tb-1J. GoldsteinG. SpickerR. HönigswaldF. Mauthner     
 
JONAS COHN
Die Hauptformen
des Rationalismus


"Man kann nun also definieren:  Rationalismus ist jede Philosophie, die den Grund der Gewißheit alles oder doch des wahrhaft wertvollen Erkennens im reinen Denken sieht.  An dieser Definition sind jetzt nur noch die Worte  alles oder doch des wahrhaft wertvollen  zu erläutern. In ihnen drückt sich die Unterscheidung zweier Arten des Rationalismus aus. Kein Rationalist kann leugnen, daß es etwas gibt, was, ohne reines Denken zu sein, den Anspruch auf Geltung als Erkennen erhebt. Dieser Tatsache gegenüber kann er sich verschieden verhalten. Er kann die Ansprüche der Empirie als bloße Anmaßungen schroff zurückweisen oder er kann sie als minder wertvolle und unvollkommene Art der Erkenntnis anerkennen. Die erste Abart kann man als strengen, die zweite als laxen Rationalismus bezeichnen."

"Als ein Kriterium, das auf einen methodologischen Rationalismus hinweist, kann man überall die besondere Wertschätzung des begrifflich Allgemeinen bezeichnen. Der Allgemeinbegriff ist den empirischen Exemplaren gegenüber unzweifelhaft ein von der Vernunft erzeugtes Gebilde. Vielfach wird aber - in meist unbewußten Anschluß an Plato - diese formale Rationalität des Begriffs zu einer inhaltlichen umgedeutet, obwohl doch der Inhalt fast aller Begriffe irrationale Elemente enthält. Diese Verschiebung des Rationalen, dieser Schein, als sei der Begriff als solcher etwas Rationales, wird durch eine Doppeldeutigkeit der Terminologie verstärkt, die besonders bei Kant hervortritt.  Begriff  wird hier einerseits in der gewöhnlichen allgemeinen Bedeutung, andererseits aber auch prägnant für die den Begriff erzeugende Vernunftfunktion, die Kategorie, gebraucht."

Die allgemeinen Bezeichungen philosophischer Richtungen erregen im wissenschaftlich Arbeitenden leicht gemischte Gefühle. Sie dienen nur allzu oft einer äußerlichen Kennzeichnung der Gedankenarbeit, einer Oberflächlichkeit, die mit einem System fertig zu sein meint, wenn sie ihm eine Etikette aufgeheftet hat. Im Streit der Parteien sind sie vielfach zu Spottnamen herabgesunken, deren Anwendung in der wissenschaftlichen Polemik dann nahezu etwas Gehässiges bekommt. Trotzdem sind diese Namen unentbehrlich, besonders sobald es sich darum handelt, aus den Bemühungen der Vergangenheit für den Aufbau einer philosophischen Wissenschaft Nutzen zu ziehen. Denn zu diesem Zweck ist es nötig, aus der Fülle von Anschauungen, die in fast unmerklichen Übergängen ineinander fließen oder, von verschiedenen Gesichtspunkten ausgehend und in ganz verschiedener Sprache redend, kaum vergleichbar erscheinen, die prinzipiellen Unterschiede herauszufinden. Nur so kann man hoffen, zu einer Übersicht der wirklichen und schließlich gar der möglichen Antworten auf ein Problem zu gelangen. Soll dieses Ziel erreicht werden, so muß man durchaus versuchen, von einer bestimmten Problemstellung auszugehen. Wohl könnte es danach scheinen, als sei die hier angedeutete Aufgabe eine rein systematische, weil aus der Analyse der Fragestellung die möglichen Antworten sich von selbst ergeben müßten. Aber das auf sich gestellte Denken des Einzelnen wird schwerlich die ganze Fülle möglicher Auskünfte aus sich heraus entwickeln können. Hier vielmehr wird es stets notwendig sein, Umschau in der Geschichte zu halten und zu untersuchen, wie bedeutende Denker, die ihr ganzes Leben der Herausarbeitung einer besonderen Überzeugung gewidmet haben, diese zu gestalten wußten. Man wird daher nicht umhin können, die Geschichte systematisch zu verwerten.

Wenn ein Versuch in dieser Richtung sich in der Festschrift für WILHELM WUNDT einen Platz erbittet, so kann er einen besonderen Grund dafür anführen. Unser verehrter Lehrer hat als historische orientierter Systematiker immer wieder in seinen Schriften große Übersichten der philosophischen Richtungen und Problemlösungen gegeben. Die Aufgabe dieser Studie knüpft an solche Bestrebungen an, ist aber enger. Nicht alle Antworten auf eine der Grundfragen der Philosophie sollen systematisch und historisch vorgeführt werden, sondern nur die Spielarten einer der Hauptrichtungen, die sich in der Erkenntnistheorie bekämpfen.

Bisweilen versteht man unter  Rationalismus  ganz allgemein alle Richtungen, die entschlossen sind, nur dasjenige anzuerkennen, was sich in der Prüfung durch das Denken behaupten kann. Nimmt man den Begriff so weit, so ist  Rationalismus  identisch mit wissenschaftlichem Verhalten überhaupt. Denn nur wenn man das souveräne Recht des Denkens anerkennt, oder nur insoweit man dies tut, verhält man sich wissenschaftlich. Man verschleiert dieses Verhältnis zuweilen dadurch, daß man die notwendige Anerkennung irrationaler Faktoren im Erkennen und in der Wirklichkeit einwendet. Aber es läßt sich leicht nachweisen, daß dies ein bloßer Scheineinwand ist. Denn es ist etwas sehr Verschiedenes, zu sagen, man erkenne nur an, was eine vernünftige Prüfung aushält, oder alles zu leugnen, was nicht selbst Erzeugnis der Vernunft ist. Die Wissenschaft muß vielleicht das schlechthin Irrationale anerkennen, aber nur, weil es vor dem Denken sein Recht zu erweisen vermag. Rationalismus in diesem Sinne deckt sich also mit Wissenschaft und hat zu Gegnern nur solche Richtungen, die auf gewissen Gebieten oder bestimmten Fragen gegenüber das wissenschaftliche Prüfen grundsätzlich ablehnen. Soll daher das Wort "Rationalismus" zur Bezeichnung einer  besonderen  philosophischen, d. h. wissenschaftlichen Richtung verwendet werden, so muß es in einer engeren Bedeutung gebraucht werden, so daß andere wissenschaftliche Richtungen ihm gegenüber denkbar erscheinen. Es muß dann "ratio" "Vernunft" etwas bedeuten, das in der Wissenschaft selbst einen Gegensatz haben kann, also eine besondere Form entweder des Erkenntnisverfahrens oder des Erkenntnisinhalts. Unter diesen beiden Möglichkeiten führt augenscheinlich die erste auf die prinzipiellere Fragestellung. Allgemeine Aussagen über die Natur des Erkannten können nicht wohl anders von der Natur des Erkennens her abgeleitet werden. Man kommt so dazu, unter Rationalismus eine der möglichen Antworten auf die Frage nach dem Wesen des Erkennens zu verstehen. Um die Art dieser Antwort genauer angeben zu können, wird es erforderlich sein, vor allem die Fragestellung noch etwas schärfer zu bestimmen. Denn es kann gar nicht zweifelhaft sein, daß ein sehr wesentlicher Teil des philosophischen Gedankenfortschritts in der klareren Herausarbeitung der Probleme besteht. Höchstens könnte man einwenden, daß einer Klassifikation philosophischer Richtungen nicht die geklärte, sondern die möglichst unbestimmte Form des Problems zugrunde gelegt werden müsse, weil nur diese, nicht jene allen gemeinsam sei. Indessen dieser Einwand verwechselt die Ziele einer systematischen Übersicht philosophischer Richtungen mit denen einer historischen Darstellung. Der Geschichtsschreiber freilich muß sich überall fragen, in welcher Form ein Problem einem bestimmten Denker gegenwärtig war, damit er nicht zu einer ungehörigen, weil unhistorischen Konstruktion verführt werde. Wem es aber um eine systematische Übersicht der Richtungen zu tun ist, der muß eine möglichst reine und umfassende Form des Problems zugrunde legen, weil nur aus dieser klare Formen der Antwort folgen können; er wird dann versuchen müssen, die unreineren Formen als Annäherungen oder Trübungen zu verstehen. Daher muß hier bestimmt werden, was die Frage nach dem Wesen des Erkennens eigentlich will. Sie ist doch sicherlich nicht als ein bloßes Spezialproblem gemeint, bei dem die Forschung sich auf das Erkennen richten soll, wie sie sich ebenso gut auf jeden anderen Vorgang oder jedes andere Ding in der Welt richten kann. Denn dann wäre unbegreiflich, woher gerade diesem Problem seine prinzipielle Bedeutung zukäme. Vielmehr will die Frage als Grundproblem angesehen werden, dessen Beantwortung über Möglichkeit und Wert aller besonderen Erkenntnisse entscheidet. Mit anderen Worten, es soll der Grund der Geltung oder der Gewißheit des Erkennens festgestellt werden. Es ist leicht zu zeigen, daß dieses die eigentliche Absicht auch dort ist, wo man scheinbar anders formuliert, etwa nach dem Ursprung des Erkennens frägt. Unter dem mehrdeutigen Wort "Ursprung" versteht man dabei entweder die einfacheren Bestandteile oder die zeitliche Entstehung des Erkennens. Wenn man aber, wie etwa LOCKE und seine Nachfolger tun, diese Frage als philosophische Grundfrage voranstellt, so will man aus ihrer Beantwortung Auskunft darüber gewinnen, welche Art des Erkennens und in welchen Grenzen sie Geltung beanspruchen darf. (1) Danach muß aber sogar, wer etwa die Berechtigung dieser Hoffnung zugibt, die Priorität der Geltungsfrage anerkennen. Denn er hätte zu beweisen, daß die Antwort auf die Ursprungsfrage zugleich die Geltungsfrage mit entscheidet. Es ändert natürlich nichts an dieser Sachlage, daß LOCKE und seine Nachfolger, sowie auch manche ihrer Gegner, dies ohne Beweis als selbstverständlich angenommen haben. (2) Auf die Frage nach dem Grund der Geltung des Erkennens sind zunächst zwei einander gegenüberstehende Antworten möglich. Alle Gewißheit stammt aus den sinnlichen Eindrücken, sagt die eine, sie stammt aus der Tätigkeit des Denkens entgegnet die andere Ansicht. Hier wird Zurückführung auf die unmittelbare Erfahrung, dort logische Ableitung aus den obersten Normen des Denkens, den Axiomen, das entscheidende Mittel des Beweises sein. Man nennt die erste dieser Richtungen am besten  Sensualismus weil die Sinnesempfindung dabei immer als eigentliche Erkenntnisquelle angesehen wird. Wegen des tadelnden Nebensinnes von Sinnlichkeit scheinen sich manche Vertreter dieser Richtung lieber farblos als Empiristen zu bezeichnen. Wenn man indessen solche gefühlsmäßige Nebenbedeutungen scharf ausschließt, werden derartig Empfindlichkeiten hinfällig und man kann das bezeichnendere Wort Sensualismus beibehalten. Die entgegenstehende Ansich wird allgemein  Rationalismus  genannt. Neben diesen beiden Gegensätzen stehen nun nicht etwa nur charakterlose eklektische Mischformen, die bis zu einem gewissen Grad beide Ansichten nebeneinander dulden, auch nicht nur jene beachtenswerten Vermittlungen, die dem Sensualismus und dem Rationalismus besondere Erkenntnisgebiete zuweisen, sondern noch eine dritte, von beiden prinzipiell verschiedene Ansicht. Diese behauptet, daß in jeder Erkenntnis ein rationaler und ein irrationaler Faktor zusammenwirken müssen. Da KANT der klassische Vertreter dieser Anschauung ist, so pflegt man sie als  Kritizismus  zu bezeichnen; indessen ist dieser Name ungünstig. Kritik ist eine Methode, nicht eine Quelle der Gewißheit, Kritizismus ist jede Philosophie, die von der nicht metaphysisch oder genetisch sondern als Beantwortung der "Rechtsfrage" gemeinten Erkenntnistheorie ausgeht und die Resultate der erkenntnistheoretischen Untersuchung zur Norm ihrer weiteren Aufstellungen macht. Es führt zu Mehrdeutigkeiten, eine der möglichen Antworten nach dem Wesen des Erkennens nun auch als die "kritische" zu bezeichnen. Vielleicht wäre die Behauptung, daß beide Erkenntnisquellen stets zusammenwirken müssen, daß aller Wert des Erkennens auf diesem Zusammenwirken beruhe, als  Utraquismus  [jede von beiden - wp] zu bezeichnen.

Den einander entgegenstehenden Ansichten des Rationalismus und Sensualismus pflegt man auch eine methodologische Wendung zu geben, indem man dem ersten die Deduktion, dem zweiten die Induktion zuerteilt. Unzweifelhaft liegt ein solcher Zusammenhang nahe; aber unbedingt notwendig ist er nicht. PLATO hat unter Vermittlung der Lehre von der Wiedererinnerung die sokratische Induktion mit seinem Rationalismus vereinigt, von der anderen Seite her hat HOBBES auf sensualistisch abgeleitete Axiome eine deduktive, rechnende Methode aufgebaut. Die methodologische Frage ist eben der erkenntnistheoretischen gegenüber abgeleitet und weniger grundsätzlich.

Man kann nun also definieren:  Rationalismus ist jede Philosophie, die den Grund der Gewißheit alles oder doch des wahrhaft wertvollen Erkennens im reinen Denken sieht.  An dieser Definition sind jetzt nur noch die Worte "alles oder doch des wahrhaft wertvollen" zu erläutern. In ihnen drückt sich die Unterscheidung zweier Arten des Rationalismus aus. Kein Rationalist kann leugnen, daß es etwas gibt, was, ohne reines Denken zu sein, den Anspruch auf Geltung als Erkennen erhebt. Dieser Tatsache gegenüber kann er sich verschieden verhalten. Er kann die Ansprüche der Empirie als bloße Anmaßungen schroff zurückweisen oder er kann sie als minder wertvolle und unvollkommene Art der Erkenntnis anerkennen. Die erste Abart kann man als strengen, die zweite als laxen Rationalismus bezeichnen. Ein durchgeführter laxer Rationalismus ist eine der Anworten auf die Frage nach dem Wesen des Erkennens. Folgt aber nicht aus dieser Antwort auch etwas für das Wesen des Erkenntnisinhalts? Ohne Zweifel; wenn wahres Erkennen reines Denken ist, so muß das wahrhaft Erkannte dem Denken vollkommen durchsichtig, durch und durch rational sein. Das Irrationale kann der Rationalismus niemals als etwas Letztes, immer nur als eine Aufgabe anerkennen. Dagegen ist es nicht notwendig, daß eine rationalistische Philosophie, selbst wenn sie Metaphysik ist, auch das Wesen der Welt als ein Denken ansieht. Es kann etwas rational sein, ohne "ratio" zu sein. Eines der vollendetsten rationalistischen Systeme, das SPINOZAs, setzt denn auch das Wesen der Dinge keineswegs allein ins Erkennen. Umgekehrt freilich wird eine Philosophie, die das Wesen der Welt im Denken sieht, notwendig rationalistisch sein, denn wenn das Wesen der Welt im Denken besteht, so muß erst recht das menschliche Erkennen wesentlich Denken sein. Daß es sinnlos wäre, das Wesen der Welt in eine sensualistisch gefaßte Erkenntnis, d. h. in eine Abhängigkeit von etwas, was nicht ihr selbst angehört, zu setzen, braucht nicht erst erörtert zu werden. Diese Richtung behauptet also eine Wesensgleichheit zwischen Erkennen und Erkanntem. Alle diejenigen Theorien, die auf irgendeinem Gebiet das Erkennen für den allein wesentlichen Tatbestand halten, bezeichnet man, um sie vom Rationalismus zu unterscheiden, als  Intellektualismus.  Die hier besprochene Ansicht vom Wesen der Welt wäre danach als allgemeiner oder metaphysischer Intellektualismus zu bezeichnen. Da er ein Logisches zum Wesen des Alls macht, nennt man ihn auch Panlogismus. Von ihm zu unterscheiden sind die Formen des speziellen Intellektualismus. Diese beschränken sich auf Gebiete, auf denen die Behauptung, daß sie wesentlich Intellekt seien, ohne metaphysische Theorien möglich erscheint. Diese Gebiete gehören dann notwendig dem menschlichen Geistesleben an. Hier aber können zwei ganz verschiedene Fragen auftreten, die beide eine intellektualistische Antwort zulassen: die nach den wesentlichen Bestandteilen und die nach den herrschenden Werten im Geistesleben. Im ersten Fall ist Intellektualismus eine psychologische Theorie, die es versucht, alle auf den ersten Blick nicht intellektuellen Gebilde unseres Seelenlebens (Wille, Gefühl) aus intellektuellen Elementen abzuleiten. Im zweiten Fall handelt es sich darum, die auf den ersten Blick nicht intellektuellen Werte, die ethischen, ästhetischen usw., auf die des Erkennens zurückzuführen. So steht dem psychologsichen Intellektualismus ein Intellektualismus des Wertens gegenüber, der seinerseits wieder in ethischen, ästethischen und religiösen Intellektualismus zerlegt werden kann. Beide Arten sind theoretisch voneinander unabhängig. Man kann das psychologische und das Wertproblem vollkommen voneinander trennen. Aber selbst wenn man das nicht tut, kann man zwar Gefühl und Willen aus Vorstellungsverhältnissen ableiten, das ethisch oder sonst Wertvolle aber doch nicht in diesen Elementen sondern nur in jenen Komplexen erblicken. Umgekehrt kann man die existentiale Selbständigkeit von Gefühl und Wille anerkennen, ohne ihnen einen Wert zuzuschreiben. In den vorhandenen Systemen bleiben freilich Wert- und Bestandteilsfrage oft höchst ungenügend geschieden und dann geht natürlich eine Form des speziellen Intellektualismus unterschiedslos in die andere über. Beide Formen des speziellen Intellektualismus können ohne Rationalismus vorhanden sein und sind dies auch häufig. Denn auch wenn man das Erkennen sensualistisch auffaßt, ist es möglich, das ganze Seelenleben nach Analogie des Erkennens zu erklären oder alle Werte auf Erkennen zurückzuführen. Historisch findet sich besonders der psychologische Intellektualismus mit Sensualismus verbunden in der einflußreichen englischen Assoziationspsychologie. Umgekehrt ist es unnötig, daß der Rationalismus mit psychologischem oder wertendem Intellektualismus verbunden ist. Eine rationalistische Erkenntnistheorie könnte ansich auch im Seelenleben ein "rationale" anerkennen, das nicht "ratio" ist. Freilich wird sich das hier schwerer als für die Körperwelt durchführen lassen und hat daher auch historisch kaum eine bedeutende Verwirklichung gefunden. Noch weniger aber ist der Rationalismus genötigt, alle Werte aus denen des Erkennens abzuleiten. Der Unterschied von Rationalismus und Intellektualismus tritt besonders deutlich hervor, wenn man betont, daß Rationalismus sich auf den Gegensatz: Denken, Empfindung, spezieller Intellektualismus auf den Gegensatz: Vorstellung, Wille (Gefühl) bezieht, wobei die Vorstellung ebensogut sensualistisch wie rationalistisch aufgefaßt werden kann.

Definieren und gegen andere Begriffe abgrenzen kann man den Rationalismus in einer fast rein theoretischen Untersuchung. Will man aber die prinzipiell verschiedenen Hauptformen dieser Grundansicht vorführen, so muß man die historische Entwicklung etwas näher zu Rate ziehen. Denn eine Aufzählung bloßer Möglichkeiten würde den Auskünften des Geistes doch niemals genug tun und wiederum vieles besprechen müssen, was sich sogleich als wertlose Form erweist, die niemals mit der Wirklichkeit eines durchgebildeten philosophischen Systems erfüllt werden konnte. Die erste Unterscheidung läßt sich dadurch machen, daß in einzelnen Systemen oder Gedankenreihen der Grundsatz des Rationalismus den Anschauungen zugrunde liegt, aber nicht als solcher ausgesprochen wird, während in anderen sich die Reflexion des Denkers gerade diesem Grundsatz selbst zuwendet. Man kann diese beiden Formen als bewußte und unbewußte bezeichnen. Aber diese Namen sind nicht sehr glücklich, viel treffender wären die Hegelschen Ausdrücke "ansich" und "für sich seiend". Doch ist es wohl hoffnungslos, das Vorurteil besiegen zu wollen, das diese Terminologie infolge ihres vielfachen Mißbrauchs gegen sich wachgerufen hat.

Die Ansätze zum Rationalismus im vorwissenschaftlichen Denken sind unbewußt, unbewußt ist sehr häufig auch die Wirksamkeit rationalistischer Motive in den Einzelwissenschaften. Die philosophische Arbeit wird dann diese Ansätze ins Bewußtsein zu erheben haben. Daher findet sich in der Philosophie relativ selten ein vollkommen unbewußter Rationalismus, weit häufiger, bis in die Gegenwart hinein, ein nicht vollkommen bewußter. Besonders interessant ist die erste Erhebung ins Bewußtsein, die der Rationalismus in der griechischen Philosophie erfahren hat. Ein unbewußt rationalistisches Element zeigt sich zugleich mit dem Beginn des Philosophierens im Einheitsstreben der ionischen Philosophen. Diese Forderung der Einheit wird von XENOPHANES ausdrücklich und allgemein hervorgehoben. HERAKLIT, der das vereinheitlichende Gesetz im ewigen Wechsel sucht, beginnt dann, wie KÜHNEMANN (3) es ausdrückt, "den in der Entwicklung der Philosophie welthistorischen Kampf gegen die Sinne preist das Denken, das allen gemeinsam ist" (4). Aber weder rein noch vollbewußt scheint sein Rationalismus zu sein. PARMENIDES geht nach beiden Richtungen hin über ihn hinaus. Er fordert nicht nur Läuterung der Sinneserkenntnis - worauf es bei HERAKLIT herausgekommen zu sein scheint - sondern er verwirft sie ganz und gar. Das reine Denken, das das Eine, Seiende erfaßt, ist ihm der rechte Weg zur Wahrheit. Denken und Sein sind identisch (5). Sein ganzes System ist im Grund die Verkündigung des Satzes der Identität, des obersten Denkgesetzes. Aber diesem begeisterten Preis des reinen Denkens fehlt noch eins: die ausdrückliche und positive Kennzeichnung dieses wahren Erkenntnismittels.

Dieser Fortschritt war im Kampf gegen die Sinne nicht zu gewinnen, sondern er entstammt der Abwehr eines anderen Gegners, der auf das Erkennen überhaupt den Angriff wagte, nämlich der sophistischen Skepsis. Hier wurde geleugnet, daß es Erkennen überhaupt gibt; es wurde damit alles der Willkür des Meinens, dem Belieben des Einzelnen, dem leeren Gerede überliefert. (6) Wollte man dem entrinnen, so genügte es nicht mehr, sich von der Sinneserkenntnis abzuwenden und eine wahre Quelle der Weisheit in sich zu fühlen und andeutend zu preisen, vielmehr mußte man sich deutlich machen, wo die letzte unbestreitbare Quelle aller Gewißheit liegt. So erhoben erst SOKRATES und PLATO den Rationalismus zum vollen Bewußtsein. Die Grundsätze des Denkens garantieren sich selbst, sie sind unbestreitbar, sie sind andererseits nichts von außen dem Geist Aufgedrungenes, sondern das wahren Wesen des Geistes selbst, der in ihnen seine Macht und seinen Stolz hat. Dieses Gefühl der Würde des Denkens ist das Pathos des Rationalismus, das aus PLATOs Dialogen uns ergreifend entgegentönt. Wie seine Vorstufen, so ist auch dieser vollbewußte Rationalismus realistisch, d. h. er sieht im Erkennen die Abbildung einer außerhalb des Erkennens vorhandenen Wirklichkeit. Der Grundsatz des Rationalismus, daß das reine Denken wahre Erkenntnis gibt, formt sich hier also dahin um, daß das klar Erkannte wirklich ist. Diese Form bezeichnet man als Grundsatz des  Ontologismus.  Mehr oder minder bewußter Ontologismus ist aller Rationalismus von PLATO bis zu LEIBNIZ. Sehr verschieden stellen sich diese Systeme zum metaphysischen Intellektualismus. PLATO hängt diesem nicht eigentlich an, aber eine Tendenz dahin liegt in seinem System und wird nur von entgegenstehende Denkmotiven an voller Durchsetzung verhindert. Da es sich hier nicht um eine historische Untersuchung handelt, sondern die Geschichte nur der auf die Hauptformen gerichteten phänomenologischen Untersuchung dient, so müssen die von diesem Gesichtspunkt aus untergeordneten Verschiedenheiten der Systeme außer Betracht bleiben. Bedeutsam dagegen ist auch für uns eine Vergleichung des antiken Ontologismus mit dem modernen, der von DESCARTES ausgeht. Auch dieser neuere Rationalismus kommt zum Selbstbewußtsein durch die Überwindung des Zweifels. Aber dieser Zweifel steht dem Philosophen nicht als äußerer Gegner, als sophistischer Mitunterredner gegenüber, er sitzt in ihm selbst und quält ihn als Bewußtsein der Ungewißheit. DESCARTES kann diesen Feind überwinden, indem er ihm einmal Macht über alles gibt, was er anzugreifen vermag, und so in der Zurückziehung auf die unangreifbare Festung der Selbstgewißheit des Denkens Kraft gewinnt. Unbildlich gesprochen: der Zweifel erhält Bedeutung als Methode der Gewinnung des Wissens. Dieser neuer Rationalismus ist psychologischer und zum Teil auch wertender Intellektualismus, aber nicht metaphysischer. Das ist eine Folge der Verbindung, in die er mit der mathematischen Physik tritt. Hier war ein Herrschaftsgebiet des Geistes entstanden, das dem Denken einen ganz neuen Siegeszug eröffnete. Wenn man, wie DESCARTES tat, den Körper selbst auf Ausdehnung reduzierte und die Geometrie für eine rein rationale Wissenschaft hielt, so mußte die Körperwelt etwas vollkommen Rationales werden. Da aber in jedem  bewußten  Rationalismus doch auch die Selbständigkeit des Denkens zum stärksten Ausdruck kommt, so entstand ein Dualismus, den dann SPINOZA in der Einheit seiner Substanz und dem Parallelismus ihrer Attribute zu überwinden suchte. Für diesen neuen Ontologismus mußte daher der Nachweis, daß der physikalische Körper nicht auf Ausdehung reduzierbar ist, höchst bedeutsam werden. Diese Einsicht vertritt LEIBNIZ. Die Wichtigkeit seiner dynamischen Körperauffassung für seine gesamte Philosophie wird oft mit Recht hervorgehoben. Weniger deutlich pflegt in den Darstellungen zu werden, daß dies doch nur eine spezielle Ausprägung eines viel allgemeineren Verhältnisses ist. Denn LEIBNIZ ist, um es kurz zu sagen, derjenige Ontologist, der alle Schwierigkeiten dieser Richtung erkennt, in sein System verarbeitet und doch Ontologist bleibt. Darum ist seine Philosophie die reichste und komplizierteste, die auf dem Boden des Ontologismus erwachsen konnte. Sie hat für die Phänomenologie und für die Kritik des Rationalismus ein Interesse, wie es in gleichem Maße nur noch HEGELs System erweckt. Andererseits ordnet sich die Mannigfaltigkeit von LEIBNIZens Gedanken unter diesem Gesichtspunkt zu einem architektonischen Ganzen. (7)

LEIBNIZ erkennt die Bedeutung einer irrationalen Quelle des Erkennens nicht etwa nur im einzelnen an - das tat auch mancher Rationalist vor ihm -, sondern er hebt sich auch grundsätzlich hervor. Er führt besondere Prinzipien der Tatsachenerkenntnis ein. (8) Daß die Sinneswahrnehmung der wesentliche Vermittler der besonderen Wahrheiten ist, hebt er ausdrücklich hervor. Aber er löst dieses Zugeständnis an den Sensualismus dadurch rationalistisch auf, daß er die Sinneswahrnehmungen als undeutliche Formen der Verstandeserkenntnisse erklärt. Diese so einflußreiche Lehre hat zwei Wurzeln: einerseits die Fülle der Tatsachen, die auch gegenwärtig immer wieder zur Annahme eines Unbewußten im Seelenleben führen, andererseits die physikalische Zurückführung der Sinnesqualitäten auf Bewegungen eines qualitätslosen Stoffes (9). Man kann sagen, daß LEIBNIZ das Zustandekommen der Qualitäten aus den unbewußt bleibenden Wahrnehmungen der Bewegungen nach Analogie der Entstehung eines unbestimmten Gesamteindrucks aus einer Fülle mitschwingender Erinnerungen denkt. Der Erkenntniswert der Sinneswahrnehmung beruth darauf, daß sie, allerdings nicht für den Menschen, sich als verdunkelte Zusammenziehung reiner Verstandeserkenntnis erweist.

Nun aber tritt zu dem so aufgehobenen Einwand gegen jeden Rationalismus überhaupt die Opposition gegen die körperwissenschaftliche Voraussetzung der rationalistischen Metaphysik der Cartesianer hinzu. Die Bewegungsgesetze des Körpers sind nicht abzuleiten, wenn man Körper mit Ausdehnung gleichsetzt. Dadurch kommt in die, wie es schien, nach dem Bild der Geometrie völlig rationalisierte Physik ein irrationales Element: die dem Körper innewohnende Kraft. LEIBNIZ führt auch dieses irrationale Element durch seine Metaphysik auf eine Rationalität zurück, indem er in Anknüpfung an seine Psychologie die Kraft und damit das wahre Wesen des Körpers als eine Form des Geistes faßt, die auf einer Stufe sehr undeutlicher Erkenntnis stehen geblieben ist. "Corpus est mens momentanea" [Der Körper ist nur momentaner Geist. - wp]. Zugleich gewinnt er dadurch ein neues Mittel zur Verdeutlichung seiner rationalistischen Auffassung des Geistes. Wie eine Differentialformel es erlaubt, durch die Einsetzung bestimmter Wert den ganzen Verlauf einer Kurve oder Bewegung aus dem allgemeinen Gesetz, das in jedem Punkt oder Augenblick gleich erkennbar ist, zu berechnen, so läßt sich auch der Geist gewissermaßen als eine Differentialformel auffassen, deren vollständige Kenntnis die Kenntnis aller seiner künftigen und vergangenen Vorstellungen möglich macht. Man sieht, daß LEIBNIZens Philosophie nicht beim psychologischen Intellektualismus stehen bleiben konnte, sondern zum metaphysischen fortschreiten mußte.

Der Rationalismus war dadurch als Ontologismus bestimmt worden, daß er sich mit der realistischen Auffassung des Erkennens als einer Abbildung verband. Auch die Schwierigkeiten der Abbildungstheorie kennt LEIBNIZ, und zwar nicht erst als Ergebnis eigenen Denkens, sondern schon als Erbe der cartesianischen Schule, insbesondere des MALEBRANCHE. Freilich ist damit zugleich eine Schwäche des Systems berührt. Diese Schwierigkeiten werden nämlich nicht mit Hilfe der prinzipiell entscheidenden erkenntnistheoretischen Fragestellung bewußt, sondern als ein Teil des metaphysischen Problems der Wechselwirkung. Aber diese Schwäche ist ebenfalls kein Zufall. Die hier hervortretende Zurückdrängung der Erkenntnistheorie macht es überhaupt allein möglich, daß LEIBNIZ Ontologist bleibt. So wird dann hier die Abspiegelungstheorie zunächst verworfen: die Monade hat keine Fenster, dann aber mit Hilfe der prästabilierten Harmonie wieder zurückgeführt: Durch diese Harmonie ist jede Monade ein Spiegel des Universums. Es braucht hier nur angedeutet zu werden, daß diese Theorie mit Hilfe der vorher dargestellten Denkmittel, der undeutlichen Vorstellungen und der Differentialformel, durchgeführt wird.

Dieselben Denkmittel und die besondere Stellung des Menschengeistes im Reich der Monaden dienen auch dazu, die Schwierigkeiten zu überwinden, die das Unendlichkeitsproblem jeder Metaphysik in den Weg legt. Denn auch diese Schwierigkeiten hat LEIBNIZ vollkommen durchschaut und anerkannt. (10)

Es war nachgewiesen worden, daß LEIBNIZens Rationalismus zum metaphysischen Intellektualismus führen mußte. Von hier aus könnte ein Einwurf gegen die ganze hier versuchte Konstruktion dieses Systems gemacht werden. In LEIBNIZens Metaphysik scheint doch ein volutaristisches Element zu stecken. Gott wählt diese Welt als die beste aus der unendlichen Zahl der möglichen Welten. Diese Wahl ist der Ursprung der tatsächlichen Wahrheiten. Dadurch scheint das Irrationale schließlich doch ein Eigenrecht zu erhalten. Aber es steht damit wie mit den vorher besprochenen Punktion, wiewohl die rationalistische Auflösung hier infolge der theologisch vorsichtigen Ausdrucksweise weniger hervortritt. Zunächst ist Gottes Freiheit nur scheinbar, als vollkommenes Wesen ist er vollkommen gut und als vollkommene Güte kann er nur durch das Beste bestimmt werden. Das Finden dieses Besten ist aber lediglich Resultat eines intellektuellen Prozesses. Ordnung und Einfachheit, sowie die Menge des Koexistierenden sind die Bestimmungen, die überall wiederkehren, wo LEIBNIZ daran geht, den Begriff der Vollkommenheit näher zu bestimmen; es handelt sich also um rein intellektuelle Werte, denn die an Ästhetisches gemahnende Formulierung knüpft doch eben auch lediglich an die intellektuelle Seite des ästhetischen Wertes an. Charakteristisch für LEIBNIZ ist, daß er so oft betont, es komme keineswegs allein auf das Wohl der selbstbewußten Monaden an. Sogar die Gerechtigkeit im Reich der bewußt wollenden Wesen wird nur als Teil der allgemeinen Ordnung betrachtet und kann daher im einzelnen Fall allgemeineren Rücksichten geopfert werden. Man sieht, die Vollkommenheit der besten Welt ist eine rein intellektuelle Bestimmung. Entsprechend wird auch das Übel als eine bloße Negation erklärt, so daß seine geringstmögliche Summe im Grunde aus der größtmöglichen Menge des Koexistierenden, also aus einem transzendenten Rechenexempel folgt. So löst sich auch das voluntaristische Element in LEIBNIZens Metaphysik vollkommen intellektualistisch auf. (11)

Wenn man diesen großartigen Versuch, den Ontologismus mit voller Berücksichtigung aller Gegengründe aufrecht zu erhalten, überschaut, so wird bei aller Bewunderung doch das Gefühl der Künstlichkeit dieses Baus sofort auftreten. Die widerstreitenden Elemente sind in ein nur labiles Gleichgewicht gebracht, das keine Erschütterung ertragen kann. Die unsystematische, oft durch fremde Einwürfe angeregte Form von LEIBNIZens Schriften trägt noch mehr dazu bei, auf diese Beschaffenheit hinzuweisen, ja sie verführt manchen Leser, den großen Stil des Ganzen zu verkennen, und den planmäßig künstlichen Bau für ein bloßes Gewirr aneinander gereihter Nothütten zu halten. Von der anderen Seite her kann man in LEIBNIZ auch wieder leicht zuviel hineinlegen, wenn man vergißt, daß alle die scharfsinnigen Gegengründe gegen den Ontologismus nur dazu da sind, widerlegt zu werden. Aber freilich mit dem Sturz dieses Systems ist das Schicksal des Ontologismus besiegelt. Alle Versuche, ihn wieder aufleben zu lassen, sind für den Fortschritt des Gedankens bedeutungslos Rückständigkeiten. Es war deshalb geboten, etwas näher auf dieses System einzugehen, zumal der hier durchgeführte Gesichtspunkt, wie ich glaube, Licht in die Darstellung desselben bringen kann.

Die Möglichkeit, aus reinen Identitäten fruchtbare neue Folgerungen zu gewinnen, an der auch LEIBNIZ nicht gezweifelt hatte, war durch die Sensualisten mehr und mehr in Frage gestellt worden. Aber diese Bestreitung war nicht prinzipiell genug, so lange als Gegeninstanz die Mathematik und insbesondere die Geometrie stehen blieb, deren Analogie den Ontologisten zum Leitstern diente. Darum ist der von KANT in seiner Inauguraldissertation wesentlich auf dem Boden des Rationalismus geführte Beweis, daß alle mathematischen Sätze ihre Fruchtbarkeit nicht dem bloßen Denken, sondern zugleich den hinzutretenden reinen Formen der Sinnlichkeit verdanken, von so fundamentaler Bedeutung. Da zugleich die Zurückführung der Sinnlichkeit auf undeutliche Erkenntnis beseitigt wird, ist die Katastrophe des Ontologismus eingetreten. Noch bleibt die Erkenntnis der intelligiblen Welt als eine Möglichkeit stehen; aber diese Möglichkeit, zu deren Verwirklichung sich schon hier kein Weg zeigt, wird in der Kritik der reinen Vernunft vollkommen beseitigt durch den Nachweis, daß ohne einen hinzukommenden Faktor die Kategorien des Verstandes keine Erkenntnis geben können. Da zugleich die Abbildungstheorie widerlegt wird, ist der Ontologismus besiegt, mögen sich auch noch so viele Reste der durch die Arbeit eines Lebens überwundenen Jugendanschauungen in einzelnen Aussprüchen KANTs erhalten haben. Aber der Rationaismus ist mit dieser seiner einen Form noch nicht beseitigt. Eine neue Form desselben findet sogar gerade bei KANT einen wichtigen Anknüpfungspunkt. Die  Abhängigkeit  alles Erkannten von den Formen des Erkennens kann leicht zu dem Bestreben erweitert werden, nun den Erkenntnisinhalt aus diesen Formen ableiten zu wollen. Der fundamentale Unterschied dieses nachkantischen Rationalismus vom Ontologismus liegt zunächst darin, daß er seine Ansprüche nicht mehr auf irgendeine Abspiegelungstheorie gründen kann. Da aber auch dieser Rationalismus das wahre Wesen der Welt erkennen, also metaphysisch sein will, so muß er eine andere Begründung dieser Metaphysik suchen. Er findet sie in der Überzeugung, daß das reine Denken unmittelbar identisch mit dem wahrhaft Wirklichen ist. Im Ausgehen von der Selbstgewißheit des Denkens und in der metaphysischen Wendung, die er dieser Selbstgewißheit sogleich gibt, stimmt er mit PLATO und DESCARTES überein; aber er fällt nicht, wie diese, in eine Abspiegelungstheorie zurück. Aller Ontologismus hatte trotz entgegengesetzter Ansätze schließlich immer die Wahrheit wie eine vom Denken außerhalb seiner selbst zu fassende Sache gedacht sei, war also realistisch gewesen oder geworden. Erst die Nachfolger KANTs verbinden den Ratonalismus mit konsequentem Idealismus. Man kann daher ihre Stellungnahem als  idealistischen, metaphysischen Rationalismus  bezeichnen. Vollendet durchgeführt ist diese Philosophie im System HEGELs. Auf ihn bezieht sich daher diese Darstellung wesentlich, da es ihr nicht auf den historischen Nachweis der Zusammenhänge, sondern auf die systematische Charakteristik der Hauptformen ankommt. Soll das Denken den wahren Inhalt in sich selbst haben, so muß die Lehre vom denken nicht nur formale, sondern auch materiale Grundwissenschaft sein: Logik und Metaphysik fallen zusammen. Nun war aber durch KANTs Analyse des mathematischen Erkennens der alten, auf dem Satz des Widerspruchs beruhenden, formalen Logik auch der letzte Schein materialer Fruchtbarkeit entzogen. "Die gesunde Vernunft hat ihre Ehrerbietung vor der Schule, die im Besitz solcher Gesetze der Wahrheit und in der sie noch immer so fortgeführt werden, so sehr verloren, daß sie dieselbe darob verlacht, und einen Menschen, der nach solchen Gesetzen wahrhaft zu sprechen weiß: Die Pflanze ist eine - Pflanz, die Wissenschaft ist - die Wissenschaft,  und so fort ins Unendliche,  für unerträglich hält." (12). Auch die syllogistischen Regeln haben zwar eine wesentliche Bedeutung, betreffen aber überhaupt nur eine Richtigkeit der Erkenntnisse, nicht die Wahrheit. Es muß also eine ganz neue Logik gefunden werden, wenn sie der ihr hier gestellten Aufgabe genügen soll. Diese neue Logik wird gewonnen durch eine völlig veränderte Auffassung der Negation. "Das Einzige,  um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen,  und um dessen ganz  einfache  Einsicht sich wesentlich zu bemühen ist, - ist die Erkenntnis des logischen Satzes, daß das Negative ebensosehr positiv ist, oder daß das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstrakte Nichts auflöst, sondern wesentlich nur in die Negation seines  besonderen  Inhaltes, oder daß eine solche Negation nicht alle Negation, sondern  die Negation der bestimmten Sache,  die sich auflöst, somit bestimmte Negation ist; daß also im Resultat wesentlich das enthalten ist, woraus es resultiert." (13) Diese positive Bedeutung macht die Negation geeignet, Moment in der Selbstbewegung des Geistes zu werden, und diese Selbstbewegung ist ja zugleich das wahre Denken und das wahre Sein. Daß HEGELs Rationalismus metaphysischer Intellektualismus sein muß, folgt hieraus ohne weiteres. Ja, es gibt kaum ein anderes System, das diese Richtung so unvermischt vertritt, und man hat daher den Namen Panlogismus dieser Weltanschauung besonders zugeeignet. Zugleich erhält hier der Intellektualismus des Wertens eine besondere Bedeutung: die praktisch gesetzgebende menschliche Vernunft wird zugleich bevorzugtes Objekt und methodisches Vorbild des Philosophierens. Sie rückt gleichsam in die Stelle ein, die im 17. Jahrhundert die mathematische Naturwissenschaft eingenommen hatte. Die dialektische Logik kann zugleich dem historischen Gang der kultursetzenden Vernunft gerecht werden und erhält von ihm ihren Inhalt. Intellektualismus und Rationalismus fallen hier vollständig zusammen.

Das HEGELsche System hat sich durch seine Ausführung selbst widerlegt. Ganz unverkennbar nimmt es immer wieder Inhalte auf, die es nicht aus der dialektischen Bewegung seines Denkens erzeugt. Daß auch diese Form des Denkens dem Denkinhalt gleichgültig gegenübersteht, zeigte sich in der Zersetzung der HEGELschen Schule dadurch, daß das Schema des Meisters von den verschiedenen Jüngern mit entgegengesetztem Inhalt erfüllt wurde. Dabei war auch unschwer nachzuweisen, daß dieses dialektische Denken selbst keineswegs, wie es beansprucht, reines Denken ist. Mit diesem Zusammenbruch des HEGELschen Systems ist bisher wenigstens die Geschichte des  metaphysischen  Rationalismus zu Ende, und es ist auch kaum abzusehen, mit welchen Mitteln eine wesentlich neue Form desselben geschaffen werden sollte, da sich seine Durchführung mit Hilfe des gewöhnlichen logischen Denkens also ebenso unmöglich erwiesen hatte, wie seine Konstituierung durch ein dialektisches Denken. Indessen bleibt bei diesem Sturz eine Frage bestehen. Unzweifelhaft haben doch sowohl die alten wie die neuen rationalistischen Systeme große positive Leistungen aufzuweisen. Man darf daran erinnern, was der Ontologismus für die Physik bedeutete, wie die kleinen Vorstellungen LEIBNIZens die Psychologie bereicherten, welche Bedeutung der nachkantische, metaphysische Idealismus für Geschichte und Normwissenschaften hat. Noch wesentlicher vielleicht aber ist, daß fast alle großen Fortschritte in der philosophischen Problemstellung von der Begründung und Widerlegung der großen rationalistischen System von PARMENIDES und HERAKLIT bis auf HEGEL herstammt. Die Geschichte des Rationalismus gleicht einigermaßen der der Kreuzzüge. Eine große Idee bewegt zu unerhörten Anstrengungen; das gelobte Land wird nicht dauernd erobert, aber von jedem Zug werden die reichsten Keime neuer Entwicklungen zurückgebracht. Sollte sich darin nicht eine wesentliche Bedeutung des Rationalismus aussprechen? Sollte es nicht genügen, daß man den undurchführbaren metaphysischen Anspruch aufgibt, um den wahren methodologischen Kern rein zu erhalten? So etwa könnte eine mehr  ad hominem  [Polemik in Bezug auf die Person des Gegners - wp] als  ad rem  [auf die Sache bezogen - wp] gerichtete Begründung der letzten Form des Rationalismus operieren, der ich mich nun noch zuzuwenden habe.

Im Gegensatz zu allem metaphysischen Rationalismus ist diese neue Form nur methodologisch. Sie teilt natürlich mit dem idealistisch metaphysischen Rationalismus die Gegnerschaft gegen die Abspiegelungstheorie, gibt aber zugleich auch den Anspruch auf, in der Selbstbewegung des Denkens die wahre Wirklichkeit unmittelbar zu besitzen. Durch diese allgemeinen Bestimmungen ist der methodologische Rationalismus mehr negativ begrenzt, seine positive Kennzeichnung ist eine Aufgabe anderer Art, als die Charakteristik der vorher geschilderten Formen. Denn er liegt nicht, wie diese, schon in Gestalt eines großen, durchgebildeten Systems vor, sondern tritt meist als bloße Voraussetzung auf, die kaum deutlich zum Bewußtsein erhoben wird. Es erscheint seltsam, daß man in der Gegenwart wieder einer halb unbewußten Form des Rationalismus größere Beachtung schenken muß - aber die Verwunderung darüber vermindert sich, wenn man wahrnimmt, daß nicht nur der Rationalismus als Ganzes erst "ansich" ist, ehe er "für sich" wird, sondern daß jede seiner Hauptformen wenigstens teilweise einen ähnlichen Entwicklungsgang von neuem durchlebt, wenn auch die anfängliche Unbewußtheit keine totale mehr ist. Da sich der methodologische Rationalismus meist erst im Stadium der Latenz oder doch nur der allmählichen Emporarbeitung zum Bewußtsein befindet, wird es vorteilhaft sein, hier von der Berücksichtigung einzelner Philosophen und Werke ganz abzusehen. Man kann stets schwer bestimmen, wie weit die betreffenden Autoren die Konsequenz, die sich in Richtung dieser Ansicht aus einzelnen ihrer Ausführungen ziehen läßt, wirklich anerkennen würden. (14)

Da der methodologische Rationalismus keine fertige rationale Welt annimmt, so muß ihm das Erkennen zum Erzeugen einer Rationalität werden. Diese Rationalisierung setzt ein Irrationales als Anfangsglied voraus. Da nun zugegeben werden mß, daß die Rationalisierung verschiedenen Wissenschaften in verschiedenem Maße gelungen ist, so kann der methodologische Rationalismus einen gewissen vorläufigen Anteil des Irrationalen anerkennen, d. h. er kann laxer Rationalismus sein, ohne inkonsequent zu werden. Von jeder Form des Utraquismus unterscheide er sich dabei doch dadurch, daß der  Wert  jeder Wissenschaft durch ihre Rationalität gemessen wird. Im letzten Sinn bleibt also das Irrationale immer nur Aufgabe, wird nie als Endgültiges anerkannt. Die rationalistische Wissenschaft, die so als Grundlage des methodologischen Rationalismus erscheint, orientiert sich den Hauptformen des neueren metaphysischen Rationalismus entsprechend entweder an der Mechanik oder an der praktisch gesetzgebenden Vernunft oder an beiden zugleich. Diese zwei Arten oder Zweige gilt es noch etwas näher zu betrachten.

Die mathematische Physik rationalisiert die Körperwelt durch die Ausscheidung alles Qualitativen. Nur quantitative Bestimmungen, durch Gesetze verbunden, die selbst in Form von Gleichungen auftreten, bleiben übrig. So wird ein Ansatz denkbar, der eine Berechnung aller vergangenen und zukünftigen Welt-Zustände erlaubt. Wenn man nun den Anspruch aufgibt, daß diese Welt des Quantitativen das wahrhaft Wirkliche ausdrücke, so kann man sie doch als das eigentliche Ziel aller Erkenntnisarbeit ansehen. Die Konstanten, mit denen, als mit Daten, jede solche Konstruktion arbeiten muß, werden als etwas Vorläufiges oder Untergeordnetes betrachtet. Die Kausalgleichungen geben dem alten Hauptsatz alles nicht dialektischen Rationalismus, dem Satz der Identität, seine Würde zurück. Darum hängt auch die Frage, ob Kausalität sich auf Identität zurückführen lasse, sehr eng mit dem Streit um den methodologischen Rationalismus zusammen. Als Haußtanzeichen für das Vorhandensein dieser Richtung, auch wo ihr Grundsatz nicht ausgesprochen ist, kann man das Argumentieren mit der sogenannten LAPLACEschen Weltformel ansehen. Aber es wäre doch auch einer näheren Erwägung wert, ob nicht der Wunsch, Biologie auf Physik und Chemie, Chemie auf Physik, Physik auf Mechanik zurückzuführen, im Grunde aus dieser Art von Rationalismus hervorgeht. Ganze Gruppen naturphilosophischer Streitigkeiten, die um die Schlagworte der Energetik und des Neo-Vitalismus geführt werden, könnten vielleicht hier ihren tiefsten erkenntnistheoretischen Ausdruck erhalten. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß durch die Bezeichnung einer Behauptung als methodologisch-rationalistisch diese weder bewiesen noch widerlegt ist, sondern nur der Weg gewiesen ist, auf dem der Streit ums sie zur Entscheidung gebracht werden kann. (15)

Neben dieser naturwissenschaftlichen Gedankenrichtung zeigt sich im methodologischen Rationalismus eine wertende. Sie kennzeichnet sich durch das Bemühen aus, die nicht logischen Werte, die ethischen, ästhetischen und religiösen rein rationalistische, aus der Gesetzgebung der Vernunft abzuleiten. Wenn man den Ausdruck "reine praktische Vernunft" - gleichviel ob im Sinne seines Urhebers - prägnant gebraucht, so kann er als Kennwort dieser Gedankenrichtung dienen. Gesetzgebung durch reine Vernunft - das ist nach dieser Ansicht der wahre Inhalt allen praktisch-menschlichen Handelns. da für diesen Rationalismus Erkenntnismittel und Erkenntnisinhalt beim Werten wiederum zusammenfallen, so muß er einen wertenden Intellektualismus erzeugen. Das Irrationale in unserem Handeln und Fühlen ist ihm nur Material, Ausgangspunkt, höchstens Vorbereitung - es muß in jedem Fall überwunden werden. Die Diskussion dieser Grundfrage auf ethischem usw. Gebiet ist über Gebühr durch andere Probleme zurückgedrängt worden. Aber wer den logischen Kern ergreifen kann und nicht einmal nach dieser Richtung hin aufmerksam geworden ist, der hört Verwandtschaft oder Feindschaft zu diesem methodologischen Rationalismus oftmals als Grundton aus den verworrenen theoretischen und selbst praktischen Streitigkeiten dieser Gebiete heraus. Als ein Kriterium, das auf einen methodologischen Rationalismus hinweist, kann man überall die besondere Wertschätzung des begrifflich Allgemeinen bezeichnen. Der Allgemeinbegriff ist den empirischen Exemplaren gegenüber unzweifelhaft ein von der Vernunft erzeugtes Gebilde. Vielfach wird aber - in meist unbewußten Anschluß an PLATO - diese formale Rationalität des Begriffs zu einer inhaltlichen umgedeutet, obwohl doch der Inhalt fast aller Begriffe irrationale Elemente enthält. Diese Verschiebung des Rationalen, dieser Schein, als sei der Begriff als solcher etwas Rationales, wird durch eine Doppeldeutigkeit der Terminologie verstärkt, die besonders bei KANT hervortritt. "Begriff" wird hier einerseits in der gewöhnlichen allgemeinen Bedeutung, andererseits aber auch prägnant für die den Begriff erzeugende Vernunftfunktion, die Kategorie, gebraucht. In den berühmten Formeln "Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne Anschauungen leer" steht "Begriff" z. B. durchaus in diesem prägnanten Sinn. So meint man so im "Begriff" sogleich ein vollendet Rationales zu erfassen. Gerade wo diese Gedanken nicht klar analysiert werden, spielen sie bei der Wirkung des Allgemeinen mit. In der Ästhetik entsteht so eine besondere Schätzung der Darstellung des Typisch-Durchschnittlichen - wobei sich freilich ein Nebenbegriff des idealen Typus fast stets einmischt. Frei von der Doppeldeutigkeit des Wortes "Begriff" bleibt der Versuch, das Ästhetische von den Prinzipien der Formung der Anschauungen her (Einheit, Klarheit, Deutlichkeit usw.) rational zu fassen. Auf ethischem Gebiet ist es die Absicht des methodologischen Rationalismus, den Inhalt der sittlichen Gebote aus dem Formalprinzip der praktischen Vernunft herzuleiten. Charakteristisch ist es, wie er sich dabei zu den von der Geschichte gegebenen sittlichen Gestalten stellt. Man kann das besonders gut am Beispiel der Nation darlegen. Es sind hier zwei Möglichkeiten vorhanden: entweder die Rationalität wird als Zufälligkeit sittlich entwertet - höchstens als unvollkommene, zu überwindende Vorstufe anerkannt, oder man such eine bestimmte Nation dadurch zu retten, daß man ihr einen in abstrakten Begriffen faßbaren Sonderwert beilegt. Man braucht dabei nicht etwa so weit zu gehen, daß man nur eine Nation als "die" sittlich berechtigte anerkennt, sondern man kann einige sich abstrakt ergänzende Unterschiede abzuleiten suchen.

Man könnte in Versuchung kommen, das Problem des methodologischen Rationalismus in Antinomien zu formulieren. Auf naturwissenschaftlichem Gebiet z. B. stünde dann der Thesis: "Alle Naturwissenschaft ist fortschreitende Rationalisierung, ihr Ziel ist Auflösung aller bloßen Tatsächlichkeit in Rationalität" die Antithesis gegenüber: "In allen Sätzen der Naturwissenschaft liegt ein irrationaler Faktor, dessen genaue Feststellung wesentliche Aufgabe der Wissenschaft ist und der nie auf Rationalität zurückgeführt werden kann." Indessen ist leicht zu sehen, daß mit einer solchen Gegenüberstellung noch nicht viel gewonnen wäre. Zunächst liegen nämlich hier noch zwei Fragen, vor die ineinander verstrickt sind: Muß in jeder Erkenntnis ein Irrationales liegen? und: Hat das Irrationale Erkenntniswert? Mit der Bejaung der ersten Frage wäre noch ein methodologischer Rationalismus vereinbar - nur müßte er zugestehen, daß sein Ziel unerreichbar ist. Erst die Bejahung der zweiten Frage schließt jeden Rationalismus aus. Ferner wird sich die Antwort verschieden gestalten, je nachdem, ob man Naturwissenschaft ihrer Methode nach für die allein vorbildliche Wissenschaft hält oder nicht, und ob man im zweiten Falle alles Irrationale der Beimengung einer anderen Art wissenschaftlicher Zielsetzung zuschieben zu können meint, oder ob man auch die nicht naturwissenschaftliche Erkenntnis etwa ethisch-teleologisch rationalisieren zu können glaubt. Hier sieht sich die Diskussion dann sogleich ins Einzelne und Weite getrieben. Andererseits bemerkt man, wie der naturwissenschaftliche Zwang des Rationalismus Stellung zu nehmen hat zu einer allgemein-wissenschaftlichen Erweiterung seiner Thesis, und wie diese Erweiterung sogleich auf den wertenden Rationalismus hinführt. Hier scheint also umgekehrt eine noch allgemeinere Fragestellung gefordert zu werden, welche die beiden bisher behandelten Fälle des methodologischen Rationalismus zu bloßen Beispielen herabwürdigt. Die stolze, tätige Selbständigkeit der Vernunft, die allein Wert zu haben und zu verleihen scheint, und die Unmöglichkeit, aus bloßer Vernunft irgendetwas Inhaltvolles abzuleiten, stehen einander gegenüber - so könnte man etwas populär und gefühlsmäßig sagen. Es kann die Aufgabe dieser phänomenologischen Untersuchung nicht sein, einen strengeren Ausdruck des Gegensatzes an die Stelle dieser unbestimmten Fassung zu setzen. Noch weniger ist es hier möglich, die Auswege, Spielarten und Mischformen der entgegenstehenden Ansichten zu überblicken. Es sollte nur gezeigt werden, daß der Rationalismus keine tote Größte ist, daß vielmehr ein neuer Streit um eine neue Erscheinungsform desselben notwendig bevorsteht, ja im einzelnen überall begonnen hat. Der Ertrag dieses Kampfes für den Fortschritt der Wissenschaft wird aber zum großen Teil davon abhängen, ob sich die Gegensätze klar und rein ausprägen können. Wenn dazu hier einige Anregung geboten würde, so hätte diese kleine Studie ihren wesentlichsten Zweck erreicht.

LITERATUR - Jonas Cohn, Die Hauptformen des Rationalismus, Philosophische Studien 19, Leipzig 1902
    Anmerkungen
    1) JOHN LOCKE, Essay of Human Understanding I, 1, § 2, stellt es als seine Ansicht hin, "to enquire into the original, certainty and extent of human knowledge", und bald darauf meint er, er werde seine Arbeit nicht als verloren ansehen, wenn er Auskunft über die Wege geben könnte "whereby our understandings come to attain those notions of things we have and can set down  any measures of the certainty of our knowledge"  etc. (ich unterstreiche!) vgl. auch § 7. - LEIBNIZ war sich sogar über die nur sekundäre Bedeutung der Ursprungsfrage völlig klar. Um 1695 schreibt er (Philosophische Schriften, hg. von C. J. GERHARDT, die ich auch künftig zitiere) V, 16: "La question de l'origine de nos idées et de nos maximes n'est pas préliminaire en philosophie et il faut avoir fait de grands progrés pour la bien résoudre." Die unglückliche Form seiner Schriften hat es gefügt, daß wir den polemischen Kommentar zu LOCKEs Werk, die "Nouveaux essais", als LEIBNIZens erkenntnistheoretisches Hauptwerk ansehen müssen. Hier wird dann in einer, LEIBNIZ selbst deutlich unsympathischen Weise, die Frage der angeborenen Vorstellungen in den Vordergrund geschoben.
    2) Durch diese Art der Fragestellung unterscheidet sich meine Bestimmung des Rationalismus grundsätzlich von der PAULSENs: "Über die prinzipiellen Unterschiede erkenntnistheoretischer Ansichten", Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 1, Seite 159.
    3) EUGEN KÜHNEMANN, Grundlehren der Philosophie, Berlin 1899
    4) HERAKLEITOS von Ephesos. Griechisch und deutsch von H. DIELS. Berlin 1901. Fragm. Nr 112, 113 - dazu, um den Wert des Gemeinsamen bei HERAKLIT zu würdigen, Fragm. 89
    5) PARMENIDES Lehrgedicht, griechisch und deutsch von H. DIELS. Fragm. I, Vers 33 - 38, Fragm. V, Fragm. VIII, Vers 34 - 37.
    6) Diese negative Charakteristik der Sophisten erschöpft natürlich ihre Verdienste um die Erkenntnistheorie nicht, sie ist platonisierend und daher einseitig - aber auf den Rationalismus hat eben gerade diese einseitige Auffassung der Sophistik gewirkt.
    7) Daß die Betrachtung eines Systems unter nur einem phänomenologischen Gesichtspunkt notwendig einseitig ist, ist selbstverständlich. Ich hebe es nur hervor, um zu erkennen zu geben, daß ich mir dieser Einseitigkeit bewußt bin. In der Metaphysik - und das bedeutet bei LEIBNIZ eben doch im Zentrum der Philosophie - bleibt LEIBNIZ Ontologist, während bei seiner Behandlung spezialwissenschaftlicher Probleme die Gegenmotive, die er dann metaphysisch auflöst, öfters allein zum Ausdruck kommen. Wie sich das Bild unter Voranstellung der mathematisch-physikalischen Gedankenreihen gestaltet, dazu vgl. jetzt: ERNST CASSIRER: "Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen", Marburg 1902. Dieses Buch erschien erst, als die obige Darstellung schon niedergeschrieben war.
    8) Zum Beispiel Ph. IV, Seite 357
    9) siehe neben der Hauptstelle im Vorwort der "Nouv. Ess." Ph V, Seite 46 - 49 für den Zusammenhang der "petites perceptions" mit den sekundären Qualitäten, die so vor dem Vorwurf der Willkürlichkeit gerettet werden, Ph. V, Seite 109 (Nouv. Ess. II, 2, 1) Ph. V. 118 (Nouv. Ess II, 8, 13), Ph. II, 314 usw. Unter den psychologischen Tatbeständen scheint der ästhetische Geschmack noch eine besondere Rolle gespielt zu haben. H. von STEIN, Entstehung der neueren Ästhetik (Stuttgart 1886), Seite 102, weist auf den Begriff der "delicatesse de goût" hin. Ein Beweis dafür, daß LEIBNIZ diesen Begriff bei seinem ersten Pariser Aufenthalt aufgenommen hat, findet sich in einem in GUHRAUERs Biographie I, 114 mitgeteilten Brief an HABBEUS. Auch 1686 wird die ästhetische Beurteilung als Beispiel der "idée claire mais confuse" gebraucht Ph. IV, 449.
    10) Vgl. die Darstellung in meiner "Geschichte des Unendlichkeitsproblems", Leipzig 1896
    11) Dies ist aus der Theodizee [Rechtfertigung Gottes - wp], dem scheinbar am meisten voluntaristischen Werk LEIBNIZ', heraus zu belegen. Vgl. besonders Nr. 208, Ph. VI, 241, die ganz rationalistische Bestimmung der gewählten Regeln, dann die Definition des Übels als Negation Nr. 29, Ph. VI, 119 usw.
    12) HEGEL, Logik, Vorrede zur 2. Auflage, Werke III, Seite 20
    13) HEGEL, Logik, Einleitung, Werke III, Seite 41
    14) Auch von der Erörterung der sehr schwierigen Frage, inwieweit KANT methodologischer Rationalist, inwieweit er Utraquist war, soll hier abgesehen werden. Ansätze zu beiden Richtungen finden sich unzweifelhaft bei ihm.
    15) Eine interessante Anwendung hat dieser naturwissenschaftlich orientierte methodologische Rationalismus durch MÜNSTERBERG auf die Begründung der Psychologie gefunden. Vgl. meinen Aufsatz: "Der psychische Zusammenhang bei Münsterberg", Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie, Bd. 26, Seite 1