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Der Sinn der Voraussetzungslosigkeit in den Geisteswissenschaften
I. Die Stellung der Gestirne wechselt auch auf diesem Gebiet jetzt außerordentlich schnell. 1919 beunruhigte uns MAX WEBERs Vortrag über "Wissenschaft als Beruf", in dem sich die kantisierend-positivistische Wissenschaftsauffassung einer älteren Generation noch einmal scharf zusammenfaßte: Wertsetzende Urteile (- denn so ist hier das vieldeutige Wort "Werturteile" zu verstehen -) sind unter keinen Umständen Sache der Wissenschaft, sondern des Lebens und der Prophetie; auch die Geisteswissenschaft kann nur Gesetzlichkeiten der Struktur oder des Geschehens studieren, sie kann auf dieser Grundlage die Erfolgschancen für mögliches Zweckhandeln vorausberechnen; aber sie kann die Relativität der Wertstandpunkte - den Polytheismus der Werte - nicht kritisieren; ihr einziges Geschäft ist erklärende oder verstehende Kausalerkenntnis: die "Entzauberung der Welt" (2). 1929 aber finden wir eine große Zahl von Schriften emporgeschossen, in denen Weltanschauung und Wertentscheidung nicht nur als inhaltliche Aufgabe der Geisteswissenschaften, sondern schon als ihre Wurzeln erscheinen. Ich weiß nicht, ob man sich der Tragweite dieser Wandlung heute überall ganz bewußt ist. Drei gemäßigte Vertreter der neuen Einstellung will ich zur Beleuchtung des Sachverhalts heranziehen, wobei freilich die umfassenderen Hintergründe der jüngsten Wissenschaftsgeschichte als bekannt "vorausgesetzt" werden müssen. ERICH ROTHACKER sucht in seiner 1926 erschienenen "Logik und Systematik der Geisteswissenschaften" (Handbuch der Philosophie, hg. von A. BAEUMLER und M. SCHRÖTER, 6. und 7. Lieferung) die idealtypischen Grundrichtungen der geisteswissenschaftlichen Methoden als Ausstrahlungen der drei von DILTHEY aufgestellten Weltanschauungstypen zu verstehen. THEODOR LITT faßt 1928 seine Betrachtungen zur Geistes- und Geschichtswissenschaft in einer Schrift "Wissenschaft, Bildung, Weltanschauung" zusammen, die gegen den Positivismus eine metaphysische, d. h. aber heute eine weltanschaulich-perspektivische Verwurzelung der Geisteswissenschaften behauptet. MAX SCHELER endlich unterscheidet in seinen Aufsätzen zur Soziologie des Wissens, die 1926 unter dem Titel "Die Wissensformen und die Gesellschaft" zusammengestellt wurden, eine reiche Fülle möglicher Wissenschaftstypen, die in einer Stufenfolge vom stärksten bis zum gleichsam verdünntesten Weltanschauungsgehalt angeordnet werden könnten. Von diesen "gemäßigten" Theorien über die weltanschauliche Bedingtheit vor allem der Geisteswissenschaften will ich ausgehen, obwohl sich die Krisis als viel tiefer erweisen würde, wenn man GRÜNBAUM, LEISEGANG, PETER WUST, HEIDEGGER (3), GRISEBACH, TILLICH, DELEKAT und nun gar die Bewegung in der neuesten protestantischen Theologie heranziehen würde.
THEODOR LITT hält den Positivismus und den dualistischen Idealismus (4) in den Geisteswissenschaften für überwunden. Er entfaltet aber HEGELs objektiven Idealismus gemäß seiner allgemeinen Lehre vom unvermeidlichen und fruchtbaren Perspektivismus der Weltbilder weiter, wenn er betont, daß das Subjekt des geisteswissenschaftlichen Forschers notwendig als kämpfendes und teilnehmendes Glied in den Prozeß des Geistes selbst verflochten ist. Es ist nach ihm die charakteristische Eigenart der Naturwissenschaften, daß sie ihre Gegenstände so weit wie möglich vom Lebenszusammenhang des erkennenden Subjekts abrücken, um sie gesetzlich zu erklären, vorauszusehen und damit zu lenken. Diese Art positivistischer-uninteressierter Beschauung hat, solange sie auch die Geisteswissenschaften beherrschte, das Eigentümliche der geistigen Welt hoffnungslos zerstört; durch sie wurde "der Wissenschaf vom Geist eine Haltung und Enthaltung zugemutet, die einer Selbstverneinung gleichkam" (a. a. O. Seite 91 und 77). Entschieden wendet sich LITT gegen die von KANT vollzogene, von MAX WEBER beibehaltene absolute Trennung zwischen der Welt des Theoretischen und des Praktischen, zwischen geisteswissenschaftlicher Erkenntnis und Geistes leben:
"Schließlich findet ich mich doch nicht bloß als zu betrachtendes und einzuregistrierendes Objekt, sondern als ein wertendes, wollendes, handelndes Subjekt in diesen Lebenszusammenhang eingestellt. Damit ist aber eine innere Beziehung bezeichnet, die mich, den Denkenden, eben nur mit diesem einen unter den möglichen Gegenständen meines Denkens verknüpft - eine Beziehung zugleich, vermöge deren die Ergebnisse meines Denkens an dieser bestimmten Stelle eine über die Theorie hinausgreifende Bedeutung erlangen." (a. a. O. Seite 62f) Die Einschränkungen, die LITT zu diesen Sätzen macht, stelle ich wie bei ROTHACKER zunächst zurück und wende mich in der gebotenen Kürze zu MAX SCHELER. Für ihn ist allgemein bezeichnend, daß er unter dem ruhenden Domgewölbe einer ewigen Wertordnung alle Relativitäten des modernen Menschen zur Geltung zu bringen weiß. Die allgemeine Erschütterung des Glaubens an die Eindeutigkeit der Wissenschaft, die HUGO DINGLER unter dem erregenden Titel "Der Zusammenbruch der Wissenschaft" (München 1926) zunächst für die moderne Physik ausmalte, tritt bei SCHELER zutage, wenn er wie aus einem Korb eine Unzahl möglicher Wissenschaftsdefinitionen und Wahrheitskriterien ausschüttet (a. a. O. Seite 245). Sinnlos erscheint ihm von vornherein jeder Versuch, Wissenschaft als etwas anzusehen, das nach dem Satz: "La science pour la science." [Wissenschaft um der Wissenschaft wilen - wp] um seiner selbst willen getrieben würde. "Das Wissen um des Wissens willen ist genauso töricht wie das l'art pour l'art der Ästheten" (a. a. O. Seite 249). Immer steckt hinter dem Wissen eine Liebe zu einem Wert, immer ist es ein Wissen "wofür". Und so ergeben sich ihm - in einer zum Teil sehr strittigen Abgrenzung - als immer nebeneinanderstehende, nicht, wie der Positivismus es wollte: als sich ablösende, fortschrittlich geordnete Stufen des Wissens: Das Wissen um der Gottheit willen: Erlösungswissen oder religiöses Wissen; das Wissen um der Entfaltung der Person willen: Bildungswissen oder metaphysisches Wissen; das Wissen um der Herrschaft und Leistung willen: Positives oder Arbeitswissen. - Es wird schwer sein, gerade die konkrete geisteswissenschaftliche Arbeit, etwa die Philologie, unter diese Klassen aufzuteilen. Positive historische Forschung ist z. B. nur sehr gewaltsam dem unmittelbaren Herrschaftsinteresse unterzuordnen. Aber soviel ist klar und für unseren Gedankengang wichtig: Die Rangordnung der Wissensarten richtet sich nach ihrem weltanschaulichen Gehalt: "Denn alles Wissen ist in letzter Linie von der Gottheit und für die Gottheit." (a. a. O. Seite 258). Jedes Wissen ist so viel wert, wie Ewigkeitserkenntnis in ihm steckt. Jedes Wissen nährt sich zuletzt aus einer - oder aus der Weltanschauung. Die Bewegung, die ich zunächst nur durch 3 Vertreter gekennzeichnet habe, ist in der gegenwärtigen Generation so breit und stark, daß man sie nicht übersehen kann. Ließe sich doch auch der ganze Pragmatismus in seinen Spielarten vom utilitarischen bis zum ethisch-religiösen heranziehen; denn sie alle setzen ein praktisches Orientierungsziel über der Wissenschaft voraus (5). Der merkwürdige Umschwung hat ein ganzes Geflecht von Motiven, die mit der Gesamtlage des Geistes und der zumindest in Deutschland empfundenen Kulturkrise zusammenhängen. Aus dem inneren Zusammenhang der Wissenschaftsgeschichte gesehen, ist es zunächst der Kampf gegen das bloß positivistische Wissenschaftsideal und gegen die Fremdherrschaft naturwissenschaftlicher Methoden in den Geisteswissenschaften, der zu einer solchen Betonung des Weltanschauungsmomentes, der Lebensbezogenheit und der schöpferischen Originalität geisteswissenschaftlicher Aspekte geführt hat. Und nicht nur in der Prinzipienlehre, sondern auch in der Einzelarbeit selbst: Originalgenies haben sogar in der Geisteswissenschaft mit der stärksten kritischen Tradition, in der klassischen Philologie, Boden gewonnen. Auf den verschiedensten Gebieten sonst beginnt der élan vital und die imagination créatrice die wissenschaftliche Arbeit zu durchwirken. Ohne ein Körnchen vom Geist NIETZSCHEs und STEFAN GEORGEs möchte heut kaum eine Dissertation mehr entstehen. Der Vorgang wird noch ernster, wenn man bemerkt, daß es sich doch nicht immer nur um ästhetische Stimmungen, um "Erlebnis"produktionen und um eine mythische Schau handelt, sondern um eine grundsätzliche Revision des Verhältnisses zwischen "Erkenntnis und Leben" geht, daß oft ethische Entscheidungen im Sinne KIERKEGAARDs hinter den wissenschaftlichen Standpunkten liegen und daß man geisteswissenschaftliche Stellungnahmen nach dem berühmten Wort FICHTEs als Charaktersache versteht. Endlich wurzelt hier auch eine moderne Auffassung, die mindestens hinsichtlich der Metaphysik schon DILTHEY vertreten hat, daß nämlich in den letzten Prinzipien der Wissenschaftsansätze alte religiöse Grundhaltungen säkularisiert weiterwirken. War schon im 17. und 18. Jahrhundert die ratio sive natura [Rationalität, d. h. die Natur - wp] unverkennbar derjenige Rest des göttlichen Geistes, den die Aufklärung noch als weltdurchwaltendes Prinzip hatte stehen lassen, so steckt vielleicht wirklich im Festhalten am Apriori, im Tatsachensinn der Angelsachsen, in der mathematisch-konstruktiven Phantasie der Franzosen ein verborgenes Bekenntnis, das - in nationaler Abschattierung - die religiöse Einstellung zum Grundsinn der Welt bis in die Wissenschaft hinein wirksam zeigt (6). Und wenn der Positivismus alle Religion in die Wissenschaft aufzusaugen drohte, so fehlt es umgekehrt heute nicht an Zeichen, als ob die Wissenschaft wieder in religiöse Bekenntnisse zurückgeschlungen werden sollte. Sind doch mindestens die Klagen der Jugend nicht selten, daß ihr die Wissenschaft - keine Religion machen kann. Gerade in der letzten Zuspitzung aber zeigt sich die ungeheure Tragweite dieser Wandlungen für den Aufbau und das Schicksal der wichtigsten deutschen Forschungs- und Lehranstalt: der deutschen Universität. Die früher genannten Denker argumentieren noch so stark aus der "Voraussetzung" immanenter Wissenschaftlicherkeit heraus, daß sie implizit oder bewußt oder mit schwankender Verhüllung nur solche Weltanschauungen zur Jllustration heranziehen, die selbst in der Werkstatt der Wissenschaft geformt worden sind: philosophische Weltanschauungen nämlich, die es gewöhnt sind, über sich wissenschaftlich diskutieren zu lassen. Aber es ist ja klar, daß sie als Produkte einer bereits aufgeklärten und säkularisierten Geisteslage eigentlich nur Kunstprodukte sind, verglichen mit den tief in Volk und Geistesleben eingedrungenen, auf die Heiligkeit einer absoluten Quelle zurückgeführten religiösen Standpunkten, die in den Kirchen und Religionsgesellschaften die Form auch äußerlich organisierter Geistesmächte gefunden haben. Ein Blick in unsere Zeit vervollständigt diese Zukunftsperspektive. Der Gedanke an eine ausdrücklich katholische Universität, der besonders lebhaft 1862-1864 erörtert wurde und außerhalb Deutschlands verwirklicht worden ist, taucht auch für Deutschland sehr lebhaft wieder auf. Von den Anzeichen einer LUTHER-Renaissance, weit über den Rahmen von Theologie und praktischer Philosophie hinaus, wird später noch die Rede sein. PAUL TILLICH läßt seine schnell hingeworfenen Andeutungen über die Wissenschaft des Kairos in die Forderung ausklingen, es müsse endlich die spezifisch protestantische Wahrheitsauffassung herausgearbeitet werden (Kairos, Zur Geisteslage und Geisteswendung, Darmstadt 1926, Seite 34f und 73). - Was bedeutet dies alles für unsere kulturpolitische Situation? Der alte Besitzstand der konfessionellen Volksschule wird erfolgreich verteidigt; die konfessionelle höhere Schule erscheint ganz deutlich als Programmpunkt zumindest der katholischen Schulpolitik. In beiden Fällen handelt es sich um Erziehungs anstalten, und für die Erziehung muß man einen irgendwie gemeinsamen weltanschaulichen Boden, allenfalls vertreten durch das Weltanschauungsmoment der Staatsidee, fordern. Aber der gesteigerte Weltanschauungskampf der Gegenwart setzt sich auch auf der dritten, der rein wissenschaftlichen Stufe fort: Ist Weltanschauung wirklich eine wesensmäßige Voraussetzung der Geisteswissenschaften - muß dann nicht auch die wissenschaftliche Hochschule aus einer geschlossenen Weltanschauung heraus organisiert sein? Man könnte sich über solche Aussichten einfach mit dem Glauben an die bleibende Kraft der ausdrücklich wissenschaftlichen Weltanschauung trösten, aus der die deutsche Universität im 18. und 19. Jahrhundert ihre Gestalt gewonnen hat. Aber davon abgesehen, daß dann eigentlich nur ein Glaube gegen andere Formen des Glaubens stehen würde: auf der Stufe der Wissenschaft selbst endet ja die weltanschauliche Differenzierung nicht, sondern sie zeigt erst hier ihre ganze zersplitternde Gefahr. Schon seit Jahrzehnten kommt aus dem sozialistischen Lager die Behauptung, es sei ein grundlegender Unterschied zwischen bürgerlicher und proletarischer Wissenschaft. Da das Sein der Menschen ihr Bewußtsein bestimmt, nicht umgekehrt, so sei eben - schon mit der Zugehörigkeit zur ökonomisch bedingten Klasse - eine weltanschauliche Differenz gegeben, die sich bis in die Einzelheiten der wissenschaftlichen Denk- und Arbeitsweise auswirken muß. Die Wissenschaft gehöre mit zu den sogenannten Ideologien. Ideologien aber sind Kampfmittel, reflektierter Lebenswille, nicht reine Theorie. Das bedeutet: auch der Glaube an die Wissenschaft selbst hat keinen durchaus eindeutigen Sinn für die Gegenwart mehr. Wer weiß, wieviele Wissenschaftsauffassungen noch kommen mögen, wenn z. B. einmal in proletarischen Kreisen der Marxismus durchweg nur als ein wissenschaftlich durchgeformtes Dogma und als ein Dogma erkannt sein wird? Solche Befürchtungen aber sind keineswegs bloß akademische Fragen. Denn Sowjetrussland scheint uns den Aufbau eines Hochschulwesens aus proletarischer Wissenschaft als Realität zu zeigen: eine faschistische Wissenschaft meldet sich zumindest als Tendenz. Alle diese beunruhigenden Zeichen müssen jedem Denkenden dreierlei naherücken:
2. daß an der Rede von den notwendigen weltanschaulichen Voraussetzungen zumindest der Geisteswissenschaften - und das Übergreifen des Prinzips auf die Naturwissenschaft folgen wird - ungeheuer schwere Gewichte hängen; 3. daß eine erneute Untersuchung, in welchem Sinn die Wissenschaft weltanschauliche Voraussetzungen hat und ob überhaupt noch von ihrer Voraussetzungslosigkeit gesprochen werden kann, von der allergrößten sachlichen Bedeutung ist für die Zukunft der Wissenschaft, aber auch der wissenschaftlichen Organisationen, der Akademien wie der Universitäten. Im Rahmen eines Vortrags können nur die entscheidenden Hauptlinien für eine künftige Antwort vorgezeichnet werden. Ansich ist das Problem der etwa denkbaren weltanschaulichen Voraussetzungslosigkeit der Geisteswissenschaften nur ein Teil der größeren Frage nach den Voraussetzungen und Ansätzen der Wissenschaft überhaupt. Allenthalben zeigt sich, auch in den Einzelwissenschaften, heue so etwas wie eine "Grundlagenkrise" - von der Logik angefangen über Mathematik, Physik und Biologie bis in die besonders strittigen sinnverstehenden und wertsetzenden Disziplinen, deren Ströme vielfach aus dem zur Zeit noch reichlich trüben Sammelbecken, genannt Soziologie, gespeist werden (7). Man hat kaum je daran gezweifelt, daß jede Wissenschaft Voraussetzungen theoretischer Art hat, die man als wissenschaftsimmanente Voraussetzungen bezeichnen könnte. Es war immer die Aufgabe der Philosophie, sie zu untersuchen. Das gilt für die beiden, meist ziemlich roh einander gegenübergestellten erkenntnistheoretischen Standpunkte gleichmäßig, für den reinen Empirismus wie für den Apriorismus. Denn auch der Empirismus hat festzustellen, was eigentlich reine Erfahrung ist und was als "gegeben" oder als "Tatsache" gelten darf. Für den Apriorismus aber handelt es sich um die immer wiederholte kritisch-analytische Durchforschung der Struktur, die die gegenständlich erkennende Vernunft besitzt. Wir können für unsere Zwecke davon absehen, daß für einige Richtungen diese gegenständlich erkennende Vernunft oder dieses strukturierte erkennende Bewußtsein nur ein Instrument ist, mit dem man sich der Wirklichkeit erkennend bemächtigt, für andere ein Inbegriff ewiger Wahrheiten ansich, für wieder andere das transzendentale Bewußtseinsprinzip, das die gegenständliche Welt und ihre Gesetzlichkeit selbst aufrichtet (konstituiert). Natürlich sind das sehr verschiedene Arten, sich die theoretischen Voraussetzungen der Wissenschaften philosophisch zurechtzulegen. Immer kam man auf eine begrenzte Anzahl von Grundwissenschaften, die den sogenannten Einzelwissenschaften gegenüber eine vorregionale oder überregionale Bedeutung haben (8). Über den Vorrang zwischen Logik und Erkenntnistheorie wird bis heute gestritten. Aus dem Bestreben, immer weiter in der Grundsteinlegung zurückzugehen, erwuchsen die Versuche neuer Grundwissenschaften wie Gegenstandstheorie oder Phänomenologie. Bezeichnenderweise aber verharrte man bis in die neueste Zeit gegenüber der eigentlichen prote philosophia [erste Philosophie - wp], der Metaphysik, in scheuer Zurückhaltung. Auch darüber blieb Streit, an welcher Stelle (vor der Logik oder hinter der Logik) die Mathematik einzuordnen sei, bis zu dem seltsamen Versuch, sie den Geisteswissenschaften zuzuteilen. Die wichtigsten Überlegungen dieser Art in der Gegenwart bezeichnen sich selbst als Axiomatik. Weder die hergebrachten logischen Axiome, noch die arithmetisch-geometrischen noch gar die physikalischen (wo man solche annahm) blieben unangefochten. Hinsichtlich der Deutung dieser Axiome macht es nun doch einen großen Unterschied, ob man sie mit dem ewigen Wesen der erkennenden Vernunft gesetzt findet, wie es etwa KANT tat, oder ob man sie zum Erkenntniszweck mit einer gewissen pragmatischen Freiheit konstruiert und kombiniert, um Erscheinungskoinzidenzen auf die einfachste Art theoretisch zu interpretieren. Das sind zwei Wissenschaftsansätze, nicht verschiedene Wissenschaftsresultate. Kaum je ist man in der Gegenwart zu dem grandiosen Versuch der spekulativen Systeme zurückgekehrt, alles Seiende aus einer essentia, mit SPINOZA, oder aus einer axiomatischen Ursetzung des Geistes, mit FICHTE, abzuleiten. Aber im stillen blieb doch der alte philosophische, vielleicht nur denkökonomische Satz in Geltung: rerum principia praeter necessitatem non esse multiplicanda. [Prinzipien dürfen nicht über das Notwendige hinaus vermehrt werden. - wp]. An den Erörterungen über die Axiomatik nahmen außer Logikern und Mathematikern auch die Physiker lebhaften Anteil. Seltener kümmerten sich die Vertreter der Einzelwissenschaften um das für ihre Arbeit gleich wichtige Problem, welches Kategoriensystem der Erkenntnis ihres Gegenstandsbereiches zugrunde liegt. Ja, den meisten ist noch völlig dunkel, was eigentlich mit einer Kategorie oder einem Kategorienzusammenhang gemeint ist (9). Aber ich streife dies alles hier nur, um anzudeuten, daß zu den wissenschaftsimmanenten, d. h. noch als rein theoretisch auffaßbaren Voraussetzungen der Geisteswissenschaften axiomatische Sätze der verschiedensten Art, evidente Wesenseinsichten und Kategorien, z. B. Kategorien des Verstehens, der Gesetzes- und Normbildung, der Wertsetzung usw., gehören, daß aber mein Problem erst jenseits dieser Grenze anfängt, dort nämlich, wo die Wissenschaft in atheoretische oder übertheoretische Voraussetzungen zurückweist. Damit ist nicht jene "schlechte Subjektivität" gemeint, die am Wissen - als einem menschlichen Bemühen - immer beteiligt bleiben wird, sondern ausdrücklich nur solche Voraussetzungen, die sich als Wesens bedingungen der Wissenschaft ansprechen lassen. Etwas Derartiges liegt z. B. schon vor, wenn man die letzte Verankerung der Wahrheitsnorm im sittlichen Sollen findet. In diesem Sinn sagt etwa HEINRICH MAIER: "Das Sollen der Norm selbst ist ein sittliches: es erscheint uns als eine sittliche Notwendigkeit, wenn wir urteilen, logisch notwendig urteilen" (SIGWART, Logik I, Seite 513). Man wird gut tun, für die Bezeichnung dieser Wurzelpunkte bloß psychologische termini wie Wille oder Lebensgefühl beiseitezulassen. Jedenfalls beziehen sich meine Betrachtungen nur auf solche Voraussetzungen der Wissenschaft, die, verglichen mit ihr selbst, eine Schicht tiefer zum Absoluten, also im Metaphysischen liegen (10). Die Meinung, daß die Geisteswissenschaften ohne solche tiefer gesenkten Fundamente auskämen, ja, daß der geisteswissenschaftliche Forscher ein reiner Spiegel der Dinge werden könnte, hat immer ihre stärkste Stütze in dem mißverständlichen und mißverstandenen Satz von RANKE gefunden:
In der "offiziellen" deutschen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts hat ein Typus geisteswissenschaftlicher Sehweise ohne viel Reflexion als der normale oder als der fruchtbarste gegolten: ich nenne ihn den humanistischen, obwohl er einen starken Zusatz romantischen Geistes trug, insofern er nämlich Weite und Schmiegsamkeit des historischen Sensoriums nach der Art HERDERs und der Romantik einschloß. Sein Wesen ist am besten von WILHELM von HUMBOLDT umschrieben, in berühmten Worten, die inhaltlich dasselbe meinen, wie der scheinbar so entgegengesetzte Satz von RANKE von der Selbstauslöschung:
Die geisteswissenschaftlichen Seharten waren also schon früher sehr verschieden. Es ist nicht so, daß eine von ihnen ohne weiteres ein Ewigkeitsmonopol besäße. Somit kann es uns nicht wundern, daß in unseren Tagen neue Typen hinzutreten und daß der Begriff der geistigen Wirklichkeit (die ja mindestens in der Geschichte immer Resultat einer gedanklichen Konstruktion der sogenannten Tatsachen ist) aufs Neue ungeheuer schwankt. Von den modernen Versuchen, Geschichtswissenschaft und Mythos aneinander zu rücken, will ich schweigen (14). Beunruhigender ist vielleicht diejenige Richtung, die in die Wurzeln oder Voraussetzungen der geisteswissenschaftlichen Betrachtung ausdrücklich ethische und religiöse, d. h. das Absolute betreffende, Wertentscheidungen verlegt. Denn man sprach bisher gern von der Wertfreiheit auch der Geisteswissenschaften, ohne sich daüber ganz klar zu sein, worin sie besteht, welche Grenzen sie hat, und ob sie wirklich in alle geisteswissenschaftlichen Teilgebiete - man denke nur an die ausdrücklich wertsetzenden (normativen) - hineingehört. Wenn die Juristen de lege ferenda [nach künftigem Recht - wp] diskutieren, so haben sie nach meinem Eindruck heute dafür keine völlig gesicherte methodische Basis (15). In den anderen normativen Disziplinen steht es nicht viel besser. Die meisten Einzelforscher argumentieren hier aus ihrem Blut, d. h. aus ihrem Zeitgefühl heraus. Sie sollten sich aber die Eigentümlichkeit dieser Zeitlage vorher so weit wie möglich zum reflektierten Bewußtsein gebracht haben. Wer etwa an der Universität über systematische Pädagogik zu lesen hat, müßte zumindest zur Klarheit darüber gelangt sein, in wie verschiedenen Angelpunkten die katholische, die streng protestantische, die humanistische und die technologisch-positivistische Einstellung zu diesen Fragen hängen. Es ist ein Verdienst von MAX WEBER, daß er die Analyse der weltanschaulichen Wertstrukturen in die Aufgabe der Wissenschaft miteinbezogen hat. Seine positivistische Zurückhaltung hinsichtlich der Stellungnahmen entsprang ohne Zweifel daraus, daß er schärfer als viele andere diese Mannigfaltigkeit möglicher weltanschaulicher Bezugssysteme gesehen hat. Die Relativität des Bezugssystems scheint also in der heutigen Geisteswissenschaft noch schroffer hervorzutreten, als in der ebenfalls schwer erschütterten theoretischen Physik. Nicht zufällig kreisen auch die grundsätzlichen Erörterungen über die Grundlagen der Geisteswissenschaften seit Jahrzehnten genauso um den Zeitbegriff, wie die über die Grundlagen der Physik. Die unmittelbar erlebte Zeit (durée réelle), die historische Zeit, der Kairos [günstigster Zeitpunkt einer Entscheidung - wp], die Gegenwart - all diesen Lebensbegriffen der neuesten Philosophie ist gemeinsam, daß sie die Punktualität des gelebten Moments mit einem höheren Gehalt, ja mit dem Absoluten wieder in Beziehung setzen möchten. Oft gelingt dies nur durch einen philosophischen oder religiösen Saltomortale (16). Die Frage nach dem maßgeblichen Bezugssystem der geisteswissenschaftlichen Betrachtung erscheint vielfach auch unter dem Titel: "Perspektivismus der Weltbilder". Soweit damit Grenzen der Objektivität gemeint sind, die nur aus der Besonderheit der seelischen Organsation des Forschers folgen, reicht das Problem noch nicht sehr tief. Dies ist erst dann der Fall, wenn die wesenhafte Verwachsung gerade des Perspektivischen mit Weltanschaulich-Letztem, ja mit dem Absoluten selbst behauptet wird. Es liegt dann eine seltsame Koppelung von Relativität und Absolutheit vor, wie sie schon RICKERT und TROELTSCH gesehen haben. An drei Hauptpunkten erweist sich der Aufbau der Geisteswissenschaften von Voraussetzungen und Perspektiven abhängig, die tiefer wurzeln als in einer bloß psychophysischen Konstitution der forschenden Subjekte. Es ist unverkennbar die Substanz des Geistigen selbst, die in diesen Fällen als Voraussetzung der Forschung wirkt: 1. Die Geisteswissenschaften sind gebunden an den geistigen Gehalt und die geistige Gestalt der besonderen historischen Zeitlage, aus der sie erwachsen. Wir fanden dieses Gesichtspunkt bei LITT besonders scharf herausgearbeitet; für ihn verbindet sich sogleich eine weitgehende Sinndeutung mit dieser grundlegenden Erkenntnis von Wesen und Struktur der geistigen Welt:
2. Alles geisteswissenschaftliche Verstehen ist gebunden an die geistige Weite (Kapazität) und Reife (Geisterfülltheit) der Forscherpersönlichkeit. Gewiß ist das Verstehen durchzogen von ewigen Kategorien und geleitet durch ewige evidente Sinnzusammenhänge. Aber selbst sie müssen in der betreffenden empirischen Persönlichkeit erst durchbrochen sein. Ein Kind lebt mit seiner Zeit, ohne sie zu verstehen. Der Ungebildete wird vom objektiven Geist seiner Zeit umklammert, ohne ihn in seiner subjektiven Geistigkeit bewußt zu haben: er ist gleichsam nur weltgeschichtliches Instrument. Auch der Reifste versteht seine eigene Zeit nur fragmentarisch: er steht immer an der Grenze zum dunklen Sinn des "morgen". Was er sonst versteht, etwa von den Sinnzusammenhängen dre Vergangenheit, vom Ausdrucksgehalt der Kunst, von den Ergebnissen der Wissenschaft, vom Kräftespiel in Wirtschaft und Politik, hängt davon ab, wie reif er ist, und dies wieder davon, wieviel vom idealen und objektiven Geist in seiner Person Gestalt gewonnen hat. Man muß sich zu einem Geistträger höherer Stufe gemacht haben, ehe einem die geistige Welt Antwort gibt. Bildung tut hier nicht alles: es gibt auch eine Genialität des Sehens. Aber selbst im Reifsten bleibt etwas von ganz konkreter, perspektivischer Begrenztheit des Verstehens. Wie verschieden kann man, bei allem ernsten Bemühen um Objektivität, denselben großen Mann, dieselbe Epoche verstehen, etwa die, deren erstes produktive Verstanden werden sich im Namen "Renaissance" abgelagert hat! Immer ist das Verstehensprodukt das überlegene Dritte, das aus der Berührung von objektiver Geistesformung und subjektiver Verständnisfähigkeit gezeugt wird. Man hat neuerdings auf eine gewisse Teleologie in diesem perspektivischen Verstehen hingewiesen: verstanden im theoretischen Sinne wird danach nur das, was irgendwie Lebensbedeutsamkeit hat, was in den aktuellen Geistesprozeß eingehen kann, und zwar meist an der problematisch gewordenen Oberflächenschicht, um die gerade jetzt und hier die Lebenskämpfe gehen (20). Aber selbst, wenn man diese Teleologie nicht als tendenziösen Pragmatismus auffaßt, sondern sie mit HEGEL latent in eine ewig gesetzliche Sinnbewegung des Geistes eingeordnet denkt: beide Male liegen wirklich unableitbare Voraussetzungen des Verstehens vor. Uns interessieren diese Voraussetzungen nur soweit, wie sie mit Weltanschaulich-Letztem zusammenhängen. Trotz jener ewigen Kategorien und Sinnzusammenhänge, die nur allmählich wie die Sterne mit geordneter Bahn in das Feld der Sichtbarkeit = Bewußtheit treten, versteht jeder tiefere Forscher aus einem persönlichen Brennpunkt, einem Erlebnismittelpunkt heraus, und er liegt nahe bei dem Zentrum, aus dem der seine Zeit mitlebende Künstler schafft. In diesem Sinne hat man vielfach z. B. von einer "christlichen Erkenntnistheorie" gesprochen: nur wer im Zusammenhang der christilichen Heilsgeschichte und -gemeinschaft, persönlich an ihr teilhabend, drinsteht, kann über das Christliche wissenschaftlich vollgültige Aussagen machen (21). Es fehlt nicht an Analogien aus dem ästhetischen, ja selbst aus dem politischen Gebiet. Wieweit mit solchen zentralen Bestimmtheiten dann noch volle Objektivität zu vereinigen ist, bedeutet ohne Zweifel ein schweres Problem. - Damit rücken wir an jene innerste, unableitbare Zone der Subjektivität her, aus der sich die sinngebenden und wertsetzenden Akte erzeugen: ohne sie aber ist das geisteswissenschaftliche Erkennen nicht zu denken. 3. Alles Verstehen kommt unbewußt oder bewußt aus einer weltanschaulichen Grundhaltung heraus, und nur vermöge dieser Herkunft kann es Basis werden für letzte Wertsetzungen. Seit SIMMEL und FREYER findet sich für diese Voraussetzung des lebendigen wie des theoretisch-geisteswissenschaftlichen Verhaltens der Name: "weltanschauliches Apriori". Er ist nicht unbedenklich, weil er den strengen kantischen Begriff des Apriori relativiert. Aber wie man auch den Namen wählt: ein solcher letzter Wertbeziehungspunkt lenkt das Verstehen; wird er bewußt, so öffnet sich zugleich das Auge für die entsprechenden letzten Bezüge in den geistigen Verständnisgegenständen (22). Und gerade das ist kein bloß ruhender Punkt der beschaulichen Auffassung. Sondern es ist zugleich und noch mehr: Punkt letzter Wertentscheidungen. Hier wurzelt nicht nur, wie man das Seiende sieht, sondern wie man sich entscheidet über das, was unbedingt sein soll oder eigentlich sein sollte. Schon im scheinbar rein hinnehmenden Verstehen ist immer ein stilles Messen an einem Ideal wirksam. Die Art, wie SAVIGNY das positive Recht versteht, enthält zugleich seine Entscheidug darüber, was eigentlich als Recht angesehen werden soll. Jeder Versuch einer Definition etwa des Staates oder der Religion geht über das generalisierende Feststellen hinaus: es steckt darin das Bekenntnis, was ein echter Staat sein soll und echte Religion sein soll. Geheimnisvoll sind hier die Objektivität des Verstehenwollens, die Subjektivität der individuellen Perspektive und die Absolutheit der wertenden Stellungnahme aneinandergekoppelt. Die Hingabe an das Objekt und eine eigene Wertsetzung können in ungleicher Kraft beteiligt sein: das vielseitige, weitherzige, gleichsam von der Fülle des geistigen Lebens ergriffene Verstehen fanden wir vorherrschend im ästhetisch-beschaulichen humanistischen Typus (z. B. bei HERDER und bei RANKE, bei denen aber auch ein starkes Moment von Religiosität mitschwingt); den Radikalismus der absoluten Entscheidungen sehen wir heute in die Wissenschaft hineinwirken bei denen, die KIERKEGAARD erweckt hat, oder die sich mit LUTHER in jedem Augenblick vor dem Angesicht Gottes wissen. Dann versinkt gleichsam das weite Reich des Geistes und der Kultur vor der Ewigkeitsforderung des Einen, das not tut (vgl. TILLICH, a. a. O., Seite 43f und 34). Aber gerade da, wo die Wissenschaft bis zu dieser äußersten Grenze, zur konkreten Setzung absolut gültiger Werte, zu gehen versucht, tritt nun das Schicksal ein, das für die Gesamtlage der wertsetzenden Geisteswissenschaft in der Gegenwart charakteristisch ist: Es bleibt bei einer Vielheit letzter Entscheidungen. Es bleibt die Mannigfaltigkeit der Standpunkte, die Anspruch auf letzte Geltung erheben. Es bleibt, mit einem Wort, trotz aller persönlich-absoluten Überzeugtheit das Faktum der Weltanschauungszersplitterung, insofern als der Relativismus und insofern der bohrende Zweifel an der Eindeutigkeit und Allgemeingültigkeit der Wissenschaft überhaupt. Nachdem die letzte geglaubte Uniformität der Überzeugungen, die ratio der Aufklärungszeit, durch den Siegeszug des historischen Bewußtseins zertrümmert war, ist es selbst in der Wissenschaft nie wieder zu einer demonstrierbaren allgemein verpflichtenden Wahrheitsüberzeugung gekommen: Wissenschaftstypen bekämpfen sich, wo die eine Wissenschaft letztlich maßgebliche Entscheidungen treffen sollte. Oder in noch größeren geistigen Zusammenhängen ausgedrückt: Das protestantische Prinzip der persönlichen Gewissensentscheidung, das ja die freie Wissenschaft und ihre "Autonomie" erst möglich gemacht hat, führt zu dem erschütternden Ergebnis, daß in diesem persönlichen Gewissensbestand kein unbedingt sicherer Maßstab der Allgemeingültigkeit zu walten scheint. Die Folge ist die Anarchie der Werte, unter der TROELTSCHs wissenschaftliches Bemühen zeitlebens gelitten hat; die Zersplitterung der geistigen Welt; die babylonische Verwirrung auch der wissenschaftlichen Sprachen. Aus dieser Lage sind zwei Wege in die Zukunft denkbar: Der erste wäre die Resignation in der Skepsis, die SPENGLER als das unvermeidliche Los der Spätkulturen hingestellt hat: der epistikos logos des platonischen "Menon" (Kapitel XV). Aber Skepsis ist Sepsis [Fäulnis - wp]. Der andere besteht darin, diese Zersplitterung der wissenschaftlichen Standpunkte als sinnvoll notwendige Erscheinung gerade der höher entwickelten Geisteswissenschaft zu deuten, d. h. in dieser Situation der Wissenschaft ausdrücklich eine Aufforderung zur Weiterbildung in einer bestimmten Richtung zu sehen. Wurden doch etwa KANTs berühmte Antinomien nicht zu einem Cannae [Sieg Hannibals über die Römer - wp] der Wissenschaft, sondern zu einem in mannigfacher Hinsicht fruchtbaren Knotenpunkt. Es ist also meine Schlußaufgabe, zu zeigen, daß mit diesem tatsächlichen Auseinandergehen der Sinn der Wissenschaft nicht aufgehoben ist, ja darüber hinaus: daß dieser Sinn trotzdem ein einheitlicher bleiben kann und muß (vgl. auch SCHELER, a. a. O., Seite 246). Fanden wir nämlich zuletzt vortheoretische Motive unvermeidlich in den Aufbau der Geisteswissenschaften hineingewoben, so ist es Aufgabe der eigentlichen Wissenschaft, auch über diese Voraussetzungen zu reflektieren. Dies aber ist die größte und kühnste Erweiterung der Theorie, die je gedacht worden ist - zuerst von HEGEL. Oder anders ausgedrückt: es muß eine höhere Stufe der Wissenschaft errichtet werden, in der die nunmehr aufgedeckten, teilweise unbewußten weltanschaulichen Voraussetzungen selbst noch zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung gemacht werden. Erst diese "Wissenschaft zweiter Potenz" könnte dann wieder als die eine umspannende Wissenschaft auftreten. Ein solcher Nachweis aber kann nicht so gedacht werden, als ob nun ein ganz neuer Kunstgriff vorgeführt würde, der aus der Vergangenheit heraushilft. Vielmehr muß die Wissenschaft, wenn sie einen ihr immanenten Sinn hat, gleichsam von selbst - aus einem richtigen Sinninstinkt heraus - die Heilmittel produziert haben, die das bedrohte Leben ihres Organismus retten können. Wenn die Wissenschaft - und speziell die Geisteswissenschaft - ein Begleitphänomen zur singulären Stufe ist, die der Geist in seiner Gesamtentwicklung erreicht hat, so muß sie auf dieser Stufe von selbst auf die Art zu funktionieren begonnen haben. die ihrem spezifischen Sinn gemäß bleibt. In der Tat sind von den drei rettenden Wendungen, die ich zu erwähnen habe, die beiden ersten schon seit längerer Zeit sichtbar, während die dritte in den allerletzten Jahren zu erscheinen beginnt und noch keine ganz feste Gestalt gewonnen hat. 1. Zunächst: so verschieden die Ausgangspunkte, die Ansatzpunkte und also die "Voraussetzungen" der Wissenschaft heute sein mögen: das Gesetz, nach dem sie sich von da aus weiterbewegt, enthält eine eindeutige Richtungskonstante: die Idee der Wahrheit. Wie über aller Rechtsbildung die richtunggebende Idee der Gerechtigkeit schwebt, die alle diese Bemühungen einen gemeinsamen Sinn untertänig zeigt, mögen auch die Gerechtigkeitsideale sich sogleich differenzieren, so beruth der Sinn der Wissenschaft darauf, daß man an der Idee der Verständigung durch Gründe, durch logon didonai [Begründung oder Rechtfertigung - wp], überhaupt festhält. Solange es eine gemeinsame Ebene der Diskussion gibt, solange gibt es ein Band zwischen den verschiedensten wissenschaftlichen Standpunkten. Besonders die Neukantianer haben diese formale Idee der Wahrheit gegenständlicher Erkenntnis immer an die Spitze ihrer Untersuchungen gestellt, und RICKERT vor allem hat gezeigt, daß z. B. die Einmaligkeit der historischen Situation, aus der heraus gedacht und geforscht wird, die Geltung des unbedingten Wahrheitswertes nicht aufhebt. Vielleicht ist dabei die Annahme eines ruhenden rein erkenntnistheoretischen Bewußtseins, eines "reinen" oder transzendentalen Bewußtseins, ein Rest unhistorischer Denkweise, der noch umgebildet werden muß. Denn es ist eben so, daß der Forscher als lebendige historische Individualität niemals von einem Normal-Nullpunkt ausgeht, sondern daß er von dem Punkt, wo er steht, nach einem zeitlosen Gesetz mit innerer Konsequenz weiterdenken muß oder soll, das der Funke aus der Wahrheit selber ist. Auch dieses Gesetz ist nie ganz gefunden, sondern immer gesucht. Aber es ist schon in seiner eingehüllten verpflichtenden Kraft das Band, vermöge dessen die Idee des echten Wissens weiterlebt. Mag also der eine etwa von katholischen Lebensüberzeugungen herkommen, der andere aus protestantischen, der dritte meinetwegen aus marxistischen: in dem Augenblick, wo sie mit Gründen gegeneinander argumentieren, stellen sie sich unter die Hoheit desselben Grundgesetzes, das eine Verständigung und die Überzeugung des anderen zumindest als möglich erscheinen läßt. Das kennen wir schon aus PLATOs sokratischen Dialogen; das Prinzip liegt also von Anfang an in den historischen Wurzeln der abendländischen Wissenschaft. Auch THEODOR LITT hat, trotz einer momentan anders lautenden Formulierung (a. a. O., Seite 105), an der Allgemeingültigkeit in der Fundamentalschicht und am bindenden Objektivitätsprinzip festgehalten (a. a. O., Seite 103f). Daß er diese fundamentale Methode in einer phänomenologischen Ideation der ewigen Strukturzusammenhänge des Geistes gefunden zu haben glaubt, wie er sie in seiner Schrift "Erkenntnis und Leben" andeutet, gehört für mich schon zu den Besonderheiten der Lösung, über die sich noch diskutieren ließe. Hier genügt sein wissenschaftliches Grundbekenntnis:
2. Der zweite ist nur die Entfaltung des beherrschenden Wahrheitsprinzips in seine Einzelheiten: der einheitliche Sinn der Wissenschaft bleibt - obwohl man von ihrer Voraussetzungslosigkeit nicht mehr sprechen kann - dadurch erhalten, daß die Wissenschaft, im Gegensatz zur einfach gläubigen Dogmatik, jederzeit bereit ist, diese ihre Voraussetzungen selbst zum Gegenstand der Kritik zu machen und sie somit zu revidieren. Nicht die Voraussetzungslosigkeit ist die Tugend der Wissenschaft, wohl aber die Selbstkritik ihrer Grundlagen, auch derjenigen und gerade derjenigen, die sich nicht als rein theoretisch, d. h. an immanent logische Wahrheitsnormen gebunden erweisen (23). Darin besteht die ewige und unentbehrliche Funktion der Philosophie im Haushalt der Wissenschaft, daß sie auch die zunächst unproblematisch genommenen Grundlagen immer wieder problematisch macht. Nicht auf jeder Stufe der einzelwissenschaftlichen Arbeit wird das Bedürfnis und die Bereitschaft dazu gleich stark sein. Es gibt erfolgreiche Siegeszüge der Forschung, die eine Zeitlang die prinzipielle Besinnung als entbehrlich erscheinen lassen. Aber in jeder Krisenzeit wird selbst die Einzelwissenschaft notgedrungen philosophisch, und da zahllose solcher Krisenzeiten heute schon hinter uns liegen, so ist jede Einzelwissenschaft durch und durch philosophiegeladen, in einem Maß, daß die Verächter der Philosophie darüber erschrecken würden, wenn sie einmal merken, wie philosophisch (allerdings auf fremde Rechnung) sie schon in ihren ersten Ausgangspunkten sind. Die inneren Schwierigkeiten jeder Selbstkritik der Wissenschaft sind bekannt. Trotzdem enthält sie allein die Kräfte zu einer Regeneration der Wissenschaft aus letzten Tiefen. Auch DINGLER weiß aus dem Zusammenbruch der Wissenschaft keinen anderen Ausweg als "die reine Synthese", d. h. Grundlagenrevision. Früher leistete die Metaphysik den Wissenschaften diesen Dienst. Ihre Ersetzung oder Unterbauung durch Erkenntnistheorie (oder Gegenstandstheorie oder Phänomenologie) ist keineswegs als Abdankung aller metaphysischen Motive aufzufassen; sondern einerseits handelt es sich um ein Hinabgraben in eine noch tiefere Prinzipien- oder Bewußtseinsschicht; andererseits um eine strengere Betonung des wissenschaftlich-methodischen Moments, das schon in der alten Metaphysik maßgebend war. Je mehr man über das Begriffliche und Logische im engeren Sinne zu den letzten Ausgangspunkten der Wissenschaften zurückgeht, umso mehr nähert man sich dem religiös-weltanschaulichen Gebiet. Religiös nenne ich hier jene Sinnintention, die in der inneren Einstellung zum letzten (definitiven) Weltsinn wurzelt. Die Wissenschaft mündet, zu Ende gedacht, trotz ihres Eigengesetzes unvermeidlich in solche letzten Bezüge ein. Und gerade sie sind einer verschiedenen Ausdeutung fähig. Wenn die katholische Weltanschauung im Mittelalter die absolute Offenbarung voraussetzte, so verzichtete sie deshalb nicht auf Wissenschaft überhaupt; vielmehr ist das große Gebäude der Scholastik diejenige Wissenschaftsform des Abendlandes, die dem Ideal einer Totalwissenschaft am ernsthaftesten nachgestrebt hat. Im Mittelalter konnte die Offenbarung unbestritten als ihr letzter Rahmen vorausgesetzt werden. In der modernen Weiterführung, und infolge der Auseinandersetzung mit anderen Wissenschaftsformen, ergibt sich nunmehr die Aufgabe, die DEMPF mit voller Einsicht in das Grundsätzliche so formuliert hat:
Diese Verschiebung und Schiefstellung ist umso verhängnisvoller, als dadurch die echten religiös-sittlichen Motive gerade der erkenntnistheoretischen Bemühungen verdeckt werden. Denn der letzte Sinn der Erkenntnistheorie ist allerdings der Schritt aus dem Reich des ausgeführten Wissens in die erzeugende Tiefe des Gewissens, und zwar hier des intellektuellen Gewissens, aus dem die Gestalt der Wahrheit immer neu geboren werden muß, wie in anderer Hinsicht die Gestalt der Gerechtigkeit aus dieser Grundschicht immer neu geboren werden muß. Alles in allem: auch die erkenntniskritische Besinnung befreit die Wissenschaft keineswegs von allen Voraussetzungen; aber sie reinigt diese Voraussetzungen, und in den Ausdrücken "reine" Erkenntnis, "reine" Vernunft, "reines" Bewußtsein liegt schon eine Erinnerung an den ethisch-religiösen Ursprung dieser Denkweise, den wir in PLATOs orphischer Seelenlehre, mit ihrer katharsis, idea und höheren anamnesis noch deutlich vor uns sehen. Es handelt sich um nicht weniger als um die ewige Geburt der Wissenschaft aus dem Geist der sittlichen Religiosität (25). 3. Bleibt nach dieser Reinigung immer noch eine Anzahl typisch verschiedener Standpunkte einander gegenüber, so ist zwischen ihnen von vornherein die Brücke gegeben, daß sie, sofern sie wissenschaftlich gemeint sind, aus derselben letzten Intention, nämlich der Wahrheitsgesinnung, hervorgehen. Insoweit dies "vorausgesetzt" werden darf, ist also die Relativität nicht hoffnungslos. Denn die Mannigfaltigkeit der wissenschaftlichen Bezugssysteme ist dadurch auf einen letzten Ausgangspunkt zurückbezogen; man wird das Gesetz finden können, das die Lage jener Bezugssysteme zueinander bestimmt; man wird - mit einem anderen Bild - die Stelle angeben können, an der dieses Auseinandergehen stattgefunden hat und stattfinden mußte. Für die methodischen Bemühungen, abweichende Wissenschaftssysteme mit abweichenden logischen Systemen auf eine höhere Einheit zurückzuführen, pflegt seit HEGEL der Name Dialektik aufbehalten zu werden. Sie bedeutet die Rettung der einheitlichen Wahrheitsidee auch noch in jener letzten Schicht von Voraussetzungen, die mit einem Absolutheitsanspruch auftreten. Es ist kein Zufall, daß nach dem Zeitalter des historischen und psychologischen Relativismus jetzt allenthalben neue dialektische Gedankenbildungen emporschießen. Wie LITTs Philosophie, so mündet auch ROTHACKERs Logik der Geisteswissenschaften in diesen Ausweg ein. Die entscheidende Wendung liegt an dem Punkt, wo er DILTHEY tadelt, weil er es unterlassen hat, "seine drei Typen ihrerseits wieder auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen" (a. a. O. Seite 135) (26). Gewiß sei das Kulturleben weltanschaulich immer mehrdimensional (a. a. O. Seite 141). Standpunkte, von denen aus ein Handeln möglich ist, seien notwendig einseitig, aber wissenschaftliche
Wie diese Erneuerung der Dialektik inhaltlich aussehen wird, bleibt bei ROTHACKER noch ziemlich dunkel. Bisweilen erscheinen bei ihm die Typen der Weltanschauung selbst in einer Bewegung, in der sie der Einseitigkeit ihrer wissenschaftlichen Betrachtungsweise zu entfliehen suchen und zu einem Kreislauf angeordnet sind. Oder er betont, daß sich die berechtigten Motive der wissenschaftlichen Standpunkte gegenseitig durchdringen, so daß sie "auch Ansprüche der Gegenpartei erfüllen". Endlich sieht er diese unablässige Auseinandersetzung als einen historischen Prozeß an, aus dem sich bleibende Ewigkeitsgehalte absetzen. So entsteht ein geistiges Medium, in dem "Werte, einmal entdeckt und dem geschichtlichen Leben eingegliedert, selbst vom gegnerischen Standpunkt aus nicht mehr völlig auszuschalten sind" (a. a. O., Seite 168). Genug: es bleibt nicht bei den harten Einseitigkeiten, sondern es entstehen geistige Synthesen, Überbauten überlegenen Gehaltes. Aber auch zwischen ihnen geht dann der dialektische Kampf weiter. Es kann nicht erwartet werden, daß ich in dem hier gezogenen Rahmen die sehr vielseitigen Probleme auch nur andeute, die mit einer solchen Erneuerung der Dialektik für die philosophischen Grundlagen der Geisteswissenschaften gestellt sind. Um eine einfache Wiederholung von HEGELs Methode kann es sich unter keinen Umständen handeln. JONAS COHN, PAUL TILLICH, THEODOR LITT, PETER WUST, ARTHUR LIEBERT u. a. haben diese Arbeit bereits auf sehr verschiedenen Wegen in Angriff genommen. Ich begnüge mich, einen prinzipiellen Gegensatz der Stellungnahme zu berühren, der in der gegenwärtigen Situation scharf hervortritt. Wieweit die dialektische Denkweise zur Behandlung von Einzelproblemen der Geisteswissenschaften erforderlich ist, soll hier außer Betracht bleiben (27). Zunächst hadelt es sich nur um die Auseinandersetzung zwischen typisch verschiedenen geisteswissenschaftlichen Grund standpunkten. Diese Dialektik ist nicht immer eine zweipolige, sondern oft eine mehrpolige. Trotzdem hat die dialektische Behandlungsweise nur Sinn, wenn man von der Erreichbarkeit einer höheren Einheit über dem Gegeneinander überzeugt ist. In einem dialektischen Verhältnis zueinander können nur Sätze oder Werte oder Standpunkte gedacht werden, deren Antithetik auf eine tiefere Sinnidentität (ein en diapheron eauto [das von sich selbst unterschiedene Eine - wp]) zurückzuführen ist. Die unendliche Totalität des Geistes legt sich in einseitige Setzungen auseinander; aber sie sind doch durch eine letzte Sinnintention, in unserem Fall durch die eine Idee der Wissenschaft, aneinander gebunden. Jeder von den Ringen hat ein Echtheitsmoment an sich. Dabei wäre weiter zu klären, ob man diese Dialektik als eine ewige Systemeinheit auffaßt oder als eine philosophische Methode, die innere Bewegung der Wissenschaftsgeschichte mit ihren (von hier aus gesehen doch manchmal sehr zufälligen) Wendungen zu begreifen. Schon HEGELs Philosophie trägt dieses Doppelgesicht. Vorläufig wird man nur vorsichtig sagen dürfen: das Gegeneinander der wissenschaftlichen Grundstandpunkte sei eine notwendige Erscheinung im Geistesgebiet der Wissenschaft, nicht ein Mangel, den man zu beklagen hat. Auch hier: polemos pater panton [Der Krieg ist der Vater aller Dinge. - wp] Eine Anzahl neuester Philosophen stellt sich jedoch zu dieser Dialektik ganz anders ein. Unter dem starken Einfluß der religiös-ethischen Auffassung KIERKEGAARDs vom Entweder-Oder fordert man die entschiedene Bejahung der Einseitigkeit auch in der Wissenschaft, sehr im Gegensatz zur ausgleichenden Tendenz etwa des humanistischen Standpunktes, von dem früher die Rede war. Ja man begnügt sich nicht damit, die einseitige Dauer einstellung einer Denkerpersönlichkeit oder einer sozialen Schicht oder einer wissenschaftlichen Generation als unableitbare geistige Wesensbestimmtheit anzusehen, die gleichsam aus dem Reich der Mütter selbst herkommt. Sondern man weist auf den unvergleichlichen Einzelaugenblick der aktuellen Entscheidung hin, der allein volle Wirklichkeit genannt zu werden verdient. Für die Wissenschaft ist er besonders da bedeutsam, wo es sich darum handelt, aus einer historisch-singulären Geistessituation heraus eine gültige und verpflichtende Wertsetzung zu vollziehen. Diese Tat sei im Reich des Geistes von zentraler Wichtigkeit, und sie kann nur erfolgen aus dem unmittelbar gelebten Moment der ethischen Entscheidung heraus. So wird die Gegenwart mit Emphase als Brennpunkt der Wertsetzungen auch für den wissenschaftlichen Bereich hervorgehoben. Gegenwart, das betont GRISEBACH immer wieder mit aufrüttelnder Leidenschaft, ist allein volle Wirklichkeit. Will man diese eigentümliche ethische Unterbauung der Wissenschaft ganz verstehen, so muß man sich klarmachen, welche unüberwindlichen Schwierigkeiten allen normativen Wissenschaften, z. B. der Jurisprudenz, der Politik, der Pädagogik usw., aus der Herrschaft des historischen Bewußtseins mit seiner Relativierung der Standpunkte erwachsen waren. Auch TROELTSCH fand hier trotz jahrzehntelanger Bemühungen keine andere Lösung als - kämpfende Gläubigkeit: "Die Evidenz einer gewissensmäßigen und individuell bedingten Glaubensüberzeugung." (28) So verständlich diese Motive protestantischer Denker aus dem Drang nach absoluter Gewißheit sind, befinden wir uns hier doch wieder an der bereits gekennzeichneten Stelle, an der man aus dem Bereich der Wissenschaft in eine andere Sinnregion übergeht. Der Handelnde muß immer einseitig entscheiden. Er muß die Schuld, die in dieser Einseitigkeit liegt, bewußt auf sich nehmen. Er mag darin, religiös gesprochen, jenes Sündenbewußtsein erfahren, das nur durch Gnade aufgehoben werden kann. Das Handeln wie das Nichthandeln schließt immer Parteinahme ein. "Des tät'gen Mannes Behagen sei Parteilichkeit." (GOETHE, Pandora, 1. Aufzug) Für die Kompromisse, die Synthesen, die Heterogonie der Zwecke sorgt dann schon der große "Gang der Dinge", der dem Einzelwollen überlegen ist. Wissenschaft aber ist ihrem Wesen nach Betrachtung. Der Denkende und auf Erkenntnis Gerichtete kann und darf nicht blind sein für die Mächte, die er in seiner einseitigen Bestimmtheit "sich gegenüber" hat; er muß auch ihnen gegenüber gerecht, d. h. objektiv sein können. Er muß die Überschau geradezu suchen, die ihn aus seiner Monadenhaftigkeit befreit. Wer das nicht will, sucht etwas anderes als Wissenschaft. Es ist die Auswirkung alter Aufklärungshoffnungen in unserer auf äußerste zugespitzten Gesamtlage, daß man im "Wagnis" des Handelns gern die Wissenschaft auf seiner Seite haben möchte. Sie soll die "Rechtfertigung" geben, die im Grunde nur aus letzter Gläubigkeit und aus der ethischen Verantwortungsbereitschaft folgen kann. So läßt sich auch nicht der schlechteste Teil unserer Zeitgenossen genau auf der Schwelle nieder, wo der Funke vom Wissen zur Tat überspringt. Aber eben dieser Punkt liegt nicht mehr im Innenbezirk der Wissenschaft selbst. Die Folge ist, daß beides verzerrt dargestellt wird: Wissenschaft und ethische Entscheidung. Wir haben gezeigt, daß der Wissenschaft, wie sie in der geistigen Wirklichkeit erscheint, Voraussetzungen zugrunde liegen, die ansich nicht rein theoretischer Natur sind. In der geistigen Gesamteinstellung des Forschers, ob sie mehr durch die Zeitlage oder durch eine persönliche Geistesrichtung entspringt, liegen tatsächliche Besonderungen vor, die niemals ganz aufzuheben sind. Ja, die Fruchtbarkeit der Wissenschaft für das Leben hängt an dieser Lebendigkeit der Denkernatur. Aber die Idee der Wissenschaft gestattet niemals, diese Parteilichkeit und Besonderheit zu kultivieren, sondern sie fordert, daß von diesem Ausgangspunkt aus nach keinem anderen ethischen Gesetz fortgeschritten wird, als nach dem der Objektivität. Entsprechend ist es die Pflicht der Philosophie als Grundwissenschaft, dieses Gesetz der Objektivität selber zu immer reinerem Bewußtsein zu erheben. Darin liegt der zweite und höhere Dienst, den die Wissenschaft dem tätigen Leben zu leisten hat, daß sie sehend macht. Und diese Aufgabe hat sie zu erfüllen, selbst auf die Gefahr hin, daß sie auf das Handeln lähmend wirken könnte. Denn es liegt in der Tat in der realen Dialektik des geistigen Lebens, daß Kontemplation und aktueller Entschluß in einer Spannung zueinander stehen. Das hat schon GOETHE im "Wilhelm Meister" scharf zugespitzt ausgesprochen: "Es sind nur wenige, die den Sinn haben und zugleich zur Tat fähig sind. Der Sinn erweitert, aber lähmt; die Tat belebt, aber beschränkt." (VIII, 5 ) Demnach widerspricht es dem Sinn der Wissenschaft, wenn man sie aus dem punktartigen Moment der Entscheidung heraus gestalten zu können glaubt. Soweit ich die Andeutungen von TILLICH über den Kairos in ihrer Kürze zu verstehen fähig bin, mischt auch er zwei Bedeutungen ineinander: Das philosophische Bemühen, die geistige Substanz der eigenen Zeitepoche zu erfassen (wodurch sie eben aufhört, bloßer Zeitmoment zu sein), und die ethische Tatentscheidung, die hic et nunc [hier und jetzt - wp] gefordert wird. Diese schmalste Schwelle zwischen Gut und Böse ist nicht der Ort, von dem aus Wissenschaft erwachsen kann. Ganz folgerichtig kommt derjenige, der außer dem Moment der Entscheidung nichts als wirklichkeitshaltig und nichts als ethisch bedeutsam gelten läßt, zur völligen Herabwertung der Wissenschaft. Denn sie kann nicht diese Punktualität der Gegenwart annehmen; sie ist immer Überschau, Besinnung, Ausbreitung in die Fülle der geistigen Mächte, die miteinander ringen. Ist Gegenwart nur ein Punkt, dann gilt allerdings der Satz von GRISEBACH, der die äußerste Zuspitzung dieser einseitigen Denkweise enthüllt: "Jeder Versuch der Erkenntnis, die Gegenwart zu beherrschen, muß fehlschlagen, weil die Erkenntnis in ethischer Hinsicht selbst eine Verfehlung ist." (Gegenwart, 1928, Seite 155) Sehr seltsam freilich widerspricht dieser These der Sachverhalt, daß das, was GRISEBACH treibt, indem er diese Gedanken in einem Buch ausbreitet, doch auch Wissenschaft sein will. Wer so gesonnen ist, darf nur handeln. In Wahrheit ist selbst das Handeln nicht so auf den Punkt des unmittelbar erlebten Augenblicks eingeengt. Was sich im tätigen Leben auseinandersetzt, sind immer schon geformte geistige Mächte, in die ein hohes Maß an vorangegangener Reflexion hineingewachsen ist. Wissenschaft wäre wertlos, wenn sie nicht in dieser Gestalt in das Handeln mit einginge. Wir sind dem flüchtigen Moment nicht so hilflos ausgeliefert, daß nicht in allem, was wir tun, die beiden geistigen Gestaltungen mitbeteiligt wären: Besinnung und Gesinnung. Die Wissenschaft hat ihrem Wesen nach die Hauptaufgabe: Besinnung zu sein. Sie wird auf diese Weise auch ihren Beitrag zum Aufbau der Gesinnung liefern. Legt man aber - das ist die andere Seite - Gewicht auf die Funktion der Besinnung, so wird dadurch die Einseitigkeit des Handelns nicht aufgehoben. Wohl aber rückt für die Betrachtung dann das Handeln in größere Zusammenhänge hinein. Die gemäßigten Vertreter der Lehre vom ethischen Wagnis und der verantwortlichen Entscheidung, zu denen ich THEODOR LITT rechne, lassen doch spüren, daß auch in den persönlichen Stellungnahmen irgendein Übergreifendes, ein überindividuell Verpflichtendes als höhere Bindung waltet. In philosophischer Fassung ist es etwa die ewige verborgene Gesetzlichkeit des Geistes und seiner Bewegung selbst, oder es ist die unendliche Totalität des Göttlichen, die sich in einseitige Erscheinungsformen auseinanderlegt; in religiös-protestantischer Sprache vielleicht das Walten Gottes selbst, sein lebendiges Wirken durch die erweiterten und sinnempfänglichen Kräfte der Seele hindurch. Ist aber wirklich, wie es bei den Jüngern KIERKEGAARDs erscheint, der Sinn der "protestantischen Wissenschaft" allein das Hindeuten auf den Akt der absoluten Entscheidung (in der im Grunde das Absolute uns wählt) oder auf den geheimnisvollen Vorgang der Sündenvergebung (in der ausschließlich Gott tätig ist), so hebt sich damit nicht nur der Sinn der Wissenschaft auf, sondern auch der Sinn der Kultur im Ganzen. Was können die Geisteswissenschaften noch bedeuten, wenn das Reich des Geistes allein unter dem Aspekt des Reiches der Sünde gesehen wird? Noch einmal: es ist wesensmäßig unmöglich, eine Wissenschaft aus dem Sündenbewußtsein statt aus einem Wahrheitsbewußtsein aufzubauen. In dieser neuesten Wendung, die allenfalls im Rahmen der protestantischen Theologie selbst wissenschaftlich durchführbar wäre, erscheint das berechtigte Motiv der Selbstbegrenzung der Wissenschaft, der in der Tat nicht nur nach dem Glauben, sondern auch nach dem Handeln hin Grenzen gezogen sind, übersteigert bis zur Wissensfeindlichkeit, als ob dem Absoluten durch die Wissenschaft ein Schaden zugefügt werden könnte. Man kann nicht leugnen, daß solche Tendenzen in LUTHERs ursprünglicher Einstellung eine Rolle gespielt haben. Wollte man aber eine LUTHER-Renaissance in dem Sinne herbeiführen, daß man aufs Neue die Glaubenskirche schroff gegen die Bildungskirche stellt, so hieße dies, die protestantische Kultur mit ihren reichen Früchten völlig zu verleugnen, als ob sie alle nur aus des Teufels Garten stammten, und die Ratlosigkeit der gegenwärtigen Kulturlage dadurch zu heilen, daß man uns auffordert, ins 16. Jahrhundert zurückzukehren. (29) Aber wie auch immer man darüber denkt, und rein weltanschaulich kann man darüber verschieden denken: Hat die Wissenschaft überhaupt einen Sinn, so kann man nicht in der ewigen Beunruhigung durch die ungelöste Dialektik verharren. Wo aus dem Standpunkt der absoluten Einseitigkeit eine Tugend gemacht wird, ist die Wissenschaftsidee selbst in Gefahr. Für die katholische Auffassung liegt die Berührung mit dem Absoluten naturgemäß an ganz anderer Stelle: sie erfolgt auf einer viel breiteren Basis. Auf den ersten Blick könnte es befremden, daß der Protestantismus, aus dem doch die freie Bewegung der Wissenschaft, ja der Gedanke ihrer Autonomie erwachsen ist, immer entschiedener zumindest zu einer Selbst begrenzung der Wissenschaft hinneigt. TILLICH schreibt ihr ausdrücklich nur einen "Wächterstandpunkt" zu (a. a. O. Seite 74). Umgekehrt ist der Katholizismus gerade in seiner anti-modernistischen Epoche gegen den Agnostizismus aufgetreten. Seine offizielle Haltung kommt heute in einem Satz des Vatikanischen Konzils zum Ausdruck: "Recta ratio fidei fundamenta demonstret." [Die rechte Vernunft beweist die Grundlagen des Glaubens. - wp] Nicht zufällig hat man KANT immer wieder den Philosophen des Protestantismus genannt. Denn der Protestantismus besitzt im Prinzip des persönlichen Gewissens eine letzte praktische Instanz, die er mit gutem Grund über die Teilsphäre des eigentlichen Wissens und seiner Gesetzlichkeit hinausgehoben denkt. Auch in dieser Hinsicht also stehen wir vor abweichenden Wissenschaftsauffassungen und vor einer dialektischen Spannung. Immer wieder aber zeigt sich, daß die catena aurea der Wissenschaft, wie man sie auch geführt denkt, in jedem Fall am Absoluten angeheftet ist, und eben dadurch erweisen sich die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen als Fragen von höchster Weihe und letztem Ernst. Die Besorgnisse, die mich zu diesen Betrachtungen, wie ich am Anfang sagte, veranlaßt haben, sollen zum Schluß unverhüllt ausgesprochen sein: Im Anblick der neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen ergriff mich die Befürchtung, man könnte aus ihnen folgern: mit der Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft sei es eingestandenermaßen vorbei; die Geisteswissenschaft zumindest habe nicht nur methodische, sondern ausdrücklich weltanschauliche Voraussetzungen; also sei es auch mit der freien Wissenschaftsorganisation in den Universitäten, ja vielleicht selbst in den Akademien vorbei; man solle Weltanschauungshochschulen gründen und womöglich die Forschungsarbeit nach Weltanschauungsgruppen differenzieren. Ohne Zweifel liegt die Gefahr solcher Versuche für unsere Zeit umso näher, als sie wieder aus prinzipiellen Weltanschauungen heraus zu denken und zu leben beginnt. Hinter den großen politischen und sozialen, wirtschaftlichen und juristischen Auseinandersetzungen, die die ganze gegenwärtige Kulturwelt erschüttern, liegen Weltanschauungsgegensätze. Sie liegen, so sahen wir, auch hinter der konkreten Wissenschaft. Deshalb sollte man die irreführende Wendung von der Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaften, die unter anderen geistigen Zeichen enstanden ist, bewußt fallenlassen. Keine bestehende Wissenschaft ist voraussetzungslos. Aber indem sie Wissenschaft ist, hat sie einen eigenen Sinn und eine eigene Aufgabe, die sich über die Verschiedenheiten der Voraussetzungen hinauszuwölben vermag. Sie kann nicht nur, sondern sie muß die Hauptstätte ihrer Pflege in Organisationsformen finden, die zwar nicht, wie man schlecht sagt, weltanschaulich neutral, d. h. uninteressiert sind, wohl aber der eigentliche Boden für die fruchtbare geistige Auseinandersetzung sogar der Weltanschauungen, soweit sie in Wissenschaft ausstrahlen oder sich wissenschaftlich ausgebaut haben. Es ist das nicht ganz die Auffassung, die der deutschen Universität des 19. Jahrhunderts zugrunde lag. Denn damals, als sich aus der geistigen Epochalschicht der Aufklärung erst der deutsche Idealismus, später auch der Positivismus herausentwickelt hatten, lagen die Dinge viel einfacher: Man glaubte schlechthin an die Autonomie der spekulativen Vernunft oder an die Eindeutigkeit des Erfahrungswissens. Man glaubte also auch, schon ohne über diese Zweiteilung zu stutzen, an die nahe bevorstehende Einheitlichkeit der Wissenschaft und an ihre Kraft, das Kulturleben und die Gesellschaft zu ordnen. Es war ein jugendlicher Wissenschaftsoptimismus, der über dem 18. wie dem 19. Jahrhundert lag. Heute zeigt sich, daß die Dinge viel komplizierter sind. Wir stehen in einer Krise auch der Wissenschaft, die wir nur überwinden werden, wenn wir den Begriff der Wissenschaft - und es ist hier speziell an die Geisteswissenschaften gedacht - bewußt vertiefen. Gerade die Selbstkritik, die die Wissenschaft an ihren eigenen Voraussetzungen übt, muß jetzt das einigende Band hergeben. Und mögen auch sehr verschiedene, historisch geformte Geistesmächte in der Universität oder gegen die Universität kämpfen: es ist keine von Bedeutung unter ihnen, die den Sinn der Wissenschaft überhaupt verneinen würde, keine, die sich in der modernen Kultur behaupten könnte, ohne an der Kraft der Wissenschaft selbst auch in ihren weltanschaulich ihr zunächst fremdartigen Formen teilzuhaben. Die Basis der Erörterungen ist also nach links und rechts ungeheuer verbreitert. Ich zögere nicht zu behaupten, daß gerade diese Tatsache mir der Vertiefung und Belebung zu dienen scheint. Falsch wäre jede Kulturpolitik, von welcher Seite sie auch kommt, die bestrebt wäre, die Universität einem einzelnen Weltanschauungstypus dienstbar zu machen oder dieses einheitliche Corpus scientarium nach Weltanschauungen aufzulösen - falsch, weil tödlich auch für die geistige Lebenskraft derjenigen Gruppe, die zufällig die Macht besitzt, diesen verhängnisvollen Schritt zu tun. Es ist historisch bedingt und nach dem ganzen Aufbau der abendländischen Kultur berechtigt, daß die deutsche Universität Theologische Fakultäten einschließt, die beide - obwohl auf verschiedene Art und in einem ungleichen Grad - bekenntnismäßig sind. Sie sind Weltanschauungshochschulen mit weitgehend dogmatisiertem Lehrgehalt. Und sie haben ein Existenzrecht, weil das, was sie bindet, zugleich der Gegenstand ist, der hier erforscht und studiert werden soll. Die übrigen Gegenstände des Wissens aber werden am besten in der Gemeinschaft getrieben, die immer Anlaß zur Auseinandersetzung und eine Möglichkeit zur Verständigung bietet. Andernfalls isolieren sich die Weltanschauungsgruppen geistig gegeneinander und verfallen unfehlbar dem Schicksal der Erstarrung. Wie sehr diese Stätte nicht einer voraussetzungslosen, aber einer kritischen Wissenschaft gerade auch für den modernen Kulturstaat unentbehrlich ist, bedarf hier keiner näheren Beleuchtung. Wohl aber ist abschließend noch die Frage zu streifen, ob denn die Wissenschaft überhaupt eine Weltanschauung geben kann. Das 19. Jahrhundert hat daran geglaubt. Es hat zeitweise sogar gemeint, die bloße theoretische Physik oder die bloße Biologie könnten schon die Materialien für den Aufbau einer wissenschaftlichen Weltanschauung liefern. Gerade dieser extremste Fall zeigt jedoch, daß eine Wissenschaft oder eine Wissenschaftsgruppe nur in der Richtung eine geläuterte und durchgeformt Weltanschauung zurückgeben kann, die keimhaft schon in ihren Ansätzen enthalten war. Eine rein positivistisch gedachte Wissenschaft führt für sich allein nur zu einer positivistischen Weltanschauung. Man kann nicht erwarten, daß das Metaphysische, das man aus dem Keim auszuscheiden bemüht war, uns aus Blüte und Frucht entgegenfallen wird. Überhaupt: durch Wissenschaft und Betrachtung allein, wie es die Jugend manchmal hofft, wird keine Weltanschauung geboren. Es wäre eine billige Art, sich um die aktiven Verantwortungen des Lebens herumzudrücken. "Denken und Tun, Tun und Denken, das ist die Summe aller Weisheit, von jeher anerkannt, von jedem geübt, nicht eingesehen von einem jedem." (GOETHE, Wilhelm Meisters Wanderjahre, Kapitel 10) Daran aber glauben wir, daß heute kein höheres geistig-sittliches Leben mehr durchgeführt werden kann, das nicht vom Licht der Wissenschaft durchleuchtet, von ihrer Flamme reingeglüht wäre.
1) Vgl. THEODOR MOMMSEN, Reden und Aufsätze, Berlin 1912, Seite 432: Universitätsunterricht und Konfession (1901). - OTTO BAUMGARTEN, Die Voraussetzungslosigkeit der protestantischen Theologie, Rektoratsrede, Kiel 1903. - GEORG Freiherr von HERTLING, Wissenschaftliche Voraussetzungslosigkeit und Katholizismus, Beilage zur Kölner Volkszeitung 1905, Nr. 42. - FRIEDRICH PAULSEN, Die Krisis der katholisch-theologischen Fakultäten Deutschlands (1907) in: Gesammelte pädagogische Abhandlungen, hg. von EDUARD SPRANGER, Stuttgart 1912 (vgl. daselbst Seite 199, 1898). 2) Vgl. MAX WEBER, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, Seite 524 bis 555. - ERNST TROELTSCH, die Revolution in der Wissenschaft, Schmollers Jahrbuch, Bd. 45, 1921. 3) Insbesondere von HEIDEGGERs bedeutendem Werk "Sein und Zeit", Halle 1927, sehe ich hier ab, da man ihm nur durch eine eingehende Sonderanalyse ganz gerecht werden könnte. 4) Trotzdem bleibt nach LITT die ewige Spannung zwischen Religion und Kultur bestehen. 5) Besonders durchsichtig ist die Voraussetzungsfülle des Bildungspragmatismus, wie ihr ERNST KRIECK, Die Revolution der Wissenschaft, Jena 1920, mindestens einmal vertraten hat. Seite 54: "Wissen ist pragmatisch, ist vom Willen bedingt. Und wenn der Willen sich neuen Zielen zuwendet, so steht der stolze Bau unserer Wissenschaft ebenso verlassen und vergessen wie verbrauchte Religionssysteme, wie Alexandrinismus und Scholastik." Seite 57: "Die echte Bildekraft ist der Maßstab für den Wert der Wissenschaft." Also: Sit pro ratione voluntas. [Statt eines Grundes soll mein Wille gelten. - wp] Es ist mir nicht verständlich, wie KRIECK bei einer solchen Verwechslung von Wissenschaft und Bildung trotzdem gegen eine katholische Wissenschaft eifern kann, denn so wenig wie Autoritäten und Majoritäten gelten wohl bloße Modernitäten. - Seite 18 eifert KRIECK mit seltener Schärfe gegen Objektivität und Voraussetzungslosigkeit überhaupt. 6) Vgl. z. B. CARL SCHMITT, Politische Theologie, München 1922, Seite 37: "Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe." - Auf ganz anderem Gebiet: FRIEDRICH DELEKAT, Von Sinn und Grenzen bewußter Erziehung, Leipzig 1927, Seite 43: "Das Auftreten des theoretischen Bildungsprinzips und das Wachwerden des epos theoretikos ist ... entwicklungsgeschichtlich offenbar durch die Tatsache des Zerfalls der ursprünglichen, religiös fundierten ethischen Bindungen eines Kulturzusammenhangs verursacht." 7) HUGO DINGLER, a. a. O., Seite 144: "Die Säulen, auf denen man glaubte, unsere Kultur ruhen lassen zu können, soweit sie auf Wissen basiert, sind zusammengebrochen." 8) vgl. HANS HEYSE, Der Begriff der Ganzheit und die Kantische Philosophie, München 1927, Seite 33 und 167. 9) Der enge Rahmen, der meiner Darstellung gezogen ist, verbietet mir, hier auszuführen, was von vielen unserer Zeitgenossen nur allzusehr vergessen wird, daß nämlich gerade die deutschen Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert ein ungemein feines Kategoriensystem für die historisch-kritische Denkweise herausgearbeitet haben. Weder die protestantische noch die katholische Theologie, weder politische noch allgemein-weltanschauliche Einstellungen können diese aufs höchste durchgebildeten Methoden heute ignorieren. Man vergleiche außer DILTHEYs Werken und ROTHACKERs "Einleitung in die Geisteswissenschaften", Tübingen 1920, besonders die wertvollen Forschungen von JOACHIM WACH, "Das Verstehen, Grundzüge einer Geschichte der hermeutischen Theorie im 19. Jahrhundert", Bd. I, Tübingen 1926. 10) PAUL TILLICH, Kairos, a. a. O., Seite 47: "Subjektivität ist immer akairos [unzeitgemäß - wp] ... Jede subjektive Deutung ist Willkür und Unfreiheit gegenüber der geforderten Wahrheit. Vgl. ferner Seite 57. 11) LEOPOLD von RANKE, Sämtliche Werke, Bd. XV, Seite 103 (= englische Geschichte Bd. II). 12) HUSSERLs Forderung einer "Philosophie als strenge Wissenschaft", Logos, Bd. I, 1910/11) Heft 3, Seite 289 mag für die reine Philosophie diskutabel sein, für die Geisteswissenschaften mit empirischem Gehalt ist dieses Erkenntnisideal undurchführbar. - Gegen das "leere" Subjekt TILLICH, a. a. O., Seite 29f. 13) WILHELM von HUMBOLDT, Gesammelte Schriften, hg. im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften von AlBERT LEITZMANN, Berlin 1904, Bd. IV, Seite 38. - Vgl. auch Seite 39: "Wie die Philosophie nach dem ersten Grund der Dinge, die Kunst nach dem Ideal der Schönheit, so strebt die Geschichte nach dem Bild des Menschenschicksals in treuer Wahrheit, lebendiger Fülle und reiner Klarheit, von einem dergestalt auf den Gegenstand gerichteten Gemüt empfunden, daß sich die Ansichten, Gefühle und Ansprüche der Persönlichkeit darin verlieren und auflösen." Vgl. mein Buch "Wilhelm von Humbold und die Humanitätsidee", Berlin 1928, Seite 369f: "Das Epos als Dichtungsgattung der Humanität." 14) Vgl. hierzu THEODOR LITT, "Wissenschaft, Bildung, Weltanschauung", Seite 97f. Besonders reich an solchen Versuchen ist die Plato-Literatur, z. B. FRIEDEMANN, LANDSBERG, SINGER u. a. 15) Die "normative Kraft des Faktischen", das hergebrachte geltende Recht (aber seit wann hergebracht?), soziale Zweckmäßigkeit, ewige Gerechtigkeitsidee, zeitgemäßes richtiges Recht, eine "sinngemäße" Weiterbildung des Rechts, Kampf ums Recht, positive Auslegung des positiven Rechts, Berücksichtigung soziologischer Wandlungen und Gesichtspunkte der Kulturintegration gehen hier wild durcheinander - von der gelegentlichen Gesetzesmacherei nach bloßen Machtkonstellationen zu schweigen. 16) Vgl. meine Aufsatzfolge in der Zeitschrift "Die Erziehung" I/II. 1926/7: Das deutsche Bildungsideal in geschichtsphilosophischer Beleuchtung. Sonderdruck, Leipzig 1928, Seite 39f. 17) OSWALD SPENGLER, Der Untergang des Abendlandes, Bd. I, Seite 20-24. 18) BENEDETTO CROCE, Zur Theorie und Geschichte der Historiographie, Tübingen 1915, Seite 35: "Die Geschichte ist, war und wird immer dieselbe sein, die, welche wir die lebendige Geschichte, die Geschichte der (ideellen) Gegenwart genannt haben." (vgl. auch a. a. O. Seite 16) 19) Glänzend arbeitet die gleiche Grundtendenz in der marxistischen Geschichtsphilosophie und Politik CARL SCHMITT in seiner Schrift: "Die geistesgeschichtliche Lage des gegenwärtigen Parlamentarismus", zweite Auflage, München 1926, heraus. Beim Marxismus wie bei HEGEL fehlt jedoch, im Gegensatz zu TILLICH, das Entweder-Oder der moralischen Entscheidung: das Sollen ist ohnmächtig. "Der Rationalismus Hegels hatte den Mut, auch die Geschichte selbst zu konstruieren. Für einen aktiven Menschen konnte es dann kein anderes Interesse mehr geben, als die gegenwärtige Epoche und den gegenwärtigen Moment unbedingt sicher zu erfassen." (Seite 67f) Allerdings folgt aus der entsprechenden, ausdrücklich wissenschaftlich gemeinten Dialektik des Marxismus dann doch "der Sprung in die Freiheit". 20) KARL MANNHEIM, Das Problem der Generationen, Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie, Bd. VII, 1928, Seite 183: "Jene Schicht der Bewußtseinsgehalte und Einstellungen, die durch eine neue soziale und geschichtliche Lagerung problematisch und deshalb relativ reflexiv geworden ist, wird erst jetzt (mit dem 17. Lebensjahr) erreicht. Die kämpfende Jugend ringt um diese Bestände, und wenn sie noch so radikal ist, merkt sie nicht, daß sie ja nur diese reflexiv gewordene Oberschicht des Bewußtseins transformiert." 21) Vgl. aus neuester Zeit die Auseinandersetzung von JOACHIM WACH mit PAUL ALTHAUS unter dem Titel: "Und die Religionsgeschichte?", Zeitschrift für Systematische Theologie, Bd. VI, 1928. Ich würde dazu in folgender Richtung Stellung nehmen: Wenn die absolute Bejahung der eigenen Überzeugung inhaltlich alles Verstehen beherrscht, so wird damit die eigentlich historische Denkweise entwertet, ja ausgeschaltet. Sie kann jedoch in der Weise erhalten bleiben, daß die eigene absolute Gewißheit den Blick gerade für diejenigen Glaubensinhalte schärft, die in anderen Religionen und Epochen mit dem Absolutheitscharakter ausgestattet waren. Eigene Gewißheit und Wille zur erkennenden Objektivität brauchen sich nicht auszuschließen. 22) Man denke z. B. an die neuerdings stark hervortretende Richtung literaturgeschichtlicher Forschung, in der die religiösen Hintergründe literarischer Bewegungen betont werden: an BURDACH, ERMATINGER, UNGER, JANENTZKY u. a. 23) Über die Theorie der atheoretischen Werte vgl. HEINRICH RICKERT, System der Philosophie I, Tübingen 1921, Seite 150-155. Sehr gut Seite 153: "Erst aufgrund einer umfassenden, auch das Atheoretische in seiner Eigenart aufklärenden und in seiner theoretisch unbegründbaren Geltung verstehenden Wertlehre ist es möglich, zu einer streng wissenschaftlichen Weltanschauungslehre zu kommen, denn erst wenn man alle Werte als Werte verstanden hat, kann man sich mit Erfolg davor hüten, einseitig für besondere Werte einzutreten." - Neuere Literatur zur Weltanschauungslehre ist genannt und charakterisiert bei JOACHIM WACH, "Trendelenburg und Dilthey", Tübingen 1926, Seite 35f. 24) ALOIS DEMPF, Die Hauptform mittelalterlicher Weltanschauung, München 1925, Seite 4. 25) Vgl. das schöne Wort von van der LEEUW in dem Aufsatz "Strukturpsychologie und Theologie", Zeitschrift für Theologie und Kirche, 1928, Seite 340: "Die Wissenschaft geht bis zur Grenze. Dann wird sie inne, daß sie eigentlich von jenseits der Grenze kommt." 26) In der Tat ist es ganz undenkbar, innerhalb einer wissenschaftlichen Philosophie mit DILTHEY einfach bei der Vielheit der weltanschaulichen Grundstandpunkte stehenzubleiben. Wer sie überblickt, steht in keinem einzelnen von ihnen mehr ganz drin, sondern gleichsam eine Strecke weiter zurück oder eine Schicht darüber. Auch hier gilt der Satz HEGELs: "Im Bewußtsein der Schranke liegt das Darüberhinaussein." (Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe, Bd. XV, Seite 184) 27) Einige Beispiele dafür, daß sie bei der Behandlung historischer Entwicklungsvorgänge nicht entbehrlich ist, habe ich in meiner Abhandlung "Die wissenschaftlichen Grundlagen der Schulverfassungslehre und Schulpolitik", Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1928, Seite 21-25 gegeben. - Vgl. neuerdings WALTER SCHÖNFELD, Über den Begriff einer dialektischen Jurisprudenz, Greifswald 1929. 28) ERNST TROELTSCH, Der Historismus und seine Überwindung, 5 Vorträge, Berlin 1924, Seite 58f. 29) Im Grunde spielt hier der uralte Gegensatz von humanistischer und lutherischer Theologie, der ERASMUS und LUTHER, ZWINGLI und LUTHER entzweite, der JOHANNES STURMs Werk in Straßburg scheitern ließ und der manche protestantische Theologen von heute gegen den Idealismus und Humanismus eifern läßt. Aber dieser Gegensatz muß geistig überwunden werden, wenn der Protestantismus seine religiöse und kulturelle Mission wirklich versteht. Denn die Gnade und die Erlösung sind die Liebe und das Ja, das Gott zum Menschen spricht, nicht das Nein der bloßen Verdammnis. |