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OTTO CASPARI
Das Erkenntnisproblem
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"Wie man auch urteilen mag, die Erkenntniskritik ist der Leitfaden für die Auflösung aller Probleme, welche uns die Erfahrung bietet. Wer sich über die Streitfragen der heutigen Zoologie und Biologie verbreiten will, der muß  zuvor,  will er tief genug arbeiten, sich mit den Grundstreitigkeiten unseres Erkenntnislebens beschäftigt haben. Die Lösung, welche sich hier ergibt, muß den Schlüssel auch zur Auflösung der im empirischen Feld gefundenen Fragen liefern."

Vorwort

Es sind nun gerade 100 Jahre verflossen, seitdem das unsterblich Werk KANTs über die Kritik der reinen Vernunft die Geister in Erstaunen versetzte. Angesichts dieses bedeutsamen Ereignisses in der Geschichte der Wissenschaften ist wohl die Frage am Platz: Wie weit sind wir in das Verständnis dieses großen KANTschen Vermächtnisses gedrungen oder inwieweit etwa haben wir dasselbe wissenschaftlich ausgebeutet, oder aber wohl gar überholt? Es steht schlimm um die heutige Philosophie, daß sie nach Ablauf eines vollen Jahrhunderts hierauf keine ganz bestimmte Antwort zu geben weiß.

Wenn es richtig ist, was der jüngst dahingeschiedene HARMS behauptete, daß die Geschichte der Philosophie uns die Experimente vor Augen führt, welche der Geist anstellt, um die an uns herantretenden Probleme zu lösen, so müssen wir heute freilich wohl demütig das Bekenntnis ablegen: daß die nachkantischen Schulen vergebliche Versuche anstellten, das von KANT so tief gefaßt Problem über die Erkenntnis einer Lösung zu unterziehen. Doch darf angesichts dieses niederschmetternde Urteils nicht behauptet werden, daß den nachkommenden Geschlechtern kein Nutzen erwachsen wäre aus dem titanenhaften Ringen, mit welchem die Epigonen KANTs sich anschickten die philosophische Lösung des gestellten Problems zu erstreben. Und bestände auch dieser Nutzen nur darin, daß wir uns völlig zu KANT zurückwandten, so wäre eben dieser doch unermeßlich. Nach einem vollen Jahrhundert studieren wir KANT heute wieder begierig von neuem; aber wir studieren ihn heute mit der erworbenen Einsicht, alle die Fehler und Klippen zu meiden, welche das philosophische Fahrzeug bei den rationalistischen Idealisten zum Scheitern brachten. Wir studieren ihn auf's Neue, um ferner nicht wieder jählings in Strömungen zurückzusinken, die, wie die an HUME anknüpfende, rein empiristische, KANT siegreich überwunden hatte. Was wir suchen, ist weder der reine Rationalismus noch ein reiner Empirismus, sondern Kritizismus, das ist eine immerdar erneute Untersuchung über die Quellen unseres Erkenntnislebens und deren Zusammenhang. Diese Quellen hat uns KANT erschlossen. Er fand sie einerseits im sogenannten Apriori (der Natur unseres Intellekts) und andererseits in dem uns gegebenen Erfahrungsmaterial. Das Apriori ist innerlich gegeben, und rein äußerlich nicht empirisch-psychologisch zu eruieren, aber gegeben ist es nur, um sich beständig am empirisch Gegebenen (dem äußeren und inneren Erfahrungsmaterial) zu erproben. Nur unter dieser fortdauernd empirischen  Probe  besteht es, und nur in ihr wird es aufgewiesen, empirisch-psychologisch rekognosziert [geprüft - wp] und kritisch wirklich gefunden. Den Versuch einer solchen kritisch-empirischen Rekognoszierung des sogenannten Apriori als Natur unseres Intellekts, hat der Verfasser dieser Zeilen in seinen "Grundproblemen der Erkenntnistätigkeit" (1) unternommen. Die vorbereitenden Gedanken aber, welche auf diese Absicht hinführten, stellt der Verfasser im Folgenden kurz zusammen.

Die folgenden Blätter, welche zugleich vorzugsweise den Standpunkt behandeln, den der Forscher bezüglich des Erkenntnisproblems und seiner Lösung den heute vertretenen Schulen gegenüber einnehmen soll, bilden demnach Prolegomena für die erkenntnistheoretischen Schriften des Autors, auf welche er vor allem diejenigen verweist, welche sich für die dort behandelten wichtigen Probleme interessieren. (2)




Wie man auch urteilen mag, die Erkenntniskritik ist der Leitfaden für die Auflösung aller Probleme, welche uns die Erfahrung bietet. Wer sich über die Streitfragen der heutigen Zoologie und Biologie verbreiten will, der muß  zuvor,  will er tief genug arbeiten, sich mit den Grundstreitigkeiten unseres Erkenntnislebens beschäftigt haben. Die Lösung, welche sich hier ergibt, muß den Schlüssel auch zur Auflösung der im empirischen Feld gefundenen Fragen liefern. Einige oberflächliche Kritiker sind so dreist gewesen, dem Verfasser dieser Zeilen gegenüber zu behaupten: er habe aus den darwinistischen Anschauungen heraus auch die Lösung der erkenntniskritischen Fragen gesucht, während es sich tatsächlich  umgekehrt  verhält. Es war vor allem das Bestreben des Verfassers, und er darf sich hier bescheiden einiges Verdienst zusprechen, diese empirischen Probleme der Biologie (die man vulgär heute die darwinistischen Streitfragen nennt) loszulösen von den materialistischen Dogmen, mit denen man sie verquickt hatte. Aber ebenso wird er auch denen entgegenwirken, welche im philosophischen Übereifer dahin neigen, die umgekehrten Grundsätze (des Spiritualismus) unbesehen und kritiklos als solche hinzustellen, mit denen sich die sogenannte darwinistische Naturanschauung im Einklang befindet. An solchen Stimmen hat es neuestens nicht gefehlt, und nicht ohne Wichtigkeit ist darauf verwiesen worden, daß das von Zoologen angenommene biogenetische Gesetz im Grunde nichts sei, als das, was auch HEGEL behauptet haben, wenn er urgierte, daß sich im Leben des Einzelnen nur das Leben der Gattung und des Ganzen rekonstruktiv wiederhole. Bevor man hierüber von philosophischen Gesichtspunkten aburteilt, müßte man doch, um dies an dieser Stelle zu bemerken, den von HEGEL festgehaltenen scholastischen Realismus beständig mit dem Nominalismus verwechseln, auf welchen uns die Deutung der modernen biologischen Lehren allein hinweisen. Das System und die Klassifikation stehen zunächst nur in unserem Kopf und draußen begegnen wir nur der Summe der Individuen mit ihren vielfarbigen und oft genug sehr verschieden akzentuierten Merkmalen, so lautet die hervorstechendste Grundthese des heutigen Darwinismus. Wie himmelweit weg befinden wir uns damit aber tatsächlich von aller Naturphilosophie à la SCHELLING und HEGEL, nach welcher die Gattung und das Überindividuelle eine feste reale Existenz besaßen. Soll nicht der furchtbarste Wirrwarr von neuem hereinbrechen, so muß in erkenntnistheoretischer Hinsicht vor allem  das  festgestellt werden, daß wir heute in einer tief eingreifenden Epoche des Nominalismus leben. Derselbe ist herrschend geworden und wer nun untersuchen will, wer Recht hat: etwa der platonische Realismus oder aber der moderne Nominalismus, der muß sich zu den großen Erkenntniskritikern KANT und HUME hinwenden. Auf dem Grund ihrer Streitführungen muß er wühlen nach dem goldenen Schlüssel, der die Rätsel in der Deutung der Naturtatsachen zu lösen imstande ist. Wie oft hervorgehoben wurde, sind die Anstöße des großen englischen Biologen und Zoologen so mächtig gewesen auf organischem Gebiet, wie ehedem NEWTONs auf dem physikalischen. Wie damals alle philosophischen Grundprobleme von neuem angeregt wurden, so auch jetzt durch Darwin. Während aber damals NEWTON Stützen herbeibrachte, welche dem Apriorismus und der rationalistischen Konstruktionslehre, bzw. später der Wiedererzeugung des scholastischen Realismus dienten, lieferte Stützen nach der  entgegengesetzten  Seite nunmehr die Naturdeutung des Briten DARWIN. Seine Auffassung plädiert für den Individualismus, für die Zersetzung, bzw. Zuerstörung der festen objektiven Gattungslehre und der unveränderlichen Typen, und macht somit Propaganda für eine empirische und nominalistische Weltanschauung, welche alle Erklärung von Erscheinungen der organischen Klassen, Spezies und Gruppen, ja selbst die tiefsten Grundgesetze zu Problemen macht, an denen die heutigen Philosophen und Zoologen arbeiten. Der kritische Philosophie soll sich über den Wechsel der Tagesmeinungen, wie sie nach Seiten der empirischen Naturdeutung stattfinden, zu erheben suchen. Er soll die aus der Natur hervorgehenden Probleme zunächst rein erkenntniskritisch betrachten und lösen. Diesen Versuch hat der Verfasser dieses Artikels in seiner Arbeit über den Kausalitätsbegriff und über die Grundprobleme der Erkenntnistätigkeit unternommen, auf welche hier verwiesen werden muß. Der wesentliche Hinweis aber, welcher gegeben wurde, bestand darin, daß keines der empirischen Probleme gelöst zu werden vermag, ohne die kritische Voruntersuchung über die Natur unseres Intellekts, aus welcher mit Hilfe des Erfahrungsmaterials alle Erklärungen und Deutungen abfließen. Es kann über nichts endgültig entschieden werden, ohne die Vorprüfung, welche die Erkenntniskritik zu liefern hat. Diese ist mageblich, um den Standpunkt richtig zu wählen. Das Resultat, zu welchem eingehende Untersuchungen hier vordringen, ist der Abweis von Materialismus und Spiritualismus, namentlich sobald sich der letztere erkenntnistheoretisch aufdrängt als rationaler Idealismus, oder wohl gar, wie bei den modernen Idealisten und sogenannten Identitätslehrern, als subjektiver Idealismus (FICHTE) und als reine rationale Konstruktionslehre (SCHELLING, HEGEL). Eine tiefere Würdigung verdient der sogenannte Empirismus, weil er sich vorab durch die Tatsachen und den Inhalt der Erfahrung belehren läßt, ohne nur und allein rationell zu konstruieren wie jene erwähnten Richtungen. Der reine Empirismus freilich, der sich als naiver Sensualist darstellt, ist seit KANT gänzlich widerlegt und kann nicht in Frage kommen; aber es gibt noch eine andere Gestaltung des Empirismus, den man als sogenannten formalen Empirismus zu bezeichnen pflegt. (Vgl. CASPARI, Grundprobleme der Erkenntnistätigkeit II, Seite 360. Es finden sich dort auf einer Tabelle alle erkenntnistheoretischen Standpunkte genauer angegeben.) Diese Lehre besitzt heute vornehme Vertreter, wie z. B. WUNDT und FECHNER in Leipzig und andere. Eine Auseinandersetzung ist deshalb nach dieser Seite, ebenso wie nach der des Rationalismus hin geboten, wenn man über den Fundamentalakt der Erkenntnis Klarheit gewinnen will. Bevor wir aber den herrschenden formalen Empirismus ins Auge fassen, seien sogleich einige Erörterungen über die ursprüngliche Voraussetzung unserer Erkenntnis und über die Grundnatur unseres Intellekts im Hinblick auf den gegenwärtig noch herrschenden idealistischen Rationalismus vorausgeschickt; denn der Intellekt bildet das Instrument, mit dem wir alle gemeinschaftlich arbeiten und Wissenschaft treiben.


1. Der idealistische Rationalismus

Wie man aus den heutigen philosophischen Zeitschriften ersieht, will keine Richtung vornehmer tun und gründlicher sein, als der im Beginn dieses Jahrhunderts aufgekommene FICHTEsche rationale Idealismus, der nach verschiedentlicher Umgestaltung endlich in SCHELLING und HEGEL gipfelte. Es gibt heute immer noch Forscher, welche in der Begründung der FICHTEschen Wissenschaftslehre eine gesicherte Fundamentierung der Erkenntnistheorie anerkennen, die nicht umgangen werden kann. Wir werden, um vorurteilslos zu sein, dies zugestehen müssen, aber aus Rücksichten strenger Kritik darauf bestehen, daß die ursprünglichsten Satzungen FICHTEs geprüft werden im Hinblick auf die tatsächlich vorgefundene Natur unseres Intellekts. Ergibt sich in Bezug hierauf ein Fehler, so werden wir die FICHTEschen Satzungen zu korrigieren haben. FICHTE suchte den Ausgangspunkt aller Erkenntnis in jenem Akt, der unserer Erfahrung am tiefsten und  am unmittelbarsten zugänglich ist, in unserem inneren Selbst.  Er nennt die hier in uns unmittelbar arbeitende Funktion die sogenannten transzendentale Einheits-Apperzeption im Ich-Bewußtsein. Es ist unschwer zu erkennen, daß in dieser FICHTEschen Einheits-Apperzeption die Natur unseres Intellekts angesprochen wird. Sehen wir nun zu, was FICHTE in der Intellektnatur findet. Das erste, was er behauptet, ist dies: Daß unsere Intellektnatur durch und durch von vornherein  spontan,  d. h. tätig, schaffend, wirkend und handelnd ist.  Alle Realität in ihr ist daher ihr Tätigksein.  Schon hier im tiefsten Grunde erblicken wir aufmerksam forschend den  Fehler,  der liegt in der Behauptung, daß  alle  Realität in die "Tathandlung" des ursprünglich gesetzten Ich  aufgeht.  Blicken wir in die Tatsachen unserer unmittelbaren Selbsterfahrung, so ergibt sich, daß wir nach vielen Richtungen hin begehrend und vorstellend tätig (somit aktiv und spontan) sind, während wir uns nach anderen hin fühlend und empfindend, d. h. passiv und rezeptiv vorfinden. Wir sind daher innerhalb unserer inneren intellektuellen Gesamtnatur (will man den Intellekt nicht vom übrigen tatsächlichen Seelenleben losreißt) teils aktiv, teils passiv, d. h. verschiedentlich gerichtet und abwechselnd spontan und rezeptiv. Also schon die allererste Satzn FICHTEs will mit aller Gewalt  über die unmittelbaren Tatsachen hinaus.  Schlimme Folgen müssen erkenntnistheoretisch daraus hervorgehen. Nach der Selbstsetzung des Ich, die den ansich evidenten Identitätssatz  A = A  repräsentiert, folgt der zweite Akt FICHTEs, er besteht darin, daß das Ich  sich entgegen  ein Nicht-Ich  setzt  (A nicht = non A). Hier liegt nun der Fehler klar vor Augen und die bösen Folgen sind zutage getreten, wir befinden uns schon mitten im Irrtum. Er liegt in der  Sich-selbst-Entgegensetzung  eines zu  setzenden Nicht-Ich. Solange nämlich das Sich aktiv setzt und fortfährt sich zu setzen,  wird es nie zu seiner realen Gegensetzung gelangen, die in der Position Nicht-Ich liegt. Die beständige Aktivität des  Sich  schließt die Auffindung und Erzeugung dessen aus, was dem  Sich real entgegenstehen kann, um es im selben Moment rezeptiv zu machen.  Leicht deutlich wird dies am Buchstaben.  A  setzt sich und fährt fort die Momente von  A' A'' A''' An  zu setzen, die reale Gegensetzung aber ist  B,  soll "non A" daher nicht bloß eine Scheinbedeutung und einen rein formalen Kniff auf dem nämlichen und gleichen Blatt Papier bedeuten, so  wird in alle Wege und Zeiten nicht B tatsächlich aus A gewonnen, man kann das Sein dieses B daher niemals aus A herausklauben.  Wir brauchen gar nichts weiter, um FICHTE von hier aus schon völlig den Tatsachen gegenüber zu verurteilen. Wollen wir mit Akribie verfahren, so liegt im Satz des Widerspruchs und in der hiermit gesetzten Anerkennung von  A  und  non A schon das allertiefste Problem.  Es liegt, wie der Verfasser dieser Zeilen in seinen "Grundproblemen" genauer dargetan hat, schon ausgesprochen im Wörtchen "nicht", das andeutet, daß  neben  dem  A  und ursprünglich koordiniert mit ihm  ein B  (non A) real vorhanden ist, das man nicht etwa  setzen  und erzeugen  kann aus A.  Sind aber beide Faktoren im Widerspruchssatz, als Ergänzung des Identitätsgesetzes koordiniert bereits vorhanden, so liegt im vollständig verstandenen  Identitätsgesetz  schon  das Kausalitätsproblem.  Dasselbe wird daher erkenntnistheoretisch lauten: wie kann so real Verschiedenes wie  A  und  B  so innig zusammensein, daß sie trotz dieser ihrer Verschiedenheit, welche sie doch auch untereinander  erweitern  könnten, sich dem entgegen in logische  Übereinstimmung  setzen. Schon die dritte FICHTEsche Satzung aber hat das ganze vorliegende und eben ausgesprochene Problem  übersprungen.  Der Irrtum ist hier daher schon ins Ungeheuerliche gewachsen; denn es wird jetzt ein Begriff herbeigezogen, von dem man weder logisch nocht erkenntnistheoretisch sieht, wo er herkommt. Es ist das der von FICHTE in der dritten Setzung betonte Begriff der  Beschränkung oder Einschränkung.  Weil FICHTE im  A  und seinen Setzungen  A' '' ''' - n kein reales B  als  Nicht-Ich aufzufinden vermag,  will er dasselbe nun dadurch gewinnen, daß er sozusagen  dem A ein Stück abbricht,  dieses  A  damit verkleinert, beschränkt und einschränkt  und beide hiermit künstlich gewonnenen Stücke des A als die kausalen Urfaktoren hinstellt.  Lag hier bei einem solchen Verfahren nicht eine der verhängnisvollsten Täuschungen vor, wie solche nur jemals in der philosophischen Wissenschaft vorgekommen sind?! Der von hier aus sich einschleichende Irrtum hat die deutschen Geister ein halbes Jahrhundert beherrscht. -

Wollen wir uns nun in den fundamentalen erkenntnistheoretischen Setzungen über FICHTEs Irrtum erheben, wie haben wir da zu verfahren und was muß man urgieren? Selbstverständlich kommt es sogleich auf die allererste und ursprünglichste Setzung an,  diese muß mit der Grundnatur unseres Intellekts ebensosehr, wie mit den Tatsachen übereinstimmen,  in ihr ruht daher der Eck- und Grundstein aller Erkenntnislehre, und wenn man will aller philosophischen Forschung und Überzeugung.

Wenn man FICHTEs Irrtum nicht wiederholen will, wenn man in der Tat ein reales  B  aus  A  nicht zu erzeugen vermag, so ist man genötigt, die sogenannte  Erzeugungstheorie  der Rationalisten, mit der man alles Sein aus dem Denken entwickeln und herleiten will,  aufzugeben. 

Aber was setzt man erkenntniskritisch an ihre Stelle? Wir meinen nur das, was sich mit den  Tatsachen und der wirklichen Natur unseres Innern, bzw. unseres Intellekts, beglaubigen und vereinigen läßt. 

Blicken wir scharf in unser unmittelbares Innere, so finden wir uns, wie schon oben erwähnt, ebensosehr nach einigen Richtungen hin wollend und aktiv vorstellend, wie nach anderen hin rezeptiv fühlend und passiv. Unser Inneres ist daher eine in sich einheitliche  Mannigfaltigkeit  von aktiven und passiven Erlebnissen, nach  verschiedenen  Richtungen hin. Diese Tatsache ist anzuerkennen, über sie ist nicht hinausgekommen.

Nach Seiten der anerkannten Rezeptivität weist daher ursprünglich unser Inneres (A) auf  ein gleichzeitig und ihm koordiniert zu setzendes Verschiedenes (B) hin.  Die ursprüngliche und erste Setzung im Fundamentalakt aller tatsächlichen Erkenntnis ist daher nicht wie bei FICHTE und den rationalisierenden Idealisten  A = A,  sondern  A : B.  Wir nennen dieses Prinzip im Gegensatz zu aller Identitätslehre das der  Koordination oder Korrelativität. 

Um den logischen Setzungs- und Schöpfungsakt der Koordination (Korrelation) von dem der Subordination, wie ihn FICHTE, die Idealisten und Rationalisten hinstellen, indem sie  B  aus  A  erzeugen und ihm somit subordinieren, deutlich zu unterscheiden, greift man am besten zu einem mathematischen Schema. Die logisch subordinierten Teile verhalten sich schematisch wie die Kreisausschnitte eines Kreises zum Zentrum. Die logisch koordinierten Teile hingegen wie die Brennpunkte einer Ellipse zum gemeinsamen Mittelpunkt.  Die Tatsachenverhältnisse  von Kraft und Widerstand, Selbsterhaltung und Störung usw. sind kein Subordinations-, sondern Koordinations- und Korrelationsverhältnisse. Wer daher  nicht die Tatsachen überfliegen will,  ist genötigt, die Subordination gegenüber der Koordination, bzw. Korrelativität zu verwerfen. -

Allein wir bemerkten schon oben, daß in dieser ersten Setzung schon das gegebene Problem liegt. Es liegt im angewendeten Gleichheits- und Beziehungszeichen: das  A  mit  B  verbindet. Wenn nämlich  A  ein  verschiedenes  ist von  B,  was hindert sie bei ihrer relativen  Unabhängigkeit  voneinander, welche sich ja in der Koordinationslehre und Korrelationslehre von relativ selbständigen tätigen Ichs deutlich ausspricht, diese ihre reale  Verschiedenheit so gegen einander zu erweitern,  daß ihre Beziehung zueinander  aufhört  und  = O  wird. Es wird sehr leicht sein zu sagen: Alsdann heben sie sich selbst mit aller ihrer Setzung und mit all ihrer  Realität überhaupt auf.  Indessen von der Gleichheit bis zu absoluten Ungleichheit gibt es  sehr viele Zwischenstufen, welche noch ohne eine völlige Aufhebung aller Realität gesetzt und durchlaufen werden können.  Diese  Zwischenstufen,  welche wir im gegebenen Problem als "Störungen" oder "Verdunkelungen" begreifen, wird uns nur eine solche Philosophie kennen lehren, welche als Koordinations- oder als Korrelationslehre der ursprünglichen Faktoren auftritt.

Wir finden daher die hier angedeuteten Momente erkenntniskritisch klar ausgesprochen nur bei KANT und HERBART und seinen Geistesverwandten. KANT behauptet die  Realität  des koordinierten Faktors und  X  (als Unbekanntes) oder als sogenanntes Ding ansich und begründet damit den Apriorismus. HERBART aber erfaßte, indem auch er zur Koordinationslehre der erkenntnistheoretischen Grundfaktoren griff, das hier gestellte Problem unter dem der Inhärierung [Innewohnung - wp] und übersah nicht hiermit die Stufen und Arten des sogenannten Zusammen, des Ineinander, Außereinander und Füreinander der Faktoren.

Wie nun das hiermit dargelegte Fundamentalproblem des  verschiedenen Verhaltens von A : B  als real koordinierte und verschiedene Faktoren zu lösen ist, darüber möge man genauer des Verfassers Grundprobleme der Erkenntnistätigkeit nachlsen. Verwahren nur möchte sich der Verfasser dieser Zeilen an diesem Ort gegen den Einwurf, als sei er durch die aufgestellte Koordinationslehre (bzw. Korrelativismus) in einen  absoluten  Relativismus und sogenannten Phänomenalismus gefallen. Wer so redet, hat den Verfasser entweder nicht verstanden oder nicht gelesen. Auf sehr viele Stellen seines Werkes hätte ich dieses zu verweisen, um mich solchen Einwürfen gegenüber zu rechtfertigen. Den tätigen und fühlenden bzw. wollenden Ichs und Nicht-Ichs, als welche die korrelativen Faktoren auftreten, wird nach dem Verfasser eben die praktische  Aufgabe der Regulation gesetzt.  Versäumen sie diese, lassen sie die Störungen wachsen, so gelangen sie zur gegenseitigen Irregulation, mit der sie sich mehr und mehr ihrer völligen Selbstaufhebung nähern werden. Daß sie aber diese endgültig und also absolut  vermeiden, liegt in ihrer angeborenen Selbsterhaltung und des mit Störung derselben verknüpften starken Wachstums der Unlustgefühle.  Die tätigen und fühlenden Ichs sind daher mit diesem Streben zu einem gewissen Grad gegenseitiger Erträglichkeit und Verträglichkeit  gezwungen.  Die  absolute  Relativitätslehre wird hiermit  gebrochen.  Freilich reicht dieser Zwang aber nur  so weit,  als alle Faktoren ihre  Realität gegeneinander behaupten,  daß sie aber ihre reale Korrelativität auch in der besten  Form zur Geltung bringen, dahin reicht dieser Realitätszwang nicht,  und das muß  im Auge behalten werden.  Um die höchstwertige Übereinstimmung, bzw. Regulation und Verträglichkeit unter den korrelativen Realen als Ichs und Nicht-Ichs im Zusammenhang des Füreinander herbeizuführen, dazu bedarf es der Erfüllung einer logischen, ästhetischen und ethischen  Aufgabe,  für welche kein  realer Zwang  existiert. Die relative Freiheit, welche korrelativen Faktoren gegeneinander zukommt, läßt sich nicht zu dieser Aufgabe schlechtweg kommandieren. Diese Aufgabe wird sich daher unter ihnen nur durch wachsende Erkenntnis vollziehen, beziehungsweise durch Feststellung dessen, was am meisten regulativ nützlich ist, um diese Aufgabe zu erfüllen.

Der Verfasser hat gezeigt, was als logisch-ethisch nützlich und notwendig in dieser Beziehung hinzustellen ist. Die wichtigste Forderung ist die  gemeinschaftliche Anerkennung eines Regulativs als Symbols für den Nutzen der Verständigung, der Verträglichkeit  und Übereinstimmung. Je mehr ein solches Symbol Vertreter und Beispiele besitzt, in je regulärere Formen wird sich die Verträglichkeit unter ihnen kleiden, je harmonischer werden sich die Phänomene gestalten und je durchsichtiger und widerspruchsloser werden sich die gegenseitigen Wahrnehmungen und Erkenntnisse ausbilden. Doch alles das sind nur Andeutungen, die man an bezeichneter Stelle in den Werken des Verfassers genauer nachlesen möge. Das Resultat, zu welchem die wohlverstandene Erkenntnistheorie in ihren fundamentalen Setzungen hintreibt, kann, wie wir sehen, nur auf eine regulative Korrelativität von Ich und Nicht-Ich hinführen, niemals aber auf einen sogenannten absoluten Relativismus. Dieser wird durch die ursprüngliche reale Setzung im Hinweis auf das Regulativ selbstverständlich ausgeschlossen. Wir dürfen daher nur einen relativen Regulativismus denken. Dabei verlangt freilich die Relativität desselben, daß ein solcher, wie oben angedeutet, seine  verschiedenen Stufen und Grade  hat. Wenden sich die relativ freien Faktoren vom Regulativ ab, zum sogenannten Neben- oder  Außereinander,  (3) so kann das nur soweit geschehen, als das ihre letzte reale Selbsterhaltung noch zuläßt. Dabei aber kann es vorkommen, daß sie unter dieser Form im sogenannten unvollkommenen Zusammen, zwar noch selbsterhaltend sind, während sie sich doch fremd und gänzlich unerkannt und blind zufällig gegenübertreten wie  X Y  etc. Wenden sich aber die Faktoren dem Regulativ zu, so erhalten sie sich in ihren Zuständen gegenseitig nicht nur, sondern ergänzen, regulieren und erhöhen diese ihr bloße Erhaltung, womit sich ihr reales Zusammen relativ zum ästhetisch-ethischen Füreinander steigert. In HERBARTs Lehre, welche diesen Setzungen nahekommt, sind die Faktoren bekanntlich überempirisch, unveränderlih und schlechthin einfach gesetzt. Ihr empirisch und veränderliches Zusammen und Füreinander ist daher  bloßer Schein  und fingierte Spiegelfechterei. Wer sich die Mühe gibt in des Verfassers Schriften genau nachzulesen, wird sich leicht überzeugen, wie sehr sich bei mancher Ähnlichkeit, die hier aufgeworfene Grundsetzung der Faktoren vom Herbartianismus unterscheidet. Wer sich dieser Mühe unterzieht, wird dann auch nicht den Mittelpunkt des Verständnisses unserer Lehre zu begreifen verfehlen. Diese liegt, um es nochmals zu sagen,  im betonten Begriff des Regulativs, dessen empirisch-idealer Charakter vor allen transzendenten Setzungen und metaphysischen Hypostasen [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] bewahrt, um so den Charakter der Realität an den Faktoren nirgendwo zu stören; denn in erster Linie ist das Regulativ aller Setzungen ihre Erhaltungen, in zweiter Linie erst knüpft sich für sie daran die Aufgabe, diese Erhaltung aus den notdürftigsten Werten der bloßen Selbsterhaltung in höhere Lebenswerte für sie zu überführen,  Werte, welche indessen nur erworben werden, wenn die bloße Erhaltung umgestaltet wird in eine praktisch-ästhetische Regulation, das ist die Erfüllung einer freien sittlichen Aufgabe, zu welcher das Regulativ in tieferer Beziehung anleitet.


2. Der formale Empirismus

Gegenüber dem idealistischen Rationalismus hatten wir in der ersten und ursprünglichsten Setzung zu kämpfen in Bezug auf die Anerkennung einer Koordination und Korrelativität der erkenntnistheoretischen Grundfaktoren. Der idealistische und formale Rationalismus will das Sein (den Faktor  B) aus dem Denken erzeugen.  Das gelang nicht uns so schlägt dieser Rationalismus, indem er mit einem Widerspruch  gegen die Erfahrung und Tatsachen beginnt,  in einen Irrationalismus um, der sich selbst widerlegt. Neben  A  war  B  gleichzeitige ursprüngliche  Tatsache, beide mußten sich im frühesten Schöpfungsakt daher beständig fordern  und anerkennen, d. h. ihre unaufhörliche Schöpfung ist und bleibt reale vielheitliche  Gegenseitigkeit  (Korrelativität), als ein schöpferisches Auseinandertreten, über sie als ein realiter Erstes und Letztes läßt sich nicht hinauskommen. Man findet eben dieses Verhältnis, weil es zugleich eine empirische Tatsache ist, ausgesprochen in der tatsächlichen Grundbeziehung  von Kraft und Widerstand,  ebenso wie an der sogenannten  Unterscheidung,  als unaufhebliche Eigenschaft in der Natur unseres Intellekts. Kraft ohne Widerstand, ich ohne Nicht-Ich, so fremd sie beiderseitig auch unter Umständen gegenüber treten mögen, können nicht gedacht werden. Wer darüber als Erfahrungs- und Tatsachengrenze hinausdenkt, fällt in Irrtum und Faselei, weil er irgendwie widerstandslose oder kraftlose Kräfte oder Intellekte und Ichs zur Geltung bringen will. In der Anerkennung dieser fundamentalen Tatsache beruth, wie wie sehen, er erkenntnistheoretische Wert der Koordinationslehre gegenüber der über die Tatsachen hinwegsehenden  idealistischen  Subordinations- bzw. idealistisch-konstruktiven Evolutionslehre, wie sie SCHELLING und HEGEL ausführten. In der Anerkennung dieser  Tatsache liegt ferner die empirische Bedeutung  der sogenannten kausal-mechanischen Betrachtung der Dinge. Weil alle Mechanik und Bewegung das physikalische Grundverhältnis von Kraft und Widerstand voraussetzt, deshalb fußt sie auf einer Koordinationssetzung der ursprünglichen vielen und mehreren Faktoren. Erhebt sich diese kausal-mechanische Betrachtung der Dinge zur Erkenntniskritik, so muß sie die naive und rein sensualistische Form aufgeben; die kausal-mechanisch wirkenden Glieder der unmittelbaren Innenerfahrung, aus welcher alle Erkenntnislehre, wie an der wirklichen Quelle schöpft, sind die innere Einheitsapperzeption des Bewußtseins oder der Ichheit und die ihr äußerlich gegenüberliegenden sinnlichen Erfahrungsmaterialien, als Nicht-Ichs. Die erkenntnistheoretische Grundfrage bleibt beständig die:  wie man den kausalen Zusammenhang der beiden scharf unterschiedenen Glieder im ursprünglichen Erkenntnisakte zu denken hat. 

Was der Rationalismus aus der Einheitsapperzeption des Denkens heraus  erzeugen  wollte, (ohne es freilich zu vermögen), nämlich das zu erkennende Objekt des Seins, liegt nun dem  formalen Empirismus  erkenntniskritisch  deutlich verschieden gegenüber  in den Stämmen, welche KANT stets  auseinander hielt  mit den Bezeichnungen von Sinnlichkeit und Verstand. Erkenntniskritisch war die Lösung des Problems nun KANT gegenüber immer darauf gerichtet: die recht erkenntnistheoretische Vermittlung für diese empirisch deutlich stark hervortretende  Verschiedenheit  der Faktoren aufzusuchen, indem man ganz richtig erkannte,  daß, wenn beide gegeneinander absolut inkommensurabel wären,  eine wirkliche Erkenntnis als Durchleuchtung unter ihnen nicht stattfinden könne. Allein von  der absoluten  Inkommensurabilität bis  zur dogmatisch völligen Konformität oder Parallelität derselben gibt es die schon in Kapitel 1 angedeuten Zwischenrufen, welche in einer kritiklosen Weise der sogenannte formale Empirismus übersieht, indem er sogleich dogmatisch nach der Unterlage einer Verbindung beider Seite und Glieder sucht, welche für die wesentlichsten Grunderfahrungen eine völlig gleiche universale und gemeinschaftliche Erfahrung und Basis streng voraussetzt.  -

Mochten die Existenzen der Außenwelt in allen  Qualitäten  noch so sehr verschieden sein von der subjektiven Apperzeption, welche dieselb in Vorstellungsbildern erfaßt, eine ganz bestimmte, breite, unantastbare und gemeinschafliche Beziehung ist für beide Erkenntnisfaktoren dogmatisch fest gegeben und erschließbar. Sieht man genauer zu, welche Beziehung eigentlich gemeint ist, die zu einem solchen Schlußverfahren auffordert, so erkennt man hier, daß es die substanzielle Grundlage der Quantität (von Raum und Zeit) ist, die gleichsam als eine Klammer von den Empiristen herbeigezogen wird, um  A  und  B  dogmatisch parallel in einer ansich festen Form zu verbinden. Weil sich in der subjektiven Innenerfahrung alles in den Formen von Raum und Zeit abspielt, muß auch die Außenwelt  X, so wird geschlossen,  an diesen subjektiven Formen teilnehmen, das unbekannte Ding ansich muß sich daher restlos in die Schlußform der Quantitätskategorie auflösen lassen. Die erkenntniskritische Faktoren von  A  und  B  liegen also diesen dogmatischen Schlußfolgerungen gemäß in einer gleichen und gemeinschaftlichen Ebene, und in dieser Hinsicht kann man sie also beide auch als eineinander konform und parallel betrachten. Die sich von hier aus ergebenden Konsequenzen wird man sogleich übersehen, wenn man die Lösung betrachtet, welche dieser sogenannte formale Empirismus dem Problem über den Zusammenhang von Leib und Seele zuteil werden läßt. Wenn unter  A  die Seele und unter  B  der Körper gedacht wird, so wird nun geschlossen, sind beide einander konform parallel und durcheinander erklärbar, d. h. der Erscheinungskomplex-Körper  stellt nur die äußere parallele Seite des Innenzusammenhangs dar,  den wir mit Seele bezeichnen. Diese Ansicht, so erkenntnistheoretisch ungenügend sie ist, wird doch heute vielfach verbreitet; man findet sie meist bei Naturforschern, welche Anstalten machen, sich auch bi zu einer Erkenntnistheorie zu erheben, mit der sie dann über den ordinären Materialismus zwar hinausgehen, aber mit dem letzten Rest von Sensualismus doch nicht brechen können. Könnte man die Stämme von Sinnlichkeit und Verstand erkenntnistheoretisch so leicht in eine Wurzel zusammennehmen, wie das hier in Bezug auf die dogmatischen Grundformen von Zeit und Raum die formalen Empiristen versuchen, so wäre damit das Erkenntnisproblem einer bequemen und leicht übersehbaren Lösung entgegengeführt. Allein so bequem und einfach liegt kritisch betrachtet der Sachverhalt doch nicht.

KANT, der alles  sehr scharf auseinanderhielt, mußte doch wohl seine Gründe gehabt haben, als er die Faktoren der Erkenntnis,  die wir  A  und  B  nannten, soweit voneinander trennte und inkommensurabel machte, daß ein  A : X  daraus zu werden schien. Will und wird man in der Erkenntnislehre schwerlich bei KANT stehen bleiben, so ist es doch sehr wichtig, daß den  formalen Empiristen diese als möglich angesetzte Kluft von neuem tief genug vor Augen geführt wird; denn sie wollen eben, wie eben gezeigt, sehr scharf geschiedene Faktoren in sehr bequemer und naiver Weise quantitativ voreilig durch einen bloßen Schluß verbinden.  Um demgegenüber die kantische Theorie zu illustrieren, gibt es kein besseres Beispiel, als den Hinweis auf die sinnesphysiologisch zugleich sehr lerreiche Konstruktion des Kaleidoskops. Auge und Spiegel stellen beim Schauen in's Kaleidoskop die Einheit der Apperzeption, die Kategorien und Sinne dar,  ihnen gegenüber liegt am andern Ende die Scheibe mit der Scheibe mit der Summe von wild durcheinandergewürfelten buntfarbigen Steinchen,  weclhe uns erkenntnistheoretisch in dieser chaotischen Form das sogenannte Sinnlichkeitsmaterial der Außenwelt als raumzeitloses  X  repräsentieren. Kann man sich etwas gegeneinander Verschiedeneres und Übereinstimmungsloseres denken, als die Geartung dieser auseinandertretenden Faktoren? Spiegel und Auge geben allein die kontinuierlich klare raumzeitliche Form her, zu einem ihnen fremden und ansich ganz formlosen und diskontinuierlich verworrenen Material. -

Ist die Annahme bezüglich der von KANT betonten Divergenz, und wenn wir so wollen, unterschiedlichen  Fremdheit  zwischen Sinnlichkeitsmerkmal und der klaren kategorialen raumzeitlichen Apperzeptionsform so ganz unbegründet im Hinblick auf die physiologischen Tatsachen? Niemand, der hier mit physiologischer Akribie verfährt, wird das finden können. Sehen wir uns nur oberflächlich einmal die physiologische Sachlage an, so werden wir mancherlei Bestätigungen dieser tiefen erkenntniskritischen  Auseinanderhaltung  der Faktoren finden. - Als was man auch die uns fremde Außenwelt, welche als ein Material von physikalischen Reizen und Sinnesaffektionen uns gegenüberliegt, betrachten mögen, immerhin muß zugestanden werden, daß die Summe der hier bestehenden, sich unendlich häufenden, und an so vielen Punkten sich völlig durchkreuzenden, Wirkungen und Gegenwirkungen ansich nur eine große Reihe von teils beharrlichen, teils veränderlichen Schwingungswirbeln bilden, die ein Aggregat von teils kontinuierlichen, teils wieder unterbrochenen und diskontinuierlichen Reizmaterialien darstellen. Da so viele unzählige Stimmen tatsächlich draußen wirr durcheinander reden, wie sollte wohl (wenn wir die Reizwelt ansich betrachten) darin eine ansich schon feste Ordnung, wie Raum und Zeit angetroffen werden. Mag es auch vielleicht nicht  der absolut zufällige und rein sinnlose Wirbel sein, der sich der Auffassung gegenüber stellt, so doch immerhin etwas dem sehr nahe kommendes.  Nehmen wir zu diesem  X  den  Körper und die Sinne hinzu,  so mag freilich hierdurch schon eine etwas größere Ordnung in dieses ansich wirre Gesamtmaterial von den geordneten Gehirnteilchen hineininterpretiert werden. Aber auch hier muß, wollen wir recht genau sein, zugestanden werden, daß diese zunächst erzeugte, und ansich noch immer dem Zufall und starken Irregulationen nicht entzogene Ordnung, doch nur ein vages raumzeitliches Schema repräsentiert, das so wie es ist,  noch nicht dasjenige Bild darstellt,  das später die hinzukommende Form des Intellekts mit seiner Einheitsapperzeption von Raum und Zeit herstellt. Die ansich  noch vage Sinnesordnung,  mag sie nun in den Sinnen selbst, oder was physiologisch wahrscheinlicher ist, in den Zentralteilen, d. h. vorzugsweise im Gehirn erzeugt werden, in welcher wir zunächst nichts als eine eigentümliche Interpretation des äußeren Reizmaterials, vollzogen durch die physischen Ganglienzellen erblicken können, nennen wir in Bezug auf ihren erkenntnistheoretischen nocht unvollkommenen  Charakter von Raum und Zeit das Schema.  Ihm gegenüber steht die alsdann hinzukommende Einheitsapperzeption des Intellekts, welche aus dem Schema die fertige raumzeitliche Sinneserfahrung erst herausarbeitet. Man muß sich hier genau alle Vorgänge und Eventualitäten, sowohl erkenntniskritisch, wie physiologisch vor Augen führen, um die Geburt des eigentlichen letzten und vollendeten Erkenntnisaktes in seinem tiefsten Wesen zu begreifen. Manche Erkenntnistheoretiker, die im kantischen Sinne interpretieren, (ich erwähne unter ihnen nur einen der besten und hervorragendsten, nämlich ALOIS RIEHL in Graz) machen sich die Klarlegung des hier statthabenden Aktes des Apperzeption freilich sehr leicht. Sie stellen sich das Material des Schemas als nächsten Erkenntnisinhalt, wie eine stark veränderliche und bewegt fluktuierende, meist vom Zufall beherrschte Masse  = X  vor. Den Nachdruck hierbei legen sie auf den im ganzen noch  zufälligen  Wechsel. Die hinzukommende Einheitsapperzeption als den inneren und wichtigsten Erkenntnisfaktor aber stellen sie sich dem entgegen nun vor als ein schlechthin beharrliches  A,  dieses gibt ihnen daher die ansich feste substanzielle Form her, welche sich mit dem Wechsel des schematischen Inhalts mischt, hiermit aber diesen hemmt und bindet, so daß durch seine hinzutretende Form der  beharrliche Wechsel erscheint,  der das  X  subjektiv überwindet, um so die feste substanzielle Grundlage für die jetzt geborenen festen Anschauungs- und Verstandesformen zu bilden. Gegen diese scheinbar einfache Darstellung des zustandekommenden Erkenntnisaktes erheben sich indessen physiologisch und erkenntniskritisch folgende Bedenken. - Sicherlich ist nämlich das  im Gehirn  aus Reizmaterial sich kristallisierende, physiologische sogenannte Schema ansich, empirisch keine schlechthin vom absoluten zufälligen Wechsel und der einseitigen Veränderung beherrschte Masse. Denn immerhin wird wohl dieser Wechsel hier schon einigermaßen gezügelt und eingeschränkt werden durch die im Körper stattfindende rhythmische Blutzirkulation, und so sehr die Resultate derselben wieder verwischt werden mögen durch eine Summe von entgegengesetzten Einflüssen des Stoffwechsels, so kann man doch keineswegs im Hinblick auf diese physiologischen Daten behaupten, daß in den hier statthabenden Bewegungen ansich und allein der  rein zufällige Wechsel die absolute zügelloseste Herrschaft führt.  -

Andererseits wer gibt uns ein Recht dazu, die sogenannte Einheitsapperzeption unseres Intellekts dementgegen ansich,  als ein schlechthin bloß Beharrliches zu denken?  Könnte denn in dieser Form selbst nicht wieder ein relativ  eigentümliches  Leben und Bewegen von Vorstellungen, Gefühlen und Begehrungen stattfinden, um gleichsam einen relativ eigenen Gedankenstoffwechsel herzustellen, mit welchem sich die angenommene und vorausgesetzte reine Beharrlichkeit der Apperzeption aufhebt? Beachten wir das Gesagte, so haben wir also im äußeren Gehirnschema bereits einen relativ selbständigen beharrlichen Wechsel, und ihm gegenüber einen  ebensolchen  in den von hier aus relativ beeinflußten Gedankenfolgen der zum Teil selbständigen Einheitsapperzeption. Charakterisiert sich jener physiologisch am rhythmisch verlaufenden Blutlauf, und alles was sich bis zum Nervenprinzip hier daran anschließt, so diese (worauf ja FECHNER schon verwies) am Auf- und Abschwanken und Hell- und Dunkelwerden der Vorstellungsmassen im Wechsel von Schlaf und Wachen usw. - Der formale Empirist, der bis hierher gefolgt ist, wird vielleicht triumphieren, und an der beiderseitigen Formparallele des beharrlichen (rhythmischen) Wechsels im physiologischen Schema und in der sogenannten Einheitsapperzeption seine Konformitäts- und Parallelitätstheorie beider Faktoren sehr rasch anlehnen und befestigen. Doch gemach, übersehen wir nur wiederum nicht die relative gegenseitige Selbständigkeit beider Erkenntnisfaktoren, die sich uns deutlich aufdrängt bei irregulären und pathologischen Formen, welche eine Reihe von negativen Instanzen bilden, um Einspruch zu erheben gegen die feste Übereinstimmung als substanzielle Konformität oder Parallelität beider Seiten. Vergessen wir doch vor allem nicht, daß sich der innere Gedankenwechsel mit dem äußeren physiologischen Stoffwechsel ganz gewiß niemals deckt,  da beide ansich nicht gemein haben und ganz verschiedenen Anstößen und Ursachen gehorchen.  Diese beiden gar nicht übereinstimmenden Faktoren werden sich also von vornherein  nicht begegnen, sondern viel eher wohldurchkreuzen,  dem äußeren  B X  wird sich das innere  A X  entgegenstellen, so daß der Rest  X  nach wie vor bestehen bleibt. Aber selbst jene oben angeführten Berührungspunkte von Schema und Apperzeptionsfolge, nämlich die des beiderseitigen  rhythmischen Wechsels,  führen sie so sicher darauf hin, daß der vorgefundene beiderseitige Rhythmus sich nur annähernd so verhält, wie zwei raumzeitlich gleichmäßig ablaufende Uhrwerke? Auch dies wird man nicht behaupten können. Im Gegenteil, oft genug eilt die Gedankenflucht, während der übrige Mechanismus des Körpers, selbst des zunächst beteiligten sogenannten Nervenprozesses, soweit wir ihn wenigstens physiologisch auffassen, dem ganz rhythmisch entgegengearbeitet. Pathologische Formen lassen sich vielfach herbeiziehen, welch eine strenge Parallel von Apperzeption und mechanischen Gehirnleben, sobald man jenen oben berührten Rhythmus beachtet, nicht ausfindig machen lassen. Warum einzelne Gehirnpartien, von der inneren Apperzeption hell erleuchtet, plötzlich aufleben, während andere, die in Schatten treten, ihre Form wechseln, um scheinbar in Traum und Schlaf zu fallen, und sich so an der bewußten Zeitfolge nicht mehr beteiligen, das läßt sich zunächst rein physiologisch gar nicht deutlich machen, eben weil eine ganz genaue und exakte Parallele zwischen  A  und  X  als Innen- und Außenwelt raumzeitlich nicht besteht, sondern eine  feine Differenz  zweier Welten waltet, die sich weder materialistisch noch umgekehrt spiritualistisch so rasch überbrücken und ausgleichen läßt, wie das die modernen formalen Empiristen so gern wünschten, um diese feste substanzielle Grundlage eines sogenannten Idealrealismus herzustellen, mit welchem Schlagwort man dogmatisch, gleichsam wie durch Zauber, das gestellte Problem zu lösen meint. - So bleibt es dann dabei, Schema und Apperzeption sind erkenntnistheoretisch, so nahe sie sich berühren mögen und so ahnungsvoll ähnlich sie sich entgegenkommen, doch gegeneinander etwas Verschiedenes und  wesentlich differenzielles.  Es sind und bleiben, eben weil sie sich beiderseitig gegeneinander hinwiederum stören und irregulieren können, um diese ihre Verschiedenheit wie in pathologischen Fällen untereinander gegenseitig zu erweitern, doch die beiden relativ selbständigen Faktoren  A  und  B  nicht aber die beiden in einer gemeinsamen physiologischen Ebene liegenden Parallelen  A'  und  A'',  die miteinander genau in ihren Vorgängen (fassen wir diese wie wir wollen) entsprechen und koinzidieren. Der sogenannte formale Empirismus, oder wie er von Herrn WUNDT bezeichnet wird, der Idealrealismus hat aber bekanntlich seinen stärksten Schlag erhalten, durch die Erschütterungen, welche die Axiome der Euklidische Mathematik erlitten haben, durch den Kritizismus und mathematischen Skeptizismus. Es ist hier nicht der Ort näher auf die hier zur Sprache kommenden Fragen einzugehen, und wir wollen uns an der Bemerkung genügen lassen, daß die mathematische Lehre des EUKLID nur ein Ideal, nämlich das der absoluten Ebene zur Geltung bringt,, es ist das über  alle Erfahrung und alle Realität hinausliegende Ideal  des mathematischen Idealismus, das sich hier mit der Lehre des PYTHAGORAS verbündet. Die absolut ansich fertige und hiermit unveränderliche Welt mit der in ihr ruhenden unveränderlich festen Ebene und den hierauf fußenden Grundaxen des Weltbaus steht im Hintergrund dieses Idealrealismus. Das wäre nun recht gut, wenn nur die  empirische Realität nicht widerspräche,  und sich die ansich feste und in sich absolut  unveränderliche Ebene  empirisch irgendwo an den Tatsachen aufweisen ließe. Sie läßt sich aber nicht nur eben  nicht  aufweisen, sondern die Erfahrung mit ihren Erscheinungen des Werdens, Veränderns, der Individuation, des Wechsels und der Störungen, stört auch die Realität der ansich  einen  Ebene, und läßt neben ihr deren  viele  individuell abweichende Ebenen und Gesichtskreise als empirisch gegeben erscheinen.' Doch können wir an dieser Stelle die Konsequenzen, die sich erkenntnistheoretisch mit den Annahmen eines schlechthin Einen und überempirisch Absoluten nach mathematischer Seite ergeben, hier nicht verfolgen. Urgieren wir nur, daß ein sogenannter Idealrealismus auf einer  solchen Basis  errichtet, ungefähr dasselbe wäre, wie etwa ein Individualmonismu, aus dem man den kausalen Mechanismus der Faktoren ausscheiden möchte, womit ein überempirisches Hirngespinst resultiert.
LITERATUR - Otto Caspari, Das Erkenntnisproblem [mit Rücksicht auf die gegenwärtig herrschenden Schulen], Breslau 1881
    Anmerkungen
    1) Die Grundprobleme der Erkenntnistätigkeit beleuchtet vom psychologischen und kritischen Gesichtspunkt. 1. Band: Die philosophische Evidenz mit Rücksicht auf die kritische Untersuchung der Natur des Intellekts. 2. Band: Die Natur des Intellekts im Hinblick auf die Grundantinomie des wissenschaftlichen Denkens. Berlin 1879, Bibliothek für Wissenschaft und Literatur.
    2) Die bis jetzt behandelten Probleme beziehen sich auf den Grenzbegriff, das sogenannte Ding ansich, die philosophische Evidenz und die Natur des Intellekts und ferner auf das Kausalitätsproblem.
    3) Der Verfasser hat die verschiedenen Stufen und die Arten der Koordinationen und Korrelativitäten genauer beschrieben in einem Aufsatz unter dem Titel "Die Philosophie der Darwinschen Lehre". Siehe Zeitschrift Kosmos, Seite 402f, Bd. 1, Jahrgang 1.