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Die Ursachen des Verfalls der Philosophie [4/5]
R A T I O N A L I S M U S Neben dem Empirismus und Sensualismus, welche in neuerer Zeit von BACON und LOCKE ausgingen und im Materialismus und Skeptizismus ihren Abschluß fanden, erhob sich eine andere, diesen entgegengesetzte Richtung, welche nicht in der Sinnlichkeit, sondern in der Vernunft die eigentliche Quelle der Erkenntnis suchte und deshalb mit dem Ausdruck Rationalismus bezeichnet wurde. Der Begründer dieser philosophischen Richtung ist CARTESIUS und deren Hauptvertreter SPINOZA, LEIBNIZ und WOLFF. Sich frei zu machen von aller Autorität, heißt sie Bibel oder Kirche, Dogmatik oder Tradition ist auch sein Bestreben. Selbst die regelmäßige Erfahrung bietet ihm kein sicheres Kriterium für die Wahrheit. Denn sie ist ungewiß und voll von Täuschungen (1). Die sinnlichen Eindrücke sind dunkel und verworren. Nur die Vorstellungen und Begriffe der Vernunft, oder was ich klar und deutlich einsehe, ist wahr (2). CARTESIUS verlangt deshalb, daß alles, die Erfahrung wie auch der Glaube an Gott und die eigene Existenz dem Zweifel unterworfen wird. Um dieser allgemeinen Forderung willen stellten hervorragende Kenner der Geschichte die Behauptung auf: Die neuere Philosophie hätte genau da angefangen, wo die alte aufgehört hat, also ob in einer tausendjährigen Epoche, in welcher sich auf religiösem und politischem, ethischem und sozialem Gebiet die größten Umwälzungen vollzogen, die Philosophie gänzlich unberührt geblieben wäre. Man kann einen methodischen und prinzipiellen Skeptizismus unterscheiden. Der cartesische Zweifel soll nur als Mittel zur Erkenntnis wissenschaftlich begründeter Wahrheit dienen. (3) Diese Art von Zweifel ist durchaus berechtigt, ja sogar notwendig, und verdient deshalb eher mit dem Namen Kritizismus belegt zu werden. Der Skeptizismus im wahren und eigentlichen Sinn besteht in der Überzeugung, daß es überhaupt keine objektive Wahrheit gibt. CARTESIUS huldigt vor allem dem Rationalismus (4), d. h. einem Begriff, worin sich gleichfalls zwei Momente unterscheiden lassen: ein methodisches, welches die Forderung erhebt, daß jede Behauptung sich vor der klar denkenden Vernunft rechtferigen muß (5). Damit ist der Standpunkt aus dem Äußeren in das Innere, aus der Bibel, Kirche, Tradition, Sinnlichkeit in das kritische Bewußtsein verlegt. Offenbarung und sinnliche Wahrnehmung haben ihre höhere und entscheidende Instanz an der Vernunft. Das andere metaphysische Moment besteht in dem Glauben an die Transzendenzfähigkeit des Denkens. Was ich ganz klar und deutlich erkenne, ist wahr. In den subjektiven Begriffen ist das Wesen der Sache selbst objektiv enthalten. Zu dieser Auffassung hat vorzugsweise die Mathematik beigetragen. CARTESIUS gehört mit zu den Begründern dieser Wissenschaft (6). Die Mathematik entspringt nicht aus der Empirie oder den sinnlichen Wahrnehmungen, sondern aus dem Denken. In ihr besonders kommt die Klarheit und Deutlichkeit zum Ausdruck. Will man sichere Fortschritte machen in der Metaphysik und Naturwissenschaft, so muß man dieses Verfahren anwenden. LEIBNIZ war derselben Ansicht (7), nur daß er zwischen den rationalen Wahrheiten, welche in der Übereinstimmung der Begriffe unter sich und den tatsächlichen, die in der Übereinstimmung der Begriffe mit dem Gegenstand bestehen, unterscheidet (8). Am konsequentesten hat sich SPINOZA dieser Methode bedient, aber leider zum Nachteil sowohl seines Prinzips als seiner Darstellung. Aus diesem spekulativen Rationalismus ging später durch WOLFF und die Aufklärung der vulgäre hervor, welcher ganz in Oberflächlickeit ausartete. Mit KANT beginnt eine neue Epoche, die dem einseitig rationalistischen und sensualistischen Charakter der Philosophie ein Ende machte. Um die Hauptmängel des Rationalismus aufzuzeigen, gehen wir von der kantischen Kritik aus, und zwar vom wichtigsten Resultat derselben, von der Unerweisbarkeit der Existenz Gottes. An diesem Punkt werden uns die Schwächen der alten Metaphysik m deutlichsten in die Augen springen. Zunächst jedoch möchten wir ein Vorurteil berichtigen, welches sich hartnäckig in der Geschichte erhalten hat. Bei der Untersuchung der Gottesbeweise nämlich kommt man in der Regel auf ANSELMUS, als den Urheber des ontologischen Arguments, zurück, aber wie uns scheinen will, mit Unrecht. Wer den Glauben an die Offenbarung zum Ausgangspunkt nimmt, wie es in dem Motto: credo, ut intelligam [Ich glaube, damit ich erkennen kann - wp] geschieht, wodurch die Richtung der ganzen Periode charakterisiert wird, der kann unmöglich, ohne sich selbst zu widersprechen, die Hauptquelle der Erkenntnis des Übersinnlichen im logischen Denken suchen (9). Hätte er geglaubt, die Existenz Gottes aus der Vernunft beweisen zu können, so würde er damit die Offenbarung für überflüssig oder die Vernunft als gleichberechtigt neben der Bibel erklärt haben. Ist beides undenkbar, so kann sein Beweis nur als logische Formulierung des im Voraus geglaubten Inhalts betrachtet werden. Die Gewißheit von der Existenz Gottes entspringt ihm nicht aus der Vernunft, als rein logischem Vermögen, sondern aus dem religiösen Gefühl, welches sich bei ihm in einem Glauben an die Kirche und Offenbarung ausspricht. Somit ist ihm die Vernunft nur die Form, aber nicht die Quelle des transzendenten Erkennen; folglich kann sein Beweis nur eine Analyse und syllogistische, d. h. logisch formale Darlegung des geglaubten Inhalts sein. Um ANSELMUS richtig zu verstehen, darf man seinen Beweis von seinem kirchlichen Standpunkt nicht trennen und für sich allein ins Auge fassen. Nimmt man beides zusammen, so ergibt sich folgende Gedankenreihe: Ich glaube an Gott den allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erde, wie die unfehlbare Kirche, gestützt auf die göttliche Offenbarung, uns lehrt. Als Schöpfer ist Gott die Ursache des gesamten Universums und folglich der Inbegriff aller darin vorhandenen Vollkommenheiten. Ist die Gottheit die Ursache aller Wirkungen, so wäre es ein Widerspruch ihre Existenz bezweifeln zu wollen. Zu den relativen Vollkommenheiten gehört die Urvollkommenheit, folglich muß sie gedacht werden, d. h. existieren (10). Es ist nicht zu verkennen, daß hier ein rationalistisches Moment zum Vorschein kommt, welches darin besteht, daß ANSELMUS esse in intellectu und "esse in re", die Notwendigkeit des Denkens und die Notwendigkeit des Seins miteinander identifiziert (11). Aber dieser Konsequenz ist sich ANSELMUS nicht klar bewußt. Sein Denken war getragen und durchdrungen vom Glauben. Was er beweisen wollte, die Existenz Gottes, stand im Voraus unerschütterlich fest. Aus diesem Grund konnte er einen Beweis gar nicht versuchen, sondern wie gesagt, den geglaubten Inhalt nur klarlegen, d. h. eine vernünftige Rechtfertigung des Glaubens geben wollen. Ein echter Rationalist setzt nicht einen bestimmten Glauben voraus, nach welchem sich die Vernunft zu richten hätte, vielmehr umgekehrt, ist ihm die Vernunft die höchste und letzte Instanz, aus welcher alle Wahrheit abgeleitet werden muß. Versteht man unter einem ontologischen Beweis die Ableitung der Existenz Gottes aus dem bloßen Denken, so ist ANSELMUS nicht der Urheber dieses Arguments und KANTs Kritik trifft wohl den Beweis als solchen, aber nicht den des ANSELMUS. Es wird zweckmäßig sein, schon hier darauf aufmerksam zu machen, daß die Scholastik mit dem Prinzip des Glaubens - abgesehen von seiner Anwendung auf die Offenbarung - einen Standpunkt einnahm, an den keine Kritik heranreicht, und daß KANTs Verdient lediglich in der Vernichtung der rationalistischen, aber nicht der religiösen Metaphysik besteht. Ungleich wichtiger als die Urheberschaft des ontologischen Arguments ist das darin ausgesprochene Bestreben, die dogmatischen Glaubenssätze - sogar Trinität [Dreifaltigkeit - wp] und Inkarnation [Wiedergeburt - wp] suchte er mittels platonischer und neuplatonischer Doktrinen rational zu begründen, was später THOMAS von AQUIN und DUNS SCOTUS abwiesen - vor der Vernunft rechtfertigen zu wollen. Wir erkennen in diesem Streben der ersten scholastischen Periode die Uranfänge einer selbständigen Vernunftbetätigung und die Wurzeln des späteren Rationalismus, wie er durch CARTESIUS begründet wurde. Ein schlagender Beweis, daß die neuere Philosophie nicht unmittelbar an das Griechentum anknüpfte, sondern aus der Scholastik hervorging. Im Verlauf dieser Abhandlung wird uns noch klarer werden, welche Bedeutung dem scholastischen Prinzip zukommt, und wie notwendig das Studium der Geschichte dieser ganzen Periode ist, um den lebendigen Zusammenhang zwischen der antiken und modernen Philosophie zu erkennen. Nach dieser Vorbemerkung, deren weitere Ausführung uns später beschäftigen wird, heben wir die wichtigsten Punkte der kantischen Kritik hervor, um dadurch einen Maßstab zur Beurteilung des Rationalismus zu gewinnen. Statt vom dogmatischen Glauben an die Identität von Denken und Sein auszugehen, unterscheidet KANT zwischen den subjektiven Denkformen und der objektiven Realität. Soweit sich die Kategorien und Begrife auf einen von innen oder außen gegebenen Inhalt beziehen, kommt ihnen eine wissenschaftliche Bedeutung zu. Wo kein solcher Inhalt gegeben ist, hört ihre objektive Gültigkeit auf. Der Schluß von der Denkbarkeit Gottes auf dessen notwendige Existenz kann deshalb keine Gewißheit verschaffen, weil man sich nur in Begriffen bewegt, die des Inhalts entbehren. Unser Denken ist nicht transzendent, sondern bloß transzendental, d. h. die Kategorien sind zwar a priori, finden jedoch nur Anwendung innerhalb der Erfahrung, aber nicht darüber hinaus. Die Frage ist nun: Gibt es ein solches absolut vollkommenes Wesen in der Erfahrung, auf welches die Kategorien bezogen werden könnten? Schon CARTESIUS hatte behauptet, daß die Idee des Unendlichen nicht aus dem Endlichen abstrahier werden kann und da sie doch in uns vorhanden ist, muß sie notwendig von Gott selbst herrühren. KANT bestreitet nicht, daß sich eine solche Idee in uns vorfindet; allein die Frage ist eben, wie weit ihr außerhalb des Bewußtseins eine objektive Realität zukommt. In allen Beweisen für das Dasein Gottes, dem ontologischen, kosmologischen und teleologischen handelt es sich nur um diese objektive Existenz. Kann unser Denken, sofern es wissenschaftlich bleiben will, nicht über sich selbst und die Erfahrung hinaus und ist in der Erfahrung ein solches absolut vollkommenes Wesen nirgends anzutreffen, so ist diese Idee nur eine sujektive Vorstellung, deren objektiv realer Gegenstand nicht bewiesen, freilich auch nicht widerlegt werden kann. Im Besonderen führt KANT die Unerweisbarkeit der Existenz Gottes folgendermaßen aus: Der ontologische Beweis stützt sich auf die Möglichkeit oder Denkbarkeit eines absolut vollkommenen Wesens. Zu diesen Vollkommenheiten rechnet er auch die Existenz. Leugne ich diese, so leugne ich, daß ein absolut vollkommenes Wesen möglich ist, was sich widerspricht. Hierauf erwidert KANT mit recht, daß die Existenz keineswegs nur ein reales Prädikat ist, das zum Begriff eines Dings hinzukommen kann, sondern die Existenz ist die Position eines Dings mit all seinen Prädikaten. Einem Begriff geht keine einzige seiner Eigenschaften ab, wenn ihm auch das entsprechende reale Objekt fehlt. Von der bloß subjektiven Denkbarkeit eines allerrealsten Wesens gibt es keinen Übergang zu dessen objektiv notwendiger Existenz. Diesem Mangel sucht der kosmologische Beweis zu begegnen, in dem er von der Zufälligkeit der Dinge, sofern sie den Grund ihrer Existenz nicht in sich selbst tragen, auf ein absolut notwendiges Wesen schließt. Abgesehen davon, daß ein Schluß von der allgemeinen Zufälligkeit auf eine unbedingte Notwendigkeit nicht zulässig ist, bleicht noch die Frage offen, ob dieses notwendige Wesen auch von geistiger Natur ist. Außer der animalischen Welt, für die allerdings als zureichende Ursache ein geistiges Prinzip vorausgesetzt werden muß, ist ein solches für die ganz übrige anorganische Natur nicht notwendig und für die Empfindungswesen wäre ein solcher Schluß auch nur dann berechtigt, wenn man imstande wäre, nachzuweisen, daß der Geist wirklich substanziell von der Materie verschieden ist. Solange wir aber Geist und Materie ihrer Natur nach nicht kennen, können wir auch nicht mit Sicherheit wissen, ob die Funktion des Geistes nicht von der Materie selbst herrührt, sowie auch umgekehrt, ob das, was wir Materie nennen, nicht im Grund von unserer eigenen Organisation bewirkt wird und insofern die Materie vielleicht nur eine Täuschung der Sinnlichkeit ist. Der kosmologische Beweis schließt aber weiter: absolut notwendig kann nur dasjenige Wesen sein, welches der Inbegriff aller Realität ist. Kehrt man diesen Satz um, sagt KANT und behauptet man, dasjenige Wesen, welches der Inbegriff aller Realität ist, ist absolut notwendig, so hat man wieder den ontologischen Beweis. Läßt das kosmologische Argument die Beschaffenheit des absolut notwendigen Wesens dahingestellt, so sucht der physiko-teleologische Beweis diesen Mangel zu ergänzen. Er geht von der zweckmäßigen Einrichtung der Welt aus und schließt, da diese Form den Dingen fremd, d. h. zufällig ist, auf eine entsprechende geistige Ursache, als notwendige Urheberin dieser Zweckmäßigkeit. KANT läßt diesem Beweis alle Gerechtigkeit widerfahren; er hält ihn für den ältesten, klarsten und der menschlichen Vernunft angemessensten; nur bestreitet er ihm die apodiktische Gewißheit. Da wir zur Beurteilung der Welt nur einen rein menschlichen Maßstab anlegen können, so erscheint uns hiernach manches zweckmäßig, aber auch sehr vieles unzweckmäßig. Was also einerseits für eine ordnende Intelligenz spricht, wird andererseits durch die gr0ßen Mängel wieder aufgehoben. Außerdem führt dieser Beweis nur zu einem Weltbildner, nicht aber zu einem Weltschöpfer oder Urheber der Materie. Um diesem Fehler abzuhelfen, nimmt man seine Zuflucht wieder zum kosmologischen, der ein absolut notwendiges Wesen als Ursache für den Inhalt jener zweckmäßigen Form anstrebte. Da dieser Beweis zu einer absoluten Intelligenz nicht führt und der teleologische nur ein sehr vollkommenes, jedoch keineswegs das vollkommenste Wesen darzulegen imstande ist, so werden beide wieder ergänzt durch den ontologischen. So liegt dem teleologischen der kosmologische und diesem der ontologische Beweis zugrunde und aus diesem Kreis kommt die rationalistische Metaphysik nicht heraus (12). Wer der kantischen Kritik dieser Beweise vorurteilslos folgt, wird sich nicht des Eindrucks erwehren können, daß auf dem rein logischen Weg eine Überzeugung von der Existenz Gottes nicht zu gewinnen ist. Das subjektive Denken und das außerhalb des Bewußtseins existierende, transzendente Sein sind zwei ganz verschiedene Dinge. Da wir aus dem Vorstellungskreis nicht heraustreten können, so bleibt das transzendente Objekt immer nur ein Bild, ein Gedanke und die ihm entsprechende reale Existenz kann auf diesem Weg niemals erreicht werden. Solange man bloß dogmatisch verfuhr und an die Transzendenzfähigkeit des Denkens glaubte, ohne die Grenzen und den Umfang unserer Erkenntnis untersucht zu haben, war rationalistische Metaphysik als Wissenschaft möglich. Seitdem aber das Erkenntnisproblem mit solcher Gründlichkeit naturwissenschaftlich und philosophisch nach allen Richtungen hin erörtert wurde, ist diese Art von Metaphysik nicht bloß in ihrem Wert gesunken, sondern, wie wir bestimmt annehmen dürfen, ein für allemal aufgehoben. Alles Streben nach Erkenntnis über die innere und äußere Erfahrung hinaus ist müßige Spekulation. Diese Überzeugung hat sich aller Gebildeten und aller wissenschaftlichen Kreise größtenteils bemächtigt, und es ist ein vergebliches Bemühen, diesen verlorenen Posten noch länger verteidigen zu wollen. Die Erkenntnistheorie beginnt schon zu Anfang der neueren Epoche. DESCARTES' cogito, ergo sum [Ich denke, also bin ich. - wp], BACONs Idole, die "Untersuchungen des menschlichen Verstandens" von SPINOZA, LEIBNIZ, LOCKE, BERKELEY, HUME u. a. sind als tüchtige Anläufe zu bezeichnen, aber sie waren nicht imstande, die dogmatische Metaphysik zu zerstören; sie liefen nur gleichsam nebenher und wurden mehr als Ergänzung derselben, denn als Fundament und Eckstein des ganzen Gebäudes betrachtet. Erst mit KANT tritt der radikale Bruch ein mit der ganzen bisherigen Auffassungsweise. Die alle Schranken überfliegende Spekulation eines SCHELLING und HEGEL hatte nur eine vorübergehende Bedeutung. Unsere neueste Denkrichtung lenkte wieder auf KANT zurück, den klassischen Vertreter und Hauptrepräsentanten der modernen Erkenntnistheorie. Obgleich aber zum zweitenmal eine neue Epoche von ihm auszugehen scheint, hat er dennoch keineswegs das letzte Wort weder hinsichtlich des Standpunktes, noch der Methode, noch auch des Resultats gesprochen. Seine Analyse des menschlichen Bewußtseins ist nicht erschöpfend, für gewisse Momente desselben hat er wenig oder gar kein Verständnis; der historische Sinn scheint ihm ebenfalls gefehlt zu haben. In Bezug auf den Begriff der Sinnlichkeit fiel er sogar auf den von ihm bekämpften Dogmatismus zurück oder blieb vielmehr darin stecken (13). Seine Lehre von Raum und Zeit werden außer den streng orthodoxen Kantianern wenige anerkennen. Zwischen dem transzendentalen und empirischen Raum besteht doch wohl noch ein Unterschied. Am widersprechendsten und anstößigsten bleibt der Begriff eines Dings-ansich, der selbst durch die schärfste und weitgehendste Erklärung dem natürlichen Verstand nicht annehmbar zu machen ist. Endlich ist zu bedenken, daß die Hauptstärke der kantischen Kritik in dem dualistischen Standpunkt liegt, welchen ihr Urheber von vornherein eingenommen hat, ohne die Berechtigung anderer z. B. des materialistischen, religiösen, monistischen im Geringsten zu berücksichtigen. Der Dualismus ist jedoch nur eine begriffliche Unterscheidung, die wohl in unseren Vorstellungen, aber nicht im Leben und in der Natur vorkommt. Immanenz und Transzendenz sind so schwerwiegende, weittragende Begriffe, daß je nach der Entscheidung die ganze Bedeutung der Vernunftkritik wesentlich alteriert wird. Ehe wir uns aber näher auf diese Punkte einlassen, müssen wir vorerst den Rationalismus genauer kennen lernen, um zu zeigen, inwiefern KANTs epochemachende Tat begründet ist. Zu diesem Zweck wird es nötig sein, die Geschichte heranzuziehen, die neuere Philosophie mit der Scholastik und diese mit der griechischen Spekulation in ihren Hauptvertretern zu vergleichen. Es wird sich dabei herausstellen, daß die Philosophie zu allen Zeiten, selbst in der Scholastik, rationalistisch verfuhr, daß der Rationalismus eine ihrer spezifischen Eigentümlichkeiten ist und sich wesentlich dadurch von der Religion, die ihren Schwerpunkt in einem transzendentalen Gefühl und von der Empirie, die ihr Kriterium in der sinnlichen Wahrnehmung besitzt, unterscheidet. Ferner wird sich ergeben, daß der Rationalismus nur die logisch formale Seite repräsentiert und infolgedessen inhaltslos erscheint, wenn seine Formen nicht auf einen gegebenen Inhalt bezogen werden, den nur die sinnlichen Wahrnehmungen und das religiöse Gefühl, oder überhaupt die äußere und innere Erfahrung gewähren. Werden diese logischen Formen nur auf die Sinnlichkeit angewendet, so führt dies zum Empirismus und Materialismus. Findet ihre Anwendung auf das religiöse Gefühl statt, so geht ein Mystizismus daraus hervor, der rational oder irrational sein kann. Außer dem Verstand, der Sinnlichkeit und dem religiösen Gefühl kommen noch Wille und Phantasie in Betracht, zwei Vermögen, welche ihre Objekte erst erzeugen müssen und die sich nicht bloß rezeptiv, wie Religion und Sinnlichkeit, sondern produktiv verhalten. Die Verbindung der Begriffe mit dem Willen führt zu einem Ethizismus in mannigfaltiger Form, wie KANT, FICHTE, SCHOPENHAUER u. a. zeigen. Die Anwendung der logischen Formen auf das ästhetische Gefühl oder die Phantasie kommt metaphysisch am seltensten vor und doch lassen sich teils PLATO, teils SCHELLING und einige Romantik als Beispiele anführen (14). Letzterer Standpunkt sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt; für unseren Zweck kommt er nicht weiter in Betracht. Alle diese Richtungen haben das miteinander gemein, daß keine den ganzen Menschen umfaßt, ein Mangel, der von selbst über sich hinaus zur Ergänzung treibt, worin der Fortschritt und die Geschichte der Philosophie besteht. Da wir das Hauptverdienst der kantischen Kritik in der Zerstörung des dogmatischen Rationalismus erblicken (15), so ist es billig, mit dem Urheber derselben in der neueren Philosophie zu beginnen. CARTESIUS geht, wie schon erwähnt, in seinem Beweis für das Dasein Gottes von der Vorstellung des Unendlichen aus, die als solche weder aus der Natur noch aus uns, da beide keine unendlichen Wesen sind, abstrahiert werden kann. Folglich, schließt er, muß diese Vorstellung von einem Wesen, das über beiden steht, herrühren (16). Ist diese Beweisführung richtig, wie kommt es dann, daß auf der frühesten Kulturstufe, wo der Mensch die Idee des Unendlichen noch nicht haben konnte, die selbst im gebildeten Griechenland ein PLATO und ARISTOTELES noch nicht hatten und welche die große Mehrzahl der heutigen Menschheit noch nicht besitzt, dennoch eine Religion möglich war? Wenn sie ohne diese Idee nicht möglich gewesen wäre, hätte die Religion erst mit dem Christentum oder der neueren Philosophie beginnen können. Von dieser Idee hängt also die Religion nicht ab. Der Polytheismus, der mit Ausnahme des Judentums die ganze alte Welt beherrschte, beweist für sich schon, daß eine Religion möglich ist ohne die Idee des Unendlichen. Außerdem ist diese Idee nicht einmal ein notwendiger Gedanke. Gesetzt die letzten elementarsten Bestandteile der Welt beständen in Atomen oder Monaden, so wäre der Begriff des Unendlichen als einheitliches, absolutes, unteilbares Wesen ausgeschlossen. Wieviele der gebildetsten Denker der Gegenwart und Vergangenheit huldigen dieser Auffassung? Das Absolute als etwas, das aus keiner höheren Ursache abgeleitet werden kann, das den Grund seiner Existenz in sich selbst trägt, ist ein allgemein menschlicher Gedanke, zu dem alle Religionen, Philosophien und empirischen Wissenschaften sich bekennen. Ob aber dieses Absolute eine Vielheit oder Einheit, geistig oder materiell ist, läßt sich mit bloßen Vernunftgründen nicht entscheiden. Selbst jedoch zugegeben, diese Idee des Unendlichen würde allgemein anerkannt, wie etwa das Gesetz des Widerspruchs, so bliebe sie doch immer nur eine logische Denknorm, über deren objektive, transzendentale Wirklichkeit noch nichts ausgemacht wäre. Das Gesetz des Widerspruchs bewährt sich in jedem einzelnen Fall. Es ist ausnahmslos richtig, allgemein und notwendig und darum wirklich ein Gesetz und nicht bloß eine Regel. Die Idee des Unendlichen ist aber nicht so allgemein, weder in der Religion, noch in der Wissenschaft. Sie paßt nur auf ein absolut geistiges Wesen. Ob aber ein solches existiert, ist eben die Frage, über die bis zur Stunde nichts entschieden werden konnte. Nicht in der Idee als solcher, sondern in der dieser Idee korrespondierenden realen Existenz liegt der Schwerpunkt. Die Idee selbst kann sich jeder Gebildete, sei er Skeptiker oder Materialist, denken. Was aber die Hauptsach wäre, sich lebendig davon zu überzeugen, das liegt nicht in seiner Macht. Wäre der Inhalt schon mit der Idee gegeben, unmittelbar darin enthalten (17), so müßte mit der bloßen Vorstellung auch die Überzeugung verbunden sein. Zwischen diesen beiden Momenten liegt eine unübersteigbare Kluft. Jenseits der Vorstellung existiert vielleicht der entsprechende Inhalt. Allein die Vorstellung ist nicht der Fittich [Flügel - wp], der uns hinüberträgt. Das fatale "Vielleicht" gähnt uns aus den geheimnisvollen Abgründen dieser weiten Kluft entgegen. Es kann sein, daß dieser Vorstellung ein adäquater Inhalt entspricht. Weil es aber bloß sein kann, so kann es ebensogut auch nicht sein. So taucht aus dem Abgrund jener Kluft zwischen Subjekt und Objekt die Gestalt des janusköpfigen Skeptizismus vor uns auf, welche die beiden Möglichkeiten, Sein oder Nichtsein offen läßt. Der Grundfehler des Rationalismus liegt darin, daß er nicht vom Inhalt ausgeht, sondern mittels einer logischen Funktion zu demselben erst gelangen will. Wie kam es, daß er Sein und Denken identifizierte oder mit dem reinen Denken einen Inhalt zu erreichen glaubte? So klare, tiefsinnige, umfassende Geister, wie CARTESIUS, SPINOZA, LEIBNIZ, die Hauptvertreter des neueren Rationalismus, werden doch wohl besondere Gründe gehabt haben, weshalb sie gerade auf das Denken so großes Vertrauen setzten. Sie müssen, wie wir noch sehen werden, unter Vernunft etwas anderes verstanden haben, als KANT und die heutigen Erkenntnistheoretiker. CARTESIUS glaubte, wieder einmal ganz von vorn anfangen und alles, die Richtigkeit der Sinneswahrnehmungen, das Denken, sogar die Mathematik und den Glauben an Gott bezweifeln zu müssen, um zu einem festen Punkt zu gelangen, auf welchem er das Gebäude der Wahrheit erreichten kann (18). Er findet diesen archimedischen Punkt (19) in der Selbstgewißheit des Denkens, in den klaren und deutlichen Vorstellungen und schließlich in der Idee des Unendlichen. Man hat ihm häufig und mit Recht den Vorwurf gemacht, daß er seinen skeptischen kritischen Standpnkt zu bald verlassen hat und dem Dogmatismus verfallen ist, daß er mit einem Fuß noch in der Scholastik steht (20), wie auch LEIBNIZ (21) und selbst der tiefsinnige SPINOZA. Um aber gerecht zu sein, wird man auch zugeben müssen, daß er mit dem bloßen Selbstbewußtsein, den klaren und deutichen Vorstellungen und der Idee des Unendlichen dem Subjektivismus verfallen wäre, gerade wie die heutigen Erkenntnistheoretiker. Denn alle diese Momente sind doch nur innere Vorgänge, Zustände oder Funktionen des Bewußtseins, womit über die objektive, diesen klaren Vorstellungen entsprechende Realität noch nichts ausgemacht ist. Dieses Ichbewußtsein mit seinen Begrifen und Ideen könnte immer noch eine Selbsttäuschung sein, falls es nicht eine Wahrheit überhaupt gäbe; d. h. die Richtigkeit des Denkens läßt sich in ihrem Ursprung nicht nachweisen; wir können die Begriffe analysieren, sie in ihre einfachsten Bestandteile auflösen; aber die Entstehung der Vorstellungen und die Kraft sie zu verbinden, müssen wir als richtig voraussetzen. Auf diesen Vorstellungen und deren Verbindung, Kräften, die nicht in unserem Belieben stehen, die wir nur betätigen können, beruth alle Wahrheit. Und so wie wir das Denkvermögen, seine Richtigkeit und Zuverlässigkeit schlechthin voraussetzen müssen, ebenso auch die gesamte objektive Welt. Das Denken schafft die Gesetze nicht, weder die logischen noch die physischen. Sind nicht beide Reihen schon von Natur aufeinander bezogen und berechnet, dann ist eine wissenschaftlich reale Erkenntnis unmöglich. Wie Subjekt und Objekt, so muß auch das Absolute, dessen Idee wir in uns tragen, vorausgesetzt werden. Denn so wenig ich das Denken erst hervorbringe, ebensowenig die äußere Welt und den letzten Grund beider. Ich kann sie alle drei nur erkennen, nicht schaffen. Von der Wahrheit überhaupt, von der Urquelle aller Wahrheit, die mich und alle anderen Dinge geschaffen hat, hängt somit die Selbst-, Welt- und Gotteserkenntnis ab (22). Wollte dieses absolute Wesen mich täuschen, wäre es nicht der Inbegriff aller Wahrheit, oder die Wahrhaftigkeit - veracitas (23) - selbst, so wäre ich mit allem Scharfsinn nicht imstande, die Jllusion zu durchbrechen; ich könnte von meiner Selbstexistenz noch so sehr überzeugt sein und alles, selbst das Absolute in den deutlichsten und klarsten Bildern mir vorstellen, das Ganze könnte doch eine allgemeine, unüberwindliche Jllusion sein, von der wir nicht einmal wüßten, daß es eine solche ist. Ob aber ein derartig wahrhaftiges Wesen existiert, läßt sich nicht beweisen; ich kann nur die Idee eines solchen in meinem Bewußtsein aufzeigen, die objektive Realität für dieses subjektive Bild muß ich glauben. Dies ist der Punkt, wo der cartesische Skeptizismus in sein Gegenteil, den Dogmatismus, umschlägt. Der Wahlspruch der Scholastik: credo, ut intelligam [Ich glaube, damit ich erkennen kann. - wp], liegt dem cogito ergo sum [ich denke also bin ich - wp] zugrunde. Die Wahrheit des Denkens hängt von der Richtigkeit dieses Denkens, von der objektiven Einrichtung und Beziehung der Natur zu unserem Denken und beide von der Existenz eines absolut vollkommenen und wahrhaftigen Wesens ab. Das scholastisch dogmatische Moment bei CARTESIUS liegt nur in diesem Glauben. Die Richtung dieses Glaubens auf Kirche und Offenbarung (24) teilt er nicht mehr ernsthaft; Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaft sollen jene Autoritäten ersetzen. Insofern hat CARTESIUS mit der Scholastik gebrochen und doch das innere Wesen derselben, die treibende Kraft, freilich ohne es zu wissen oder gestehen zu wollen, beibehalten. Denn was hätten Bibel und Offenbarung genützt, wenn man ihnen mit dem Glauben nicht entgegengekommen wäre? Der Glaube war die erste, unbedingte Voraussetzung, die Offenbarung kam erst in zweiter Linie. Da man aber unter Glaube Jahrhundertelang eben nur das zweifellose Fürwahrhalten der Offenbarung und christlichen Dogmatik verstand, so wollten die Rationalisten mit der Sache auch den Ausdruck vermeiden und alles nur vom vernunftgemäßen Denken abhängig machen. CARTESIUS sagt nicht ausdrücklich, daß seinem Denken der Glaube vorhergeht. Nur eine schärfere Analyse seines ganzen Verfahrens führte uns auf die eigentliche Quelle seines Dogmatismus. Er sagt aber auch, daß er unter Denken das gesamte Bewußtsein versteht, nicht bloß die logischen Funktionen Vorstellen, Urteilen, Schließen, sondern auch Wahrnehmen, Empfinden, Fühlen, Wollen. (25) Namentlich spielt der Wille bei ihm noch eine bedeutende Rolle, indem er sogar intellektuelle Irrtümer von ihm abhängig macht. Der Verstand ist unfehlbar, solange der Wille nur dem zustimmt, was jener klar und deutlich erkennt." (26) Dieses Zusammenfassen sämtlicher Gemütskräfte unter den allgemeinen Begriff des Denkens spricht für die Unklarheit und Mangelhaftigkeit seiner Analyse des Bewußtseins und daraus erklärt sich auch sein Dogmatismus. Allerdings erwähnt er den Glauben und die Religion nirgends oder nur beiläufig und höchst vorsichtig; insofern ist er ganz rationalistisch. Allein wir haben gesehen und später wird es noch deutlicher hervortreten, daß er sich unabsichtlich dieses Vermögens im ausgiebigsten Maß bedient, um für sein cogito, ergo sum ein sichere und allgemeines Fundament zu gewinnen. Die Wahrhaftigkeit Gottes setzt ein geistiges, persönliches, mit Verstand und Willen begabtes Wesen voraus. Wahrhaftigkeit ist aber keine logische, sondern eine moralische Eigenschaft. CARTESIUS selbst stellt die Vermutung auf, *daß ein Dämon uns geschaffen haben könnte mit der ausgesprochenen Absicht, uns immer zu täuschen. Dieselbe Möglichkeit schreibt er auch der Gottheit zu, wenn wir sie nicht als wahrhaftig voraussetzen. Alle Wahrheit hängt somit von dem Glauben an einen absolut vollkommenen Willen ab, der nicht täuschen kann. Also nicht nur die Existenz, sondern auch die Beschaffenheit Gottes beruth auf einer religiösen Funktion, dem Glauben. Dieser Gottesbegriff stammt aus der Scholastik und dem Christentum. Nur glaubte ihn CARTESIUS nicht aus der Offenbarung, sondern aus dem eigenen Bewußtsein zu schöpfen. Daß dieses Bewußtsein aber eine Geschichte hatte, daß CARTESIUS ohne den langen Kulturprozeß die Idee des Unendlichen unter seinen übrigen Vorstellungen gar nicht gefunden hätte, daß sie ohne Christentum und Scholastik weder verbreitet noch verarbeitet worden wäre, fiel ihm bei seinem unhistorischen Sinn natürlich nicht ein. (27) Wie hätte er sonst glauben können, wieder einmal alles von vorn anfangen zu müssen, wenn er sich klar gewesen wäre, daß er seine Gottesidee, seinen Dualismus von Gott und der Welt, Geist und Materie schlechthin von der Scholastik übernommen hat. (28) Da Gott und die Natur keine Sprünge machen, wie schon ARISTOTELES behauptet (29), so dürfen wir annehmen, daß die gesteigerten Kräfte unseres Bewußtseins und die großen weltgeschichtlichen Ideen von einer Periode und Generation in die andere unbewußt übergehen, gewissermaßen als selbstverständlich in den epochemachenden Geistern fortwirken (30). Eine solche Kraft und Idee war im rationalistischen Zeitalter das große Prinzipt, welches die Scholastik und Reformation beherrschte, nämlich der Glaube an die Existenz Gottes als eines abolut einheitlichen und unendlichen Wesens. Der Rationalismus war ja doch nur die Fortsetzzung und natürlische Konsequenz der reformatorischen Postulate des freien Forschens und Denkens. Nachdem man mit der Autorität der Kirche und Tradition gebrochen hatte, mußte notwendig auch die Autorität der Bibel fallen und an deren Stelle die Autonomie der Vernunft und des Gewissens treten (31). Dadurch wurde das Objekt und die Richtung des Denkens verändert, nicht aber das Subjekt, das Bewußtsein oder Standpunkt. Man übertreibt die Bedeutung der neueren Philosophie und faßt sie geradezu falsch auf, wenn man alles Gewicht auf diesen Standpunkt legt. Ein anderer Ausgangspunkt als das Bewußtsein ist nicht möglich und folglich hat es auch nie einen anderen gegeben. Die Scholastiker gingen ebensowohl vom Denken wie vom Fühlen aus, wie die neuere Zeit; sie hatten sogar dasselbe Ziel wie diese, nämlich ein absolut geistiges Prinzip. Nur die Mittel, wodurch sie dahin zu gelangen hofften, waren andere. Sie wußten nicht, daß Bibel und Dogmatik nichts anderes waren, als der summarisch systematische Ausdruck der Ideen früherer Kulturprozesse. Wir leben und denken ebenfalls in diesen Begriffen, halten sie aber für ein im Laufe der Zeit erworbenes Kulturreferat. Die Geschichte ist an die Stelle der Offenbarung getreten. Wenn wir aber diesen Begriffen eine objektive Wahrheit zuschreiben wollen, dann müssen wir die ihnen entsprechende Realität genauso wie die Scholastiker und Reformatoren glauben. Daß wir mit Begriffen und Schlüssen als logischen Funktionen das transzendente Sein nicht erreichen, daß alles Denken den Inhalt schon voraussetzt und nur die Form dazu liefert, daß es infolgedessen eine Metaphysik als Wissenschaft des Übersinnlichen aufgrund dieser reinen Formen nicht geben kann, ist jetzt ziemlich allgemein anerkannt. Daraus folgt, daß eine transzendentale Überzeugung zu keiner Zeit aus dem bloßen Denken gewonnen wurde, und daß was jetzt nicht möglich ist, auch niemals möglich war; daß also immer zwei Grundkräfte der Seele ungeschieden und unbewußt zusammenwirken, eine mystische und eine logische, das religiöse Gefühl und der reflektierende Verstand, und daß man diese beiden unter den unbestimmten und allgemeinen Begriff "Vernunft" zusammenfaßt. Während der Verstand nur auf das Irdische und Endliche gerichtet ist, behauptete man, erhebt sich die Vernunft über dasselbe; sie ist das Organ, das Ewige und Göttliche zu "vernehmen". Verstand besitzen auch die Tiere, Vernunft kommt nur dem Menschen zu. Durch die Vernunft ist der Mensch Bürger zweier Welten. Eine scharfe Grenzlinie zwischen Verstand und Vernunft wurde aber niemals gezogen. Man merkt in der Geschichte ein beständiges Schwanken zwischen Unterscheidung und Identifizierung dieser beiden Vermögen. Selbst KANT, der umfassendste und scharfsinnigste Analytiker des menschlichen Bewußtseins, war sich nicht klar über den Unterschied. Der Verstand ist ihm das Vermögen der Begriffe, die Vernunft das der Ideen (32). Gott, Geist und Materie sind solche Ideen. Es sind aber nichts als verallgemeinerte Begriffe, höhere Abstraktionen des Verstandes. Eine spezifische Eigentümlichkeit, wie zwischen Verstand und Sinnlichkeit, oder Verstand und Wille ist zwischen Verstand und Vernunft nicht nachzuweisen. KANT ist in seiner Untersuchung nicht zu der Erkenntnis vorgedrungen, daß Vernunft die Einheit von logischem Verstand und transzendentalem Gefühl ist. Er behandelt die reine Vernunft als reinen Verstand, als leeres Denkvermögen, das nur in seiner Anwendung auf einen gegebenen Inhalt zur Wahrheit führt. Seine Analyse ist deshalb unvollständig; er übersah das Wichtigste, das transzendentale Organ, welches uns allein einen übersinnlichen Inhalt bieten kann. Von seinem Standpunkt aus war das negative Resultat der Kritik ganz konsequent. Hätte er den transzendentalen Faktor, der doch auch eine Tatsache des Bewußtseins ist, mit in Betracht gezogen und als das erkannt, was er in Wirklichkeit ist, so würde er die positive Seite seiner Philosophie nicht in der Ethin gesucht haben. Auch hier kommt seine mangelhafte Analyse wieder zum Vorschein. Von den drei großen Postulaten: Gottheit, Freiheit, Unsterblichkeit (33), kann nur das mittlere als ein ethisches bezeichnet werden, die beiden anderen sind religiöser Natur. In der "Kritik der praktischen Vernunft" vermengt sich das religiöse Gefühl mit dem sittlichen Willen. Die Schwäche seiner Argumentation, weshalb der Mensch unsterblich sein und ein Gott existieren soll, damit nämlich die Unvollkommenheit und Ungerechtigkeit auf Erden im Jenseits ausgeglichen wird, wozu allerdings eine Fortdauer und ein Richter nötig ist, hat man von jeher empfunden. Gesetzt aber, die Tugend trägt den Lohn in sich selbst, wozu dann die Unsterblichkeit? Die Ethik bedarf zunächst keines Hinweises über dieses Leben hinaus, weil sie, sobald dieser Glaube anfängt zu wanken oder ganz aufzuhören, im höchsten Maß gefährdet wird. Nur eine scharfe Unterscheidung zwischen Ethik und Religion kann jener ein sicheres und festes Fundament gewähren. Beide beruhen auf sich selbst und haben ganz verschiedene Zwecke, die sich deutlich erkennen und bestimmen lassen. Jene hat nur sittliche Handlungen, diese nur eine transzendentale Gewißheit zum Ziel. Da nun KANT in seiner Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft noch so unsicher war, wird man es den Begründern der neueren Philosophie nicht verdenken, wenn sie in ihren Untersuchungen des menschlichen Bewußtseins noch unbestimmter zu Werke gingen. Der tiefsinnigste von den drei großen Rationalisten ist unstreitig SPINOZA. An seinem System hat der religiöse Faktor einen ungleich höheren Anteil als bei CARTESIUS und LEIBNIZ. Seine Philosophie ist dem Wesen nach Mystik und nur der Form nach Logik. Daher kommt es, daß Niemand, der diesen mystisch religiösen Zug nicht in sich trägt und von Haus aus mitbringt, sich von seiner gesamten Argumentation überzeugen kann. Er selbst gibt zu, daß man zur höchsten Einsicht in das Absolute nicht auf einem empirischen oder diskursiven Weg, sondern nur kraft der Intuition gelangen kann. Wie aber diese "cognitio intuitiva" zu erreichen ist, mußte er trotz aller Bemühung und Erklärung nicht verständlich zu machen (34). Das sub specie aeternitatis [im Licht der Ewigkeit - wp] hat schon mancher im Mund geführt (35); was er sich aber klar und deutlich dabei vorgestellt hat, wußte er wahscheinlich selbst nicht zu sagen. Die aeternitatis ist nämlich die Existenz des Absoluten selbst, die causa sui [Ursache seiner selbst - wp], die Substanz, die in sich ist und durch sich begriffen werden muß, die aus unendlich vielen Attributen besteht, die alle "in ihrer Art" wieder unendlich sind, also ein Wesen, das keine Ursache über sich hat, aus nichts Höherem abgeleitet werden kann, außer welchem nichts existiert, keine Materie, keine Welt, das dem Wesen nach alles selbst ist, einfach, unteilbar, unendlich und ewig. Ein solches Wesen ist nun mit all diesen Eigenschaften soll man sich intuitiv vorstellen, von diesem Gesichtspunkt aus - sub specie aeternitatis - alles Einzelne betrachten und auf dasselbe beziehen, es keinen Augenblick aus den Augen verlieren, weil es das Wesen in allen Wesen, die Wirklichkeit in allem Wirklichen, die eine und einzige Substanz ist und alles andere nur deren Modifikation. Wer nun bloß rationalistisch verfährt und wirklich glaubt, verstandesmäßig, begrifflich dieses Wesen sich denken zu müssen, der stellt eine übermenschliche Forderung an sich und er wird eher die "Ethik" wieder beiseite legen, als diesen Anforderungen genügen. SPINOZA verführt den Leser durch seine Argumentation, als ob es in der Tat mögich oder ihm selbst gelungen wäre, logisch das Absolute zu erfassen. Seine Beweisführung mag noch so klar, scharf und konsequent sein, so besteht sie eben doch nur aus Begriffen, die nichts anderes sind als aufeinander bezogene Vorstellungen, welche wir aus unserem eigenen Wesen oder aus äußeren Vorgängen gewonnen haben, die alle begrenzter und konkreter Natur sind und deshalb immer in Bezug auf das Absolute inadäquat bleiben (36). Mit diesen endlichen und beschränkten Mitteln das Unendliche erfassen zu wollen, is eine innere Unmöglichkeit. SPINOZA verheimicht unbewußt den Weg, auf dem man zum Unendlichen gelangt. Das Unendliche kann seinem Inhalt nach nur gefühlt, religiös empfunden, aber weder diskursiv noch intutiv adäquat vorgestellt werden. Die Konzeption dieser Einheitsidee war bei ihm und ist in Jedem ein mystischer Vorgang. Er ist nicht einmal allgemein menschlich, sondern mehr individuell, weil er eine ungewöhnliche Abstraktionsfähigkeit und eine intensiv mächtige Empfindung voraussetzt (37). Die Religiosität jedes Menschen richtet sich nach dem Grad dieser Gefühlsstärke. Bei SPINOZA war sie in besonders hohem Maße vorhanden und alle seine bedingten und unbedingten Anhänger, wie GOETHE, HERDER, SCHLEIERMACHER, FICHTE, SCHELLING fühlten sich zu ihm hingezogen in dem Grad, als sie diese Qualität mit ihm gemein hatten. Andere, wie JACOBI, HAMANN, MENDELSSOHN waren zwar auch religiöse Naturen, aber sie wurden teils durch die Mängel des Pantheisms ansich und des spinozischen insbesondere, teils durch ihren offenen oder versteckten Orthodoxismus oder durch die Beschränktheit ihrer Schule und ihres Geistes von ihm abgestoßen. Von all diesen war SPINOZA unstreitig der kühnste, klarste und konsequenteste Denker. Nur muß entschieden bestritten werden, daß er allein durch Reflexion zu seinem Pantheismus gekommen ist. Das Denken hat ihn nur von den Vorurteilen seiner Zeitgenossen befreit; das Positive aber in seiner Philosophie, den Inhalt seines Substanzbegriffes hat er einerseits aus der Intensität seines religiösen Gefühls - ein Erbteil seines Volkes - und den Umfang desselben, d. h. die Überwindung des jüdisch-christlichen Dualismus, die absolute Einheit, aus seinem eigenen Denken geschöpft. Deshalb sind alle Bemühungen nachzuweisen, wieviel er seinen Vorgängern, CARTESIUS, GIORDANO BRUNO oder den jüdischen Scholastikern zu verdanken hat (38), zwar sehr verdienstlich, aber in Bezug auf die Hauptsache, die Erfassung des Inhalts der Substanz, nicht bloß des Begriffs, vergeblich. Ähnlich könnte man bei PLATO zeigen, was er dem SOKRATES und HERAKLIT, den Eleaten und Pythagoreern entnommen hat. Wenn diese verschiedenen Bestandteile gründlich und sicher festgestellt werden, so machen sie eben doch zusammengenommen noch nicht den Platonismus aus. Es sind alles, um mit HEGEL zu reden, nur aufgehobene Momente in seinem System. Aber die Verbindung und Umbildung derselben und der dadurch bewirkte Fortschritt zu einem neuen und einheitlichen Ganzen ist PLATOs eigene Tat. Es waren Bausteine, aber nicht das Gebäude, Zellen, aber nicht der Organismus. Die treibende, schöpferische Kraft lag nicht in jenen Momenten, sondern in PLATOs eigenem Genie. ![]()
1) CARTESIUS, Princip. philos. I, § 1-6, Ed. Elzev. 1672. Medit. I, Seite 5-11, Ed. Elzev. 1650. 2) CARTESIUS, Medit. III; Princip. I, § 43-45. De Met. IV, Seite 24. 3) CARTESIUS, De Meth. III, Seite 18. 4) CARTESIUS, De Meth. IV, Seite 25 5) CARTESIUS, Medit. III, Seite 15. 6) Der analytischen Geometrie, wie CARTESIUS selbst sagt, De Meth. II, 13 und De Meth. III, 19, IV, 23. 7) LEIBNIZ, Nouv. Ess. Liv. IV, Kapitel XII, § 6, Seite 382 (Edition ERDMANN). Er schätzt an der Geometrie in Bezug auf die Spekulation am meisten, "daß sie die wahre Quelle der ewigen Wahrheiten und des Mittels, uns deren Notwendigkeit begreiflich zu machen, erblicken läßt, welche die verworrenen Bilder der Sinne nicht deutlich zu zeigen vermögen." (vgl. bei ERDMANN, Seite 109-110b) 8) LEIBNIZ, Monad. § 29, 33, Seite 707. Nouv. Ess. Liv. I, § 1, Seite 207a, 208a, 209b; IV, § 14, Seite 379a; 344b. 9) LEIBNIZ, Monolog. Kap. 1 Schluß. Vgl. H. REUTER, Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter, 1875, Bd. I, Seite 129-133, Anm. 17 und 18. 10) In dieser Darstellung fallen das kosmologische und ontologische Argument zusammen, weil auch bei ANSELMUS das eine das andere voraussetzt, wie schon der Ausdruck: id, quo maju cogitare non potest (Prosl. C. 2) bezeugt. Der Begriff des Größten, oder des Allgemeinsten kann ohne den des Besonderen nicht gebildet werden, wie denn auch ANSELMUS im Monologium selbst diesen Weg beschreibt. Mag er also noch so sehr danach ringen, aus dem bloßen Begriff die Existenz abzuleiten, im Hintergrund steht das kosmologische Argument. Und charakteristisch ist schon der ursprüngliche Nebentitel des Proslogiums: Fides quaerens intellectum. Vgl. HASSE, Anselm von Canterbury, Bd. 2, 1852, Seite 234. 11) LEIBNIZ hält diesen Beweis für "sehr schön und geistreich", aber es findet sich darin noch eine Lücke - die man ausfüllen muß, "um ihm mathematische Evidenz zu verleihen - nämlich daß man dabei stillschweigen voraussetzt, diese Vorstellung - des absolut vollkommenen Wesens - sei möglich und enthalte keinen Widerspruch." Es sei schon Etwas, daß man durch diese Bemerkung beweist: "Gesetzt, daß Gott möglich ist, so ist er". (Nouv. Ess. IV, 10, § 7, Seite 375a. Monad. § 40, 44. Theod, II, § 184, 189, 335. 12) KANT, Kritik der reinen Vernunft, Seite 476-502. SCHWEGLER, Geschichte der Philosophie, 15. Auflage, Seite 250f. 13) Vgl. SCHOPENHAUER, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1873. Anhang, Seite 509f und 564f. 14) In neuester Zeit hat FROHSCHAMMER (Die Phantasie als Grundprinzip des Weltprozesses, 1877 ; Monaden und Weltphantasie, 1879) diese Kräfte wieder zur Geltung zu bringen gesucht. 15) An dessen Stelle er im Grunde nur eine andere Art von Rationalismus, nämlich den kritischen oder immanenten, im Gegensatz zum transzendenten, gesetzt hat. 16) DESCARTES, Medit. III, 23 17) Wie DESCARTES im Anhang zu den Meditationen behauptet (Def. X): "In der Vorstellung oder dem Begriff jeder Sache ist das Sein enthalten, weil man etwas nur als seien auffassen kann. Im Begriff einer beschränkten Sache ist dieses Sein als möglich oder zufällig enthalten, im Begriff eines vollkommensten Wesens aber als notwendig und vollkommen." 18) CARTESIUS, De Metho. IV, 20; Medit. II, 9. 19) CARTESIUS, Medit. II. 20) Und zwar in der Epoche des 12. und 13., nicht des 14. und 15. Jahrhunderts, in welcher z. B. der Skeptizismus, namentlich in Bezug auf die Beweisbarkeit der Existenz Gottes, in OCKHAM, und der Pantheismus in NIKOLAUS von KUES so energische Vertreter gefunden haben. Vgl. STÖCKL, Geschichte der Philosophie des Mittelalters, 1865, Seite 986f, § 263 und 264. GLOSSNER, Nicolaus von Cusa und Marius Rizolius, 1891, Seite 111. 21) Von LEIBNIZ gilt dies ganz besonders, namentlich von seiner Theodizee, wo er immer wieder auf den Gedanken zurückkommt: Im Grunde könne keine Wahrheit einer anderen widersprechen, und das Licht der Vernunft ist nicht minder ein Geschenkt Gottes, wie das Licht der Offenbarung (I, § 29): "Die Vernunft ist so gut ein Geschenk Gottes wie der Glaube; ihr Kampf wäre deshalb ein Kampf Gottes gegen Gott". (ebd. § 39, 23, 38) 22) Dieser Übergang vom Zweifel zum Glauben, den wir aus dem inneren Zusammenhang des cartesischen Gedankenganges gleichsam nachkonstruieren, läßt sich an LEIBNIZ (Nouv. Ess. Liv. IV, Kapitel XI, § 13) vorzüglich beleuchten. Es handelt sich um die ewigen Wahrheiten, die sich auf die Verbindungen von Vorstellungen gründen. Die Frage ist nun: wo diese Vorstellungen sein würden, wenn es keinen Geist gäbe, und was dann aus der realen Grundlage dieser Gewißheit der ewigen Wahrheiten werden würde. "Das führt uns", antwortet LEIBNIZ hierauf, "endlich zur letzten Grundlage der Wahrheiten, nämlich auf jenen obersten und allgemeinen Geist, dessen Dasein notwendig und dessen Verstand in Wirklichkeit - der Ort der ewigen Wahrheiten ist. Und damit man nicht denkt, daß das Daraufzurückgehen nicht notwendig ist, muß man erwägen, daß diese notwendigen Wahrheiten den Bestimmungsgrund und das Regulativprinzip alles Daseienden selbst und mit einem Wort: die Gesetze des Weltalls enthalten. Gehen also diese Wahrheiten dem Dasein der zufälligen Wesen voraus, so müssen sie im Dasein einer notwendigen Substanz begründet sein." Dort ist das Urbild der Vorstellungen und Wahrheiten, die unserer Seele eingeprägt sind, dort die Quellen, aus deren Anwendung wirkliche Urteile hervorgehen (vgl. Monad. § 38-40. Theod. II, § 7. Princ de la Nat. et d. l. Gr. § 8 und 11. 23) CARTESIUS, Medit. V, 35. Die scharfsinnigsten Köpfe sind nicht imstande, ein Kriterium des Unterschiedes der Vorstellungen im wachenden und träumenden Zustand zu finden. 24) Trotz seiner Versicherungen und seiner Ehrfurchtsbezeugungen vor der theologischen Fakultät in Paris. 25) CARTESIUS, Definit I. "Unter dem Denken befasse ich alles, was so in uns ist, daß wir uns dessen unmittelbar bewußt sind. Deshalb ist jedes Wollen, Einsehen, bildliche Vorstellen und sinnliche Wahrnehmen ein Denken." Medit. III. Princ. I, § 32-35 26) CARTESIUS, Princ. I, § 37-42 27) Diesen Mangel an historischem Sinn hat JANET (HEUSSLER, Der Rationalismus des 17. Jahrhunderts, 1885, Seite 128) in folgenden Worten treffend charakterisiert: "Er hat alle Völker Europas gesehen, und doch läßt er sich niemals einen einzigenZug über ihre verschiedenen Charaktere entwischen und über ihre Sitten, die damals viel verschiedener waren als heute. Sogar das gut holländische Volk, von dem er sich die Sicherheit und Freiheit erbeten hat, hat er nicht versucht uns zu schildern, oder, wenn er von ihm spricht, so geschieht es, um uns zu sagen, daß ihne die Bewohner Amsterdams in seinen Meditationen nicht mehr stören, als es die Bäume eines Waldes tun würden. Er hat die Höfe und die Armeen gesehen, er hat die Menschen aller Berufsarten und aller Schichten der Gesellschaft studiert; aber nirgends hat er daran gedacht, uns mitzuteilen, was er aus diesem Verkehr gezogen hat, und was er dachte über die Sitten der Höflinge, oder der Soldaten, der Bürger, des Volkes oder der Großen. Seine Abhandlung von den Leidenschaften, in der man erwarten dürfte, Gedanken dieser Art zu finden, enthält nur eine abstrakte Psychologie, gemischt mit einer willkürlichen Physiologie." (vgl. den Brief an BALZAC, Philosophische Bibliothek von Kirchmann, Bd. 25, Seite 7) 28) Schon LEIBNIZ tadelte diese demonstrative Verachtung des Altertums "wo Herr Descartes einen guten Teil seiner besten Gedanken geholt hat" und war bezüglich der Scholastik der Ansicht, "daß Gold verborgen ist in jenem scholastischen Mist der Barbarei." (HEUSSLER, Seite 129, Theod. I, § 6. De vera Meth. Seite 109-111. 29) De Coelo I, 4. Polit. I, 1. 10. 30) Daraus erklärt sich namentlich der Glaube an die "angeborenen Ideen" bei DESCARTES und LEIBNIZ. 31) Sagt doch LEIBNIZ sogar in seiner Theodicee I, § 43, 44, Seite 491b, daß "wir der geoffenbarten Religion nicht bedürfen, um zu wissen, daß es ein solches Prinzip gibt, was vollkommen gut und weise ist. So dachte DESCARTES vom "lumen naturale" [natürlichen Licht - wp] und SPINOZA von der "ratio infallibilis" [unfehlbarer Verstand - wp]. 32) KANT, Kr. d. r. V. Seite 184, 308, 309-320 (Ausgabe von KIRCHMANN). 33) KANT, Kr. d. r. V., Seite 617. 34) SPINOZA, Ethik II, prop. XL, Schol. 2. 35) Selbst in ganz populären Schriften begegnet man ihm häufig. 36) CARTESIUS dachte bescheidener indem er sich schon begnügte, einige von den Vollkommenheiten Gottes in Gedanken bloß zu berühren (Medit. III, 24). 37) Das Beispiel von den Proportionszahlen (Ethik II, 40. Schol. 2) ist nicht geeignet, uns einen Begriff vom intuitiven Wissen zu geben. Ebensowenig die Bestimmung der Intuition als "Fortschritt der Erkenntnis von der zureichenden Vorstellung der formalen Wesenheit einiger Attribute Gottes bis zu der adäquaten Erkenntnis der Wesenheit der Dinge." (ebd.) Wir müssen uns den Begriff aus anderweitigen Äußerungen bilden und wählen dazu das Attribut der Materie. Als Substanz ist sie "unendlich, einzig und unteilbar" (I, prop. 15, Schol.). Eine "unendliche Größe ist nicht meßbar (mensurabilis) und nicht aus Teilen zusammengesetzt." (ebd.) Die Größe kann auf zweierei Arten vorgestellt werden: "einmal abstrakt und oberflächlich mittels der Phantasie, und dann als Substanz, was bloß mit dem Verstand geschieht." Jene Art ist die gewöhnlichere und leichtere, diese ist schwer, aber die einzig richtige, denn die klare Vernunft ist unfehlbar. Da nun die Materie überall dieselbe ist und nur dann Teile in ihr unterschieden werden können, wenn man sie sich in verschiedenen Zuständen vorstellt, so ist diese empirische Art der Auffassung falsch und inadäquat; sie wird dann bloß als Modus und nicht als Substanz gedacht. Um also eine zureichende Vorstellung vom wirklichen Wesen dieses Attributs (II, 40. Schol.) zu gewinnen, muß man eben zu jener dritten Art der Erkenntnis seine Zuflucht nehmen, d. h. von allen Modis absehen und sie wie die Substanz selbst auffassen. Denn die Substanz ist der Natur nach vor ihren Zuständen. Auf diese Weise allein kann die Materie "uno intuitu" erfaßt werden. Die weitere Begründung, daß die Teile in der Materie sich "nur zuständlich, aber nicht wirklich unterscheiden lassen" (I, 15) ergibt sich aus den Lehrsätzen 12 und 13. "Kein Attribut der Substanz kann richtig begriffen werden, aus welchem folgte, daß die Substanz geteilt werden könnte." Aus diesen und vielen anderen Äußerungen SPINOZAs geht hervor, daß ihm selbst der Weg, welchen er zur Erkenntnis Gottes und seiner Eigenschaften gezeigt hat "sehr schwierig" erschien, daß er nur mit großer Mühe (magno labore) und nur von wenigen gefunden wird. (V, 42. Schol. Schluß; Theol. polit. Tractat, Kapitel XVI). Die Intuition ist also nichts anderes als die höchste Abstraktion, das Erfassen des absoluten Seins ansich, ohne Rücksicht auf die Vielheit und Mannigfaltigkeit der endlichen Dinge. (Es ist derselben Weg, den schon PLATO und PLOTIN, AUGUSTIN und ECKHART beschrieben haben.) In Gott, d. h. dem Ewigen (aeterno) gibt es nach SPINOZA kein Vor oder Nach, also keine Zeit; er muß deshalb unmittelbar, durch sich selbst aufgefaßt werden. Aber zu dieser Anschauung kommt man nur durch die Negation alles Endlichen. Ungleich deutlicher, weil ausführlicher spricht sie PLOTIN aus. LASSON, Meister Eckhart, Seite 94, 102, 107-112. Allein weder SPINOZAs intuitio, noch das theama sind Funktionen des Verstandes (Enn. VI, 9, 11, 15), sondern des transzendentalen Empfindens. LESSING hat hier das Richtige getroffen, wenn er im 49. Literaturbrief auf die Frage: "welche von allen Arten über das erste Wesen zu denken die beste ist", am Schluß sagt: "die Spekulation ist also das Mittel gar nicht, aus dem Gegenstand selbst Vergnügen zu schöpfen. Will ich dieses, so müssen alle deutlichen Begriffe, die ich mir durch die Spekulation von den verschiedenen Teilen meines Gegenstandes gemacht habe, in eine gewisse Entfernung zurückweichen, in welcher sie deutlich zu sein aufhören und ich mich bloß ihre gemeinschaftliche Beziehung auf das Ganze zu fassen bestrebe. Je mehr diese Teile dann sind, je genauer sie harmonieren, je vollkommener der Gegenstand ist, umso größer wird auch mein Vergnügen darüber sein; und der vollkommenste Gegenstand wird auch das größte Vergnügen in mir wirken. Und das ist der Fall, wenn ich meine Gedanken von Gott in Empfindungen übergehen lasse." In ähnlicher Weise kam schon der Stifter der eleatischen Schule, XENOPHANES, zu seinem hen kai pan, indem er auf die Welt als Ganzes seinen Blick richtend das Eins für Gott erklärte (ARISTOTELES, Metaphysik I, 5, 21). 38) Vgl. JOEL, Beiträge zur Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 1876. SPINOZAs theologisch-politischer Traktat. Zur Genesis der Lehre Spinozas. BUSSE, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 90, Seite 50f. |