G. SpickerMHW. StarkP. SzendeMH | ||||
Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie [1/2]
Durch diese ursprüngliche Scheidung gewann der Ratonalismus der cartesianischen Schule, der seit dem 17. Jahrhundert die philosophischen Auseinandersetzungen beherrschte, seine Eigenart. Nach ihm vermag der Geist, der, von der Materie losgelöst, im Menschen bloß äußerlich mit ihr zusammengekoppelt ist, aus sich selbst gültige Erkenntnisse zu erzeugen. Seine eigentliche Tätigkeit besteht im reinen Denken. Die Erfahrungen der Sinne können infolge der grundlegenden Trennung ohnehin nicht als Wirkungen und somit als Zeugnisse der Außenwelt gewertet werden; sie gelten als trübe, wechselvolle, verschwommene Grundlagen des geistigen Lebens, nicht als Quelle der Erkenntnis. In der Rückwendung auf sich selbst, in der Besinnung auf sein eigenes Wesen entdeckt das isolierte Ich die ewig gültigen Sätze über Gott und die Welt. In dieser ausschließlichen Anerkennung des reinen Denkens ist der Glaube an eine statische Struktur der Welt beschlossen: ihre Umrisse müssen in festen begrifflichen Gefügen aufgehen. Mit der gesamten idealistischen Philosophie setzt so der Rationalismus notwendig ein konstantes und von menschlicher Praxis unabhängiges Verhältnis zwischen Begriff und Wirklichkeit voraus. Die philosophischen Gegner haben seine Grundlagen nicht angegriffen. Die berühmten Einwände der englischen Empiristen gegen den kontinentalen Rationalismus galten fast alle seiner Geringschätzung der Erfahrungstatsachen zugunsten der begrifflichen Konstruktion. Stand zur Zeit der rationalistischen Systeme des 17. Jahrhunderts noch die Frage der Berechtigung und Reichweite begrifflichen Denkens überhaupt im Vordergrund, so zwang die zunehmende Durchbildung der bürgerlichen Produktionsweise zur Einrichtung in dieser neuen Welt mittels der Erfahrung. Das allgemeine Problem der Gestaltung und Beherrschung von Natur und Gesellschaft, welches die Ontologie und die Rechtsphilosophie des Kontinents durchdringt, entwickelte sich auf englischem Boden zur Sorge des einzelnen, sich rasch zurechtzufinden. Aus der Beobachtung von Menschen und Sachen im geschäftlichen Leben Schlüsse zu ziehen, war die intellektuelle Leistung, die den ausschlaggebenden sozialen Gruppen in steigendem Maß als wichtig erscheinen mußte. Von LOCKE bis JOHN STUART MILL wird die englische Philosophie zum großen Teil durch die Theorie von Denkvorgängen dieses Typs gekennzeichnet, ohne daß freilich die bewußten Motive der einzelnen Philosophen durch solche Problemstellungen hätten bestimmt werden müssen. Dabei sind Entdeckungen von großer Tragweite über die menschliche Erkenntnisarbeit gemacht worden; an die erwähnten Voraussetzungen der cartesianischen Philosophie wurde jedoch nicht gerührt. Selbst dort, wo manche französische und deutsche Nachfolger DESCARTES' die Existenz der einen der beiden Welthälften, nämlich der materiellen, leugneten, hielten sie an den Folgen der Trennung insofern fest, als sie den von ihnen anerkannten Teil im Sinn eines reinen isolierten Geistes, einer Monade verstanden, nur daß nach ihnen dieses abgelöste Ich nicht mit dem selbsttätigen Erzeugen von Gedanken, sondern vor allem mit dem Feststellen und Verbinden von sinnlichen Eindrücken beschäftigt ist. Ebenso wie die Cartesianer sehen auch die englischen Empiristen das menschliche Sein als aus einzelnen Bewußtseinsvorgängen, "cogitationes", zusammengesetzt an. Die Wahrheit besteht in beiden philosophischen Richtungen aus Urteilen, deren Begriffe sich zu den einzlnen Sinnestatsachen wie das Allgemeine zum Besonderen verhalten. Nach den Empiristen stammen diese Begriffe aus dem sinnlichen Material und werden durch ein fortschreitendes Weglassen der inhaltlichen Unterschiede, das heißt durch Abstraktion, gewonnen; nach den Rationalisten sind sie ursprüngliche, in der Vernunft bereitliegende Einheiten. In jedem Individuum sind, wie die Cartesianer meinen, a priori auch die Wahrheiten über die Vorgänge der Wirklichkeit angelegt; aus den höchsten Urteilen, die jedem vernünftigen Wesen einsichtig gegeben sind, müssen sich grundsätzlich auch die Einzelerkenntnisse durch Deduktion entwickeln lassen. Auch in der empiristischen Lehre vermag jede Monade aufgrund reiner Bewußtseinsvorgänge zu erkennen, was ist. Von Kräften, die außerhalb des Bewußtseins lägen oder sich von ihm grundsätzlich unterschieden, ist die Erkenntnis unabhängig. Ihre Beziehung zum Objekt, ihre Aufgabe, die Grenzen ihrer Leistung, ja ihre wichtigsten Inhalte lassen sich ein für allemal bestimmen oder zumindest klassifizieren. Eine feste Weltanschauung, mag sie auch noch so skeptisch sein, läßt sich umreißen, weil man des Wesentlichen für alle Zufkunft sicher ist. Die Betonung unserer Unwissenheit, wie sie sich seit HUME in den positiven Schriften zu finden pflegt, die Versicherung, es sei uns "das eigentliche Wesen des Geistes ... ebenso unbekannt wie das der Körper außerhalb von uns" (1), ist ebenso sehr eine dogmatische Metaphysik wie die ewigen Wahrheiten des Cartesianismus. Der Positivisms folgert aus seiner Analyse des Bewußtseins eine agnostizistische, der Rationalismus cartesianischer Richtung eine inhaltlich bestimmtere Weltanschauung. Beide glauben, daß wir uns des metaphysischen Geschäfts unterziehen müßten, "um nachher für alle Zeiten in Ruhe zu leben" (2). HUME will befriedigt ausruhen, wenn "wir an der äußersten Grenzen menschlichen Denkens angelangt sind" (3), und stellt diese Grenze aufgrund einer Selbstbetrachtung des Bewußtseins fest. KANT hat dann die Ansicht von den angeborenen Begriffen mit der bescheideneren HUMEschen Überzeugung von der Beschränktheit unseres Wissens vereinigt und dabei ebenfalls das Ergebnis des sich selbst erkennenden Bewußtseins als Inhalt einer unverrückbaren universalen Theorie verkündigt. In diesen Auseinandersetzungen der neueren Philosophie wird das in sich geschlossene Bewußtsein des Individuums mit der menschlichen Existenz in eins gesetzt. Nach der rationalistischen Richtung erscheinen alle Probleme als gelöst, wenn der einzelne von sich selbst einen klaren und deutlichen Begriff gewonnen hat; nach der empiristischen kommt es mehr darauf an, Ordnung in die Fülle der gegebenen Erlebnisse zu bringen: in beiden Fällen soll die Wahrheit aus der Introspektion des vernünftigen Individuums hervorgehen. Das Handeln wird dabei wesentlich unter dem Gesichtsprunkt betrachtet, inwieweit es die richtige Folge dieser Wahrheit ist. Wenn die intellektuellen Aufgaben, die jeder Einzelne aufgrund sachkundiger Aufklärung in seinem eigenen Bewußtsein auszuüben imstande ist, erfüllt sind, scheint die praktische Durchführung von selbst gegeben; sie gilt als bloße Folge der Reflexion. Das Wohl, zumindest die Erfüllung dieser Bestimmung eines jeden Individuums hängt so von einem guten Funktionieren seines intellektuellen Apparates ab. Unter dem Titel Rationalismus ist jedoch früh schon nicht bloß der Cartesianismus, sondern die gesamte große neuere Philosophie verstanden worden. Die Rolle, welche sowohl die Cartesianer als auch die Empiristen dem Denken einräumten, konnte als Ausdruck der Haltung aufgeklärter bürgerlicher Schichten wirken, welche alle Lebensfragen ihrer eigenen Kontrolle unterstellen wollten. In den gesellschaftlichen Gruppen und Perioden der neueren Zeit, in welchen Gegenströmungen gegen die Ausbreitung der bürgerlichen Weltgestaltung und ernsthafte Befürchtungen vor ihren Folgen für das Bürgertum selbst zutage traten, haben auch Angriffe gegen die cartesianisch-empiristische Bewußtseinsphilosophie Raum gewonnen. Es ist dabei weniger an solche Erscheinungen wie die Opposition gegen den besonders in der Theologie pedantisch gewordenen Rationalismus seitens der akademischen Jugend Deutschlands in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu denken; der Rationalismus erschien hierbei mehr in seiner ursprünglichen Verbindung mit der ersten Phase des bürgerlichen Zeitalters, dem absolutistischen Regime und geriet in Gegensatz zur zweiten, zur liberalen Phase. Vor allem trug ja die Abneigung, traditionelle, "historisch gewordene" und in Wirklichkeit veraltete Einrichtungen zugunsten zweckmäßigerer Formen abzuschaffen, einen anti-rationalistischen Charakter. Dieser Widerstand setzte seit der französischen Revolution, besonders in Deutschland, die "historische" und "organische" Auffassung gernde der "rationalistischen" Neuerungssucht entgegen. Der Rationalismus, den sie treffen wollte, war im wesentlichen der Entschluß, Ansichten und Verhältnisse nicht nach ihrer Ehrwürdigkeit, sondern nach ihrer Anpassung an die Bedürfnisse der menschlichen Gesellschaft zu beurteilen. Diese Bedeutung des Wortes aus der METTERNICHschen Ära ist in Deutschland schon früh so sehr in den allgemeinen Gebrauch eingegangen, daß selbst HELMHOLTZ gelegentlich von der "Geneigtheit der Franzosen, alles historisch Entwickelte nach rationalistischen Theorien über den Haufen zu werfen", sprach (4). Zum Verteidiger dieses angegriffenen Rationalismus hat sich HEGEL gemacht, als er schrieb:
Die Wendung gegen den Rationalismus in der impresionistischen Literatur und Malerei, ebenso wie die Philosophie NIETZSCHEs und BERGSONs, lassen zwar schon die Unsicherheit des Bürgertums in seiner humanistischen Tradition erkennen, gleichzeitig drückt sie jedoch den Protest gegen die Fesselung des individuellen Lebens durch die zunehmende Konzentrationsbewegung des Kapitals aus. Der Irrationalismus in seiner heutigen Gestalt hat dagegen mit jenen Traditionen ganz gebrochen: auch in ihm spiegelt sich freilich noch das Leiden der Individuen in der herrschenden Ordnung, die unvernünftig geworden ist, wider, aber diese Spiegelung ist jetzt gleichsam verkehrt, denn die Unvernunft und das aus ihr fließende Leiden der einzelnen wird als Notwendigkeit hingenommen und gedanklich in ein Gut umgedreht. Die Existenz der aus jedem Anteil an der wirtschaftlichen Macht ausgeschiedenen Massen des kleinen Bürgertums in Stadt und Land erschöpft sich darin, für die äußeren und inneren Ziele der herrschenden Gruppen einzustehen, bloßes Mittel zu sein. Die Anpassung an diese Lage erfolgt, wie immer, durch ideologische Verklärung. Das Zeichen, daß sich eine gesellschaftliche Schicht mit ihrem Los abgefunden hat, ist das Bewußtsein ihrer Angehörigen von der metaphysischen Bedeutung dieser Form der Existenz. Aus der Verherrlichung der pflichtbewußten, aber zugleich autonomen Person, wie sie in der rationalistischen Philosophie von LEIBNIZ bis FICHTE erscheint, ist - etwa bei MAX SCHELER - das Loblied auf den Sinn des Leidens geworden. Opferfreudigkeit und Entsagung, die sich schließlich eindeutig als Tugend des Gehorsams und der Verneinung eigener Interessen zu erkennen geben, werden zur allgemeinen Gesinnung und offenbaren die Anpassung eines großen Teils der Gesellschaft an ihre gegenwärtige Lage. Der Mensch gilt sich selbst nicht mehr als Zweck, sondern wesentlich als Mittel. "Es gibt keine autonome Individualität mehr ..." (7) Leben und "Dienst" fallen zusammen.
Auch in der idealistischen Philosophie ist diese Voraussetzung kritisiert worden; da sie aber zu ihrem Wesen gehörte, mußte dies dazu führen, daß entweder die Möglichkeit der Philosophie überhaupt oder zumindest die eigenen Voraussetzungen des Idealismus dem Sinn nach verleugnet wurden. Das erste war bei der Skepsis HUMEs und beim modernen Historismus der Fall: sie sind zur Verneinung theoretischer Wahrheit gekommen. Das zweite geschah bei den Philosophen, die, ausgehend von idealistischen Gedankengängen, zu einer materialistischen Denkart übergegangen sind: dies gilt für die französischen Aufklärer, welche die universalen ontologischen Fragen in aller Weitherzigkeit, dagegen die aktuelle geschichtliche Praxis in unversöhnlicher Strenge behandelten, vor allem jedoch für die dialektische Methode Hegels, die seine identitätsphilosophische Ausgangsstellung und sein abschließendes System durchbricht. Jedenfalls liegt im idealistischen Charakter, den Rationalismus und Irrationalismus als weltanschauliche Strömungen an sich tragen, einer der entscheidensten Widersprüche zwischen ihnen und dem Materialismus. Dem Materialismus nach ist weder reines Denken noch Abstraktion im Sinn der Bewußtseinsphilosophie, noch Intuition im Sinn des Irrationalismus imstande, das Individuum mit einer bleibenden Struktur des Seins in Beziehung zu setzen. Der Einzelne vermag in seinem Innern weder tiefste Gründe, noch ein oberstes Wesen zu entdecken; er kann auch nicht zu angeblich letzten Elementen des Seins gelangen. Solche endgültigen Bestimmungen des Denkens und seines Gegenstandes, die von der geschichtlichen Situation und den in ihr gestellten theoretischen Aufgaben absehen, liegen der gesamten idealistischen Philosophie zugrunde. Sie enthalten alle einen dogmatischen Begriff der Totalität. Jede auf ihm beruhende Fragestellung ist dem Materialismus fremd. Seine Stellung zu den einzelnen Argumenten, welche im gegenwärtigen Streit um den Rationalismus eine Rolle spielen, ist nicht einfach: er schlägt sich zu keiner der streitenden Parteien. Die philosophischen Positionen des Irrationalismus sind äußerst mannigfaltig: es gehört zu seinem Wesen, daß sie sich rasch verändern und manches, was noch gestern als Kennzeichen dieses Standpunkts galt, heute von ihm selbst aus als bekämpfenswert erscheint. In seinem Versuch, "die heimliche Philosophie der historischen Schule erstmals als einen Sinnzusammenhang zu entwickeln" (9), führt ROTHACKER WILHELM SCHERERs Kennzeichnung des Gegensatzes an. Sie lautet:
Der erste Einwand lautet, daß der Verstand nicht universal, sondern nur auf ein begrenztes Gebiet von Sachen anzuwenden ist. Vor vielen, ja vor den bedeutendsten Phänomenen des Lebens versagt die begriffliche Betrachtungsweise, mehr noch: sie zerstört ihre Gegenstände. Diese Behauptung von der tötenden Wirkung des Denkens, dessen unbeschränkte Anwendbarkeit einen der Grundsätze des Bürgertums während seines gesamten Aufstiegs gebildet hatte, trifft eine Grundansicht des liberalistischen Zeitalters. Als die Lebensphilosophie, vor allem BERGSON, diesen Vorwurf gegen das Denken erhob, war die vom Bürgertum mit Hilfe seiner Wissenschaft und Technik entwickelte Lebensordnung für einen großen Teil seiner selbst schon unerträglich geworden. Indem die Lebensphilosophen im Namen der Entfaltung des Lebens gegen das Denken zu Felde zogen, das ursprünglich eben dieses Leben aus den Fesseln der veralteten feudalen Ordnung befreien half, machten sie in ihrer Sphäre den sich vertiefenden Widerspruch zwischen der bürgerlichen Ordnung und den ursprünglichen bürgerlichen Ideen offenbar. Von der unbehinderten Anwendung der aus ihrer mittelalterlichen Bevormundung befreiten Vernunft auf alle Probleme des Lebens, vom freien Walten der intellektuellen Kräfte jedes Einzelnen hatte man sich den unbegrenzten Aufstieg der Gesellschaft, das dauernde Anwachsen des allgemeinen Wohlstandes versprochen. Die irrationalistische Begrenzung des Denkens auf einzelne Gebiete enthielt gleich zu Anfang zwei sich widersprechende Elemente: den Protest gegen die schlecht gewordene Lebensordnung und den Verzicht darauf, ihre Veränderung mit Hilfe der Anwendung des theoretischen Denkens auf das Problem der Gesamtgesellschaft herbeizuführen. Die Lebensphilosophie hat von Anfang an erklärt, daß alle großen menschlichen Fragen sich dem Machtbereich des Denkens entziehen und durch den Verstand nur heillos entstellt werden. Nicht bloß der metaphysische Urgrund des Geschehens, das schöpferische Leben und die inneren Zustände des Individuums, sondern alle Gestaltungen der geistigen Kultur verschließen nach dieser Überzeugung ihr wahres Wesen vor dem Denken. Weder die Liebe zum einzelnen noch zur Gemeinschaft, weder eine Religion noch ein Kunstwerk sollen einer begrifflichen Beurteilung zugänglich sein. Die gedankliche Zergliederung dieser Phänomene führt zur Unterscheidung einer Reihe abstrakter Merkmale; es wäre ein Wahn zu glauben, daß sich aus diesen Stücken der ursprüngliche sinnvolle Gehalt, aus dem die Analyse sie gewonnen hat, wieder zusammensetzen läßt. Wer immer wertbehaftete Erscheinungen einer begrifflichen Analyse unterwirft, wird seinen Gegenstand zerstören und ihn am Ende durch ein armseliges Zerrbild ersetzen.. Nicht die kritische Beurteilung, sondern im Gegenteil das Sich-Hingeben an den lebendigen Gehalt bildet danach die einzige Möglichkeit des Verständnisses. Ursprünglich hatte die Lebensphilosophie den theoretischen Charakter der Einsicht insofern noch festgehalten, als die Anstrengung der Intuition, welche in die Mitte des lebendigen Geschehens versetzen sollte, nicht notwendig mit einer bestimmten praktischen Stellungnahme identisch war. Schon mit MAX SCHELERs Lehre, daß philosophische Erkenntnis an gewisse ethische Voraussetzungen gebunden ist, zu denen er Liebe und Demut rechnet (11), hat sich die Meinung, daß Aufschwung, Ergriffenheit, innerste Zustimmung zur Erkenntnis echter Wesenheiten gehören, weite Geltung verschafft. Die Gefolgschaft ist schließlich zur Vorbedingung des Verständnisses geworden. Heute scheint es bereits selbstverständlich zu sein, daß an die Stelle des theoretischen Begreifens der herrschenden Mächte die Begeisterung der von ihnen Abhängigen zu treten hat. Die Nachfahren des alten Rationalismus und Empirismus haben sich nicht nur mit scharfsinnigen Argumenten gegen die zunehmende Verfemung des Denkens gewandt, sondern einzelne haben sogar auf manche soziale Funktionen des Irrationalismus hingewiesen. So bezeichnet RICKERT SCHELERs "Genius des Krieges", welcher "dazu dient, den Krieg als Höhepunkt der staatlichen Wirksamkeit zu rechtfertigen" (12), als durchaus folgerichtig im Sinn der Lebensphilosophie. "Wer nicht allein sieht, daß natürliches, vitales Leben Wachstum ist, sondern wer zugleich in diesem biologistischen Gesetz eine Norm für alles Kulturleben erblickt, der muß in der Tat wie SCHELER denken" (13). Bei aller logischen Feinheit der Beweisgründe, die der Rationalismus gegen die Lebensphilosophie ins Feld führt, vermag er sie jedoch nicht entscheidend zu treffen. Sie ist gegen ihn ebensosehr im Recht wie er gegen sie. Die Entwertung des begrifflichen Denkens zugunsten der bloßen Hingabe an das Erlebnis ist freilich ein erkenntnisfeindlicher und daher bloß rückschrittlicher Standpunkt und widerspricht auch noch der eigenen philosophischen Arbeit der Lebensphilosophie.
Gegen diesen rationalistischen Mythos haben Lebensphilosophie und ihr verwandte Richtungen in Philosophie und Psychologie den Sieg davon getragen. Eines der wichtigsten Mittel dabei war der Nachweis, daß die Strukturen, welche an den Sachen vorgefunden werden, nicht durch das denkende und beobachtende Subjekt hineingetragen, sondern objektiv begründet sind. Der Glaube, daß ursprünglich ein Chaos sinnlicher Elemente gegeben ist, aus dem der Begriff erst eine geordnete Welt zu schaffen hat, läßt sich sowohl durch eine Beschreibung des anschaulich Gegebenen wie durch das Studium der intellektuellen Akte widerlegen. Besonders die Gestalttheorie (17) hat den Nachweis der Strukturiertheit des Gegebenen erbracht und den mythologischen Charakter der unabhängigen geistigen Faktoren durch eingehende Untersuchungen aufgedeckt. Die Kritik des Rationalismus durch die Lebensphilosophie schießt freilich über das Ziel hinaus. Sie nämlich stets versucht, die richtige Behauptung der Eigenstruktur des Gegebenen und die aus ihr folgende Ablehnung der Lehre, daß alle Ordnung in der Welt durch ein Denken erzeugt ist, mit dem falschen Glauben an eine unmittelbare Wahrheit zu verwechseln. Sie übersieht, daß jede Erkenntnis durch die Menschen, die sie hervorbringen, mitbestimmt ist. Mangels der Einsicht in die unaufhebbare Spannung zwischen Erkenntnis und Gegenstand gewinnt sie den Charakter einer Identitätsphilosophie, die selbst ebenso unhistorisch bleibt wie die von ihr bekämpfte Lehre. Rationalismus und Irrationalismus heben sich gegenseitig ihren metaphysischen Anspruch auf, das Denken übt an ihnen beiden seine zerstörerische Wirkung aus, und fraglos kann durch die Kritik der beiden Richtungen, die sie aneinander üben, etwas aus der Welt kommen. Nach Auffassung des Irrationalismus wäre dies das philosophische Gebilde in seiner Ganzheit: also der Irrationalismus selbst ebenso wie sein Gegner, der Rationalismus. Auch bei genauer Durchführung der Auseinandersetzung, die hier nur angedeutet wurde, blieben jedoch die kritisierten philosophischen Lehren selbst erhalten. Anhand der Dokumente sind sie, im Widerspruch zur irrationalistischen Theorie, grundsätzlich auch vom Gegner zu rekonstruieren. Die Leistungen, welche im Zusammenhang mit beiden metaphysischen Richtungen auf vielen Einzelgebieten der Erkenntnis vollbracht wurden, bleiben völlig unberührt. Zerstört ist nur der Anspruch auf Wahrheit, insofern er ohne Recht erhoben worden ist, keineswegs die Sätze, durch welche er sich geltend macht. Wer sich mit ihnen unter Zuhilfenahme zeitgemäßer Erkenntnismittel beschäftigt, schenkt ihnen keinen Glauben mehr. Selbst diese Wirkung bringt jedoch das Denken nicht allein zustande. Denn die Erkenntnis hängt bei jedem ihrer Schritte noch von ganz anderen als rein logischen Voraussetzungen ab. Die objektive Unwahrheit von Behauptungen ist bloß eine notwendige, durchaus nicht die hinreichende Bedingung ihrer Ablehnung, besonders wenn die falsche Ansicht zur herrschenden Geistigkeit gehört. Die Richtung der einzelnen Schritte, die zur Anerkennung oder Ablehnung führen, ist keineswegs bloß durch den Willen der Wahrheitsfindung, sondern durch die psychische Gesamtlage der Persönlichkeit bestimmt, und diese ergibt sich aus dem Schicksal des Erkennenden in der gesellschaftlichen Umwelt. Selbst die Mathematik, welche als abstrakte und den sozialen Kämpfen besonders entrückte Hilfswissenschaft die auf sie bezüglichen Denkfunktionen weitgehende isolieren und als Prozesse von starker Eigengesetzlichkeit entwickeln konnte, ist in ihrem Gang von atheoretischen Einflüssen keineswegs so frei, wie häufig angenommen wird. Die Entdeckung von Wahrheiten besagt ferner sehr wenig darüber, ob andere sie nachvollziehen. Bei großen Schichten wird durch ihre Rolle im Produktionsprozeß eine psychische Erfassung erzeugt, welche von der Einsicht in die wichtigsten Lebensfragen und damit auch in ihre eigenen wirklichen Interessen ablenkt. In der bisherigen Geschichte waren immer nur bestimmte Gruppen dazu angetrieben, die herrschende Geistigkeit als beschränkt zu erkennen und in Auseinandersetzungen mit den alten Anschauungen neue Ideen entwickeln. Für die übrigen Teile der Gesellschaft spielt der Umstand, ob eine Sache nach dem Stand der Erkenntnis noch für wahr zu halten ist, eine geringe Rolle. Es gibt große soziale Gruppen, bei denen theoretische Klarheit bloß ein Hindernis für die Anpassung an ihre Lage, eine Ursache seelischer Konflikte für den einzelnen bilden könnte. Das Interesse für jene Wahrheit, auf die es im geschichtlichen Augenblick ankommt, entsteht dagegen unter Verhältnissen, welche die Menschen auf die Umwälzung des Bestehenden verweisen und sie zwingen, den gesellschaftlichen und damit freilich auch den metaphysischen und religiösen Fragen auf den Grund zu gehen. Diese Vorbedingungen finden sich nur in bestimmten Schichten und Perioden. Begriffliches Denken allein vermag im allgemeinen nicht einmal den dunkelsten Aberglauben zu zerstören, wenn er in der Dynamik einer halbwegs stabilen gesellschaftlichen Struktur eine wichtige Funktion ausübt. Es gibt freilich Situationen, in denen die geschichtliche Bedeutung des Denkens wächst. Die skeptische Ansicht von seiner notwendigen Ohnmacht ist ebenso falsch wie die Behauptung seiner unwiderstehlichen Kraft. Die geschichtliche Bedeutung bestimmter Erkenntnisse hängt vielmehr von den gesellschaftlichen Kämpfen der betreffenden Periode ab. Eine bestimmte Theorie wie etwa die Lehre, daß sich die Erde bewegt, welche im Hochmittelalter neben anderen einschlägigen Fragen ruhig erörtert wurde, konnte später in der Renaissance umwälzende Gewalt annehmen. Auch in der Gegenwart gewinnt, wie in anderen kritischen Zeitabschnitten, die Erkenntnis größere geschichtliche Bedeutung als in Jahrhunderten der Stabilität. Die Fortschrittsideologie, welche die Anpassung des bürgerlichen Mittelstandes und gehobener Arbeiterschichten an ihre Lage erleichtert hatte, zerfällt in der Wirtschaftskrise und droht, den Platz für eine tiefere Erkenntnis des gesellschaftlichen Prozesses freizumachen. Gegen die Verbreitung dieser Erkenntnis, deren Wirkung heute unabsehbar wäre, hat die philosophische Verteidigung ältester Vorurteile und kruden Aberglaubens eingesetzt. Das plumpe Schimpfen auf das Denken überhaupt, die Warnung vor seinem tötenden Effekt ist ein Moment in diesem Kampf. Die Lebensphilosophie BERGSONs, SIMMELs, DILTHEYs, die freilich zur Herabwürdigung des Denkens die Beweisgründe liefern muß, schloß noch fortschrittliche Züge ein; dies kommt unter anderem in der Beziehung ihres Intuitionsbegriffs zur Geschichte des Rationalismus, vor allem zur Philosophie SPINOZAs, klar zum Ausdruck. Dagegen wurde das populäre Losungswort gegen das Denken überhaupt, nach dem es vornehmlich ein Werkzeug der Zerstörung ist, meist von Dilettanten ausgegeben. Ihre Begabung liegt mehr in der Großartigkeit der Gesichte als in der Fähigkeit zu theoretischer Wahrheit; sie lassen es nicht mehr bei der Beschränkung der Wissenschaft bewenden, sondern bekämpfen das Denken als Erscheinung des Niedergangs.
In Wirklichkeit vermag die Vernunft nur die Unwahrheit zu zerstören. Der Satz, daß richtiges Denken den Gegenstand vernichtet, widerspricht sich selbst. Die Wahrheit oder Unwahrheit vieler allgemeiner Glaubenssätze entzieht sich prinzipiell der Nachprüfung: insofern entbehren sie aber auch des Sinnes, denn jeder Satz macht Anspruch auf Wahrheit, und jede Wahrheit hat einen Erkenntnisgrund. Die grundlosen Überzeugungen einer Epoche pflegen nicht durch das Denken allein zerstört zu werden; solange sie von starken sozialen Kräften aufrechterhalten sind, mag die Einsicht gegen sie Sturm laufen, soviel sie will: es wird nicht der Fetisch vernichtet, sondern der Zeuge, der gegen ihn auftritt. "La revelation de la verite n'est funeste qu'a celui qui la dit." [Die Offenbarung der Wahrheit ist nur für den tödlich, der sie ausspricht. - wp] (26) Das Denken, welches die Grundlosigkeit aufdeckt, bleibt nur siegreich, wenn die tragenden Kräfte einer Ideologie auch aus anderen Gründen an Wirksamkeit verlieren. Die Theorie ist nur ein Element im geschichtliche Prozeß, ihre Bedeutung läß sich jeweils nur im Zusammenhang mit einer umschriebenen geschichtlichen Situation bestimmen. Der liberalistische Idealismus, welcher von der bloßen Entfesselung des Denkens bei jedem Menschen das Heil erwartet, ähnlich wie nach ihm aus der Entfesselung des privaten Gewinnstrebens die Prosperität [Gedeihen - wp] hervorgehen soll, übersieht die geschichtlichen Unterschiede. Im 18. Jahrhundert hat die Förderung der privaten Denkfreiheit und der Unternehmer-Initiative eine andere Bedeutung gehabt als unter den gegenwärtigen Verhältnissen, da die Freiheit der Äußerung wesentlich dazu dient, ihre eigene Aufhebung dort zu beschleunigen, wo sie noch besteht. Die Macht des Denkens in der Geschichte läßt sich nicht ein für allemal festlegen, ebensowenig wie seine maßgeblichen Kategorien und seine Struktur. In der Lebensphilosophie wird das Denken, dem sie den Vorwurf der Zerstörung macht, in einer besonderen Form verstanden, nämlich als das begrifflich zerlegende, vergleichende, erklärende, verallgemeinernde Denken, kurz als Analyse. Insofern enthält diese Kritik auch ein berechtigtes Moment, denn eine Reihe von rationalistischen Systemen haben dieses Denken wirklich mit der geistigen Leistung überhaupt verwechselt. Durch die Begriffe werden, wie die Lebensphilosophie mit vollem Recht betont, am Gegenstand abstrakte Momente bezeichnet. Gleichgültig ob sich die Begriffsbildung nach der alten empiristischen Theorie durch Abstraktion oder, wie die Phänomenologie es lehrt, durch Wesensschau vollzieht, treffen die Begriffe, insofern sie keine Eigennamen sind, nicht das Objekt in seiner vollen Konkretion, sondern nur einzelne Züge an ihm, die es mit anderen Objekten gemeinsam hat. In der Wissenschaft kommt es weitgehend darauf an, solche Züge zu unterscheiden und festzuhalten, um dann Zusammenhänge zwischen ihnen zu entdecken. Insofern sich jeder dieser Züge nicht bloß an einem, sondern grundsätzlich an unbegrenzt vielen Gegenständen finden kann, sind diese Zusammenhänge allgemein und haben die Bedeutung von Gesetzen. Ihre Kategorie ist die Kausalität. Bestimmten Wissenschaftlern liegen einzelne abstrakte Momente der Wirklichkeit als Untersuchungsgegenstände vor. Der Physiker hat es mit Masse und Bewegung der Körper zu tun; nur insofern über diese allgemeinen Gegenstände etwas zu lernen ist, geht ihn ein konkreter, an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit sich abspielender Vorgang etwas an. Der Chemiker beschäftigt sich mit stofflichen Veränderungen überhaupt, der Physiologe mit den Vorgängen im Körper der Lebewesen. Die Bedürfnisse der menschlichen Gesellschaft haben die Entwicklung und Einteilung der Wissenschaften entsprechend der jeweils notwendigen Untersuchung solcher abstrakter Qualitäten bestimmt. DESCARTES hatte sogar geglaubt, mit der Durchforschung einer einzigen Eigenschaft, nämlich der Raumverhältnisse der Körper auszukommen; alle übrigen Eigenschaften, mithin die ganze Sinneswelt wurden für belanglos, für bloßen Schein erklärt. Es war jedoch zu seiner Zeit weniger die rationalistische Verwechslung einer abstrakten Qualität mit der gesamten Wirklichkeit als das Vertrauen in den seiner selbst bewußten Menschen und seine von der Vernunft geleiteten Kräfte. Was dieser die Welt auf meßbare Verhältnisse reduzierenden Theorie zu ihrer Anerkennung verhalf. Später trat zur Mathematik als einziger Wissenschaft noch eine eigene von ihr unterschiedene Physik, dann die von den Engländern entwickelte Chemie; schließlich wurde das System oder die Summe einer ganzen Reihe wissenschaftlicher Disziplinen als Abbild der Wirklichkeit betrachtet. Diese Auffassung der Wissenschaft als eines Inbegriffs fester Beziehungen abstrakter Elemente genügte den Bedürfnissen der sich entwickelnden bürgerlichen Welt. Erst in dem Maße, wie die von der Gesellschaft zu bewältigenden intellektuellen Aufgaben nicht mehr vorwiegend im Fortschritt der Regierungskunst, im Wachstum der Technik und in der Ausbreitung eines Minimums von industriell unerläßlichen Kenntnissen bei den Massen bestanden, sondern die Entwicklungstendenz der Gesamtgesellschaft das entscheidende praktische und damit auch theoretische Thema wurde, ist die Gleichsetzung von Erkenntnis mit einem festen System allgemeiner Sätze oder auch mit einer Unsumme von Einzeluntersuchungen unangemessen und rückschrittlich geworden. Die Lebensphilosophie betont, daß die abstrakten Elemente, die durch eine begriffliche Analse gewonnen sind, auch in ihrer Addition nicht mit dem lebendigen Gegenstand zusammenzustimmen. Die Summe der Striche einer Zeichnung gibt noch kein Bild. Die Aufzählung der Triebregungen eines Menschen stellt keinen Abschnitt seines inneren Lebens dar.
Daß die abstrakten Elemente, die durch eine begriffliche Unterscheidung gewonnen sind, auch in ihrer Summe nicht mit dem ursprünglichen Phänomen zusammenfallen, ist dem an HEGELs Logik geschulten Materialismus seit je vertraut gewesen. Abstraktion und Analyse sind eine verändernde Tätigkeit. Ihre Wirkung muß im Erkennen wieder aufgehoben werden, indem die jeweiligen Eigentümlichkeiten der Analyse bei der Rekonstruktion so gut wie möglich in Betracht gezogen werden. Wenn auch diese Vorschrift niemals restlos zu erfüllen ist, so beruth doch jede dialektische Darstellung auf dem Versuch, ihr Rechnung zu tragen.
Die dialektische Logik ist der Inbegriff aller intellektuellen Mittel, um die vom trennenden Verstand gewonnenen abstrakten Momente für das Bild des lebendigen Gegenstands fruchtbar zu machen. Es gibt keine universale Regel zu diesem Zweck. Selbst innerhalb einer Einzelwissenschaft wie z. B. der individuellen Psychologie erfordert die Betrachtung nahezu jedes einzelnen Menschen eine andere Form der theoretischen Konstruktion. Aus den analytischen Grundbegriffen, die aus der Beobachtung zahlloser Fälle gewonnen wurden und die das allgemeine Wissen über die typische Entwicklung der Einzelseele bilden, zusammenmit den Daten, welche die spezielle Analyse eines bestimmten Schicksal liefert, muß der Psychologe die aktuelle seelische Situation mit ihrer eigentümlichenDynamik zu verstehen versuchen. Nicht nur die Daten sind dabei verschieden, sondern auch die Weise der dialektischen Konstruktion; die Bedeutung der allgemeinen Begriffe, die in sie eingehen, bleibt in keinem Fall genau dieselbe. Werden etwa die Kategorien des Selbsterhaltungstriebes oder des Ressentiment in eine konkrete Schilderung aufgenommen, so erhalten sie in diesem Ganzen einen jeweils eigentümlichen Sinn. Von jedem Schritt der Darstellung eines lebendigen Prozesses wird die Funktion und damit auch der Inhalt der Begriffe, die dabei Verwendung finden, mitbetroffen. Der Begriffsrealismus, d. h. die Lehre, daß die Bedeutung der allgemeinen Begriffe selbst existiert, ist ebenso unrichtig wie sein nominalistischer Gegensatz, nach welchem die allgemeinen Begriffe bloße Namen sind. Oder vielmehr: beide Lehren haben recht. Die Allgemeinbegriffe haben reale Bedeutung, aber diese wird jeweils nur in der Gesamtdarstellung eines konkreten Gegenstandes, die ihre eigenen, dem Objekt angemessenen Prinzipien hat, bestimmt. Der Satz des ARISTOTELES, daß die Allgemeinbegriffe nur soweit existieren wie die Einzelgegenstände, die unter sie fallen, ist durch die HEGELsche Philosophie dahin verändert worden, daß auch die Bedeutung der Begriffe je nach dem konkreten Einzelgegenstand, in dem sie sich erfüllen, eine andere ist. Dies heißt keineswegs, daß nicht jedem begrifflichen Wort ein bestimmter Sinn zugeordnet ist. Es ist im Denken nicht erlaubt, mit einem Zeichen willkürlich einmal dieses und dann ein anderes zu meinen. Sobald ein Begriff ganz isoliert gedacht wird, hat er seinen festen Sinn; geht er jedoch in ein kompliziertes Denkgebilde ein, so gewinnt er in diesem Ganzen eine besondere Funktion. So läßt sich etwa der Selbsterhaltungstrieb eindeutig definieren, sofern er isoliert für sich allein betrachtet wird; im Gesamtbild eines bestimmten Menschen, als Selbsterhaltungstrieb einer konkreten, lebendigen Person wird er von den anderen seelischen Zügen in seinem Inhalt betroffen. Ebenso wie aus dem Satz, daß sich eine chemische Verbindung aus bestimmten Elementen zusammensetzen läßt und wieder in sie zerfallen kann, nicht folgt, daß diese Elemente in der Verbindung die gleichen Eigenschaften behalten wie vor und nach ihrer Teilnahme an diesem Ganzen, so geht aus der strengen Definierbarkeit abstrakter Begriffe keineswegs hervor, daß sie bei ihrer Mitwirkung am gedanklichen Abbild eines konkreten Ganzen keine Änderung erleiden. Die Begriffe sind, wenn sie sich erfüllen, jeweils Momente an ganzen theoretischen Gedankenzügen und nicht mehr isolierte Symbole. HEGELs Lehre, daß das wahre Denken den Widerspruch enthält, ist schon in dieser einfachen Erkenntnis begründet. Die vom Verstand durch Abstraktion gewonnenen Begriffe verändern ihren Sinn, sobald sie zur Darstellung eines konkreten Ganzen miteinander in Beziehung treten, und doch bleiben sie insofern mit sich selbst identisch, als sie ihre feste Definition behalten. Die Prinzipien der traditionellen Logik, der "Verstandeslogik", vor allem der Grundsatz der Identität, aber auch die andern des unterscheidenden Denkens werden in der dialektischen Logik nicht schlechthin ausgemerzt. Die abstrakten Begriffselemente und ihre festen Beziehungen, die in den einzelwissenschaftlichen Forschungen untersucht werden, bilden das Material, das der theoretischen Nachbildung lebendiger Prozesse jeweils zur Verfügung steht. Deshalb ist es unwahr, wenn die Lebensphilosophie und mit ihr andere irrationalistische Richtungen meinen, der Einblick in das wirkliche Sein hat mit Analyse gar nichts zu tun, an ihre Stelle hat ein gedankenloses Sichversenken zu treten. Das Produkt der Analyse, die abstrakten Begriffe und Regeln sind also keineswegs identisch mit der Erkenntnis des Geschehens in der Wirklichkeit. Die Einzelwissenschaften liefern nur die Elemente zur theoretischen Konstruktion des geschichtlichen Ablaufs, und diese bleiben in der Darstellung nicht, was sie in den Einzelwissenschaften waren, sondern erhalten neue Bedeutungsfunktionen, von welchen vorher noch keine Rede war. Jedes wirkliche Denken ist daher auch als fortlaufende Kritik an abstrakten Bestimmungen aufzufassen, es enthält ein kritisches, wie HEGEL sagt, ein skeptisches Moment. Die dialektische Seite des Logischen ist zugleich die "negativ-vernünftige" (29). Wenn aber die Begriffsbildungen der Physik, die Definitionen von Lebensvorgängen in der Biologie, die allgemeine Beschreibung einer Triebregung, die Darstellung des typischen Inflationsmechanismus oder der Kapitalakkumulation und andere Ergebnisse der einzelnen Wissenschaften nicht schon die Darstellung eines wirklichen Geschehens in der toten und lebendigen Natur, sondern bloß ihre Voraussetzungen bilden, so hat doch die Forschung diese Begriffe und Urteile aus realen Vorkommnissen abstrahiert. Schon dadurch unterscheiden sie sich von Phantasiegebilden und willkürlichen Konstruktionen; durch ihre Herkunft und durch ihre Anwendbarkeit stehen sie in einer positiven Beziehung zur Realität. Von der Genauigkeit dieser Produkte der Analyse hängt die Treue des gedanklichen Spiegelbildes der Wirklichkeit mit ab. Die Analyse geht vom Besonderen zum Allgemeinen. Sie reicht aus, soweit das Denken aus dem wirklichen Geschehen nur auszusondern hat, was sich wiederholt. Für diejenigen Tätigkeiten, die von der relativen Unveränderlichkeit natürlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse abhängen, hat die Wissenschaft damit ihre eigentliche Aufgabe erfüllt. In der liberalistischen Periode erwartete man Wunder von der bloßen Entwicklung der Einzelforschung, weil man die Grundlagen der gegenwärtigen Gesellschaftsform für statisch hielt. Vor der Erkenntnis der Geschichte versagt jedoch das mechanistische Verfahren. Hier gilt es, noch nicht abgeschlossene einmalige Prozesse in ihren beherrschenden Tendenzen zu erkennen. Dazu muß zwar ein analytisches Wissen herangezogen werden, doch die Leistung bei der es eine Rolle spielen soll, fällt keineswegs mit ihm zusammen. Forschungs- und Darstellungsweise sind hier grundsätzlich verschieden. Bei der Rekonstruktion von Tendenzen der Gesamtgesellschaft spielen noch ganz andere psychische Funktionen eine Rolle als bei der Ausbildung der Einzelwissenschaft; auch "Intuition" gehört mit dazu.
Wenn der Materialismus das analytische Denken, das unter den gegenwärtigen Verhältnissen wie andere Hilfsmittel der Gesellschaft aus einer Produktivkraft zu einer Hemmung geworden war, nicht verneint, sondern dazu übergeht, es richtig anzuwenden, so spielt es bei ihm doch eine andere Rolle als sonst in der Philosophie. Die materialistische Dialektik ist auch von der HEGELschen grundsätzlich geschieden. HEGEL hat durch die Entwicklung der dialektischen Grundsätze und mehr noch durch die Ausführung dialektischer Darstellungen im einzelnen gezeigt, wie analytisch gewonnene Begriffe für die gedankliche Rekonstruktion lebendiger Prozesse fruchtbar zu machen sind. Aber bei ihm gibt es in Wahrheit nur einen einzigen großen Prozeß, der alle Begriffe als seine Momente in sich enthält, und dieser Prozeß, dieses "Konkrete, Eine" kann der Philosoph ein für allemal erfassen und darstellen. Deshalb gelten bei HEGEL die einzelnen Stufen dieser Darstellung nicht bloß in der Logik, sondern auch in der Philosophie der Natur und des Geistes als ewige Verhältnisse. Alle Beziehungen im fertigen System werden als unveränderlich gedacht. So erscheint die Moralität, die durch das Gute und das Gewissen bei HEGEL in einem besonderen Sinn bestimmt wird, zusammen mit dem abstrakten bürgerlichen Recht als ein ewiges Moment der Sittlichkeit; in dieser hat ebenso der Staat eine feste, Familie und Gesellschaft in besonderer Weise umgreifende und überhöhende Bedeutung. Die abstrakten Kategorien aller Systemteile, sowohl die der reinen Logik (z. B. Quantität und Qualität) als auch einzelner Kulturgebiete (z. B. Kunst und Religion) sollen sich zum dauernden Bild des konkreten Seins zusammenfügen lassen. Wer auch immer zu beliebiger Zeit die reale Bedeutung irgendeiner Kategorie erfassen will: er wird, getrieben durch die innere Logik der Sache, dasselbe Gemälde des Seins zustande bringen zu müssen. Bis zu seiner Vollendung ist im Geist dessen, der es jeweils nachvollzieht, das ganze begriffliche Material noch in Bewegung, weil die Bedeutung der einzelnen Kategorien sich erst im Ganzen erfüllt. Aber als Momente der gedanklichen Einheit, die für HEGEL nicht bloß ein reiner Spiegel, sondern selbst das Absolute ist, sollen sie unveränderliche Geltung haben.
Der Materialist vermag an eine solche Eindeutigkeit keineswegs zu glauben. Es gibt kein abschließendes Bild der Realität, weder dem Wesen noch der Erscheinung nach. Schon der Ansatz eines überzeitlichen Subjekts, welches es allein fassen könnte, ist ein Irrwahn. Ferner führt auch die Überwindung der Einseitigkeit von abstrakten Begriffen durch die Kunst der dialektischen Konstruktion nicht, wie HEGEL meint, zur absoluten Wahrheit. Sie geschieht stets im Denken bestimmter geschichtlicher Menschen. "Der Mensch denkt, nicht das Ich, nicht die Vernunft." (34) Die materialistische Philosophie, "hat daher zu ihrem Erkenntnisprinzip, zu ihrem Subjekt nicht das Ich, nicht den absoluten, das ist abstrakten Geist, kurz, nicht die Vernunft für sich allen, sondern das wirkliche und ganze Wesen des Menschen." (35) Wäre dieses Wesen, wie es die früheren Materialisten, FEUERBACH mit eingeschlossen, noch glaubten, unwandelbar dasselbe, so hätten seine gedanklichen Konstruktionen zumindest ein und denselben subjektiven Grund. Es wären theoretische Entwürfe des einen Wesens im Hinblick auf die ganze Welt, die ihm gegenüberstünde. So hat auch DILTHEY noch die intellektuelle Kultur der Menschheit verstanden. Der dialektische Materialismus aber begreift als Subjekt des Denkens nicht selbst wieder ein Abstraktum wie das Wesen Mensch, sondern jeweils Menschen einer bestimmten geschichtlichen Epoche. Auch diese werden nicht als isolierte, voneinander und von der Welt abgeschlossene Einheiten, als Monaden hypostasiert [einem Wort reale Existenz unterschieben - wp]; ihr ganzes Sein und damit auch ihr Bewußtsein hängt vielmehr ebensosehr von ihrer natürlichen Mitgift wie von den gesamten Verhältnissen ab, die sich in der Gesellschaft zu ihrer Zeit herausgebildet haben. Daher ist dem Materialismus nach die Theorie des gesellschaftlichen Lebensprozesses einerseits die umfassendste gedankliche Konstruktion, der die analytische Forschung auf allen Gebieten als Hilfe dient, andererseits richtet sich diese Theorie notwendig nach der geistigen und materiallen Lage und den sich daraus ergebenden Impulsen, die für eine der gesellschaftlichen Klassen jeweils kennzeichnend sind. Manche Ansichten werden freilich weniger durch die psychische Struktur einer bestimmten Gruppe im Produktionsprozeß als durch private Eigentümlichkeiten ihrer Urheber bestimmt; solche Meinungen pflegen entweder keine gesellschaftliche Bedeutung zu gewinnen, oder sie erhalten mehr oder weniger eine eindeutige Umprägung im Sinn einer bestimmten Klasse.
1) HUME, Traktat über die menschliche Natur, 1. Teil, übersetzt von THEODOR LIPPS, Leipzig und Hamburg, 1912, Seite 5. 2) HUME, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, hg. von RAOUL RICHTER, Leipzig 1920, Seite 11. 3) HUME, Traktat, a. a. O., Seite 6. 4) HERMANN HELMHOLTZ, Vorträge und Reden, Bd. 2, Braunschweig 1903, Seite 199 5) HEGEL, Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, hg. von LASSON, Leipzig 1913, Seite 199 6) ERNST TROELTSCH, Gesammelte Schriften, Bd. 4, Tübingen 1925, Seite 597f. 7) ERNST KRIECK, Nationalpolitische Erziehung, Leipzig 1933, Seite 111. 8) ERNST JÜNGER, Der Arbeiter, zweite Auflage, Hamburg 1932, Seite 71. 9) ERICH ROTHACKER, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, in: Handbuch der Philosophie, Abteilung II, München und Berlin 1927, Seite 130. 10) WILHELM SCHERER, Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich, Berlin 1874, Seite 340f. 11) Vgl. z. B. SCHELER, "Vom Ewigen im Menschen", Leipzig 1921, Seite 106f. 12) HEINRICH RICKERT, Die Philosophie des Lebens", Tübingen 1922, Seite 30. 13) RICKERT, a. a. O., Seite 102. 14) RICKERT, a. a. O., Seite 54. 15) Vgl. RICKERT, System der Philosophie, Teil 1, Tübingen 1921, Seite 368. 16) RICKERT, Philosophie des Lebens, a. a. O., Seite 148. 17) Vgl. die Arbeiten von WOLFGANG KÖHLER, MAX WERTHEIMER, ADHEMAR GELB, KURT KOFFKA u. a. 18) OSWALD SPENGLER, Der Untergang des Abendlandes, Bd. 1, München 1920, Seite 489. 19) SPENGLER, a. a. O. 20) LUDWIG KLAGES, Der Geist als Widersacher der Seele, Leipzig 1929-1932, Bd. 3, Seite 451-452. 21) KLAGES, a. a. O., Seite 766-77 22) KLAGES, a. a. O., Seite 452. 23) MARTIN HEIDEGGER, Sein und Zeit, Halle/Saale, 1927, Seite 136. 24) EDGAR DACQUÉ, Natur und Erlösung, München-Berlin 1933, Seite 53. 25) ERNST JÜNGER, a. a. O., Hamburg 1932, Seite 161. 26) HELVETIUS, De l'Homme, Oeuvres complétes, t. V, Londres, 1780, Seite 29. 27) HENRI BERGSON, Einführung in die Metaphysik, Jena 1920, Seite 15f. 28) HEGEL, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, erster Teil: Die Logik, § 227 Zusatz. 29) HEGEL, Enzyklopädie etc. a. a. O., § 79. 30) HEGEL, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 3, Jubiläumsausgabe Bd. 19, Seite 283-284. 31) KARL MARX, Nachwort zur zweiten Auflage des "Kapitals". 32) HEGEL, Enzyklopädie Logik, a. a. O., § 38, Zusatz. 33) HEGEL, Wissenschaft der Logik, Einleitung. 34) FEUERBACH, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, Nr. 50, Sämtliche Werke Bd. 3, Seite 313, Stuttgart 1904. 35) FEUERBACH, a. a. O. |