p-4p-4CaspariNeudeckerNelsonSteinRittelmeyerLuckaSchultz  
 
BERTHOLD KERN
Das Erkenntnisproblem
und seine kritische Lösung

[5/6]

"So ist jedes denkende Erfassen der Wirklichkeit von vornherein eine vereinheitlichende Beschreibung, die im Beziehen auf bereits Bekanntes, im Wiedererkennen, im Zuordnen zu bereits feststehenden Begriffseinheiten ihre Aufgabe sieht."

"Die englischen Sensualisten traten [im Gegensatz zum Vertrauen in das Denken] für die sinnliche Wahrnehmung ein, und von ihnen übernahm Kant die gegebene Empfindung als unantastbaren Untergrund aller Erfahrung, innerhalb und außerhalb derer nunmehr die objektive Gültigkeit der Denkergebnisse eine besondere Rechtfertigung erforderte. Noch einmal errang sich in der romantischen Periode das ungebundene Denken den Vorrang, um dann dem Positivismus zu unterliegen, der nur noch auf das sinnlich Gegebene schwört, die Denktätigkeit zu seinem Produkt herabwürdigt und ihren Inhalt möglichst aus der wissenschaftlichen Forschung auszuschalten versucht."

"Kant hat die Idee geprägt, daß wir in das Erfahrungsmaterial der Empfindungen den einheitlichen Zusammenhang, den Gegenstand, die ursächlichen Abhängigkeiten usw. nur hineindenken, daß die Natur als einheitliches Ganzes ein Formgebilde unseres Denkens ist."

"Eine gänzlich unmittelbare Wahrnehmung haben wir ja auch in den einfachsten Empfindungen nicht, auch sie enthalten ja bereits ein recht umfassendes, nur durch Einübung uns so vertraut und anschaulich gewordendes Urteil über die Art der Abhängigkeiten, auf die wir in unserem Denken stoßen."

"Bewußtsein ist sonach nichts anderes als das gattungsmäßige Kennzeichen aller geistigen Inhalte. Wollen wir aber diesen erkenntnistheoretischen Begriff psychologisch definieren, dann löst er sich auf in einen einheitlichen Zusammenhang von geistigen Inhalten, und dieser Zusammenhang wieder löst sich auf in einen Prozeß, der in einer untrennbaren Beziehung steht zum Gedächtnis. Bewußtsein in diesem Sinne ist die stete Tätigkeit des Beziehens aller früheren und späteren Erlebnisse aufeinander. Irgendein Vorgang wird zum bewußten Vorgang nur dadurch, daß er mit anderen Bewußtseinsinhalten in Beziehung gesetzt wird."


III. Abschnitt
Kritik der Erkenntnis

Haben wir auf dem bisher durchlaufenen Weg die Bausteine gefunden und gesammelt, die vorderhand unentbehrlich schienen, um das Erkenntnisproblem weiter zu verfolgen, so tritt nun die Aufgabe in den Vordergrund, sie zusammenzufügen und dabei ihren Erkenntniswert und ihr Tragfähigkeit zu prüfen. Der Aufbau erfordert aber mehr, er verlangt auch einen sicheren Einblick in das Ziel, dem er zu dienen hat, in den Anspruch, den wir an eine vollkommene Erkenntnis zu stellen berechtigt sind. Was haben wir unter Erkenntnis zu verstehen? welches ist der Wert unserer Erkenntnismittel im Allgemeinen? und was leisten uns die gewonnenen Bausteine im Besonderen, um eine solche Erkenntnis tatsächlich zu gewinnen? Das sind die kritischen Fragen, die ich hier im Sinn habe und zu beantworten gedenke, ohne sie grundsätzlich voneinander zu trennen.

Ich gehe dabei von der Voraussetzung aus, daßß es eine von unserem individuellen Denken unabhängige Wirklichkeit gibt, deren Erkenntnis wir erstreben. Diese Voraussetzung liegt ja bereits im Begriff der Erkenntnis, sie ist eine analytische Bedingung für die Aufstellung dieses Begriffs, ein Axiom, welches uns erst die Berechtigung gibt, ein Erkenntnisproblem anzunehmen und zu erörtern. Ohne sie würde Erkenntnis ja gleichbedeutend sein mit subjektiver Vorstellung. Gerade um den Unterschied aber zwischen subjektiver Vorstellung und objektiver Erkenntnis, um das Verhältnis dieser beiden Begriffe zueinander, um die Möglichkeit und Tatsächlichkeit von Erkenntnis handelt es sich im Vordergrund unseres Problems. Jene Voraussetzung bleibt für uns zugleich Frage, und als solche liegt sie, beweislos und des Beweises nicht bedürftig, dem Erkenntnisproblem zugrunde.

Unser gesamter Erkenntnisinhalt ist Begriffsinhalt. Der Begriff ist also das Erkenntnismittel, durch welches wir die Erkenntnis jener Wirklichkeit gewinnen, durch welches wir die Erkenntnis jener Wirklichkeit gewinnen, durch welches wir die Wirklichkeit wiedergeben. In der Bildung hierzu geeigneter Begriffe besteht der Erkenntnisvorgang; auf dem Weg der Begriffsbildung dringen wir in die Wirklichkeit ein, lösen wir sie in ihre Bestandteile und Zusammenhänge auf und begreifen damit diese letzteren. Es liegt hierin geradezu ein geistiges Betasten, mit dem wir ihren Inhalt analyisieren und bestimmen. Es sind die Verhältnisse ziwschen ihr und uns, die besonderen Arten dieser Verhältnisse, die wir im Begriff bestimmen und uns selber klar machen, es sind zugleich die Verhältnisse der Bestandteile untereinander, die wir so ermitteln und bestimmen. Wenn jene Wirklichkeit ihrer Qualität nach auch ihrerseits aus Begriffen bestände, könnten diese sich mit den Erkenntnisbegriffen decken und mit ihnen ein und dasselbe sein. Im anderen Fall aber dürfte sie uns ebensowenig als unerkennbar gelten; denn der Begriff bleibt immer ein Hilfsmittel unseres Denkens, mit dem wir sie erkunden und uns vorstellen. Die Unerkennbarkeit ihres wahren Wesens betonen oder auch nur dessen Erkennbarkeit als problematisch hinstellen wäre gleichbedeutend mit der Forderung, ohne Begriffe zu denken, und käme auf das grundsätzliche Mißverständnis einer intuitiven Erkenntnis hinaus, die dann auch keine Anschauungsformen enthalten dürfte, also ein völliges Nichts, ein Widerspruch in sich selbst sein würde. Wir müssen ohne solche Widersprüche daran festhalten, daß wir die Wirklichkeit mit Begriffen erfassen und daß wir sie nur mit solchen Begriffen erfassen können, die ihr von uns angepaßt sind und im Fortschritt der Erkenntnis immer enger angepaßt werden, daß unsere Begriffe sich nach ihr richten, sich nach ihr umbilden und ein richtiges Bild von ihr für uns entwerfen. Das unerkennbare Ding-ansich bleibt eine inhaltslose Verdoppelung unseres Erkenntnisinhaltes (vgl. oben Seite 50).

Dieser hier geschilderte Akt der Erkenntnis ist eine begriffliche Beschreibung des Wirklichkeitsinhaltes. Mittels der Begriffe beschreiben wir ihne ebenso für uns, wie wir ihn durch bildliche oder sprachliche Zeichen für Andere beschreiben würden. Die elementarsten und unmittelbarsten Formen der beschreibenden Begriffe nennen wir Empfindungen und unterscheiden von ihnen ohne sichere Abgrenzung konkrete und abstrakte Begriffe, Individual- und Gattungsbegriffe, je nachdem ihr Inhalt bestimmter oder unbestimmter, beschränkter oder umfassender ist usw. Derartige Unterscheidungen sind ein unwesentliches Beiwerk, welches auf die Verkennung des Wesens der Empfindung zurückführt. Immerhin ist in dieser zum Allgemeineren fortschreitenden Begriffsbildung ein Denkprinzip enthalten, welches unser Denken in seinem innersten Wesen kennzeichnet: die Zusammenfassung des Einzelnen zu höheren Einheiten und schließlich die Zusammenfassung des Gesamtinhalts unserer Erkenntis zu einem einheitlichen System.

Dieses Streben unseres Denkens nach Einheit ist derartig mächtig, daß uns eine Summe von Wissensinhalt erst dann als begriffen, eine Summe von Wirklichkeitsinhalt erst dann als erkannt gilt, wenn er zur systematischen Einheit in Unter-, Neben- und Überordnung seiner Bestandteile verarbeitet ist. Vielfach wird dieses Ergebnis als Erklärung bezeichnet und dann die Erklärung der ungeordneten Beschreibung gegenübergestellt. Das würde zulässig sein, wenn die einheitliche Ordnung und Zusammenfassung lediglich ein Werk unseres Denkens wäre, welches sich in Unabhängigkeit zur Wirklichkeit vollzieht. Indessen kontrollieren wir bei jeder solchen Ordnung und Vereinheitlichung das Ergebnis nicht nur an seiner inneren Widerspruchslosigkeit, sondern, sobald es sich nicht bloß auf reine Denkinhalte, sondern auf Wahrnehmungsinhalte bezieht, zugleich immer wieder anhand eines neuen, durch Beobachtung oder Experiment hergestellten Wahrnehmungsinhalts. Auch bei der Bildung höherer Begriffseinheiten (und Gesetzeseinheiten), bei aller einheitlichen Zusammenfassung suchen wir immer die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit herzustellen und aufrecht zu erhalten und lehnen uns möglichst eng an die Wirklichkeit an. Es ist deshalb richtiger, auch hierfür noch den Begriff der Beschreibung beizubehalten und die einheitlich geordnete, zu einem System verarbeitete Beschreibung als den Abschluß und das Ziel unserer Erkenntnis anzuerkennen.

Hierin liegt nicht bloß ein begrifflicher, sondern ein sachlich bedingter Unterschied. Denn wenn wir den Wirklichkeitsinhalt einheitlich zu beschreiben vermögen, wenn er die Vereinheitlichung zuläß, so muß diese selbe Einheit auch in ihm selber liegen. Das bestätigt uns die Erfahrung. Diese letztere ist insofern nicht ein bloßes, auf der rohen Wirklichkeit errichtetes Denkgebäude, sondern ein Erkenntnisgebäude, welches seine Unterlagen und zugleich seinen Grund und Ursprung in einer vom Einzeldenken oder auch vom Gattungsdenken unabhängigen Wirklichkeit hat. Ich komme damit auf einen Gedanken zurück, den ich bereits vorher (1) ausgesprochen habe, auf den Entwicklungsgedanken, der auch die für diese Seite unserer Erkenntnis gilt. Unser Denken steht ja nicht in einem duralistischen Schein der Wirklichkeit unabhängig und zusammenhangslos gegenüber, sondern hat sich unter ihrem erziehenden Einfluß zu dem entwickelt, was es heute ist, als ein Ergebnis der Menschheitsentwicklung, welches in jener von ihm unabhängigen Wirklichkeit wurzelt und von ihr seine Eigenart und in dieser auch den Zug zur Einheit eingeimpft erhalten hat, aber nicht in irgendeinem mystischen Sinn, sondern lediglich im Sinne einer notwendigen und fortschreitenden Anpassung an den Gegenstand der Erkenntnis. So ist die Übereinstimmung unseres Denkens mit der Wirklichkeit kein Zufall und kein Wunder, sondern ein naturgemäßes Ergebnis der intellektuellen Entwicklung der Menschheit und nicht bloß der Menschheit, sondern jedes beliebigen Denkens überhaupt.

Gibt man dies zu, ganz allgemein gesagt also die Abhängigkeit des Denkens vom Objekt, dann ist auch das systematische, das einheitlich ordnende und zusammenfassende Denken ein Beschreiben im vollen Sinn des Wortes und darf vom elementarsten Beschreiben der Einzelheiten umso weniger getrennt werden, als auch in diesem schon die Bildung und Anwendung der Empfindungsbegriffe die Grundfunktionen der Einheit, die Unterscheidung, Vergleichung und begriffliche Benennung eines Wahrnehmungsinhaltes, enthält. So ist jedes denkende Erfassen der Wirklichkeit von vornherein eine vereinheitlichende Beschreibung, die im Beziehen auf bereits Bekanntes, im Wiedererkennen, im Zuordnen zu bereits feststehenden Begriffseinheiten ihre Aufgabe sieht, bei der wissenschaftlichen Bearbeitung dieses Verfahren in einem umfassenderem Maßstab fortsetzt und ihre Aufgabe erst dann als vollendet betrachtet, wenn jeder Teil zu jedem anderen und zum Ganzen in eine begriffliche Beziehung gesetzt und dem Erkenntnissystem an richtiger Stelle eingereiht ist. Erst dann halten wir eine Beobachtung für gesichert, für mehr als subjektiven Schein, erst dann halten wir ihre begriffliche Bestimmung und Beschreibung für richtig, erst dann eine Erkenntnis für wahr. Mit einer derart wahrheitsgemäßen Beschreibung aber schließt alle unsere Erkenntnis ab, mit ihr haben wir das Urbild der Wirklichkeit erfaßt und begriffen, es nach allen Richtungen hin durchdrungen und auch seinem inneren Gefüge nach unserer Erkenntnis unterworfen. Wenn wir die Wirklichkeit nicht unter dem Gesichtspunkt des Seins, sondern unter dem des Geschehens beschreiben, dann tritt an die Stelle des Begriffs das Gesetz, an die Stelle des Begriffssystems das Gesetzessystem, wobei letzteres in einem Kausalgesetz seine beherrschende Spitze hat. Auch die Feststellung der Gesetze ist hiernach ein Akt der Beschreibung, die ihrem Wesen nach mit der begrifflichen Beschreibunng auf einer Stufe steht und von ihr sich nur durch einen grundlegenden Gesichtspunkt unterscheidet.

Will man darüber hinaus noch weiter fragen, etwa nach einem Grund oder einem Zweck der Welt, so sind das recht naive Anthropomorphismen, die immer erst dann ihren Ruhepunkt finden, wenn alles Sein und Geschehen nach Analogie des eigenen (individuellen) Geisteslebens gedeutet werden kann. Das ist auch die naive Auffassung des Begriffs "Erklären". Im wissenschaftlichen Sinn hat dieser Begriff allerdings eine grundsätzlich gleichartige Bedeutung: die Zurückführung alles Unbekannten auf ein bereits Bekanntes, die Einreihung alles Einzelseins in einer bereits bestehendes Begriffssystem und alles Geschehen in ein bereits feststehendes Begriffssystem, nur daß dieses Bekannte und Feststehende nich das subjektive menschliche Geistesleben mit seinen Gefühlen, Zwecken und Willenshandlungen sein muß, sondern derjenige Begriffs- und Gesetzesinhalt, den die Wissenschaft als objektives System der Wirklichkeit ermittelt hat. Der Unterschied zum "Beschreiben" liegt für das "Erklären" darin, daß ersteres auf das System und seine Vervollständigung hinzielt, während letzteres von einem System oder überhaupt von etwas Bekanntem oder bereits Festgestelltem ausgeht, um es auf andere, auf neu ermittelte Wahrnehmungs- und Gedankeninhalte oder auf die Ermittlung von solchen anzuwenden. Methodisch ist also das Verfahren des Beschreibens der induktive Weg zur Erlangung und Ordnung von Erkenntnissen, das Erklären dagegen der deduktive Weg, der nur den Erkenntniswert der ermittelten und in einer Beschreibung niedergelegten Tatsachen erhöht. Beschreibung und Erklärung ergänzen sich somit gegenseitig, ohne daß das eine im anderen aufgeht. Beiden haben ihren eigenartigen Erkenntniswert und sind dem Ausbau der Erkenntnis unentbehrlich. Es ist zuzugeben, daß sich der Unterschied zwischen beiden leicht verwischt, daß er in den mittleren Lagen wissenschaftlicher Forschung vielleicht auch gar nicht mehr festgehalten werden kann. Das tatsächliche Schwanken im Gebrauch jener beiden Begriffe und in ihren Definitionen ist also durchaus erklärbar und kaum gänzlich auszuschalten. Die Relativität unserer Begriffe ist auch hier zu berücksichtigen und trägt den Grund jener Doppelwährung in sich.

In diesem Zusammenhang aber ist nicht die Unterscheidung der beiden Begriffe dasjenige, worauf es ankommt, sondern nur die Einsicht, daß wir mit einer derart vollständigen Beschreibung, die alle Teile untereinander und mit dem Ganzen und das Ganze mit allen seinen Teilen in eine systematisch einheitliche Beziehung setzt, die Wirklichkeit erkannt haben, daß mit ihr unsere Erkenntnis ihren Abschluß findet und irreführende Ansprüche von unserer Erkenntnis fernzuhalten sind. Das Höchste und Letzte, worauf unsere Erkenntnis abzielt, ist das Gefüge und Getriebe der von uns vorausgesetzten Wirklichkeit und mit ihrer Beschreibung, die vom Einzelnen beginnt und zu dessen einheitlichem (begrifflichem und gesetzlichem) Zusammenhang aufsteigt, haben wir das Ziel aller Erkenntnis erreicht.

In welchem Verhältnis steht nun dieser, auf der Grundlage einer systematischen Beschreibung gewonnene und für die Erklärung zu verwertende, einheitliche Zusammenhang zur Wirklichkeit, sofern wir letztere als eine von unserem Denken unabhängige Wirklichkeit voraussetzen? Zwar habe ich grundsätzlich angeführt, daß die Möglichkeit einer solchen einheitlichen Zusammenfügung, wie sie in unserer Erfahrung tatsächlich vorliegt, und die Anpassung unserer Erkenntnisbegriffe an jene Wirklichkeit, zumal unter Berücksichtigung der Abhängigkeit unserer geistigen Entwicklung vom Objekt, den Schluß auf eine adäquate Beschaffenheit jener Wirklichkeit wohl rechtfertigen. Immerhin aber ist nicht zu verkennen, daß wir bei der Konstruktion eines solchen einheitlichen Zusammenhangs und des daraus entstehenden Erkenntnissystems doch von der unmittelbaren Wahrnhemung uns mehr und mehr entfernen und daß die Übereinstimmung unserer vermeintlichen Erkenntnisse mit der Wirklichkeit umso unsicherer wird, je weiter wir uns von ihr entfernen, je größer die Summe der Denkoperationen ist, mittels derer wir solche Erkenntnisse erlangt haben.

In der griechischen Philosophie stand im Vordergrund die Frage, ob die sinnliche Wahrnehmung oder das Denken zuverlässiger ist, ob die Wahrheit der Erkenntnis mehr durch das eine oder das andere verbürgt wird. Die großen Geister haben sich meist mehr für das Vertrauen zum Denken entschieden und ihm eine unmittelbare Beziehung zur Wirklichkeit zugesprochen. Es ist erklärlich, daß dieses Vertrauen gelegentlich auch überwucherte zum Glauben an eine unmittelbare Offenbarung und zum Gedanken an eine unmittelbare Intuition. In der Philosophie der Renaissance nahm diese Stellung die Mathematik ein, die schöpferisch freie Geistestätigkeit trat mit ihr an die Spitze der Erkenntnis, das quantitativ bestimmbare behauptete für sich die alleinige Wahrheit, die geometrische Methode den Vorrang vor der Erfahrung. Die englischen Sensualisten dagegen traten wiederum für die sinnliche Wahrnehmung ein, und von ihnen übernahm KANT die gegebene Empfindung als unantastbaren Untergrund aller Erfahrung, innerhalb und außerhalb derer nunmehr die objektive Gültigkeit der Denkergebnisse eine besondere Rechtfertigung erforderte. Noch einmal errang sich in der romantischen Periode das ungebundene Denken den Vorrang, um dann dem Positivismus zu unterliegen, der nur noch auf das sinnlich Gegebene schwört, die Denktätigkeit zu seinem Produkt herabwürdigt und ihren Inhalt möglichst aus der wissenschaftlichen Forschung auszuschalten versucht. Sollte nicht auch dieser Kreislauf eine Auflösung fordern und als zeitgemäß erscheinen lassen?

Gerade in der Gegenwart liegen alle diese Gegensätze unvermittelt nebeneinander. Auch heute wird die Frage erörtert, ob und mit welchem Recht die Mathematik auf die Wirklichkeit Anwendung zu finden vermag, ob zwischen beiden denn irgendeine Übereinstimmung besteht. Auch heute noch, wo die Chemie seit einem Jahrhundert mit ihrem Atombegriff arbeitet und mit ihm die glänzendsten Erfolge erzielt hat, wird gefragt und bezweifelt, ob den Atomen und ihren begrifflichen Abkömmlingen irgendeine reale Bedeutung zuzugestehen ist. Dem physikalischen Äther, der mechanischen Wärmetheorie, der kinetischen Theorie der Gase und der Aggregatzustände usw. wird ein erkenntnistheoretisches Mißtrauen entgegengebracht, weil sie aus dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung heraustreten und "nur" auf logischen Schlüssen beruhen. KANT hat die Idee geprägt, daß wir in das Erfahrungsmaterial der Empfindungen den einheitlichen Zusammenhang, den Gegenstand, die ursächlichen Abhängigkeiten usw. nur hineindenken, daß die Natur als einheitliches Ganzes ein Formgebilde unseres Denkens ist. Der Positivismus zieht sich deshalb vorsichtig von ihr zurück, während sich auf der entgegengesetzten Seite wüste Spekulationen entwickeln, die nach alten Mustern mit der natürlichen Zweckmäßigkeit beginnen und mit einem übernatürlichen Vitalismus und rationalen Gottesglauben enden. Denknotwendigkeiten werden hierfür geltend gemacht und diesen Denknotwendigkeiten eine Beweiskraft für die Wirklichkeit, ein der Erfahrung überlegener Erkenntniswert zugesprochen. Solche Denknotwendigkeiten liegen mit den Glaubenswahrheiten auf einem Gebiet und finden in KANTs Vernunftpostulaten ihre klassische Verbindungsbrücke, die neuerdings auch der amerikanisch-englische Pragmatismus mit Emphase betritt, indem er über alles Bisherige hinaus sogar die Wahrheit mit der Nützlichkeit identifiziert.

Alldem gegenüber gibt es nur einen Weg, um unsere Erkenntnis mit der Wahrheit zu verketten, das ist die immer von Neuem wachzurufende Erkenntniskritik. Mittels derselben habe ich gezeigt, daß Empfindung, Wahrnehmung und Denken ein und dasselbe sind, daß das Denken der Wirklichkeit nicht fremd und dualistisch gegenübersteht, sondern von ihr abhängig, von ihr bedingt und von ihr erzogen ist, daß also die Wirklichkeit es ist, an die unser Denken sich auch stetig weiter anzuklammern, mit der es unentwegt eine Übereinstimmung zu suchen und aus der es für seine Ergebnisse die Bestätigung fortgesetzt zu erbringen hat. Es kann nach meinen Ausführungen nicht zweifelhaft sein, daß widerspruchsloses Denken auch als solches zu Erkenntnissen führt, die mit der Wirklichkeit übereinstimmen, vorausgesetzt, daß letztere der Ausgangspunkt ist. Aber mit der Entfernung von ihr steigen die Gefahren des Irrtums, und bei aller Berechtigung einer Deduktion aus allgemeinen Begriffen und Gesetzen fällt doch immer ins Gewicht, daß solche hochliegenden Denkoperationen und reinen Denknotwendigkeiten ein gewagtes Spiel sind, die der kleinste Stein aus dem Gebiet der unmittelbaren Erfahrung zum Einsturz bringen kann. Wir dürfen aber bei alldem auch nicht vergessen, daß schon die unmittelbarste Empfindung ein Denken ist, und daß es keine Erkenntnis gibt, die nicht Denken ist, und keine Beobachtung, die nicht mit Denken anhebt und mit Denken endet.

Ich will auf das Beispiel des chemischen Atoms zurückgreifen. Mit diesem Begriff geht die Chemie unter die sinnlich wahrnehmbare Masse herab und zerlegt die denkbar kleinsten Massenteilchen in Elemente, auf deren Existenz sie schließt aus der Tatsache, daß stoffliche Massen von verschiedenartigen Eigenschaften und Wirkungen sich ineinander umwandeln. Die Gesetze dieser Umwandlungen stellt sie mit Hilfe des Atombegriffs fest und leitet die Eigenschaften der chemischen Stoffe aus der Lagerung und den Eigenschaften der Atome ab. Haben diese Atome nun irgendeinen Wirklichkeitswert oder sind sie nur ein nichtiges Ergebnis von Denkoperationen, die unternommen werden zwecks einheitlicher Erklärung der chemischen Vorgänge? Die Chemie hat nicht verfehlt, ihre Vorstellungen an der Wirklichkeit zu prüfen, sie hat mittels dieser Vorstellungen eine staunenswerte Macht über die chemischen Stoffe gewonnen und dadurch den Beweis erbracht, daß jene Denkoperationen, durch welche sie zu den Atomen gelangt ist, die Wirklichkeit richtig, jedenfalls relativ richtig, erfaßt haben. Hat die Chemie damit etwas anderes getan als wir alle, wenn wir die Naturvorgänge unter dem Begriff des Stoffs auffassen und den Stoff in denkbar kleinste Teile (die Moleküle) zerlegen? Der Stoff ist ein Denkgebilde, aus ihm sind in einem durchaus folgerichtigem Denkverfahren die Atome hervorgegangen. Sollten sie also weniger wirklich sein als der Stoff? was berechtigt uns zu einem solchen Schnitt durch die Denkergebnisse? Ich glaube: nichts. Die Erfahrung hat gezeigt, daß wir auch im Atombegriff eine gewisse Übereinstimmung mit der Wirklichkeit erreicht haben, mag diese Übereinstimmung auch einst einer noch besseren Übereinstimmung weichen.

Immerhin ist es berechtigt, bei aller Erkenntnis uns zu fragen, wie weit wir uns mit ihr von der unmittelbaren Wahrnehmung entfernt haben. Eine gänzlich unmittelbare Wahrnehmung haben wir ja, wie gezeigt, auch in den einfachsten Empfindungen nicht, auch sie enthalten ja bereits ein recht umfassendes, nur durch Einübung uns so vertraut und anschaulich gewordendes Urteil über die Art der Abhängigkeiten, auf die wir in unserem Denken stoßen. Vergleichen wir aber die Urteilslage, so finden wir, daß alle substantiellen (gegenständlichen, stofflichen), ein beharrliches Sein behauptenden Urteile wesentlich mehr Hilfsbegriffe und Denkvorgänge enthalten als diejenigen Urteile, welche nur die Vorgänge, nur den Fluß des Geschehens, um mit HERAKLIT zu reden, in ihren Bereich ziehen. Die Vorgänge sind im Vergleich zu einem beharrenden Träger des Geschehens das Ursprünglichere in der Wahrnehmung und Erfahrung. Damit kommen wir auf die Aktualitätstheorie zu sprechen, welche die Wirklichkeit, sie sie räumlich oder raumlos aufgefaßt, als einen Prozeß, ein Werden und Geschehen ansieht, die Natur als einen Zusammenhang von physischen, das Ich (die Seele, das Bewußtsein) als einen Zusammenhang von psychischen Vorgängen (von Denkvorgängen oder Erlebnissen). Jedenfalls ist es bemerkenswert, daß die Vorgänge und ihre gegenseitigen Beziehungen den Erkenntnisgrund bilden für den Begriff des Gegenstandes oder des Ich, nicht umgekehrt. Letzere fallen darum nicht aus der Wirklichkeit heraus, sondern bleiben rechtmäßige Begriffsbildungen, denen die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ebensowenig abzusprechen ist wie den ersteren, aber es erhellt sich, daß sich mit jeder Veränderung der gegenseitigen Vorgangszusammenhänge auch der Inhalt des zugehörigen Substanzbegriffs verändert und verschiebt. Insbesondere wird hiervon der Substanzbegriff des Ich getroffen. Aus der Identität der seelisch-geistigen Vorgänge mit den physiologischen Gehirnfunktionen geht ohne weiteres hervor, daß es erkenntnistheoretisch unzulässig ist, neben der körperlichen Substanz eine Seelensubstanz anzunehmen, daß vielmehr, wenn man schon den Subjektbegriff der Seele durchaus verwenden will, dieser Begriff mit dem Schwinden der seelischen Vorgänge im Tod und deren Unterbrechungen im Schlaf und in sonstigen Bewußtlosigkeitszuständen jedesmal hinfällig wird und der Ichzusammenhang dann nur noch als ein körperlicher, materieller aufgefaßt, daß nur dieser letztere als substantieller Zusammenhang gedacht werden darf.

Auf diese eine Substanz, die dem Begriff des ganzen Menschen, dem Begriff des einheitlichen, nicht in Körper und Seele zerfallenden Ich entspricht, sind demnach die gesamten menschlichen Attribute zu beziehen. Wenn wir diese Attribute nicht unter dem Zeitbegriff des Geschehens und Handelns, sondern unter dem zeitlosen Begriff der Kraft auffassen, so kommen wir zum Begriff der Anlage, der Fähigkeiten, der Vermögen. Eine solche Art der begrifflichen Auffassung ist durchaus berechtigt, sofern sie richtig verstanden und nicht diese Begriffe, wie auch die Kraft selber, wieder zu an und für sich seienden Dingen gemacht werden. Sie sind nur eine andere Form der Beschreibung von Vorgängen und ihres Zusammenhangs, eine Beschreibung, deren Eigenart in der Ausschaltung des Zeitbegriffs liegt. Die Berechtigung zu einer solchen zeitlosen Auffassung und Darstellung der Wirklichkeit ist genau dieselbe wie diejenige ihrer raumlosen Auffassung. Auch hier tritt zutage, wie frei wir in der Erkenntnis mit den Begriffen des Raums und der Zeit zu schalten pflegen; wir verwenden sie oder sehen von ihnen ab oder schalten sie aus, je nachdem es uns für den speziellen Sonderzweck einer Erkenntnis wertvoll und förderlich erscheint. Der alte Streit, ob in allen solchen Wendungen das eine oder das andere richtiger ist, findet seine einfache Lösung darin, daß hierüber nur die Zweckmäßigkeit entscheidet in Bezug auf Bestimmtheit, Schärfe, zusammenfassende Enge oder detaillierende Breite der Darstellungsweise eines gewonnenen Erkenntnisinhalts. Diese Vielseitigkeit der Darstellungsweise durch die Versteifung auf ein einseitiges Prinzip und durch Ausschluß aller anderen einschränken zu wollen, ist keineswegs eine Förderung unserer Erkenntnis, und die Praxis der Wissenschaften hat dem auch stets widerstrebt. Der Streit um die Richtigkeit der einen oder der anderen Auffassungs- und Darstellungsweise, um ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit beruth lediglich auf einer unrichtigen Deutung des Wesens unserer Erkenntnismittel. Denkökonomie (im Sinne MACHs) kann unter Umständen weniger zweckmäßig sein als die detaillierende Breite und wechselvolle Beleuchtung. Die Einheitlichkeit unserer Erkenntnis muß im Prinzip betont werden und im Hintergrund den festen Halt bieten, ohne doch deshalb die Vielseitigkeit der Auffassunsgmöglichkeiten auszuschließen oder zu unterdrücken.

Wir dürfen so z. B. auch von den vielberufenen Seelenvermögen reden, müssen aber dessen eingedenkt bleiben, daß es nur eine Ausdrucksweise ist, in der wir gewisse Wirklichkeitsvorgänge rubrizieren, in raum- und zeitloser Form darstellen und auf ein einheitlich gedachtes Ich beziehen. Diese Beziehung von Vorgängen auf ein einheitliches Ich, auf die Icheinheit, kann grundsätzlich nur stattfinden unter dem Begriff des Bewußtseins. Letzteres ist lediglich ein Ausdruck für die raumlose Einheit unter Abstreifung des im Ich enthaltenen Subjektbegriffs. Sobald die räumliche Ausdehnung fortfällt, ist eine inhaltliche Vielheit und Mannigfaltigkeit nur noch möglich, wenn sie als Bewußtseinsinhalt aufgefaßt und dargestellt wird. Unbewußte geistige Inhalte enthalten eine unklare und gänzlich unzulässige Vermischung raumloser und raumhaltiger Begriffsbildung und deshalb einen Widerspruch in sich selbst, der eine bestimmte Kennzeichnung ganz unmöglich macht und jede Vorstellungsmöglichkeit ausschließt. Sie sind auch tatsächlich nur ein Postulat des psychophysischen Parallelismus, der seine psychische Parallelreihe durch sie ergänzen zu müssen glaubt. Mit dem Parallelismusgedanken fallen sie selbst oder auch umgekehrt, an der Notwendigkeit ihrer Annahme erweist sich die Unhaltbarkeit des Parallelismusgedankens. Es mag zugegeben werden, da´sie mit den irrationalen Werten der Mathematik auf eine Stufe gestellt werden können, aber Erkenntnis kann nicht mit irrationalen Werten enden; wenn solche sich einschleichen, ist vielleicht die Rechnung richtig, aber ihre Ergebnisse haben keinen Erkenntniswert, und die Voraussetzungen, aus denen sie hervorgehen, bedürfen der Berichtigung. Die psychophysische Identität führt den Gedanken der unbewußten Vorstellungen auf den richtigen Weg zurück: sobald wir die raumlose Bewußtseinseinheit fallen lassen, müssen wir in Raumbegriffen denken und nur noch die körperlichen Äquivalente der Bewußtseinsvorgänge gelten lassen. Das ist eine methodische Forderung des Denkens, um den logischen der metabasis eis allo genos [unangezeigte Verschiebung der Bedeutung eines Begriffes durch Änderung der Gattung - wp], die Vermengung artfremder Begriffe miteinander, zu vermeiden.

Bewußtsein ist sonach nichts anderes als das gattungsmäßige Kennzeichen aller geistigen Inhalte. Wollen wir aber diesen erkenntnistheoretischen Begriff psychologisch definieren, dann löst er sich auf in einen einheitlichen Zusammenhang von geistigen Inhalten, und dieser Zusammenhang wieder löst sich auf in einen Prozeß, der in einer untrennbaren Beziehung steht zum Gedächtnis. Bewußtsein in diesem Sinne ist die stete Tätigkeit des Beziehens aller früheren und späteren Erlebnisse aufeinander. Irgendein Vorgang wird zum bewußten Vorgang nur dadurch, daß er mit anderen Bewußtseinsinhalten in Beziehung gesetzt wird. Hierin liegt auch die zunächst psychologische Erläuterung des seit KANT in immer größerem Umfang verwendeten Begriffs eines Bewußtseins überhaupt. Genau wie das individuelle Bewußtsein ist auch jenes, wenn es als Gattungsbewußtseins aufgefaßt wird, ein einheitlicher Zusammenhang von geistigen Inhalten, der über das individuelle Bewußtsein hinausführt und sich psychologisch auflöst in ein aktuelles Zusammentreten von Vorstellungen jenseits der Einzelbewußtseine.

Kehren wir von hier zur erkenntnistheoretischen Auffassung des Begriffs zurück, so wird er wieder zur logischen Bedingung oder zum raum- und zeitlosen Ausdruck für den einheitlichen Zusammenhang und für die objektive Allgemeingültigkeit von Vorstellungsinhalten, zu einem Ausdruck, hinter dem sich keinerlei metaphysische Subsistenz verbirgt. SCHUPPE hat diesen Begriff am richtigsten erfaßt, indem er die Gleichung aufstellt zwischen Bewußtsein und Denken. Der Unterschied beider Begriffe liegt lediglich darin, daß letzterer den Zeitbegriff einschließt und ersterer ihn ausschließt. Im Bewußtsein liegt statt des Zeitbegriffs aber der Kraftbegriff in einem durchaus sachgemäßen Zusammenhang (und damit auch der Begriff des Seelenvermögens). Es wäre jedoch eine durchaus fehlerhafte Auffassung, nun das Bewußtsein als Ausgangspunkt des Denkens, als dessen Ursache aufzufassen. Kraft ist niemals die Ursache eines Vorgangs, sondern immer nur ein Vereinheitlichungsbegriff für den Zusammenhang von Ursache und Wirkung, wogegen Ursache eines Geschehens stets ein anderes Geschehen ist. Den Begriff des Bewußtseins kritisch richtig zu stellen, was deshalb besonders geboten, weil er einen Zentralpunkt für jede Erörterung der geistigen Vorgänge, zugleich aber einen vielbenutzten Hebel für spekulative Anknüpfungen bildet. (3)

Von Neuem habe ich dabei auf psychologische Verhältnisse zurückkommen müssen und sie für die gegebene Erläuterung nutzbar gemacht, aber auch lediglich für die Erläuterung, ohne damit die grundsätzliche Trennung der Psychologie vom Erkenntnisproblem einschränken zu wollen. Bei aller Trennung aber ist darauf hinzuweisen, daß auch die Psychologie neuerdings eine spezifische Erfahrungswissenschaft geworden ist und als solche einen Inhalt umfaßt, der denselben Wert wie jede andere Erfahrung auch besitzt und deshalb eine wertvolle Grundlage auch für die Erkenntnisfragen bietet. Genügend habe ich ja die Notwendigkeit betont, von der Erfahrung auszugehen und immer wieder auf die Erfahrung zurückzugreifen, um an ihr die Ergebnisse auch der Erkenntniskritik zu prüfen und in ihr die Bestätigung zu suchen. In diesem Sinne ist neben der Naturwissenschaft auch die Psychologie eine unentbehrliche Unterlage für die Erörterung des Erkenntnisproblems. Nichtsdestoweniger bedarf der Psychologismus, der im Vorgang des Erkennens die Lösung der Erkenntnisfragen sucht, des Abweises. Ihm leistet die Zweideutigkeit des Begriffs "Erkenntnis" Vorschub. Der Vorgang des Erkennens und seine Analyse, sowie seine Beziehungen zu den physiologischen Funktionen der Sinnesorgane und des Zentralnervensystems sind psychologische Angelegenheiten und können mit den Hilfsmitteln der Beobachtung und des Experiments gelöst werden. Aber die Erkenntnistheorie in dem nun einmal herrschend gewordenen Sinn fragt als solche nicht nach dem Vorgang des Erkennens, sondern nach der vollendeten Erkenntnis, nach deren Quellen und deren Wert. Ihr Angriffspunkt sind die Ergebnisse der Erfahrung, ihre Methode Kritik, ihr Ziel die Feststellung der Begriffe, in denen wir die Erkenntnis niederlegen und die wir zur Fortführung der Erkenntnis benutzen. Wenn dagegen die Psychologie mit dem Anspruch auftritt, Erkenntnistheorie zu sein, so zersetzt sie den Erkenntnisbegriff und muß bestreiten, daß es ein wahres Denken gibt; denn die Wahrheit, um derentwillen wir das Denken Erkennen nennen dürfen, ist keine psychische Tatsache (3). Das Gebiet der Psychologie ist das erkennende Subjekt, das Gebiet der Erkenntnistheorie die Verbindungsbrücke zwischen jenem und dem Gegenstand der Erkenntnis, während der letztere selber den beschreibenden Wissenschaften anheimfällt (beschreibend im weitesten Sinne, wie ich ihn vorstehend entwickelt habe).

Jene Verbindungsbrücke aber, woraus besteht sie? Der Rationalismus sagt: aus Erkenntnissen des reinen Denkens, mit denen wir das Objekt überziehen und unterjochen. Der Empirismus sagt: aus den gegebenen Empfindungen, deren mechanisches Zusammenwirken unser Denken ausmacht oder zumindest leitet. Unentschlossen stehen auf der Brücke dualistisch vermittelnde Richtungen, die in der Brücke beide Materialien sich mischen lassen. Die kritische Stellungnahme dagegen darf sich hiermit nicht begnügen, sie muß weiter fragen nach der Tragfähigkeit der Brücke für die Wahrheit und nach ihren Stützen im festen Untergrund der Erfahrung. Vielleicht ergibt sich dann, daß es gar keine Brücke ist, sondern ein und dasselbe Land, in welchem Subjekt und Objekt nur eine andere Richtung der Betrachtungsweise bedeuten. Das allerdings ist es, wofür ich im Vorstehenden bereits eingetreten bin, und was weiter zu begründen und zu erläutern auch der Inhalt der nachfolgenden Untersuchungen sein wird.

Zunächst steht uns auch für diese Fragen der Weg der Erfahrung offen. Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, ist ja wohl heute ausnahmslos zugestanden. Aber vielleicht entspringt sie doch auch alle aus der Erfahrung. KANT hat dies bestritten und in seiner Kritik den vollgültigen Beweis hierfür anscheinend erbracht. Aber er ging bei diesem Beweis vom erkennenden Subjekt, vom Individuum aus. Und es erhebt sich die Vorfrage, in welchem Verhältnis das Individuum zum Inbegriff seiner Umgebung steht. Wir wissen, daß es mit dieser durch zahllose Fäden verknüpft ist und mehr, daß es selber nur ein Bestandteil seiner Umgebung ist. Nur unsere Denkfunktion des Unterscheidens ist es ja, die das eine vom andern trennt, während die Wirklichkeit als solche von jener Unterscheidung durchaus nichts weiß. Die Unterscheidung erlangt eine geradezu irreführende Macht durch die immer wieder zu betonende Relativität unserer Begriffe. Nehmen wir unseren Gesichtspunkt vom Ganzen aus, dann bleibt das Individuum ein bloßer Bestandteil seiner Umgebung. Erst dadurch, daß wir denkend unseren Standpunkt im Individuum nehmen, treten beide auseinander, wird das letztere selbständig, wird mittels der Unterscheidung eine Kluft und mittels des Vergleichs eine Brücke geschaffen, in welcher nunmehr auch die Verbindungsfäden eine künstliche Selbständigkeit erlangen. Diese letztere erzeugt dann die ebenso künstliche Trennung zwischen unserem Verstand und einer Außenwelt und die Frage, wie wir imstande sind, diese Außenwelt geistig in uns aufzunehmen, wie unser Denken die Wirklichkeit zu erfassen und zu erkennen vermag. Diese künstliche Trennung wieder aufzuheben und das Ansich des Wirklichkeitsverhältnisses wieder herzustellen, wird so zu einer besonderen Aufgabe der Erkenntniskritik, die all jene Unterscheidungen nur zur Erkenntnis zu bringen braucht, um damit gleichzeitig auch die Trennung aufzuheben.

Unsere Vernunft, unser *Verstand oder Geist oder Seele, unser Gehirn, kurz gesagt unser Ich ist ja ein Teil der unzerreißbaren Wirklichkeit und trägt ihre Grundbestandteile in sich, ist Geist von ihrem Geist und Stoff von ihrem Stoff, und Erkenntnis ist nur der logische Schritt von der Unterscheidung zum Vergleich, zum Vergleich des Teils mit dem Ganzen.

In physischer Auffassungweise heißt dies: Der natürliche Strom von Ursachen und Wirkungen, mag dieser Strom als mechanische Bewegung oder als dynamisches Kräftespiel oder als energetischer Ausgleich ausgebaut werden, durchzieht auch unser Ich und innerhalb dessen unser Gehirn. Innerhalb dieses Stroms entsteht in unserem Großhirnmantel eine zahllose Summe von Wogen und Wirbeln und Schleifen, die sich kreuzen, verstärken oder abschwächen, sich sondern und wieder vereinigen, sich modifizieren und gegenseitig ausgleichen. Bedeuten sie etwas anderes als das übrige Naturgetriebe? Liegt in ihnen etwas anderes als die Natur selber, als deren eigene Vorgänge, als deren wahres Wesen, als die unveränderte Wiedergabe und Weitergabe des Wirklichkeitsgeschehens? Lösen wir diesen Teil des Geschehens aus dem Gesamtgeschehen aus und kleiden es in die psychische Ausdrucksform, dann haben wir das, was wir Erkenntnis nennen. Es ist zuzugeben, daß die im Gehirn sich abspielenden Vorgänge nicht ein Ebenbild der Außenwelt sind, sondern nur die Art, in welcher der Zustand des Gehirns durch die Einwirkungen der Außenwelt verändert wird. Aber das Gehirn ist doch selber ein Teil dieser Welt und insofern ist dessen Veränderung auch ihrerseits ein Weltgeschehen und deshalb unsere Erkenntnis eine unmittelbare, geradezu intuitive Wahrnehmung des Weltgeschehens. So lehrt uns die vertiefte Verwertung der Erfahrung.

Wenn wir den Erkenntnisinhalt in psychische Begriffe fassen, dann müssen wir im Vergleich mit ihm auch die übrige Welt (wenn auch nur im logischen Prinzip) als psychisch denken. Dann aber springt die intuitive Wahrheit unserer Erkenntnis umso entschiedener hervor. In dieser Auffassungsweise würde es heißen müssen: unser Denken ist nur ein Teil alles Denkens, in diesem ist es enthalten, in ihm hat es seine logischen Bedingungen, seinen Ursprung, seine inhaltlichen Beziehungen; das Bewußtwerden dieser Beziehungen, d. h. ihr einheitliches Zusammenwirken innerhalb unseres begrenzten Ichs unter Mithilfe des Gedächtnisses, das nennen wir Erkennen oder in zeitloser Begriffsbildung Erkenntnis (als Endergebnis, als Enderfolg der Veränderungen, welche in jenem Prozeß unser geistiges Ich erfahren hat).

Es macht dabei gar keinen Unterschied, ob wir dieses Getriebe als einen aktiven oder passiven Prozeß auffassen; vom Gesichtspunkt des Ich aus ist dies alles Aktivität, vom Gesichtspunkt der Umgebung aus ist es passive Rezeptivität des Ich, vom Gesichtspunkt eines sowohl das Ich wie auch die Umgebung in sich fassenden Ganzen aus verschwindet dieser ganze Unterschied und taucht unter in der Relativität unserer Begriffe. Ebenso gleichgültig ist es, ob wir diesen Prozeß als Empfindung oder als Anschauung oder als Denken oder auch auch unmittelbare Intuition bezeichnen, all dies werden berechtigte, aber in eins zusammenfallende Ausdrücke; die Geschichte der Philosophie hat sich hier nur scheinbar zwischen Gegensätzen bewegt, die lediglich subjektive Unterscheidungen ohne jegliche objektive Bedeutung waren und lediglich einem verschiedenartigen Gesichtspunkt ihr Dasein und ihre Berechtigung verdanken.

Wichtiger aber ist eine andere Frage: Was bedeutet nun noch die Lehre von der "Erscheinung" im Unterscheid zu einem "Ding-ansich", die Lehre von der menschlich getrübten Erscheinung und dem unerkennbaren Ansich der Dinge? Auch diese Unterscheidung war und ist ein bloßes Verkennen des Sachverhalts, beruhend auf der begrifflichen Abtrennung des Teils vom Ganzen. Ein und dieselbe Wirklichkeit liegt im begreifenden Ich und der begriffenen oder zu begreifenden Umgebung. Beides ist ein und dasselbe. Unsere Erkenntnis ist der Form und dem Inhalt nach wahre und ungetrübte Erkenntnis der Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, wie sie an und für sich, wie sie unabhängig vom individuellen Denken ist.

Hat es also noch irgendetwas Wunderbares ansich, daß unsere Denkgesetze mit den Naturgesetzen übereinstimmen, daß die Wirklichkeit es ermöglicht, unsere Denkformen in sie hineinzudenken und sie mit unseren Denkformen und Denkbegriffen aufzufassen, daß ein weitverzweigtes Denk- und Schlußverfahren zu Ergebnissen führt, die mit der Wirklichkeit übereinstimmen und uns deren Tatbestand wahrheitsgemäß enthüllen? Diese Übereinstimmung, die uns durch die Rückkehr zur unmittelbaren Beobachtung, durch das Experiment und durch unsere Macht über die Natur immer von Neuem bestätigt wird, sie tritt uns nach dem Vorstehenden geradezu als logische Notwendigkeit entgegen, und der Begriff der Denknotwendigkeit findet hierin seine Begründung als Erkenntniswert auch hinsichtlich des realen Wirklichkeitsinhalts. Mit dieser Einsicht haben wir tatsächlich den Kern des Erkenntnisproblems erfaßt und ausgeschält. Indes, die Beweisführung lag hoch im Allgemeinen. Auch von ihr ist es deshalb geboten, wieder zurückzukehren zur unmittelbaren Erfahrung und in dieser die Bestätigung und Erklärung zu suchen und den gewonnenen Erkenntnisinhalt durch die Tatsachen der Erfahrung bis ins Einzelne hinein auszufüllen.

Eine solche Tatsache der Erfahrung, welche hier in allgemeiner Weise die Lücken ausfüllt, ist das bereits mehrfach von mir herangezogene Prinzip der natürlichen Entwicklung. KANT, obwohl er selber unter den ersten den Entwicklungsgedanken gefaßt hatte, war der damaligen Zeit entsprechend doch noch nicht in der Lage, ihn als durch Tatsachen begründet anzusehen und ihm eine derart durchgreifende Verwertung zu geben, um seinen erkenntniskritischen Gesichtskreis durch ihn zu erweitern. KANTs Standpunkt, der das denkende Individuum der Natur gegenüberstellt und demgemäß auch die Erfahrung nur als eine individuelle, höchstens als generelle im Sinne der menschlichen Wissenschaft ansah, mußte den menschlichen Verstand als eine von der Erfahrung unabhängige, sie erst ermöglichende Quelle der Erkenntnis in Anspruch nehmen. Der Begriff der Erfahrung war aber hierbei zu eng gedacht. Ihr Begriff erweitert sich schon wesentlich, wenn sie menschlich generell gedacht und mit der geistigen Entwicklung der Menschheit in Zusammenhang gebracht, wenn der Mensch der Gegenwart nicht zugleich auch als Urmensch gedacht, sondern eine aufsteigende Entwicklung seiner geistigen Beschaffenheit angenommen wird. Zu dieser Annahme reichte jedenfalls der kurze Rückblick in die historische Entwicklungsperiode nicht aus. Ihn konnte in wirksamer Weise erst die naturwissenschaftliche Deszendenzlehre [Abstammungslehre - wp] zum Durchbruch bringen, welche für den Gesamtkreis der lebenden Organismen eine ihre Arten und Gattungen verwischende Entwicklung erkennen ließ, die bis auf die Uranfänge des Lebens überhaupt zurückführt. Hier mußte auch der menschliche Organismus seinen primitiven Ursprung und seine ganze weitere Entwicklung maßgebend waren und diese letztere auch in steter Abhängigkeit unter ihrem Einfluß hielten, welche die Entwicklung herbeiführten und ihre Übereinstimmung mit den Bedingungen der Umgebung erzwangen.

Mit einer gewissen Vorliebe wird ja vielfach auch unsere geistige Entwicklung dem Gesichtspunkt des Selbsterhaltungstriebes unterstellt. Jedenfalls, wenn wir weiter und weiter in die niederen Stufen der Organismen herabsteigen, kann sie bis auf Spuren eines assoziativen Gedächtnisses von geringster Spannweite und darüber hinaus auf rein körperliche Reflexe und einfachste Reizaufnahmevorrichtungen zurückgeführt werden. Von dieser körperlichen Organisation wissen wir, wie durchaus sie von der Beschaffenheit der Umgebung und von deren Einwirkungen abhängig ist und mit ihnen sich umgestaltet. Wir gehen sicher nicht fehl, um von willkürlichen Konstruktionen ganz abzusehen, in der Annahme, daß auch die Entwicklung des psychischen Lebens, die vielleicht mit bloßen Körpergefühlen begonnen haben mag, doch in einer steten Anpassung an die Umgebung ihr eigentliches Wesen gehabt hat, durch Übung und Vererbung ihrer Spuren erhalten und übertragen worden und dem richtenden Einfluß der Umgebung dauernd unterworfen geblieben ist. So ist Anlage und Entwicklung auch in einem geistigen Sinn ein adäquates Erzeugnis derselben Wirklichkeit, der auch die höchsten geistigen Wesen als ihre Teile unlösbar einverleibt bleiben, ein Erzeugnis, in welchem Form und Inhalt nichts Verschiedenartiges bedeuten, in welchem nur durch eine gewaltsame Trennung die Form dem Subjekt, der Inhalt dem Objekt zugewiesen werden könnte. Beides ist im Sinne der Entwicklung als deren Ergebnis ein Gebilde, das im Mutterboden der objektiven Wirklichkeit seinen Ursprung, sein Urbild und seine Bestimmtheit hat. Und diese Entwicklung selber ist es, die wir in geistiger Begriffsbildung als Erfahrung bezeichnen, dies allerdings in einem über das Individuum und sogar über die Gattung hinausgehenden Sinn als "Erfahrung überhaupt" unter voller Beziehung des gesamten Begriffsinhalts auf das Objekt, als Erfahrung, deren Ausgangspunkt, deren richtende Bedingung und deren letztes Ziel in einheitlicher Gleichung die Wirklichkeit ist.

Mit alledem ist jedoch das Verhältnis der Erkenntnis zur Wirklichkeit noch nicht bis auf den letzten Rest erklärt, denn es bleibt immer noch die Frage übrig, wie jene Bestandteile der Wirklichkeit, die nicht ohne Weiteres in das psychophysische Identitätsverhältnis aufgehen, sich zueinander verhalten. Jene Bestandteile sind das sogenannte reine Denken, wie es in der Logik und Ethik vorzuliegen scheint, und derjenige Teil der Wirklichkeit, der sich nicht in psychischen Begriffen ausdrücken läßt. Das ist die Frage, bei der wir am Schluß des vorigen Abschnitts vorerst noch haben Halt machen müssen. Das Identitätsverhältnis war ja nur erwiesen für die Funktionen unseres Gehirns einerseits und für die Sinneswahrnehmungen und deren Zusammenhänge sowie für die Willensvorgänge andererseits. Jenseits dieser Grenze waren uns aber Geist und Körper und mit letzterem die unorganische Natur wieder auseinander getreten und die Frage offen geblieben, weshalb wir einen Teil des Weltinhalts nur mit dem Stoffbegriff auffassen und einen anderen Teil nur ohne ihn. Das ist die Frage, welche hier noch der kritischen Lösung harrt. Auch für sie aber eröffnet die Erfahrung uns den Zugang.

Inzwischen hat sich uns bereits der Begriff des Bewußtseins geklärt als das gattungsmäßige Kennzeichen aller geistigen Inhalte. Unter einem Substanzbegriff aufgefaßt, wird das Bewußtsein zum seelischen Ich, welches raumlos als absolute Einheit gedacht werden muß und als solche den unentbehrlichen Beziehungspunkt bildet für den Zusammenhang psychischer Inhalte. Diese letzteren haben somit stets den subjektiven Charakter von Erlebnissen, aus denen das Ich sich inhaltlich aufbaut, mittels derer es sein inhaltliches Wesen erlangt und sich auswächst. Auch das ist Denken. Gegenüber dem bloß erkennenden Denken wird aber jenes ichbildende Denken dadurch zu einem volleren Begriff, daß in ihm auch die Gefühle ihren Ursprung haben. Jedes Erkennen schließt die Beziehung von Empfindungs- oder sonstigen Gedankeninhalten auf ein Objekt ein, abgesehen davon, daß sie gleichzeitig auch inhaltliche Teile des Ichbestandes sind und bleiben. Werden solche aber lediglich auf das Ich bezogen und zugleich ihr Wert für den Ichbestand, für das Wohl und Wehe dieses Ichs beurteilt, dann entstehen die Gefühle, die sich als Freude, Liebe, Furcht und dgl., bei stärkerem Eindruck als Affekte, im elementarsten Sinn als Lust und Unlust darstellen. Auch die als Gefühle sich ausweisenden Urteile sind übrigens meist im Leben schon automatisch geworden (ähnlich den sinnlichen Empfindungen). Daß übrigens auch unsere Handlungen, sobald sie unter einem psychischen Willensbegriff aufgefaßt werden, auf diese selbe Icheinheit als den Träger jenes Willens bezogen werden müssen, bedarf nur der vorvollständigenden Erwähnung.

Damit habe ich den Berührungspunkt gekennzeichnet, wo die Begriffe Seele und Körper sich aneinander knüpfen, wo sie ineinander übergehen und - was besonders hervorzuheben ist - sich durcheinander mengen und die Grenze völlig verwischen. Diese Grenze ist nicht scharf, sondern weit sich hinziehend. Es ist das Gebiet der psychophysische Identität, innerhalb dessen die betreffenden Vorgänge sowohl raumlos (seelisch, geistig, immateriell) als auch räumlich (körperlich, materiell) aufgefaßt werden können, im ersteren Fall unter Beziehung auf das psychisch einheitliche Ich, im letzteren unter Bezug auf ein räumlich ausgedehntes, physisches Objekt (unseren Körper oder Leib). In der Wissenschaft wird darüber gestritten, was von alledem als geistig oder seelisch und was als körperlich bedingt anzusehen, was in psychische und was in materielle Begriffe zu fassen ist. Die physiologischen und psychologischen Grenzfragen, die Beurteilung des Instinkts, die Tierpsychologie und der moderne Gedanke an ein Seelenleben der Pflanzen, der Vitalismus, das Für und Wider gegen ein teleologisches Lebens- und Weltprinzip legen Zeugnis ab für den Umfang dieses zwecklosen Streits, der in der psychophysischen Identität seine anstandslose Lösung findet. Wie erwähnt, liegen aber jenseits der Grenzen, innerhalb deren eine solche doppelte Auffassung möglich ist und tatsächlich verwendet wird, Gebiete, in denen wir die Vorgänge nur raumlos, also psychisch auffassen oder sie nur räumlich und materiell darstellen. Es erhebt sich daraus die Frage nach dem Grund dieses Unterschieds. Ich könnte mich darauf beschränken nur die Tatsache festzustellen und es dabei bewenden zu lassen, daß die Entwicklung des menschlichen Denkens gerade diese Richtung eingeschlagen und bisher beibehalten hat. Aber die Gründe, weshalb sie diese Richtung einschlagen mußte, liegen offen vor Augen. Ich habe sich auch bereits gekennzeichnet als reines Zweckmäßigkeitsprinzip. Wo immer die Schwierigkeiten der räumlichen Auffassung sich überwinden lasen, neigen wir unbedingt zu ihr hin, weil sie die breitere und anschaulichere ist und bei wissenschaftlichen Untersuchungen in die Einzelheiten des Geschehens detailliertere Einblicke gestattet, so z. B. in der Erforschung der Sinnesvorgänge, der vegetativen Lebensvorgänge, der einfacheren körperlichen Bewegungskoordinationen. Wo aber diese Zusammenhänge verwickelter und weniger durchsichtig sind und die Schwierigkeiten der Auffassung, Beschreibung, Erklärung sich häufen, greifen wir unbedenklich zur psychischen Auffassung und vernachlässigen die materielle gänzlich, so z. B. bei den Gefühlen, Denkvorgängen, den Willenshandlungen, obwohl wir gegenwärtig nicht zweifeln, daß auch ihre materielle Auffassung grundsätzlich berechtigt sein würde, und obwohl die Wissenschaft um diese Art der Darstellungsweise sich mit Aufwendung aller Kräfte bemüht.

Diese Sachlage gibt uns die Fingerzeige für die weitere Beurteilung des Unterschiedes. Gehen wir unter die menschliche Organisation herab, so wiegt schon bei den übrigen Lebewesen (Tieren und Pflanzen) die räumlich-materielle Auffassung der Lebensvorgänge vor, weil wir deren psychischen Inhalt nur auf Umwegen durch unsichere Analogieschlüsse ermitteln können. Wenden wir uns aber weiter abwärts der unbelebten Natur zu, dann fehlt uns vor allem das einheitliche Ich, und dadurch wird uns eine psychische Auffassung der unorganischen Vorgänge zur vollen Unmöglichkeit. Wir sind deshalb hier auf die räumliche Auffassungsweise beschränkt und werden umso mehr auf sie hingewiesen, als die Sonderung eines Geschehens von unserem Ich von vornherein die Raumvorstellung wachruft und diese dann auch ohne Weiteres festhalten läßt. Umgekehrt aber ist es ebenso ersichtlich, daß für die Ermittlung des eigenen Ichs und seiner Erlebnisse die raumlos-psychische Auffassungsweise die unmittelbarere, die geschlossenere und durchsichtigere ist. Sie allein ist ja auch dem naiven Denken zugänglich, und die Geschichte der medizinischen Wissenschaft hat gezeigt, wie schwer es gewesen ist, hier den Weg zur räumlichen Darstellung überhaupt aufzufinden.

Gehen wir dem Unterschied noch weiter nach, so gibt es gemäß unserer Erfahrung tatsächlich nichts ,was nicht mit der Raumanschauung bearbeitet und erforscht werden könnte. In räumlicher Auffassung ist die Natur das Weltall, der Körper der ganze Mensch, beides ohne Lücken und ohne Rest.

Derselben Auffassung fügt sich auch der zentrale Knoten, in welchem alle Teile und Funktionen des Organismus ihre einheitliche Verknüpfung finden, das Gehirn. Millionen von Zellen und von Fasern und Fäserchen treten hier in eine gegenseitige Beziehung, um im Verein mit den peripheren Organen lückenlos und restlos all das zu leisten, was wir als menschliche Leistungen ansprechen können, die gesamte Lebenstätigkeit, die Vermittlung der Beziehungen zur Außenwelt, ihre Verarbeitung im Dienst des Organismus und dessen Einflußnahme auf die Außenwelt. Aber die wirkliche Darlegung all dessen aus dem Bau und der Tätigkeit des Gehirns heraus würde Menschenkräfte übersteigen, weil die räumliche Auffassung eine zu breite ist und wir mit Millionen von nervösen Bahnen und deren Verknüpfungen nicht mehr erfolgreich zu denken imstande sind. Wir ziehen deshalb die raumlose Auffassung, die psychologische Ermittlung des organischen Zusammenhangs und seiner Leistungen vor, welche uns die großen einheitlichen Züge jener Vorgänge und Leistungen in einem großzügigeren Bild vor Augen führt.

Anders aber liegen die Verhältnisse bei der umgekehrten Frage, ob auch alle körperlichen Vorgänge, und in weiterer Ausdehnung des Umfangs dieser Frage, ob auch alle Naturvorgänge sich im raumlosen Denken erfassen und ergründen lassen. Zu dieser Art der Auffassung gehört als Vorbedingung das einheitliche Ich. Dieses letztere aber kennen wir nur im eigenen Organismus. Und auch hier schon sind wir nicht gewöhnt, jede Art von Körperfunktion psychisch aufzufassen, und es drängt uns tatsächlich auch nichts dazu. Denn wo wir mit der räumlichen Auffassung auskommen, ist sie die vollkommenere und die leistungsfähigere, weil sie eben die breitere ist und als solche keine Grenzen für die Vertiefung bis ins unendlich Kleine kennt. Bisher haben wir deshalb als geeignet für die psychische Auffassung nur denjenigen Teil der menschlichen Leistungen angesehen, der im Bewußtsein seinen Ausdruck findet. Den Bewußtseinsvorgängen entsprechen in räumlicher Auffassung aber nur die Gehirnfunktionen und auch von diesen sogar nur die Funktionen des Großhirnmantels. Deshalb sind es die letzteren allein, welche unter den Lebensvorgängen des Organismus für eine psychische Auffassung geeignet sind und sich in psychischen Begriffen wiedergeben lassen.

Von den Bewußtseinsvorgängen (Denkvorgängen und Willenshandlungen) haben wir bereits gesehen, daß sie bei häufiger Wiederholung und Einübung automatisch werden und schließlich in das Gebiet des Unbewußten, des Mechanischen untertauchen, und daß wir sie dann nur noch der physiologischen (der räumlich materiellen) Untersuchungs- und Erörterungsweise unterwerfen. Dieser Übergang ist aber ein ganz allmählicher. Wir finden in ähnlicher Weise, daß wir einzelne Körperfunktionen, die sich der Regel nach unbewußt vollziehen, auch mit Zuwendung der Aufmerksamkeit verfolgen können und sie dadurch zu bewußten Willensvorgängen umgestalten (z. B. den Lidschlag der Augen, die Kau- und Schluckbewegungen und Vieles mehr.) In ähnlicher Weise gestalten sich die alltäglichen Reizeinwirkungen auf unsere Sinnesorgane, sobald ihnen die Aufmerksamkeit zugewendet wird, zu bewußten Wahrnehmungen von psychischem Charakter um. Auch im Gebiet der Gefühle finden sich solche Umwandlungen aus dem Physiologischen ins Psychische, so z. B. beim Geschlechtstrieb, der durch die bewußte Ausgestaltung der geschlechtlichen Anziehungsmomente zur psychischen Liebe mit ihren feinen Nuancierungen wird. Es ist ferner anzunehmen, daß auch in der auf- und absteigenden Reihe der tierischen Organismen für eine vergleichende Psychologie, soweit sie den Analogieschluß verwerten zu können meint, dieselbe Reiz- und Bewegungsvorgänge sich bei gewissen Organismen als unbewußte und rein körperliche, bei anderen als bewußte und psychische ergeben würden.

Das Wesentliche bei all dem ist die Feststellung, daß tatsächlich eine solche Übergangszone besteht und daß schon in ihr überall, wo bei größerer Verwicklung der Zusammenhänge die physiologische Auffassungsweise der Vorgänge uns Schwierigkeiten zu bereiten anfängt, wir zu ihr nicht mehr ein unbedingtes Vertrauen haben, sondern der psychologischen zuneigen. Diese Übergangszone ist es, die der wissenschaftlichen Untersuchung gefährlich wird und dem volkstümlichen Denken das Verhängnis bringt. Hier steht die Wissenschaft zweifelnd und streitend um die Frage, ob die Bedingungen des Geschehens psychische oder physische sind, und hier verfällt das volkstümliche Denken dem Wahn, daß Seele und Körper aufeinander einwirken. Für das Erkenntnisproblem dagegen liegt gerade in dieser Übergangszone der Hebel zu seiner Lösung. Sie hatte das Identitätsverhältnis erkennen lassen, sie hat uns die Mittel an die Hand gegeben zur Feststellung der Umstände, welche der Bildung zweier verschiedener Begriffssysteme, eines räumlichen und eines raumlosen, eines physischen und eines psychischen, zugrunde liegen, und sie hat damit den Knoten gezeigt und entwirren lassen, in welchem Geist und Stoff miteinander verknüpft sind, in welchem Denken und Naturgeschehen zusammenhängen, in welchem Erkenntnis und Wirklichkeit voneinander abhängen und ihr Inhalt in ein und dieselbe Wesenheit zusammenfällt.

In der Tat, wenn wir den Raumbegriff gebildet hätten, würden wir nur in raumlosen Begriffen denken können, die gesamte Wirklichkeit mittels psychischer Begriffe auffassen müssen und nur eine geistige Welt vor uns haben. Das, was wir jetzt als stoffliche Natur erkennen, wäre dann vielleicht unserer Erkenntnis nur insofern zugänglich geworden, als ihr Inhalt und dessen innerer Zusammenhang sich in psychische Begriffe hätte fassen lassen, oder der gesamte übrige Inhalt hätte uns als bloßer Gedankeninhalt gelten müssen, als solipsistischer Gedankeninhalt unseres Ich oder als Gedankeninhalt eines auch unser Ich in sich einschließenden Geistes. Andererseits, wenn wir nicht in raumlos psychischen Begriffen denken könnten, so gäbe es nur die stoffliche Natur, wäre aller Denkinhalt nur ein unlösbares Gewirr von nervösen Apparaten und deren Funktionen. Unser Ich verschwände und mit ihm das Denken selbst, wir wären unbewußte Maschinen in mechanischer Bewegung und anstelle der Erkenntnis träte das Verhältnis Reiz und Reaktion. Beide Fälle sind übrigens keine bloßen Hirngespinste meinerseits, sondern die tatsächlichen Vorstellungen, die als absoluter Idealismus und als Materialismus eine Geschichte von Jahrtausenden hinter sich haben. Im ersteren Fall gäbe es nur Erkenntnisinhalt, im letzteren nur eine vom Denken unabhängige und des Denkens bare Wirklichkeit. Daß es für uns beides gibt, verdanken wir unserem doppelseitigen Begriffssystem, welches wir weder dem Idealismus noch dem Materialismus opfern dürfen. Aber ebensowenig dürfen wir diesem Begriffssystem die Einsicht opfern, daß Erkenntnisinhalt und Wirklichkeitsinhalt ein und dasselbe sind.

LITERATUR - Berthold Kern, Das Erkenntnisproblem und seine kritische Lösung, Berlin 1911