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BERTHOLD KERN
Das Erkenntnisproblem
und seine kritische Lösung

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"Sobald wir über die naturwissenschaftlichen Auffassungsweise hinausgehen und begriffen haben, daß auch unsere Sinnesorgane ihrer Beschaffenheit und sogar ihrem Begriff nach bereits ein konstruktives Gebilde unseres Denkens sind, können wir nur noch nach dem unmittelbaren Verhältnis unserer Erkenntnisbegriffe (also auch der Empfindungen) zur Wirklichkeit fragen und nicht mehr unsere Sinnesorgane, auch nicht mehr unser Gehirn dazwischen einschieben, sondern lediglich die Gesetze unserer Begriffsbildung und ihrer Beziehung zum Gegenstand der Erkenntnis in Betracht ziehen."

"Die geschichtlichen Unterscheidungen einer sinnlichen, begrifflichen und intuitiven Erkenntnis kommen für uns nicht mehr in Frage, nachdem sich die Unterscheidungen zwischen Empfindung, Anschauung und Begriff als unhaltbar erwiesen haben. Das einheitliche Erkenntnismittel ist der Begriff, in den sich uns Empfindung und Anschauung aufgelöst haben."

"Der Einfluß der kritischen Philosophie ist durchaus maßgebend geworden hinsichtlich der Anschauungen über den materiellen Stoff. Auch die Naturwissenschaften bekennen sich heute wohl endgültig zu der Auffassung, daß ihr Stoff kein unmittelbarer Erkenntnisinhalt, sondern ein bloßer Denkbegriff ist, den wir in phylogenetischer und humaner Schulung gelernt haben als Grundlage für die Naturerkenntnis zu verwenden."


II. Abschnitt
Der Erkenntnisinhalt und seine Analyse
[Fortsetzung]
2. Der psychophysische Zusammenhang (9)

Die geschichtliche Entwicklung der Seelenfrage habe ich bereits beleuchtet (10).Hier bedarf nur noch der gegenwärtige Stand dieser Frage einer kurzen Erläuterung. Eine absterbende und eine noch im Aufkeimen begriffene, deshalb Kern und Gefüge, Trieb und Frucht noch nicht klar hervortreten lassende Theorie stehen sich schroff und anscheinend unvereinbar gegenüber. Erstere ist die Theorie der psychophysischen Wechselwirkung, die ihre abschließende Bearbeitung in einer wahren Standardarbeit von LUDWIG BUSSE (11) erfahren hat. Wenn auch die wissenschaftliche Psychologie den Substanzbegriff der Seele mehr und mehr fallen gelassen hat und ihre Untersuchung auf die psychischen Vorgänge beschränkt, so betrachtet die Wechselwirkungstheorie doch diese Vorgänge immer noch als ein selbständig den körperlichen Vorgängen gegenüberstehendes, zwischen sie sich einschiebendes Geschehen, derart, daß es mit jenem in eine ursächliche Wechselwirkung tritt. Sie sieht ein, daß dies mit dem naturwissenschaftlichen Grundgesetz einer geschlossenen Naturkausalität nicht vereinbar ist, bezweifelt deshalb die absolute Geltung dieses Gesetzes und dessen zureichenden Nachweis und bestreitet insbesondere dessen Anwendbarkeit für alle diejenigen Zusammenhänge, in denen pychische Vorgänge in Frage kommen. Das Gleiche behauptet sie von der Geltung des naturwissenschaftlichen Gesetzes von der Erhaltung der Energie und beruft sich neuerdings besonders auf die Erfindung einer psychischen Energie durch WILHELM OSTWALD als einer besonderen Teilerscheinung der nervösen Vorgänge.

Die Wechselwirkungstheorie steht gegenüber die Theorie des psychophysischen Parallelismus, welche in neuester Zeit mehrfach auch zusammenfassende Bearbeitungen erfahren hat (12). Dargelegt habe ich bereits (13), daß unter Wiederaufnahme eines kantischen Gedankens ALOIS RIEHL die volle Identität der vermeintlichen Parallelvorgänge vertreten hat, derart, daß für den Unterschied zwischen seelisch-geistigen und körperlichen Vorgängen ausschließlich die (subjektive oder objektive) Richtung der Betrachtungs- und Auffassungsweise verantwortlich zu machen ist. Diese Identitätsauffassung ist eine bemerkenswerte Fortbildung des parallelistischen Gedankens, insofern als sie dem letzeren eine bestimmtere Fassung und Begrenzung gibt und allerlei voreilige Verallgemeinerungen und belanglose Einwände, wie sie die Zwischenzeit hervorgebracht hat, von vornherein entwertet. Nur mit ihr brauche ich mich daher noch zu beschäftigen. Auch sie hat allerdings die Theorie noch nicht zu Ende geführt, sondern die Frage offen gelassen, wieso wir zu einer solchen doppelten Auffassungsweise kommen und worin ihre erkenntnistheoretische Wurzel liegt. Zumal RIEHL noch durchaus auf dem Standpunkt KANTs steht, daß den beiderlei "Erscheinungsweisen" ein von ihnen beiden verschiedener realer Vorgang zugrunde liegen muß (14). Die grundsätzliche Ausschaltung eines solchen unerkennbaren Etwas hinter unserem Erkenntnisinhalt habe ich vorstehend bereits zur Genüge unternommen. In der Tat ist die Überwindung jener Irrtümer KANTs die unerläßliche Vorbedingung für eine endgültige Erkenntnis des psychophysischen Zusammenhangs und insbesondere für eine stichhaltige Begründung und eine volle Durchführung der Identitätstheorie, für eine Umwandlung des Identitätsgedankens in eine Theorie, die sich in unsere Gesamterkenntnis einheitlich und unentbehrlich einfügt.

Auszuschalten ist auch die physiologische Mißdeutung von KANTs Erkenntniskritik, d. h. die Auffassung, als ob unsere Erkenntnis äußerer Dinge und Vorgänge und insbesondere die Entstehung derjenigen Erkenntnisbegriffe, die wir Empfindungen nennen, von unseren Sinnesorganen, ihrer Reizaufnahme und spezifischen Energie, abhängig wären. Diese Momente haben ihre Berechtigung ja doch nur innerhalb der naturwissenschaftlichen Auffassungsweise. Sobald wir aber über letztere hinausgehen und begriffen haben, daß auch unsere Sinnesorgane ihrer Beschaffenheit und sogar ihrem Begriff nach bereits ein konstruktives Gebilde unseres Denkens sind, können wir nur noch nach dem unmittelbaren Verhältnis unserer Erkenntnisbegriffe (also auch der Empfindungen) zur Wirklichkeit fragen und nicht mehr unsere Sinnesorgane, auch nicht mehr unser Gehirn dazwischen einschieben, sondern lediglich die Gesetze unserer Begriffsbildung und ihrer Beziehung zum Gegenstand der Erkenntnis in Betracht ziehen. Gehirn und Sinnesorgane stehen unter unserem gesetzmäßigen Denken, nicht über ihm, und ihre Funktionen sind ein sekundäres Bild, unter welchem wir die Denk- und Empfindungsvorgänge selber in räumlich materieller Form beschreiben, wenn wir uns nicht psychologisch, sondern physiologisch ausdrücken wollen. Doch bin ich mit diesem letzten Erläuterungssatz schon vorausgeeilt und muß zu seiner näheren Begründung auf spätere Teile dieses Werkes verweisen. Der kantische Phänomenalismus würde an desen Stelle gesagt haben: unserem Denken sind als dessen inhaltliches Urmaterial die Empfindungen gegeben, aus ihnen konstruiert unsere Denktätigkeit sich erst auf dem Weg der Raumanschauung und des Substanzbegriffs die Sinnesorgane und das Gehirn. Zur Widerlegung der physiologischen Mißdeutung genügt auch das und stimmt in dieser Hinsicht mit jenem Erläuterungssatz überein.

Aber auch die psychologische Mißdeutung des Erkenntnisproblems bedarf hier noch der Beseitigung. Psychologisch mag es durchaus berechtigt sein, für die besondere Beschaffenheit unserer Empfindungen, unserer Begriffe und der Art ihrer Verknüpfung zur vollinhaltlichen Erkenntnis unsere geistige Anlage in Anspruch zu nehmen und unsere Erkenntnis als eine menschlich gefärbte anzusprechen. Diesen Standpunkt bedingt allerdings der für die Psychologie notwendige Ausgangspunkt vom Individuum her. Das Erkenntnisproblem umschließ aber eine weitere, über die Psychologie und das psychologische Individuum hinausgehende Frage: woher jene Anlage? was bedeutet Anlage? Damit erst stellt sich die Erkenntniskritik auf den ihr zukommenden Standpunkt, von dem aus sie nicht nach dem erkennenden Individuum, sondern nach dem Erkennen als solchem, nach dem Wesen des Erkennens und zugleich nach seinem Geltungsbereich und seinem Wahrheitswert frägt. Wer erkennt, ist ihr gleichgültig gegenüber der Frage, was Erkennen überhaupt heißt, welches das Verhältnis ist zwischen Erkenntnis und Objekt, wie ein beliebiges Subjekt mit einem beliebigen Objekt in eine erkenntnismäßige Verbindung tritt. Die geschichtlichen Unterscheidungen einer sinnlichen, begrifflichen und intuitiven Erkenntnis kommen für uns nicht mehr in Frage, nachdem sich die Unterscheidungen zwischen Empfindung, Anschauung und Begriff als unhaltbar erwiesen haben. Das einheitliche Erkenntnismittel ist der Begriff, in den sich uns Empfindung und Anschauung aufgelöst haben, selbstverständlich der Begriff in allen möglichen Formen und Abstufungen vom klarsten und umfassendsten Denkbegriff bis herab zum bloßen Begriffsdifferential, vielleicht zur allerunscheinbarsten Emfindung oder Gefühlsempfindung, vielleicht auch nur zur automatischen Reaktion oder zur bloßen Reizaufnahme; das alles läuft ja schließlich nur auf fließende Unterscheidungen hinaus, bei denen auch die Grenze zwischen psychisch und physisch fließend ist. Erfassung des Objekts mittels des Begriffs, das allein ist es, was wir Erkenntnis nennen. Falls es noch andere Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt gibt, so nennen wir sie jedenfalls nicht Erkenntnis und brauchen doch gewiß nicht irgendwelche Möglichkeiten an den Haaren herbeizuziehen, um Wunder zu schaffen. Auch der geschichtliche Streit um eingeborene Begriffe (womöglich eingeborene und schlummernde Erkenntnisse) muß als psychologische Frage hier ferngehalten werden. Wohl aber kommt für uns das Erkenntnisproblem der Urspung der Begriffe in Betracht und zwar lediglich in dem Sinne, ob sie vom Subjekt frei erzeugt oder vom Objekt diktiert werden. Das ist der erkenntniskrritische Inhalt der oben gestellten Fragen. Und diese Frage habe ich oben unter Heranziehung des empirischen Entwicklungsprinzips (15) bereits dahin beantwortet, daß das Objekt der allgemeine Lehrmeister auf dem Weg der Erkenntnis ist, daß es die Begriffsbildung bedingt und entwickelt, daß sich allein nach ihm unsere Begriffe und Begriffsverknüpfungen richten. Das ist die empirische Lösung der erkenntnistheoretischen Frage nach dem Ursprung unserer geistigen Anlage und im Besonderen unserer Erkenntnisbegriffe, deren Geltungsbereicht und Wahrheitswert sich ohne Weiteres daraus ergibt.

Galt es bei alledem, den Weg zum psychophysischen Zusammenhang frei zu machen durch die Beseitigung der Klippen eines unerkennbaren Etwas hinter unserem Erkenntnisinhalt und hinter unserem erkennenden Subjekt (unserer Anlage oder Organisation), so gilt es nun noch weiter, auch innerhalb des Erkenntnisinhaltes Einkehr zu halten, uum der mißbräuchlichen Verwendung gewisser Grundbegriffe entgegenzutreten. Der Einfluß der kritischen Philosophie ist durchaus maßgebend geworden hinsichtlich der Anschauungen über den materiellen Stoff. Auch die Naturwissenschaften bekennen sich heute wohl endgültig zu der Auffassung, daß ihr Stoff kein unmittelbarer Erkenntnisinhalt, sondern ein bloßer Denkbegriff ist, den wir in phylogenetischer und humaner Schulung gelernt haben als Grundlage zu verwenden für die Naturerkenntnis und mit dessen Hilfe wir diese letztere immer weiter ausgebaut und allmählich zu einem geschlossenen Syste entwickelt haben, in welchem die Gesamtheit unseres Erkenntnisinhalts Aufnahme zu finden vermag. Dies erstrebt und die Berechtigung dazu nachdrücklich behauptet zu haben, was das Verdient der materialistischen Flutwelle zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie hat sich gebrochen an der Unfähigkeit des Materialismus, die Brücke zu finden zum Verständnis der geistigen Vorgänge. Und doch hat sie ihre Spuren hinterlassen und fortgewirkt bis zu dem erst in der Folgezeit gereiften Nachweis, daß alles körperliche Geschehen sich ohne Zuflucht zu den geistigen Vorgängen und ohne Rest erklären lassen muß aus rein physischen Bedingungen. Die ungemeinen und erfolgsgekrönten, wenn auch noch nicht einmal annähernd vollendeten Anstrengungen um die anatomisch-physiologische Auflösung des Gehirns und seiner Funktionen haben gerade in jüngster Zeit das Wesentlichste dazu beigetragen, um diese Ansicht zu befestigen und ihrem Ausbau die Zukunft zu sichern. Und all das unbeschadet der Überzeugung, daß der materielle Stoff nur ein Hilfsbegriff ist zur einheitlichen Bearbeitung und systematischen Ordnung all derjenigen Vorgänge, die der sinnlichen Auffassung zugänglich sind.

Ja, die Naturwissenschaften haben sogar selber zur Auflösung des Stoffs in einen sekundären Hilfsbegriff den eigentlichen Schlußstein geliefert. Diesen Schlußstein bildet die physikalische Elektronentheorie als eines der sichersten und bestbewiesenen Ergebnisse, welche jemals die naturwissenschaftliche Forschung zutage gefördert hat. Elektrische Ladungen im physikalischen Äther und deren gesetzmäßige Bewegung setzen die chemischen Atome zusammen und mittels ihrer den gesamten materiellen Stoff, der seinerseits nur ein substantieller Ausdruck für jene Bewegungsvorgänge ist, ein Sammelausdruck für die unendlich komplizierten, aber entwirrbaren Systeme von Bewegungssträngen, aus denen die gesamte physische Wirklichkeit besteht. Auf solche Formen und Systeme von Bewegungsvorgängen sind auch alle übrigen Eigenschaften oder Wirkungen der Materie zurückzuführen, das Licht, die Wärme, der Magnetismus, die chemische Verwandtschaft, der Schall und vermutlich auch die Anziehung und Abstoßung der Körper. Alle diese qualitativen Unterschiede treten zurück hinter dem sie gleichmäßig beherrschenden Prinzip der Bewegung, sie gehen ineinander über und verwandeln sich ineinander. Jenes einheitliche Prinzip könnte ebenso gut auch Licht oder Wärme oder vielleicht auch anders genannt werden. Daß es vorwiegend als elektrisches Licht bezeichnet wird, beruth nur darauf, daß die elektrischen Vorgänge vermöge ihrer Durchsichtigkeit und klaren Gesetzmäßigkeit wesentlich zu seiner Erkenntnis beigetragen haben und daß sie die feinsten und vielseitigsten Untersuchungsmittel für derartige Arbeiten bieten. Auch die chemischen Theorien der stofflichen Elemente, welche sich vor die Notwendigkeit gestellt sahen, von den Atomen auf noch einfachere Uratome zurückgreifen zu müssen, haben in der Elektronentheorie eine merkwürdige Stütze und Erläuterung gefunden. Das Elementarprinzip, die elektrische Ladung, ist allerdings ein dynamischer Begriff, aber irgendein Grundbegriff dieser Art ist eben unentbehrlich für die Anknüpfung der Bewegung, und es ist für die Erkenntnis ein wertvoller Zufall, daß hier der Kraftbegriff den Stoffbegriff hat verdrängen und ersetzen können.

Diese physikalischen Ergebnisse wiederum finden ihrerseits in der kritischen Philosophie eine außerordentlich durchsichtige Erläuterung. Das sinnliche Element der Naturwissenschaften ist die Bewegung. Zur Bewegung erfordert unsere Denkweise ein Subjekt, das sich bewegt. Dieses Subjekt wird gebildet durch den Begriff der Substanz als das in allem Fluß der Bewegung Beharrende, als rein begrifflicher Träger der Bewegung. Gemäß der Bewegung als räumlicher Veränderung muß auch diese Substanz zur räumlichen, zur raumhaltigen Substanz werden. Diese letztere, eine reine Resultante der Grundbegriffe des Raums und der Substanz, ist der Äther, der deshalb als Kontinuum, als ruhend und gewichtslos vorgestellt und erst im Verein mit dem Begriff der Bewegung zur Materie wird, dem diskontinuierlichen, bewegten und nun auch wägbaren Stoff.

Die Begriffe der Zeit, des Raumes und des Stoffes bilden ein Begriffssystem, auf welches sich der gesamte Inhalt der Naturwissenschaften grundsätzlich würde zurückführen lassen. Dies bedingt jedoch eine sehr breite und weitschichtige Darstellungsweise, die wesentlich abgekürzt werden kann durch die Heranziehung eines anderen Hilfsbegriffs, nämlich desjenigen der Kraft oder der Energie. Aus diesem Grund haben die beiden letzteren Begriffe eine umfassende Verwendung gefunden. Sie können tatsächlich den Stoffbegriff vielfach vertreten, und es würde sogar möglich sein, mittels ihrer den Stoffbegriff aus den Grundlagen der Naturwissenschaften theoretisch gänzlich auszuschalten, wie es seit GALILEI, NEWTON, LEIBNIZ die dynamischen Theorien und in neuerer Zeit die Energetik vielfach versucht haben, indem sie den Stoff durch Kraftpunkte oder durch räumlich zusammengeordnete Komplexe von Energien ersetzen. Die geschichtliche Entwicklung des Kraftbegriffs zeigt, mit welcher Mystik ihn die spekulative Richtung der Philosophie umgeben hat, und erst seit HUME, d'ALEMBERT und LAGRANGE hat eine strengere Erörterung dieses Begriffs Platz gegriffen, die ihn bestimmt und begrenzt hat als einen Hilfsbegriff unseres Denkens, der auf dem Kausalbegriff ruht und einen Beziehungsbegriff darstellt, in welchem Ursache und Wirkung zusammenfallen. Kraft ist nichts weiter als ein begrifflicher Ausdruck für das Maß und die Größe der Wirkung. Dasselbe gilt für den Energiebegriff, nur daß dieser außerdem bestimmt war, die qualitativen Unterschiede der Kraft auf einen einheitlichen, die Rechnung erleichternden Ausdruck zu bringen, in welchem der Bewegungswert (Arbeitswert) ohne Rücksicht auf die Bewegungsform sich in vergleichbarer Weise zahlenmäßig angeben läßt.

Erst der neuesten Zeit ist es vorbehalten gewesen, auch den Begriff der Energie wieder mit allerlei Mystik zu füllen und den gänlich unhaltbaren Begriff einer psychischen Energie zu schaffen, ihn völlig willkürlich in eine durchaus unzulässige Parallele und Äquivalenz zur physikalischen Energie zu setzen und eine Umwandlung von physischer in psychische Energie und umgekehrt zu behaupten. Die qualitative Energetik, der dieser Gedanke entspringt, stellt überhaupt einen offenkundigen Rückschritt dar, indem sie wieder qualitativ verschiedene Energieformen unterscheidet und diese sich ineinander umwandeln läßt. Sie verwechselt dabei den Energiebegriff mit der Bewegungsform, sie legt einem einfachen Zahlenwert qualitative Eigenschaften bei. Und nun noch dazu die "psychische Energie", die OSTWALD, ihr Schöpfer, mit den physikalischen Energien auf eine Stufe stellt. Als Brücke schaltet OSTWALD dazwischen eine spezifische Nervenenergie ein, die im Zentralorgan durch Transformation ihre materielle Natur teilweise abstreift und sich schließlich in reine immaterielle Energie verwandelt. Das sind leere Worte ohne Inhalt, von denen es nur wunderbar ist, daß die Anhänger der psychophysischen Wechselwirkung sie verwerten konnten und in ihr noch einen verzweiflungsvollen Rettungsanker finden zu können glaubten. Während der Dauer von Bewußtseinsvorgängen sollte ein Teil der physischen Hirnenergie auf kurze Zeit verschwinden, um in psychische Energie überzugehen und nachher sich wieder in eine natürliche zurückzuverwandeln. Wenn schon das Wort Energie auch für psychische Verhältnisse Anwendung findet, so bleibt Energie in diesem Sinne doch immer nur ein Sammelbegriff für Bewußtseinswerte, die aber doch niemals mit Bewegungsvorgängen vergleichbar und mit ihnen durcheinander zu werfen sind.

Ich will jedoch die Widerlegungen nicht fortsetzen, sondern geraden Wegs die Ermittlung des psychophysischen Zusammenhangs verfolgen und zu diesem Zweck nur die Grundlagen sichten, mit denen die kritische Ermittlung jenes Zusammenhangs zu rechnen hat.

Obenan steht hier der Grundsatz der geschlossenen Naturkausalität, d. h. eines einheitlichen Zusammenhangs der Natur unter dem Gesichtspunkt von Ursache und Wirkung derart, daß jeder Veränderung im Naturgeschehen eine zureichende Ursache (oder Ursachenkomplex) von lediglich physischem Inhalt zugrunde liegt, daß also jede Veränderung durch die physischen Bedingungen eindeutig bestimmt ist. Demgemäß erkennt die Physiologie natürliche Wunder, wie es das Eingreifen geistiger Ursachen in körperliche Vorgänge bedeuten würde, weder im Großen noch im Kleinen an, sondern hält am Grundsatz einer streng naturwissenschaftlichen Erklärung der Lebensvorgänge fest.

Diesem Grundsatz zur Seite tritt das Gesetz von der Erhaltung der Energie, dem gemäß bei allen Umwandlungen von Kräften in andere Kraftformen, bei allem Wechsel von Bewegung und Bewegungsfähigkeit der energetischen Größenwert unverändert bleibt, dem gemäß also, ganz allgemein gesagt, Energie weder aus der Natur verschwinden noch auch in ihr neu entstehen kann. Insbesondere die bedeutungsvolle Frage, ob das Energiegesetz auch für den lebenden Organismus in ganzem Umfang gültig ist, ist von der Physiologie in eingehendster Weise geprüft worden. Abgesehen davon, daß ROBERT MAYER (1842) das Gesetz der Untersuchungen über die Wärmebildung im tierischen Organismus gefunden hat, sind später RUBNER (1894) und ATWATER (1904) jener Frage mit geradezu unvergleichlicher Sorgfalt nachgegangen und haben in umfassenden und mühseligen (auch auf den menschlichen Stoffwechsel ausgedehnten) experimentellen Untersuchungen eine überraschende Genauigkeit und Übereinstimmung der Ergebnisse erzielt und in ihnen von Neuem den Nachweis erbracht, daß an der Gültigkeit des Energiegesetzes in seinem vollen Umfang auch für den tierischen und insonderheit den menschlichen Organismus kein Zweifel bestehen kann.

Beide Gesetze, das Gesetz der geschlossenen Naturkausalität und das Energiegesetz, obwohl schon von DESCARTES vorzeitig vorausgeahnt, sind allerdings erst lange nachher empirisch begründet und nur durch Induktion verallgemeinert, dann aber durch Beobachtung und Experiment immer weiter gestützt und gefestigt worden. Es heißt, diesen Ursprung und das Wesen jeder naturwissenschaftlichen Forschung verkennen, wenn zuliebe der psychophysischen Wechselwirkung diese Gesetze als ungenügend bewiesen, als unbeweisbar, ihre Verallgemeinerung als unverbindlich, ihre ausnahmslose Geltung als spekulative Voraussetzung hingestellt und mit diesen Einwänden bei einer Konkurrenz psychischer Vorgänge ihre Geltung eingeschränkt oder aber - in noch schlimmerer Verirrung - auf die psychischen Vorgänge ausgedehnt wird. Demgegenüber kann die Naturwissenschaft den hypothetischen Charakter ihrer gesamten empirischen Gesetze ohne Weiteres zugestehen. Alle jene Einwände aber stützen sich auf nichts anderes als Denkbarkeiten und Möglichkeiten und treffen nicht das Wesen der Sache. Jene Gesetze und Prinzipien sind die großzügigen und methodischen Führer gewesen, denen die Naturwissenschaft die außerordentlichen Erfolge ihrer jüngsten Zeitepoche verdankt, sie haben nie versagt, würden aber völlig wertlos werden und zu dem verderblichen Rüstzeug aller Dogmatik zu werfen sein, wenn ihre unbedingte Geltung auch nur durch eine einzige beweisbare Tatsache durchbrochen würde. Sollte etwa die psychophysische Wechselwirkung eine solche Tatsache sein? Ich bin der Ansicht, daß es hier viel näher liegt zu fragen, ob nicht vielmehr jene Wechselwirkung eine ganz andere wissenschaftliche Erklärung erfahren muß, als die naive Anschauung sie mutmaßt. Jedenfalls ist eine sachgemäßere Abfindung mit der Naturwissenschaft hierbei ganz unerläßlich.

Eine weitere gewichtvolle Grundlage für die Bewertung der psychischen Erscheinungen bildet die physiologische Lokalisationstheorie mit dem Nachweis, daß die geistigen Funktionen in streng differenzierter Art an die nervöse Funktion bestimmter Hirnstellen und bestimmter Assoziationsbahnen gebunden sind, daß diese in den geistigen Vorgängen unverkennbare Äquivalente von ganz bestimmtem Inhalt haben und daß derartige psychophysische Beziehungen für die Gesamtheit des Geisteslebens bis in feinste Einzelheiten hinein anzunehmen sind.

Unmittelbar schließt sich hieran eine andere empirische Tatsache an, nämlich die, daß während unseres gesamten Lebens geistige Vorgänge und geistige Fähigkeiten, nachdem sie erworben wurden, eingeübt und zur Gewohnheit geworden sind, automatisch werden und sich schließlich als unbewußte Vorgänge rein körperlich und rein mechanisch vollziehen. In der Vererbung, zumal beim Instinkt, kommt solchen automatischen Vorgängen eine fast noch größere Bedeutung zu. Sie beruhen auf der Bildung völlig ausgeschliffener Wegesysteme innerhalb des zentralen Nervensystems, die einen solchen Grad von Leistungsfähigkeit erlangen, daß jede sie treffende Erregung sofort durch sie hindurchgeleitet wird. So kommen verwickelte Reflexe, zusammengesetzte Handlungen und ganze Denkprozesse zustande, die unabhängig vom Bewußtsein lediglich in der eingeübten Weise verlaufen. Es ist dies ein Vorgang, welcher eine wesentliche Entlastung der geistigen Tätigkeit bedeutet und der Steigerung ihrer Leistungen ungemein dienlich ist, ein Vorgang, der in unserem geistigen und körperlichen Leben eine außerordentlich bedeutungsvolle Rolle spielt. Der Begriff eines "Unterbewußtseins" und der Begriff "unbewußter geistier Vorgänge" haben hierin ihre Wurzel. Nur leider sind unbewußte geistige Vorgänge ein ganz unhaltbarer, in sich selbst widerspruchsvoller Begriff, bei dem man sich nicht das Geringste denken kan. Unbewußte Vorgänge können wir nicht mehr als geistige auffassen, sondern lediglich als körperlich. Nur ihre Herkunft aus ursprünglich bewußten Denk- und Willensvorgängen hat jene falsche Begriffsbildung verschuldet. Gerade dieser Übergang bewußter geistiger Vorgänge in rein mechanische, die lediglich in der materiellen Gehirnfunktion ihre anstandslose und völlig zureichende Erklärung finden, gerade dieser Übergang, den wir innerhalb unserer eigenen Entwicklung in unendlicher Fülle und Mannigfaltigkeit erleben, gerade er liefert einen unumstößlichen Beweis für die unmittelbare Verwandtschaft der geistigen und der körperlichen Vorgänge. Nicht bloß eine Zuordnung, nicht bloß ein Parallelismus, sondern eine Umwandelbarkeit geht daraus hervor. Die unbefriedigende Formel des psychophysischen Parallelismus kennt nur eine Trennung der scheinbar so andersartigen Vorgänge, ohne irgendeine Art von Erklärung dieses Gegensatzes finden zu können. Aber der vermeintliche Gegensatz, die Andersartigkeit geistiger und körperlicher Vorgänge entschwindet uns unter den Händen, die Wesensgleichheit drängt sich uns unwiderstehlich auf, wenn wir vorurteilsfrei sind, um sie nicht durch falsche Begriffsbildungen, wie unbewußtes Denken und dgl. zu verdecken und uns selbst damit zu betrügen.

Setzen wir die gesamten vorerwähnten Grundlagen, die im Wesentlichen auf einem naturwissenschaftlichen Boden ruhen und der Erfahrung entnommen sind, zueinder in Vergleich und in Beziehung, so zeigen sie eine aufsteigende Stufenfolge zum Kern des Problems. Die grundlegenden allgemeinen Naturgesetze fordern die Erkenntnis heraus, daß geistige Vorgänge in das körperliche Geschehen nicht mit ursächlicher Wirkung eingreifen können, die Lokalisationstheorie stellt ein unmittelbares Zuordnungsverhältnis fest, welches dem Gedanken an einen Parallelverlauf berechtigten Vorschub leistet, und die Umwandelbarkeit der beiderlei Vorgänge ineinander läßt bis zur Annahme einer Verwandtschaft, einer Wesensgleichheit fortschreiten, welche in der Identitätsphilosophie bereits eine inhaltsreiche Vorgeschichte besitzt.

Erwägen wir rückblickend noch einmal die verschiedenartigen Vorstellungen, zu denen die Frage nach dem psychophysischen Zusammenhang Anlaß gegeben hat, - die absolute Trennung des Psychischen vom Physischen, den Parallelismusgedanken und die Identitätslehre mit ihrer Wiedervereinigung der getrennten Vorgangsreihen -, so werden wir mit besonderem Nachdruck auf die Frage nach der Art des Unterschiedes jener beiden Vorgangsreihen hingeführt und auf eine durchgreifende Analyse dieses Unterschiedes hingewiesen. Trotz ihrer grundlegenden Notwendigkeit ist diese Aufgabe jedoch bisher kaum beachtet und noch weniger in Angriff genommen worden. Die Schuld daran trägt das Vorurteil von der völligen Unvergleichbarkeit der beiden Vorgänge.

Treten wir an den Vergleich heran und gehen dabei vom Unterschied der Objektivität der einen und der Subjektivität der anderen Vorgangsreihe aus, dann läßt sich der Unterschied dahin bestimmen, daß wir im ersteren Fall unsere Vorstellungen auf einen außer uns befindlichen Gegenstand, in letzterem auf das eigene Bewußtsein beziehen. Objekt in diesem Sinne ist uns auch der eigene Körper, Subjekt auch das in einem anderen Individuum angenommene Bewußtsein. Die Beziehung auf ein außerhalb von uns Befindliches schließt von vornherein die Räumlichkeit ein, durch die ja ein Außerhalb erst möglich gemacht wird. Die Beziehung auf ein Bewußtsein hat mit Raumvorstellungen nichts zu tun; das Bewußtsein, das seelische Ich, ist eine raumlose Einheit. Das äußere Objekt ist eine räumlich-materielle, das seelische Ich eine raumlos-immaterielle Substanz. Der räumlichen Bewegung im materiellen Gebiet (insonderheit der Reizleitung in den nervösen Gehirnprozessen) entspricht im psychischen Vorstellungsbereich der raumlose Fluß der Gedanken. Ich brauche dem Vergleich nicht weiter nachzugehen, sondern aus ihm nur das Ergebnis zu ziehen, daß dem allen der fundamentale Unterschied zugrunde liegt, den die Verwendung der Raumvorstellung bedingt.

Welche Bewandtnis hat es nun mit der Raumvorstellung? Ich habe sie bereits einer eingehenden Erörterung unterzogen (siehe oben) und dabei gezeigt, daß der ganze geschichtliche Streit um sie schließlich gegenstandslos geworden ist, daß er auf ein und dasselbe hinausläuft: der Raum ist ein Hilfsmittel unseres Denkens, mittels dessen wir uns des Inhalts unserer Vorstellungen entäußern, mittels dessen wir - unter Mitwirkung der Begriffe der Substanz und des Seins - diesem Inhalt in räumlicher Darstellungsweise ein selbständiges, vom denkenden Subjekt unabhängiges Dasein zu geben imstande sind, sofern und soweit uns dies zur präzisen Bestimmung und Erweiterung unseres Erkenntnisinhalts als zulässig und als wertvoll erscheint. Der Raum ist somit der eigentliche Kern des ganzen physischen Begriffssystems. Mögen wir ihn im Sinne der Empfindung als unmittelbar beschreibenden oder im Sinne des objektiv einheitlichen, dreidimensionalen Raums als Kombinationsbegriff auffassen, mögen wir ihm zugestehen, daß er durchaus der Wirklichkeit angepaßt ist, so bleibt er doch ein Begriff, den wir - wie jeden anderen Allgemeinbegriff (z. B. Beweggung, Schwere, Farbe) - imstande und berechtigt sind zu Erkenntniszwecken zu verwenden oder nicht zu verwenden oder aus einem bereits gebildeten Erkenntnisinhalt wieder auszuschalten, d. h. diesen Erkenntnisinhalt einer vom Raum absehenden Betrachtungs- und Erörterungsweise zu unterwerfen. Wir verfügen erfahrungsgemäß so über zweierlei Begriffssysteme, ein räumlich-materielles (physisches) und ein raumlos-immaterielles (psychisches), und der Unterschied der physischen und der psychischen Vorgänge ist in dieser Hinsicht von unserer Begriffsbildung, von unserem Denken bestimmt. Damit haben wir eine weitere Grundlage für die kritische Beurteilung der psychophysischen Beziehungen gewonnen.

In Frage kommt nur, was der Anlaß zu dieser verschiedenartigen Begriffsbildung und Begriffsverwendung ist. Liegt er in einer Verschiedenartigkeit der realen Vorgänge oder wird ein und dieselbe Vorgangsreihe von uns nur in zweierlei Weise aufgefaßt und beschrieben? Ersteres behauptet als ihre unentbehrliche Voraussetzung die dualistische Wechselwirkungstheorie, die ja geistige Vorgänge mit ursächlicher Wirkung in das körperliche Geschen eingreifen läßt und umgekehrt. Ich habe aber jene Theorie bereits grundsätzlich zurückgewiesen, weil sie den naturwissenschaftlichen Grundgesetzen widerspricht und diese beliebig durchbrechen zu können vermeint zugunsten eines unbewiesenen Scheins. Es kommt also nur noch der zweite Weg in Betracht, der nicht die realen Vorgänge als ansich verschiedenartig ansieht, sondern ganz ausschließlich unsere begriffliche Auffassung für den räumlichen oder unräumlichen Charakter der Vorgänge verantwortlich macht. Die formelle Berechtigung dieses Erkenntnisweges, seine logische Zulässigkeit und Gangbarkeit, habe ich eben dargelegt. Inhaltlich hat uns auf ihn besonders der Umstand mit Nachdruck hingewiesen, daß unter dem Einfluß der Übung, der Gewöhnung, der instinktartigen Vererbung ein ständiger Übergang, eine ständige Umwandlung bewußt-geistiger in mechanisch-körperliche Vorgänge während der Lebensentwicklung stattfindet.

Wir haben hiernach nicht zwei in Wirklichkeit verschiedene Vorgangsgattungen, sondern nur ein und denselben realen Grundvorgang vor uns, den wir im Rahmen objektiver Naturbetrachtung in räumlich-stoffliche Begriffe fassen und als nervösen Gehirnprozeß durchforschen und beschreiben, im subjektiven Erleben dagegen auf unser raumlos-einheitliches Ichbewußtsein beziehen, als dessen Inhalt begreifen und in immaterielle psychische Begriffe fassen. Die Doppelgestalt der beiden Vorgangsreihen beruth also nur auf der Verwendung eines doppelgestaltigen Begriffssystems, deren jedes unter besonderen Umständen seinen besonderen Erkenntniswert besitzt, unsere Erkenntnis vertieft und vervielseitigt. In dieser Identität findet auch der Parallelismusgedanke seine erklärende Auflösung und Berichtigungf. In gleicher Weise wie die Vorgangsgattungen sind auch Seele und Leib identisch, ihre Substanz ist ein und dieselbe. Sie wirken nicht aufeinander ein, sondern zeigen immer dasselbe Verhalten aufgrund der Identität der psychischen mit den körperlichen Vorgängen. Ebenso gewinnt die Lokalisation der psychischen Funktionen im Gehirn durch jenes Identitätsverhältnis ihre volle Erläuterung.

Sehen wir uns daraufhin nun auch noch unsere übliche Denk- und Sprachweise an, so sehen wir, daß sowohl im populären wie im wissenschaftlichen Sprachgebrauch es sich eingebürgert hat, bald psychische, bald körperliche Begriffe in einem regellosen Durcheinander zu gebrauchen, trotzdem die Physiologie von Rechts wegen dagegen ankämpfen müßte und bei strengem Denken auch tatsächlich dagegen ankämpft. Wir lassen uns eben gehen und das mit gutem Recht. Denn die Auflösung des Gehirns und seiner Tätigkeit verursacht der Wissenschaft auch heute noch ganz unabsehbare Schwierigkeiten, die vermöge einer unräumlichen, einer psychischen Darstellung jener Vorgänge sich wesentlich einfacher gestalten. Die Forschritte und die Leistungsfähigkeit der Psychologie im Vergleich zur Gehirnforschung liefern den Beweis dafür. Es kann jedoch grundsätzlich keinem Zweifel unterliegen, daß der gesamte Inhalt der Psychologie sich auch räumlich in einer idealen Physiologie des Gehirns müßte wiedergeben lassen. Wo immer wir damit auch Schwierigkeiten stoßen, wenden wir uns ohne weiteres der psychologischen Ausdrucksweise zu, in der wir ein bequemeres und sprachgeschichtlich viel mehr entwickeltes Ausdruckssystem besitzen. Tun wir damit doch nichts anderes als beispielsweise die mathematische Wissenschaft, welche sich ebenso grundsätzlich für die Lösung höherer und verwickelterer Probleme von der räumlich geometrischen Darstellungsweise abwendet und dann nur noch mit raumlosen Größen rechnet und mit ihnen jene Probleme spielend löst. Ein schlagenderes Beispiel und eine bessere Rechtfertigung für unsere Handhabung des Raumbegriffs und seine beliebige Ausschaltung dürfte kaum von Nöten sein.

Mit dieser Erkenntnis löst sich auch der scheinbare und so lebhaft umkämpfte Widersprich zwischen Erlebnis und Theorie. Gewiß bewegt der Wille unsere Glieder, gewiß rufen äußere Reize Empfindungen hervor, aber wir wechseln bei dieser Ausdrucksweise fortwährend unsere Auffassungsweise und unser Begriffssystem. In rein physiologischer Ausdrucksweise führt die Bewegung unserer Glieder lediglich auf funktionelle Erregungen der motorischen Gehirnelemente und diese Erregungen auf die Zuleitung von äußeren und inneren Reizen zurück, zumeist nach einem verwickelten Gewirr von assoziativen und dissoziativen Zwischenvorgängen im Rindengrau, die wir in psychischer Ausdrucksweise als Denken, Fühlen, Wollen usw. bezeichnen. Das ist es, was wir "erleben", aber nicht das, was die Wechselwirkungstheorie darunter verstehen zu können meint, also nicht eine Wirkung psychischer Ursachen auf die Gehirnsubstanz und nicht einen Übergang von Gehirnfunktion in Empfindung. Die Wechselwirkung gewinnt durch diese Erkenntnis eben ein ganz anderes Gesicht, als jene Theorie sich hat träumen lassen. Das tatsächliche "Erlebnis" einer Wechselwirkung zwischen Psychischem und Physischem stellt sich in der wissenschaftlichen Erörterung als Begriffswechsel dar, welchen wir der bequemeren Auffassungs- und Ausdrucksweise zuliebe vornehmen, nicht aber als naturwissenschaftliches Wunder. Die Berufung auf das unmittelbare Erlebnis hat Recht und die Naturwissenschaft hat gleichfalls Recht, was falsch war, war nur gerade die Deutung des psychophysischen Zusammenhangs, die der Berichtigung bedurfte, um der Erkenntnis metaphysische Hindernisse aus dem Weg zu räumen.

Hiermit haben wir die erstrebte Einsicht in den psychophysischen Zusammenhang erreicht. Wir haben sie erreicht an einem engen Punkt, an unserem eigenen individuellen Wesen. Gerade hier aber liegen geistige und stoffliche Vorgänge so unmittelbar nebeneinander und greifen so unmittelbar ineinander, daß ihr gegenseitiges Verhältnis unserer Beobachtung unmittelbar zugänglich ist und daß wir uns mit Erfolg an die Erfahrung wenden konnten, um mittels ihrer kritischen Verwertung jenes Verhältnis zu durchdringen, zu analysieren und erkenntnisgemäß zu bestimmen. Es wäre aber voreilig zu glauben, daß wir damit schon das allgemeinere Verhältnis zwischen Geist und Stoff bestimmt und begriffen hätten. Daß der Stoff ein Denkbegriff ist, wußten wir ja bereits vorher. Es handelte sich vielmehr darum, zu ermitteln, weshalb wir einen Teil des Weltinhalts mittels des Stoffbegriffs auffassen und einen anderen Teil nicht. Diese Frage haben wir noch nicht gelöst, sondern lediglich festgestellt, daß für den engen Punkt unseres Gehirns jenes Identitätsverhältnis gilt. Nur für die Gehirnfunktionen haben wir ermittelt, daß wir sie einerseits physiologisch und materiell und andererseits psychologisch und immateriell (seelisch, geistig) aufzufassen imstande sind - aber ohne die Berechtigung, dieses Verhältnis auch auf die übrigen Körperfunktionen auszudehnen. Sogar in unserem eigenen Wesen weichen also Geist und Stoff schon wieder auseinander, umso mehr aber, wenn wir über unseren Organismus hinaustreten, und zumal, wenn wir das Gebiet der unorganischen Natur überblicken. Die noch höher liegende Frage nach dem Verhältnis zwischen Denken und Wirklichkeit, jener zweite Grenzpunkt, an dem KANT bei der Auflösung des Erkenntnisproblems hatte Halt machen müssen, sie liegt auch jetzt noch geschlossen vor. Immerhin aber sind wir ihr wiederum einen großen und vielleicht den inhaltsreichsten Schritt näher gekommen. Ich will im Folgenden untersuchen, wie er uns fortzuführen vermag.

LITERATUR - Berthold Kern, Das Erkenntnisproblem und seine kritische Lösung, Berlin 1911
    Anmerkungen
    9) Für den gesamten Inhalt dieses Teils verweise ich bezüglich seiner Begründung und eingehenderen Darlegung auf mein Werk "Das Problem des Lebens in kritischer Bearbeitung" (1909). Im obigen Zusammenhang habe ich nur die Ergebnisse in gedrängter Kürze verwertet, soweit sie für die Behandlung des Erkenntnisproblems unentbehrlich waren.
    10) vgl. oben Seite 15-22
    11) Ludwig Busse, Geist und Körper, Seele und Leib (1903)
    12) Ich erwähne unter diesen die hervorragend kritischen Bearbeitungen von Eisler, Leib und Seele, 1906 und Benno Erdmann, Wissenschaftliche Hypothesen über Leib und Seele, 1907.
    13) vgl. oben Seite 22.
    14) Alois Riehl, Der philosophische Kritizismus II, 2. 1887, Seite 201.
    15) vgl. oben Seite 57-59.