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BERTHOLD KERN
Das Erkenntnisproblem
und seine kritische Lösung

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"Dem naiven Denken, welchem Empfindung, Wahrnehmung, Erkenntnis als ein unmittelbar Gegebenes gilt, dem Inhalt wie dem Vorgang nach als unmittelbare Offenbarung erscheint, tritt das wissenschaftliche Denken schroff entgegen mit dem Nachweis, daß nichts von all dem gegeben, daß vielmehr alles - die einfachste Empfindung nicht anders als die umfassendste Erkenntnis - einen verwickelten Denkerwerb bedeutet."

"Gerade in der Gegenwart gilt die Empfindung als ein unmittelbar Gegebenes, als das eigentliche Element, aus welchem unsere Erkenntis schöpft und auf welchem als vermeintlich festester Unterlage sie sich aufbaut, während ängstlich die Gefahr gescheut wird, in der denkenden Verwertung jener Elemente all die Fehler und Irrtümer zu begehen, an denen die Geschichte der Philosophie und der Naturwissenschaften so reich ist."

"Die Entthronung der Empfindung und der Wahrnehmung von diesem angemaßten Platz im Vorrang vor dem Denken bildet eine der notwendigsten Aufgaben des philosophischen Fortschritts."

"Die Empfindung, wenn sie eingehender analysiert wird, ist als solche bereits ein verwickeltes Ergebnis des Denkens in der Beurteilung der Wirklichkeit, nur daß dieses Urteil durch Übung und Vererbung ein automatisches geworden ist, das nur deshalb uns als unmittelbar gegeben imponiert."

I. Abschnitt
Die geschichtliche Entwicklung
des Problems

Was ist, was bedeutet Erkenntnis? In diesem Sinne und in dem klaren Bewußtsein, daß hier der Knotenpunkt aller Philosophie gelegen ist, hat jene Frage erst in der kritischen Periode der Philosophie ihren Ursprung und ihre folgerichtige Untersuchung, hat sie in KANTs "Kritik der reinen Vernunft" ihre erste Beantwortung gefunden. Selbstverständlich war sie in wechselnden Formen auch in früheren Perioden philosophischen Denkens bereits aufgetaucht, aber ohne die Einsicht in den grundlegenden Charakter gerade dieser Frage. Dementsprechend war ihre Beantwortung eine mehr spekulative geblieben, die nur an den voreingenommenen Standpunkt der verschiedenen Denkrichtungen anknüpfte und von ihnen abhängig blieb.k Der Standpunkt selbst war lediglich bestimmt durch die Möglichkeit, von ihm aus einen einheitlichen Einblick in den inneren Zusammenhang des Denkinhalts zu gewinnen. Ohne daß die Berechtigung eines solchen Versuchs bestritten werden kann, mußte doch dieser denkbar allgemeinste Gesichtspunkt aller Erkenntnis, wenn er zum Ausgangspunkt genommen wird, die Bewältigung der Aufgabe in Frage stellen und zu all den Unsicherheiten, Zweifeln und Gegensätzen führen, wie sie in den unvermittelt nebeneinander stehenden und sich gegenseitig ausschließenden oder bekämpfenden Systemen geschichtlich zum Ausdruck gekommen sind. Zielbewußt und methodisch wurde die Untersuchung erst dann, als der Kampf um den Ursprung, die Wahrheit und den Geltungswert unserer Erkenntnis sich zu einem einheitlichen Problem verdichtet hatte und dieses Problem die Wissenschaft zu beherrschen begann, als die Erörterung der Ergebnisse der Erkenntnis logisch zurücktrat hinter der Frage nach dem Wesen der Erkenntnis selbst.

Es ist mir in dieser Schrift nicht um geschichtliche Darlegungen zu tun, sondern lediglich um die Lösung des Erkenntnisproblems, soweit sie gegenwärtig möglich ist, um den Weiterbau auf den geschichtlich errungenen Grundlagen. Immerhin aber erfordert der Weiterbau zunächst eine Beleuchtung dieser Grundlagen, eine Scheidung des Tragfähigen vom Morschen und Zerfallenen, und nur diesem Ziel sollen die geschichtlichen Erörterungen in möglichster Beschränkung gelten.

Dem naiven Denken, welchem Empfindung, Wahrnehmung, Erkenntnis als ein unmittelbar Gegebenes gilt, dem Inhalt wie dem Vorgang nach als unmittelbare Offenbarung erscheint, tritt das wissenschaftliche Denken schroff entgegen mit dem Nachweis, daß nichts von all dem gegeben, daß vielmehr alles - die einfachste Empfindung nicht anders als die umfassendste Erkenntnis - einen verwickelten Denkerwerb bedeutet, der einerseits vom Gegenstand der Erkenntnis und andererseits von der Tätigkeit des Erkennens abhängt.

Schon die ersten Regungen eines wissenschaftlichen Denkens, wie sie in den indischen Quellen der Upanischaden und des Vedanta-Systems und in der griechischen Urphilosophie zutage treten, haben die Bedeutung des Erkenntnisaktes gefühlt, wenn sie dem Grundsatz folgten, daß Gleiches nur durch Gleiches erkannt wird. Allerdings finden wir bei den ionischen Naturphilosophen noch keine bewußte Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Erkenntnis, aber sie suchen doch schon einen einheitlichen Grund jenseits der sinnfälligen Erscheinungen, einen beweglichen (lebendigen) Urstoff hinter den natürlichen Veränderungen, die Eleaten ein gleichartiges und gleichbleibendes, der Wahrnehmung nicht zugängliches Sein hinter dem Wechsel der Geschehnisse, die Pythagoreer die mathematische Harmonie der ordnenden Zahl hinter der scheinbaren Regellosigkeit der Natur- und Denkvorgänge. Sie verwechseln und identifizieren in naiver Divination [Heiligung - wp] dabei den Grund der Wirklichkeit mit dem Wesen unserer Erkenntnis, aber doch ist das Denken schon so weit erstarkt, um an seine eigene Wahrheit zu glauben, um die Unzulänglichkeit der bloßen Wahrnehmung zu empfinden, um die sinnliche Eigentümlichkeit der Wahrnehmung und eine unsinnliche Wirklichkeit auseinandertreten zu lassen. Die Pythagoreer in ihrem mathematischen Denken stempelten so die immaterielle Zahl, wenn auch als räumliche Substanz gedacht, zum Wesen der Form, durch welche die Zusammensetzung der Dinge bestimmt wird, und zugleicht zum Wesen des Stoffs, aus dem sie bestehen. Das Übergewicht des Denkens über die sinnliche Wahrnehmung tritt aber noch mehr hervor in jener indischen Glaubensphilosophie, welche die Welt mit ihrer sinnlichen und räumlichen Mannigfaltigkeit als eine Täuschung, als eine bloße Vorstellung innerhalb unseres eigenen Selbst ansah und alle objektive Wirklichkeit auf die Wirklichkeit der alles umfassenden Weltseele Brahma zurückführte. Dieses Übergewicht des reflektierenden Denkens, welches zu einer solchen Verflüchtigung des Substanzbegriffs führen konnte, ist ein bemerkenswertes Zeichen für die ersten Regungen eines philosophischen Geistes, der aus der Subjektivität herausstrebt, um jenseits des Einzelnen und Vielheitlichen das einheitliche Ganze der Welt und in ihm deren Urwesen zu erfassen.

Von einem nachhaltigen, unerschöpfliche Kämpfe auslösenden, wenn auch leider irreführendem Einfluß auf die weitere Entwicklung der griechischen und der ganzen späteren Philosophie war der Umstand, daß bereits auf dieser Vorstufe der Erkenntnis das Denken in einen Gegensatz zur sinnlichen Wahrnehmung gestellt wurde. Besonders HERAKLIT und PARMENIDES eiferten in diesem Fahrwasser nachdrücklich gegen den Trug der Sinne zugunsten eines Denkens, welches die wahre Wirklichkeit, nach ersterem also den Fluß des Geschehens, nach letzterem das beharrende Sein der Dinge, erfaßt. Bald allerdings und im Wechsel weiter sollte sich die Wertschätzung dieser beiden Teilstücke unserer Erkenntnis auch wieder umkehren; denn immer, wenn eines der beiden zu stark belastet wurde, mußte es dem anderen weichen.

Dieser Kampf gegen den Erkenntniswert der sinnlichen Wahrnehmung hat aber doch eine gewisse Berechtigung, die weit über etwaige Sinnestäuschungen, wie sie der physiologischen und psychologischen Erörterung meist nur vorschweben, hinauszielt. Gerade in der Gegenwart gilt die "Empfindung" als ein unmittelbar "Gegebenes", als das eigentliche Element, aus welchem unsere Erkenntis schöpft und auf welchem als vermeintlich festester Unterlage sie sich aufbaut, während ängstlich die Gefahr gescheut wird, in der denkenden Verwertung jener Elemente all die Fehler und Irrtümer zu begehen, an denen die Geschichte der Philosophie und der Naturwissenschaften so reich ist. Aber die Entthronung der Empfindung und der Wahrnehmung von diesem angemaßten Platz im Vorrang vor dem Denken bildet eine der notwendigsten Aufgaben des philosophischen Fortschritts. Die Empfindung, wenn sie eingehender analysiert wird (1), ist als solche bereits ein verwickeltes Ergebnis des Denkens in der Beurteilung der "Wirklichkeit", nur daß dieses Urteil durch Übung und Vererbung ein automatisches geworden ist, das nur deshalb uns als unmittelbar gegeben imponiert. Mag dabei übrigens der enge Wahrheitswert der Empfindung und selbst der zusammengesetzten Wahrnehmungen unangefochten bleiben, so leiden wir doch umso mehr unter Denkgewohnheiten und allerlei Vorstellungen von sogenannten "selbstverständlichem" Inhalt, welche nichts weiter als trügerische Ergebnisse des Menschheitsdenkens sind, das durch die festen Überlieferungen der Begriffsbildung, der Sprache und der Erziehung seine festen Formen angenommen und seinen geltenden Inhalt gewonnen hat. Die Verbesserung und Berichtigung dieser Ergebnisse mit ihrem selbstverständlichen Schein ist aber gerade diejenige Aufgabe, in welcher zum großen Teil der Fortschritt unserer Erkenntnis gelegen ist. Hierzu ist auch die Überschätzung der sinnlichen Wahrnehmung zu rechnen - ganz in Übereinstimmung mit jenen alten Denkern, welche die träge Gewohnheit der Sinnesverehrung so hart verurteilt haben und gegenüber einem einseitigen Empirismus auch heute dazu noch vollen Anlaß hätten, wenn auch in einer tieferen Erfassung der Gründe und des Inhaltes dieser Anforderung.

In anderer Weise sehen wir die griechische Atomistik den Unterschied von Wahrnehmung und Denken betonen und bestimmen. DEMOKRIT erklärt die Sinneswahrnehmung durch Ausflüsse von Atomen aus den Dingen; hierdurch werden unendlich kleine Abbilder der letzteren erzeugt, die unsere Sinne treffen und in diesen die Feueratome zur Erzeugung von Ähnlichkeitsbildern in Bewegung setzen. Den groben und deshalb unzuverlässigen Bildern der Sinneswahrnehmung stellt er die kleineren und feineren Bilder gegenüber, welche genau das atomistische Gefüge der Wirklichkeit wiedergeben und die echte Einsicht in das wahre Wesen der Dinge vermitteln; sie entsprechen dem Denken, welches so in die der groben Wahrnehmung verborgene Beschaffenheit der Dinge eindringt und deren innerstes Wesen enthüllt. Diese lediglich formelle Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Denken verwischt im Grunde genommen völlig die Bedeutung jener Unterscheidung für die Erkenntnis.

Aber wir stehen hier außerdem noch vor einer ganz andersartigen Erscheinung in der Entwicklung des Erkenntnisproblems: die gesamte Erkenntnis wird zu einem rein körperlichen Vorgang gemacht, rein materiell gedeutet und von den sonstigen Naturvorgängen nur durch räumlich-quantitative Abstufungen gesondert oder vielmehr nicht gesondert. Die modernen physiologischen Lehren von der Reizeinwirkung, vom Verhältnis zwischen Reiz und Reaktion, sogar von der spezifischen Energie der Sinne finden in jener Lehre ihre erste, wenn auch rein spekulative Vorgeschichte. Die Epikureer und der ganz spätere Materialismus haben sich an dieser Auffassung emporgerankt und deren Standpunkt, was die Erkenntnisfrage anbelangt, grundsätzlich kaum überschritten. Auch dem modernen Materialismus gelten ja die geistigen Vorgänge nur als unwirksame Begleiterscheinungen der nervösen Gehirnprozesse, womit er die ersteren aus seinem System einfach ausschaltet. Es zeigt sich hierin die ganze Ohnmacht des Materialismus gegenüber geistigen Vorgängen. Sie passen nicht in sein System, er versteht sie nicht und schaltet sie als ein ihm unüberwindliches Etwas aus der Untersuchung aus, nichtsdestoweniger in der Meinung, den Weltinhalt mit den Begriffen des Stoffes und der Bewegung erschöpfen zu können. Der Materialismus in allen seinen Formen greift das Erkenntnisproblem gar nicht an, sondern schiebt es nur weit und immer weiter zurück, bis es seinem Gesichtskreis überhaupt entschwindet und ihm unkenntlich wird. Nicht einmal das kann ja bis heute noch der Materialismus begreiflich machen, wieso die sinnlichen Veränderungen in unserem Nervensystem irgendetwas mit der Außenwelt Übereinstimmendes enthalten können; denn die Wirkung der letzteren auf unsere Sinnesorgane ruft zwar gesetzmäßige Veränderungen in unserem Nervensystem, aber doch keine Abbilder der Dinge hervor. Mit der Abstandnahme von der Übereinstimmung aber vernichtet der Materialismus sich selbst; denn nur unter jener Bedingung kann er von einer absoluten Existenz seiner Welt des Stoffes und der Bewegung reden. Ist die, ansich unmögliche Übereinstimmung nicht vorhanden, dann bedarf er zur Erkenntnis der Welt - des Urteilens und des Schließens und der Begriffe, jener sein "System" verwerfenden oder vielmehr erzeugenden, ihm jedenfalls übergeordneten Erkenntnismittel.

Auf dem Fuße folgte diese Einsicht auch der griechischen Atomistik und kehrte den Standpunkt um. PROTAGORAS, als geistiges Haupt der Sophisten, machte nicht mehr bloß das Wahrgenommene, sondern die Wahrnehmung selber zum Gegenstand der Untersuchung und fand, da alle Wahrnehmung auf dem Zusammenwirken von Objekt und Subjekt beruth, daß das Wahrgenommene selbst bereits ein Ergebnis jenes Zusammenwirkens, daß nichts an und für sich ist, sondern immer erst durch den Wahrnehmungsakt entsteht, von ihm abhängt und durch ihn seine Eigenart erhält. Der Mensch ist das Maß aller Dinge, seine individuelle und zeitlich veränderliche Subjektivität ist bestimmend für den Inhalt der Wahrnehmungen. Dies zum erstenmal ausgesprochen zu haben, war die folgenschwere Tat der Sophistik.

Hiermit war nicht bloß die Unmittelbarkeit der Erkenntnis, sondern auch ihre Allgemeingültigkeit und sogar jedes objektive Wissen aufgehoben. In schroffster Weise stand dem Materialismus eines LEUKIPP und DEMOKRIT so bereits an seiner Wiege ein Subjektivismus gegenüber, welcher sich einseitig auf die Sinneswahrnehmung stützte und das Denken nicht mehr von ihr schied, sondern vielmehr mit ihr identifizierte. Hier liegt die Wurzel einer unendlichen Folge von weiteren Einseitigkeiten und Verirrungen. Sensualisten, Phänomenalisten, Skeptiker und Nihilisten der Erkenntnis wuchsen wechselweise aus jenem Subjektivismus hervor, den die Philosophie bis jetzt noch nicht hat überwinden können. Können wir uns wundern, daß es die Sophistik nicht konnte? Schon GORGIAS zog ohne weiteres die äußerste Konsequenz: es ist nicht, und selbst wenn etwas wäre, wäre es nicht erkennbar, und selbst wenn Erkenntnis möglich wäre, würde sie lediglich subjektiv und eine allgemeine Verständigung nicht zu erzielen sein. Das ist eine echt sophistische Ausschreitung, aber in der Richtung auf sie haben sich zahllose Denkkombinationen bewegt. Andererseits hat die Betonung der Subjektivität aller Erkenntnis und die Vernachlässigung des bei PROTAGORAS noch durchaus mitbestimmenden Einfluß des Gegenstandes, auf den sich die Erkenntnis richtet, eine weitere Einseitigkeit gezeitigt, die Hervorhebung des Ich bis zur Alleinherrschaft über die Erkenntnis. Diese psychologische Richtung des Denkens, welche alle Realität in das Ich verlegt, hat auf Vorstellungen geführt, die in der körperlichen und geistigen Organisation, in den Seelenvermögen, in angeborenen Ideen den Ursprung der Erkenntnis suchten, einen einseitigen Rationalismus und subjektiven Bewußtseinskultus zum System entwickelten und dieses System bis zum absoluten Ich steigerten. In diesem absoluten und sich seiner selbst bewußten Ich (FICHTE) war nun der Urgrund allen Seins und allen Denkens gefunden, in dem die begrenzten Ichs als seine Setzungen enthalten waren und welches nur sich selber durch intellektuelle Anschauung zu erfassen brauchte. Schließlich konnte auch die Spielerei des individuellen Solipsismus nicht ausbleiben, der lediglich das eigene Ich kennt und anbetet und der immer wieder dem idealistischen Denken als Drohung und als Sackgasse vor Augen geführt wird.

Immerhin bleibt es ein Verdienst der dargelegten Denkergebnisse, daß sie die Relativität unserer Erkenntnis und unserer Begriffe klar hervortreten ließen, mit anderen Worten: daß sie zeigten, wie unsere Erkenntnisbegriffe eine verschiedenartige Bedeutung erhalten, je nachdem sie von dem einen oder andern Standpunkt und Gesichtspunkt aus verwendet und auf die Objekte bezogen werden. Ich brauche dabei nur an Begriffe wie positiv oder negativ, wie subjektiv oder objektiv, wie Aktivität und Passivität, wie Reiz und Reaktion, wie innere und äußere Bedingungen, wie Zweck und vieles andere zu erinnern. So mancher inhaltslose Streit in Fragen der Erkenntnis löst sich in nichts auf, wenn die Relativität der Begriffe beachtet und erwogen wird. Ohne eine sachgemäße Analyse dieser Relativität und ihre Ausschaltung aus dem objektiven Erkenntnisinhalt kann es, wie die Sophistik zu Recht gelehrt hat, nur subjektive Meinungen mit psychologischer Bedingtheit und Notwendigkeit, aber nicht von gegenständlicher Geltung geben.

Allgemeingültige Wahrheit aber ist es, was Erkenntnis heißt, und eine solche Erkenntnis gesucht, sie im begrifflichen Denken gefunden und deshalb eine feste, allgemeingültige Begriffsbestimmung als Voraussetzung aller Erkenntnis gefordert zu haben, das war die Tat der sokratischen Philosophie, welche damit die Sophistik überwunden hat. Wenn SOKRATES selber auch nur auf die Ethik abzielte, so ist doch schon PLATON über dieses Ziel hinausgegangen, und vollends ARISTOTELES hat es bis zum allgemeinsten Wissenschaftssystem erweitert. Die Beziehungen der Begriffe zueinander werden untersucht, die Unterordnung des Besonderen unter das Allgemeine durchgeführt und somit ein von aller Subjektivvität losgelöstes Begriffssystem geschaffen, welches den Inbegriff allen Wissens umfaßt. Diesem Begriffssystem gegenüber tritt das physische Stoffsystem in den Hintergrund, den Erkenntnismitteln weicht der Erkenntnisinhalt, der ganz und gar von jenen aufgenommen wird, die Begriffe werden zu Ideen mit selbständiger Existenz und zu eigentlichen Wesen der Dinge, während der Stoff nur die Möglichkeit dessen darstellt, was im fertigen Ding vermöge des gestaltenden Begriffs (der aristotelischen Form) wirklich geworden ist. So haben die Begriffe, die Ideen, die Formen ihre selbständige Wirklichkeit, die sie in den Dingen entfalten, sie werden geradezu zur Substanz, und der Stoff sinkt zum Schein herab, dem wahre Wirklichkeit nicht zukommt.

An die Stelle des Materialismus und des Skeptizismus ist damit ein erkenntnistheoretischer Idealismus getreten und zwar ein Idealismus mit dem leuchtenden Kennzeichen der Objektivität seines Inhalts. In dieser letzteren liegt das völlig Neue, was hiermit in den Bereich des philosophischen Denkens eintritt.

Wenn wir beim sokratischen Wortgebrauch, dem Begriff, stehen bleiben und die heutige Sprache auf jenen Gedankeninhalt anwenden, so können wir diesen letzteren getrost dahin erläutern: Der Stoff ist selber zum Begriff geworden und die Natur zu einem Gebilde von Begriffen; Begriffe bilden die wahre und die einzige Wirklichkeit; das Wesen der Welt sind die Begriffe in einem systematischen Zusammenhang und in einer objektiven, den Ichbegriff überragenden Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit; nicht das subjektive Ich, sondern der objektive Begriff ist das wahre Wesen allen Seins, von dem die Einzeldinge nur abgeleitete Erscheinungen sind; die Begriffe in diesem Sinne (im Sinne der platonischen Idee) sind nicht erst vom individuellen Denken hervorzubringen, sondern von ihm vielmehr nur zu erfassen - wie der Wissenschaftsinhalt vom Lernenden (so könnte die moderne Denkweise, wenn auch etwas nivellierend, zur weiteren Veranschaulichung jener Objektivität hinzufügen.)

Mit diesem Ergebnis, welches ich nur in seinem logischen Kern und diesen etwas erweiternd dargelegt habe, hatte die antike Entwicklung des Erkenntnisproblems ihren Höhepunkt erreicht. Indessen trug sie den Keim bereits in sih, der zu vorerst unüberwindlichen Schwierigkeiten und zu Abirrungen von der gradlinigen Fortentwicklung des Erkenntnisproblems führen mußte. SOKRATES, der ja nur das theoretische Prinzip und die methodlogischen Richtwege angelegt hatte, war damit noch nicht auf solche Schwierigkeiten gestoßen, umso weniger, da er lediglich das geistige Leben und insbesondere die praktische Betätigung, das ethische Ich, im Auge hatte. Auch für PLATON war dies das Hauptziel und der beherrschende Gesichtspunkt. Aber er geht doch weit darüber hinaus, er erörtert das Wesen der Welt und erweitert das methodlogische Prinzip zum Erkenntnissystem, wozu er einer gewissen Berücksichtigung der physischen Vorgänge nicht aus dem Weg gehen konnte.

Damit aber stößt er sofort auf die ausschlaggebende Schwierigkeit dieses Systems, auf die Schwierigkeit eines jeden objektiven Idealismus, nämlich auf die Unmöglichkeit einer einheitlichen Zusammenfassung des psychischen und des physischen Erkenntnisinhalts. Diesen letzteren, den physischen, sah ja PLATON nur als Schein an und diesen Schein als bedingt durch unsere körperliche Natur, durch die Sinneswahrnehmung im Gegensatz zu der das Urbild erfassenden Denktätigkeit. Es fehlt ihm dabei jeder Einblick in die Art des logischen Zusammenhangs zwischen geistigem Wesen und körperlicher Natur, zwischen Idee und Einzelding, zwischen dem gemeinsamen (reinen) Wesen und der räumlichen Sondernatur der Einzeldinge. Er muß daher die letzteren vernachlässigen zugunsten der ersteren. Sein System bleibt halb und ungeschlossen. Immerhin ahnt er bereits, daß der Unterschied durch die "Räumlichkeit" bedingt wird, daß diese es ist, welche der Spaltung des gemeinsamen, einheitlichen "Wesens" im Einzelding zugrunde liegt und dadurch zum materiellen "Schein" in unserer Wahrnehmung führt, der die wahre Erkenntnis veruntreut. Nicht genug ist überdies hervorzuheben, daß PLATON keinen persönlichen Denker neben oder über den Ideen kennt, daß vielmehr letztere selber in ihrem inneren Zusammenhang ihm das Göttliche sind, in dem auch wir mit unserer Seele hängen. Nichtsdestoweniger trennt er die Ideen von ihren räumlichen Erscheinungsweisen und stellt beides einander gegenüber. Das ist sein grundsätzlicher Fehler, den schon ARISTOTELES ihm vorgeworfen hat, den aber auch der objektive Idealismus der späteren Zeiten noch bis heute nicht hat überwinden können, weil es ihm an Begriffen gebricht, die auch die physischen Vorgänge hinsichtlich ihres dem "Schein" entrückten Wesens darstellen und zum Ausdruck bringen lassen.

Anders ARISTOTELES, der von vornherein ein geschlossenes, die Gesamtheit der Wissenschaften in sich aufnehmendes und sie umfassendes Erkenntnissystem erstrebt. Ihm mußten sich noch mehr mit jedem weiteren Schritt die Schwierigkeiten türmen, und er konnte widerwillig einem Dualismus gar nicht ausweichen, wenn er die idealistische Lehre auf die Gesamtheit des Wirklichen und innerhalb dessen auch auf die räumliche Körperwelt anwenden wollte, wenn er mittels ihrer auch den Inhalt der Natur und das Naturgeschehen systematisch darzustellen und zu beleuchten unternahm. Seine Größe und seine Fehler liegen gemeinsam in diesem überragenden, auch heute noch nicht erreichten Ziel. Wollte er die Ideen und die Dinge der Erscheinungswelt in den von ihm als notwendig erkannten Zusammenhang miteinander bringen, so mußte er von der objektiven, an und für sich seienden Idee zurückkehren zunächst zum subjektiven Einzelich und durch dieses hindurch zum materiellen Einzelding und mußte hier von Neuem auf den noch immer unausgeglichenen Gegensatz stoßen zwischen Denken und Wahrnehmen, zwischen Wesen und Erscheinung, zwischen Einheit des Mannigfaltigen im Begriff und Veränderung im Sinnlichen, zwischen begrifflichem, ideellem, unvergänglichen Sein (dem "Notwendigen") und veränderlichem, vergänglichem Einzelgeschehen (dem "Zufälligen"), zwischen zweckmäßigem und mechanischem Geschehensprinzip. Diesen Gegensatz versucht ARISTOTELES teils auf seinen richtigen Ursprung, unsere Vorstellungsweise, zurückzuführen, teils aber auch mit großem Denkaufwand hinwegzudisputieren und teils, soweit ihm beides nicht gelang, durch möglichste Einengung seiner Geltung zu entkräften. Gemäß dem idealistischen Ausgangspunkt, der das wahre Wesen des Weltprinzips in der Idee erblickt hatte, rang er sich so zu einer Vergeistigung des Erkenntnisinhalts mit teleologischem Grundprinzip empor, mußte aber notgedrungen überall einen unaufgeschlossenen Rest von Stofflichkeit, von mechanischem Geschehen, von sinnlich körperlicher Wahrnehmung anerkennen und dieser sinnlichen Wahrnehmung auf empirischem Gebiet auch die täuschungslose Wahrheit zugestehen. Der aktiven Kraft (der Form) verblieb indessen die Herrschaft über den passiven Stoff und im lebenden Organismus der zweckvoll wirkenden Entelechie [innewohnender Zweck - wp] der Vorrang vor der mechanischen Energie, die nur im unorganischen Geschehen maßgebend ist. Der gänzlich unbestimmte Stoff erhält im Organismus seine Form, seine Entwicklung, seine Ausgestaltung durch die Seele, die im pflanzlichen Organismus nur als zweckvolle Kraft oder Entelechie in Erscheinung tritt, im tierischen Organismus auch mit Empfindungs-, Begehrungs-, Bewegungsvermögen (bewegender Kraft) und im menschlichen Organismus außerdem mit einem vernünftigen, das Begehren als Wille beherrschenden Vorstellungsvermögen und unsterblicher Denktätigkeit ausgestattet ist. Schließlich findet die Welt und der Weltprozeß als innerlich und einheitlich zusammenhängendes Ganzes seinen Urgrund in einem ersten selber unbeweglichen Beweger, in einem ihr übergeordneten Nous [Geist - wp], einem transzendenten, persönlichen Gott. Das ist die Eigenart des aristotelischen Dualismus, der von nun an die Wissenschaft, die Religion, die gesamte Kulturentwicklung beherrscht. Das Erkenntnisproblem wird abgelöst durch das Seelenproblem.

Hierauf beruth der nun folgende Stillstand in der weiteren Entwicklung des Erkenntnisproblems, seine Abhängigkeit von der Auffassung über die Seele und die Fruchtlosigkeit aller Erörterungen über das Wesen der Erkenntnis selbst. Die Seelenfrage, dieser Krebsschaden aller Philosophie, führte zum Subjektivismus der Sophisten zurück, der nur insofern einen Ausgleich erfuhr, als der jetzt durchweg angenommene Zusammenhang der menschlichen Seele mit der Gottheit für die Wahrheit ihrer Erkenntnisse zu bürgen schien und deren Allgemeingültigkeit voraussetzen ließ. So wurde jener Subjektivismus zum Psychologismus, der die Beschaffenheit der menschlichen Seele zum Ausgangspunkt nimmt und ihre Organisation für die Art und den Geltungswert unserer Erkenntnis maßgebend sein läßt. Die Frage nach dem Ursprung dieser Organisation, welche die Objektivität der Erkenntnis hätte wiederherstellen können, wurde in einem wissenschaftlichem Sinn nicht gestellt, sondern erstick durch die dogmatische Frage nach dem Verhältnis der menschlichen Seele zur Weltseele, zur Weltvernunft, zu Gott und damit einer unbegrenzten Spekulation und Mystik Tür und Tor geöffnet, die irgendetwas für die Erkenntnis Wertvolles nicht zu leisten vermochte. Ich gehe daher nur kurz über diese trübe Periode hinweg.

Zunächst errang sich die sinnliche Wahrnehmung wieder die Anerkennung ihres Werts, teils aus den vorgenannten Gründen, teils durch die Nachwirkung des aristotelischen Geistes, welcher die empirische Richtung des Denkens immerhin geweckt, wenn auch nicht nachhaltig belebt hatte. Epikureischer Materialismus, stoischer Pantheismus, sophistische Skepsis und eklektische Seichtigkeit rangen um den Wert nun nicht mehr bloß der Wahrnehmung, sondern auch des Denkens und wirbelten das Grundproblem der Erkenntnis, die Frage nach dem Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Bewußtseinsinhalt im Kreis umher, blieben bei all dem aber doch nur matte Epigonen [Nachfahren - wp] ihrer ursprünglichen Vorbilder, ohne das eigentliche Erkenntnisproblem in seiner Tiefe zu erfassen und neue oder eigenartige Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen. Handelte es sich ihnen gar nicht um objektive Erkenntnis, sondern im Grunde genommen nur um eine subjektive Befriedigung und die Mittel dazu, um gangbare Wege zur praktischen Erreichung des hedonistischen Zieles der Gemütsruhe, um eine religiöse Sicherung des subjektiven Verhältnisses zur alles umspannenden Gottheit, die ganz anthropomorphistisch mehr und mehr zum persönlichen und transzendenten Gott ausgebaut wurde.

Dementsprechend tauchen in diesem eingeengten Ziel zwei Wendungen auf, die in späteren Zeiten eine vorwiegende Entwicklung erfahren sollten. Der sensualistische Gedanke, daß unser gesamter Erkenntnisinhalt aus sinnlichen Wahrnehmungselementen herstammt, zeitigte die Auffassung, daß diese gewissermaßen in einem mechanischen Aufeinanderwirken die allgemeinen Begriffe und Vorstellungen, die Urteile und Schlüsse hervorbringen, und lenkte die Aufmerksamkeit vom Wesen der Erkenntnis und der Frage nach ihrer Wahrheit auf den Vorgang des Erkennens ab, - eine Wendung des Erkenntnisproblems, die heutzutage in AVENARIUS, MACH, ZIEHEN ihre echt psychologistische Vollendung erfahren hat. Am entgegengesetzten Ende steht der rationalistische Gedanke an eingeborene Begriffe, Vorstellungen und Erkenntnisse, welche in CICERO, DESCARTES und dem psychologistischen Mißverständnis des kantischen Apriori seine geschichtlichen Phasen durchlaufen hat.

Die Subjektivität der Seele als Ausgangspunkt und oberster Gesichtspunkt für die Erkenntnisfrage mußte notwendigerweise dem Zweifel an der objektiven Wahrheit unserer vermeintlichen Erkenntnisse vermehrtes Gewicht geben. So entstand neben der Frage nach der Möglichkeit und den Bedingungen der Wahrheit eine neue, nämlich die nach den Kennzeichen der Wahrheit. Es ist charakteristisch, daß die Epikureer wie auch die Stoiker diese Kennzeichen wiederum nur in der Subjektivität suchten, jene in einem unmittelbaren Gefühl der evidenten Notwendigkeit bei den Wahrnehmungen und in der Bestätigung von Schlüssen und Meinungen durch weitere Wahrnehmungen, diese in der Stärke, mit der die Vorstellungen (Urteile, Schlüsse) sich uns aufdrängen, in ihrer unmittelbaren Überzeugungskraft und zugleich in unserer Zustimmung zu ihnen, in der Festigkeit der Überzeugung und des Beifalls, mit dem wir sie ergreifen. Die epikureische Lehre stellt sich sonach als eine Vorstufe des heutigen Positivismus dar, während die stoische bereits die neuere Apperzeptionslehre vorbereitet, die ja in ganz gleicher Art den Doppelbegriff des passiven, die Aufmerksamkeit erregenden Eindrucks und der aktiven, willensartigen Aneignung und Anerkennung eines Vorstellungsinhalts enthält. Klar und mit vollendeter Logik hat demgegenüber innerhalb des damaligen Skeptizismus KARNEADES das Wahrheitsproblem gelöst: der widerspruchslose Zusammenhang der Vorstellungen im Erkenntnissystem, ihre Übereinstimmung untereinander und die Bestätigung dieser Übereinstimmung durch fortgesetzte Einzeluntersuchungen gewährleistet den höchsten Grad der Wahrscheinlichkeit. Dieses wahrhaft klassische Wahrheitskriterium ist durchaus angetan, auch der heutigen Zeit als Führer in die Zukunft der Wissenschaften zu dienen, und ragt als ehernes Denkmal aus dem Niedergang der klassischen Philosophie hervor.

Die Vorherrschaft des Seelenproblems vor dem Erkenntnisproblem, die ich bereits betont habe, gibt nunmehr einem langen Zeitraum die bestimmende Richtung, und diese geht durchaus auf die Erkenntnis des Verhältnisses der Seele zu Got und dem subjektiven Ausgangspunkt sowie dem subjektiven Befriedigungsbedürfnis entsprechend, auf eine unmittelbare Berührung und Gemeinschaft mit Gott, deren Voraussetzung und Ausmalung diesen Erkenntnisbestrebungen ihre theosophische Eigenart gibt. Diesem subjektiven Befriedigungsbedürfnis gegenüber tritt die Erkenntnisfrage nach dem Verhältnis des Menschen zur stofflichen Welt, nach seiner systematischen und entwicklungsgeschichtlichen Stellung in ihr, zunächst völlig in den Hintergrund und ebenso die Frage nach dem Verhältnis zwischen Seele und Leib, obwohl diese im engsten Zusammenhang steht mit der umfassenderen Frage nach dem Verhältnis zwischen Geist und Stoff, zwischen Gott und Welt. Die Vermittlung zwischen der menschlichen Seele und dem göttlichen Geist wurde in einer unmittelbaren Offenbarung oder auch in vermittelnden Kräften und Dämonen gesucht und hierfür der Zustand der Ekstase und die Askese in Anspruch genommen, mit deren Hilfe ein unmittelbares Schauen des göttlichen Geistes und seines Inhalts erreicht wurde. Daß hierbei für eine verstandesmäßige Erörterung der Erkenntnis kein Raum mehr blieb, ist beinahe selbstverständlich. An ihrer Stelle blühen Weissagung, Magie und Mysterien auf. Reste früherer Philosopheme werden übernommen und umgedeutet. PHILO zog die jüdische Philosophie und den stoischen Logosbegriff in den Bereich dieser Anschauungen, die pythagoreische Zahlensymbolik taucht in einem äußerlichen Gewand wieder auf, und die plationischen Ideen werden von PLOTIN in den göttlichen Geist, den Nous, verlegt, dem aber noch ein übervernünftiges, selber unbewußtes und absolut einheitliches, deshalb eigenschaftsloses, inhaltsleeres und den erkennenden Denken grundsätzlich unzugängliches Wesen als lediglich wirkende Urkraft alles Seienden übergeordnet wird.

Von einigem Belang für das Erkenntnisproblem ist aus dieser Entwicklungsrichtung insbesondere die Lehre von der unmittelbaren Offenbarung, die in einen Gegensatz und ein Überordnungsverhältnis zur verstandesmäßigen Erkenntnis tritt und durch eine einfach anschauende Versenkung in die Gottheit, durch die Vereinigung mit ihr unter vorübergehender Abstreifung alles materiellen Wesens, Einsichten und Wahrheiten ermöglicht, welche dem begrifflichen Denken nicht mehr faßbar sind. Die Neupythagoreer, PLUTARCH (der ältere) und die Neuplatoniker haben diese Offenbarung systematisch verfolt, besonders die letzteren, welche dazu in ihrer Lehre von der göttlichen Urkraft und deren Abstufungen, von der absoluten Einheit dieser in allen Wesen wirksamen Urkraft die besten Handhaben besessen haben. Nach seinem Eindringen in die christliche Kirche hat so der Neuplatonismus die mittelalterliche Mystik wachgerufen, während die Scholastik nur die geschichtlich übermittelten Offenbarungen anerkannte, deren religiöse und dogmatische Natur jedoch an der Entwicklung des Erkenntnisproblems keinen Anteil hat.

Die Seelenfrage kommt zunächst zu keiner abschließenden Entscheidung. Das gänzlich unklare Ineinander von Seele und Leib, welches von Anfang bis Ende die griechische Philosophie beherrscht hatte und durchaus abhängig war von der Auffassung des Verhältnisses zwischen Geist und Stoff, bleibt bestehen. Teils galt die Seele als ein vom stofflichen Körper nicht zu unterscheidendes, wenn auch feineres materielles Substrat, teils als ein vom Stoff verschiedenes Wesen; andererseits wird vielfach ein Unterschied zwischen Seele und Geist gemacht und dabei der Seele die niederen, das Leben, die Triebe, die Sinnesvorgänge beherrschenden und gestaltenden Tätigkeiten zugeteilt und nur der Geist als denkendes und anschauendes Wesen immateriell gedacht, die Seele als vergänglich, der Geist als unvergänglich betrachtet. Erläuternd ist hierzu nur zu bemerken, daß der schroffe Gegensatz von Geist und Stoff für die damalige Philosophie nicht bestanden hat, daß diese ihn vielmehr durchaus monistisch zu beseitigen bestrebt war, die Materie als sinnlichen Schein oder als ein niederes Produkt des Geistes auslegte und höchstens ethische Gegensätze in jenes Verhältnis hineindachte. Die völlige Trennung von Geist und Stoff, von Seele und Leib, unter Rückkehr zu naiveren Vorstellungen, ist erst ein Ergebnis der christlich-religiösen Philosophie, die entsprechend dem jüdischen Anthropomorphismus einen transzendenten persönlichen Gott zum Ausgangspunkt hatte und dem vermittelnden Pantheismus der Stoiker und Neuplatoniker durchaus ablehnend gegenüber gestanden ist, demgemäß auch der Seele eine dem Körper gegenüber transzendente und in sich geschlossene Stellung geben und auch weiterhin ihre Lehre auf Persönlichkeiten aufbauen mußte.

Hatte in dieser Form die christliche Kirche sich ihre Dogmen geschaffen und zu einem Glaubenssystem zusammengeschlossen, so bestand die weitere Denkarbeit jener unter dem Einfluß des Christentums gebannten Zeit lediglich in dessen begrifflicher Durcharbeitung, die mit Hilfe der aus der griechischen Philosophie entnommenen Begriffe und Methoden sich vollzog. So gewiß dies, formell gedacht, Erkenntnisarbeit war, so wenig streift doch diese Arbeit an das Erkenntnisproblem. Denn ihre Grundlage war die geschichtliche Offenbarung und diese war über alle Erkenntisfragen erhaben.

LITERATUR - Berthold Kern, Das Erkenntnisproblem und seine kritische Lösung, Berlin 1911
    Anmerkungen
    1) Vgl. hierzu die näheren Ausführungen im II. Abschnitt dieses Werkes.