die so verschiedenartige Auffassungen aufgestellt und vertreten worden sind. Die erste und älteste derselben war die, Psychologie als Lehre von der Seel zu definieren. Eine solche Erklärung ist aber solange sinnlos, als nicht gesagt wird, was man unter Seele zu verstehen hat; nachdem aber die Bedeutung dieses Wortes selbst dunkel ist, leidet diese Definition an dem logischen Fehler, Unbekanntes zur Erklärung heranzuziehen. Eine zweite zur Annahme gelangte Definition war die als Lehre von den psychischen Erscheinungen. Diese ging von der Voraussetzung aus, daß sich die Gesamtheit aller Erscheinungen in die beiden großen Klassen der physischen und psychischen sondern läßt. Nun ist es aber klar, daß uns stets nur die psychischen Tatsachen zugänglich sind, da ja jedes Erlebnis eine solche darstellt. Physische Tatsachen sind also etwas Hypothetisches und somit keine Tatsachen mehr. Diese Definition hat dann auch konsequenterweise dazu geführt, die Psychologie als Grundwissenschaft und Voraussetzung aller anderen Wissenschaften anzusehen, da ja jede Tatsache "zunächst" eine psychische ist. Ja, man hätte folgerichtig noch weiter gehen und die Psychologie überhaupt als einzige Wissenschaft ansehen können und sollen. Diese Definition der Psychologie ist also zu weit. Eine dritte Erklärung vermeidet diesen Fehler und spezialisiert die Psychologie als Lehre vom Nervensystem und den mit ihm in Zusammenhang stehenden Sinnesorganen. Dieser Auffassung zufolge wäre die Psychologie eine spezielle Naturwissenschaft und Teil der Somatologie. Obwohl sich nun nicht bestreiten läßt, daß diese Definition vor der ersten den Vorzug der Klarheit und vor der zweiten den der Angemessenheit des Umfangs besitzt, da ja die der Psychologie gewöhnlich zugeteilten Erscheinungen sich als Eigentümlichkeiten des Nervensystems auffassen lasen, so ist doch andererseits wieder leicht zu bemerken, daß zwischen der Beschreibung eines anderen Naturkörpers und der unseres Nervensystems ein gewaltiger Unterschied besteht. Es sind uns z. B. unsere Gefühle gar nicht als Eigenschaften unseres Nervensystems gegeben, sondern wir konstruieren erst nachträglich diesen Zusammenhang oder suchen ihn vielmehr zu konstruieren. Man kann also jedenfalls nicht ohne Weiteres die Psychologie als Teil einer speziellen Naturwissenschaft ansehen. Versuchen wir die Psychologie in unser Schema einzuordnen, so sehen wir zunächst, daß sie es nicht mit Möglichkeiten, sondern mit Wirklichkeiten zu tun hat. Sie ist somit keine formale, sondern eine historische oder reale Wissenschaft. Ferner ist klar, daß es sich bei ihr nicht um die Feststellung individueller Ereignisse handelt; sie ist somit keine historische Wissenschaft im überlieferten Sinn des Wortes, sondern eine Naturwissenschaft. Ihr Ziel besteht ja in der Aufsuchung von Gesetzmäßigkeiten, und ihr Ausgangspunkt bildet die Betrachtung von vorfindbaren Tatsachen. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich also in nichts von der Charakteristik der Naturwissenschaft. Es ist ferner auch klar, daß sie es mit Eigentümlichkeiten des menschlichen Organismus zu tun hat. Nun kommt aber das Unterscheidende. Ein Naturobjekt sonstiger Art ist zu gleicher Zeit der Untersuchung verschiedener Forscher zugänglich. Wir erhalten, wie wir uns gewöhnlich auszudrücken pflegen, von demselben Kunde durch unsere Sinne. In derselben Weise ist nun auch das Gehirn eines Individuums der gleichzeitigen und gleichartigen Untersuchung durch mehrere Forscher zugänglich. Was aber dabei beobachtet werden kann, bildet nur einen Teil aller Möglichkeiten. Gerade diejenigen Dinge, auf die es in der Psychologie vor allem ankommt, nämlich die sogenannten Innenzustände des betreffenden Individuums bleiben für die anderen Beobachter eine terra incognita [unbekanntes Land - wp]. Die bloße Behauptung ihres Vorhandenseins ist eine gar nie zu erweisende Hypothese. Vergleichen wir unseren Organismus mit anderen Naturkörpern, so müssen wir zur Einsicht kommen, daß wir von unserem Organismus auf doppelte Art Kunde erhalten, direkt durch unsere eigenen Bewußtseinszustände, insofern wir dieselben so nehmen wie sie sind, und indirekt durch eine Vermittlung unserer Sinnesorgane, die uns von demselben ebenso Kunde geben wie von einem fremden Körper. In diesem Sinne ist es dann in der Psychologie gebräuchlich geworden, von einer unmittelbaren und mittelbaren Erfahrung zu sprechen. Die Psychologie hätte es demnach mit jenen Erscheinungen zu tun, die sich dem entwickelten Bewußtsein zwar als Eigentümlichkeiten unseres Organismus darstellen, trotzdem aber nicht den bei den anderen Naturkörpern angewendeten Beobachtungsmethoden zugänglich sind. Haben wir einmal den Begriff der Materie gebildet, dann müssen wir auch zwischen bewußter und unbewußter unterscheiden und dann gehört die Erforschung aller Umstände, durch die sich die erstere in charakteristischer Weise von der letzteren unterscheidet, einer besonderen Wissenschaft, der Psychologie, an. Der Begriff der Materie ist indessen erst ein sekundäres Erzeugnis. Wir können uns auch auf den Standpunkt vor seiner Bildung stellen und nun die Frage nach dem Wesensunterschied zwischen Psychologie und übriger Naturwissenschaft stellen. Dann müssen wir uns sagen, daß wir als gegeben die verschiedenen Elemente unseres Bewußtseins zu betrachten haben und es Aufgabe jeder Naturwissenschaft ist, uns die Gesetzmäßigkeiten in der Aufeinanderfolge derselben zu lehren. Dann muß die Art dieser Gesetzmäßigkeiten das Unterscheidende der einzelnen Naturwissenschaften bilden; je nach Beschaffenheit derselben werden wir von physikalischen, physiologischen oder psychologische Gesetzen sprechen. Nicht der Stoff, sondern die Abstraktionsrichtung ist in ihnen verschieden. Bei naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise kommt es auf die Aufeinanderfolge der Elemente in einem Bewußtsein nicht an; sie gelangen vielmehr losgelöst aus ihrem Zusammenhang gerade auf das Verhältnis eines Elementes zur Gesamtheit der mit ihm in einem Bewußtsein verbundenen an. Die Aufeinanderfolge derselben in einem Bewußtsein wird den Gegenstand der Betrachtung, sich da ergebende Gesetzmäßigkeiten den Inhalt der psychologischen Wissenschaft zu bilden haben. JODLs Definition derselben scheint mir daher unter den vielen die beste zu sein:
Wir erhalten somit die folgende Gliederung der Wissenschaften: Zuoberst zerfallen alle Wissenschaften in die drei Hauptgruppen der formalen, historischen und realen. Die formalen haben zum Gegenstand die Betrachtung unserer eigenen Phantasieschöpfungen ("durch das Denken gesetztes Sein"), die sich nach dem Grad der Abstraktion von der Wirklichkeit unterscheiden können; sie zerfallen demnach wieder in Logik, Arithmetik, Kombinatorik, Geometrie, Kinematik, Dynamik (im oben bezeichneten Sinn) usw., die historischen haben es mit der Feststellung von Tatsachen, d. h. von unserer Willkür unabhängigen Ereignissen zu tun und zwar, um ihrer selbst willen, solange es sich um Geschichte im engeren Sinn des Wortes handelt; die Einteilung kann hier nach der Beschaffenheit dieser Tatsachen oder nach den zu ihrer Feststellung notwendigen Mitteln erfolgen; hierher gehören Menschheitsgeschichte (seit Beginn der historischen Zeit), Urgeschichte, Erdgeschichte, Weltgeschichte, auch wohl die Beschreibungen einzelner Naturkörper, somit Geographie im engeren (älteren) Sinn des Wortes, ja auch im gewissen Sinn Naturgeschichte; die realen Wissenschaften haben es gleichfalls mit den Tatsachen, jedoch nicht um ihrer selbst willen zu tun, in ihnen hat die Einzeltatsache nur Bedeutung, wenn sie als einzelner Fall einer ganzen Klasse auftritt, infolgedessen es sich hier um die Konstruktion von nicht beobachteten Tatsachen handelt aufgrund von beobachteten Regelmäßigkeiten (Naturgesetzen). Zu diesem Zweck bedienen sich die realen Wissenschaften der Hilfe der formalen, sie bilden gleichsam eine Verbindung der formalen mit den historischen. Unterschieden werden sie nach der Art der Abstraktionsrichtung (insofern bei jeder Tatsache immer nur gewisse Momente in Betracht gezogen, von den andern hingegen abgesehen wird) in Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, die wieder auf die Erkenntnis besonderer Gruppen angewandt werden können, wodurch dann die verschiedenen Einzelwissenschaften entstehen. Nach dieser allgemeinen Orientierung bleibt nur noch auf einzelne der genannten Wissenschaften mit Hinblick auf die in ihr herrschenden Anschaungsweisen einzugehen. ![]()
28) Hans Cornelius, Einleitung in die Philosophie, Leipzig 1903, Seite 284 29) Die Entwicklung des Raum- und Zeitbegriffs in der neueren Mathematik und Mechanik und seine Bedeutung für die Erkenntnistheorie, Archiv für systematische Philosophie, Bd. 5, 1897, Seite 32. 30) So lautete ein Lielingsausspruch Cliffords: "The geometry you know is the gate of science". 31) Die Entwicklung der neueren Logik hat sich größtenteils außerhalb der Grenzen Deutschlands abgespielt; englische und italienische Arbeiten kommen da in erster Linie in Betracht. Man vergleiche hierüber Schröder, Vorlesungen über die Algebra der Logik (exakte Logik), 3. Bde., Leipzig 1890-1895, das größte zusammenfassende deutsche Werk; ferner das kürzlich erschienene englische die Grundbegriffe der Logik und Mathematik und deren Grenzgebiete behandelnde Werk von Bertrand Russell, "The principles of mathematics, Camebridge University Presse, 1903. Vgl. hierüber die Artikelserie von Couturat "Les principes des Mathématiques" in der "Revue de métaphysique et de morale" 1904. Sonstige Literatur findet man in diesen Werken angegeben (Burali-Forti, Couturat, Frege, Peano, Peirce, Vailati, Whitehead). Die Anfänge gehen auf Leibniz zurück (Philosophische Werke, hg. von Gerhard, Bd. VII. |