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WILLIAM EDWARD HARDPOLE LECKY
Geschichte der Aufklärung
in Europa

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"Bestimmte Argumente sind die Anzeichen und Vorwände, aber selten die Ursachen eines Wechsels. Ihr Hauptverdienst liegt in der Beschleunigung der unvermeidlichen Krisis. Ihre Kraft und Wirksamkeit hängt von ihrer Übereinstimmung mit der Geistesrichtung  derer  ab, an die sie sich wenden. Eine philosophische Ansicht, die zu einer Zeit nicht den geringsten Eindruck macht, wird in der nächsten Zeit mit begeistertem Beifall aufgenommen. Ihre Beweiskraft verstehen, ist eins, ihre Wirkungskraft ermessen, ist etwas ganz anderes."

"Es ist wahr, kein Geist war jemals ganz frei von entstellenden Einflüssen; allein im Kampf zwischen der Vernunft und der Leidenschaft, der zur Wahrheit führt, wird, wie im Kampf zwischen dem Willen und den Begierden, der zur Tugend führt, jede Anstrengung mit einem Maß von Erfolg gekrönt, und unzählige Stufen des Fortschritts treten zutage. Alles, was wir füglich folgern können, ist, daß der Prozeß des Schließens viel schwieriger ist, als man gewöhnlich glaubt, und daß für diejenigen, welche die Ursachen der vorhandenen Meinungen erforschen wollen das Studium der Stimmungen viel wichtiger ist, als das der Argumente."


Einleitung

Zur Zeit der theologischen Streitigkeiten, die während und nach der Reformation wüteten, als der Geist der Kritik noch unbekannt war, als jede Partei sich für die Vertreterin der unbedingten Wahrheit im Gegensatz zum unbedingten und heillosen Irrtum hielt, und als man die Glaubensschwankungen der unmittelbaren, übernatürlichen Einwirkung zuschrieb, war es natürlich, daß man alle Ursachen der theologischen Wandlungen ausschließlich innerhalb des Gebietes der Theologie suchte. Jeder Theologe wähnte, die Existenz er von ihm bestrittenen Meinungen sei lediglich durch die Bemühungen gewisser schlecht gesinnter Menschen verschuldet, die mittels sophistischer Beweise, und unterstützt von der Blindheit des Urteils gesiegt hätten, die auf den Betrogenen lastete, seine eigenen Meinungen hingegen wären aufgestellt oder wiederhergestellt durch Apostel, die zu diesem Zweck erwählt, mit besonderer Eingebung erleuchte und kraft ihrer theologischen Beweise Sieger waren. Solange dieser Gesichtspunkt festgehalten wurde, waren die Standpunkte des Theologen und des Kirchengeschichtsschreiber beinahe dieselben. Jeder beschränkte sich auf ein besonderes Gebiet, und da jeder einen ursprünglichen Glauben als sein Ideal anerkannte, hatte er nur die aufeinanderfolgenden Zusätze zu dessen Reinheit aufzuweisen.

Aber, als gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Abnahme der theologischen Leidenschaften die Menschen in den Stand setzte, diese Angelegenheiten mit ruhigerem Geist zu erörtern, und als die gesteigerte Wissenschaft umfassendere Ansichten erzeugte, änderte sich der geschichtliche Standpunkt wesentlich. Man erkannte, daß jeder großen Veränderung im Glauben eine große Veränderung im intellektuellen Zustand Europas vorangegangen war, daß der Erfolg jeder Meinung viel weniger von der Stärke ihrer Beweise oder von der Geschicklichkeit ihrer Verteidiger, als vielmehr von der Stimmung der Gesellschaft, sie anzunehmen, abhängt, und daß diese Stimmung sich aus dem intellektuellen Gepräge des Zeitalters ergibt. Sobald die Menschen von einer unvollkommenen zu höheren Zivilisation fortschreiten, veredeln und verfeinern sie allmählich ihren Glauben, ihre Einbildung macht sich unvermerkt von den gröberen Vorstellungen und Lehren los, die frher am mächtigsten waren, und sie bringen früher oder später alle ihre Meinungen mit den sittlichen und intellektuellen Zuständen in Einklang, welche die neue Zivilisation erzeugt. So traten lange vor der Reformation die Tendenzen der Reformation zutage. Die Wiederauflebung des Griechischen, die Entwicklung der Kunst, die Reaktion gegen die Scholastiker hatten die Gesellschaft zu einer Höhe erhoben, auf der ein geläuterter und weniger bedrückender Glauben zu ihrer Wohlfahrt durchaus wesentlich war. LUTHER und CALVIN vertraten bloß die vorherrschenden Bedürfnisse und verliehen ihnen eine bestimmte Form. Der Druck der allgemeinen intellektuellen Einflüsse der Zeit bestimmt die Prädispositionen, die schließlich die Einzelheiten des Glaubens regeln; und obgleich nicht alle Menschen diesem Druck mit derselben Leichtigkeit nachgeben, werden doch alle großen Gemeinschaften schließlich davon beherrscht. Ein Wechsel der spekulativen Ansichten schließt nicht eine Vermehrung der Einzelheiten in sich, auf denen diese Ansichten beruhen, sondern einen Wechsel der Denk- und Gefühlsweise, die sie widerspiegeln. Bestimmte Argumente sind die Anzeichen und Vorwände, aber selten die Ursachen des Wechsels. Ihr Hauptverdienst liegt in der Beschleunigung der unvermeidlichen Krisis. Ihre Kraft und Wirksamkeit hängt von ihrer Übereinstimmung mit der Geistesrichtung  derer  ab, an die sie sich wenden. Eine philosophische Ansicht, die zu einer Zeit nicht den geringsten Eindruck macht, wird in der nächsten Zeit mit begeistertem Beifall aufgenommen. Ihre Beweiskraft verstehen, ist eins, ihre Wirkungskraft ermessen, ist etwas ganz anderes.

Und dieser Maßstab des Glaubens, diese Färbung und Richtung des Denkens, welcher der höchste Schiedsrichter über die Ansichten der aufeinanderfolgenden Perioden ist, bildet sich nicht durch die aus  irgendeinem  Gebiet des Geistes entstehenden Einflüsse, sondern durch die Vereinigung aller intellektuellen und sogar gesellschaftlichen Tendenzen der Zeit. Die Philosophen, glaube ich, tragen am meisten dazu bei. Männer, wie BACON, DESCARTES und LOCKE, haben wahrscheinlich mehr als alle anderen getan, der Bewegung ihrer Zeit die Richtung zu geben. Sie haben dem Geist eine bestimmte Form und Färbung gegeben. Sie haben besondere Arten zu denken, neue Formen zu schließen, neue Ziele in die Forschung eingeführt. Der Anstoß, den sie der höheren Literatur gaben, hat sich von dieser Literatur aus den Volksschriftstellern mitgeteilt; und die Einwirkung dieser großen Geister tritt sichtbar zutage in den Schriften der Massen, die mit ihren Werken ganz und gar unbekannt sind. Allein, so groß und fraglos die Kraft philosophischer Methoden ist: sie bilden nur  einen  der vielen Einflüse, welche die Geistesrichtungen der Gesellschaft bestimmen. So bilden die Entdeckungen der Naturwissenschaft, die das Gebiet des Gesetzlosen und Unbegreiflichen beschränken, dadurch, daß sie unsere Begriffe vom Umfang des Gesetzes erweitern und den Zusammenhang von Erscheinungen nachweisen, die früher ganz vereinzelt dazustehen schienen, eine Geistesrichtung, die weit über die Grenzen der Naturwissenschaft hinausgeht. Ferner die astronomische Entdeckung, daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt und die Achse des materiellen Universums, sondern ein unbeträchtlicher Planet ist, der, allem Anschein nach, eine völlig unbedeutende und untergeordnete Stellung einnimmt, und sich mit vielen anderen um eine Sonne bewegt, die selbst nur ein unendlich kleiner Punkt in der Schöpfung ist, hat, so weit man sich eine lebendige Vorstellung davon macht, einen sehr großen und handgreiflichen Einfluß auf unsere theologischen Vorstellungen. Ebenso zeigt der kommerzielle oder munizipale [städtische - wp] Geist gewisse Gedankenrichtungen, gewisse Schlußweisen, gewisse Neigungen und Abneigungen, die ihn entschieden auf  eine  Art von Ansichten hintreiben. Die Beschäftigungen fördern, die diesen Geist erzeugen, heißt die Ansichten fördern, die ihm am verwandtesten sind. Man kann unmöglich eine Eisenbahn bauen, ohne einen intellektuellen Einfluß zu üben, und es ist wahrscheinlich, daß WATT und STEPHENSON am Ende die Meinungen der Menschen beinahe ebenso tief, wie LUTHER und VOLTAIRE, umgestalten werden.

Sind diese Ansichten richtig, so ergeben sie auf einmal eine weite Kluft zwischen dem Gebiet des Theologen und dem des Geschichtsschreibers der Meinungen. Der erste beschränkt seine Aufmerksamkeit auf die Frage über die Wahrheit und Falschheit besonderer Lehren, die er durch Prüfung der ihnen zugrunde liegenden Argumente feststellt; der zweite sucht die Ursachen vom Ursprung und dem Verfall jener Lehren zu verfolgen, die im allgemeinen intellektuellen Zustand der Zeit zu finden sind. Der erste ist auf ein einziges Gebiet der geistigen Erscheinungen und auf jene logischen Verbindungen beschränkt, welche die Meinungen des scharfen Denkens bestimmen; der zweite muß eine weite Überschau über die intellektuellen Einwirkungen des Zeitabschnitts halten, den er beschreibt, und jener verbindenden Übereinstimmung nachspüren, die einen viel größeren Einfluß auf die Folge der Meinungen hat, als logische Argumente.

Obgleich wir es im vorliegenden Werk nur mit den zwei letzten Gesichtspunkten zu tun haben, wird es doch nötig sein, die Möglichkeit ihrer Koexistenz kurz in Erwägung zu ziehen; denn diese Frage schließt eines der wichtigsten Rätsel in der Geschichte in sich - die Stellung des Einzelwillens und des Einzelurteils in der großen Strömung der allgemeinen Ursachen.

Es war ein Ausspruch LOCKEs, daß wir nicht fragen müssen, ob unser Wille frei ist, sondern ob  wir  frei sind; denn unter Freiheit verstehen wir die Kraft, nach unserem Willen zu handeln, oder mit anderen Worten, das Bewußtsein, daß wir bei der Ausführung einer bestimmten Tat nach Belieben einen anderen Weg hätten einschlagen können. Fragt man aber bei weiterer Analyse, was es ist, das unser Wollen bestimmt, so glaube ich, daß die höchsten Prinzipien der Freiheit, zu denen wir uns erheben können, in den zwei Tatsachen liegen, daß unser Wille ein von unseren Begierden verschiedenes Vermögen, und daß er nicht ein bloßes passives Ding ist, dessen Richtung und Stärke von der Anziehung und Abstoßung der Lust und Unlust notwendig bestimmt wird. Wir sind uns bewußt, daß wir imstande sind, lieber eine Handlung auszuführunge, die äußerst unangenehm ist, als eine andere, die äußerst angenehm sein würde, daß, wenn wir es tun, wir eine fortwährende und schmerzliche Anstrengung machen, daß jede Milderung dieser Anstrengung das lebhafteste Vergnügen erzeugt, und daß es wenigstens möglich ist, daß der Beweggrund, der uns veranlaßt, den Weg der Selbstverleugnung einzuschlagen, ein Rechtsgefühl sein kann, das durchaus von keiner Aussicht auf eine künftige Belohnung beeinflußt ist. Wir sind uns ferner bewußt, daß, wenn unsere Begierden auf unseren Willen mächtig wirken, unser Wille wiederum auf unsere Begierden wirken kann. Wir können die natürliche Kraft unseres Willens durch andauernde Übung stärken. Wir können die Macht unserer Begierden verringern, wenn wir sie beständig unterdrücken; wir können durch die Entwicklung einer geistigen Disziplin das ganze Ebenmaß unserer Leidenschaften verändern, beliebig eine Klasse zu unserem Vergnügen und unserer Entwicklung erwählen, und die anderen unterdrücken und überwältigen. Diese Erwägungen beseitigen natürlich das Geheimnis nicht, das vielleicht notwendig auf dem Begriff des freien Willens liegt. Sie lösen die Fragen nicht, ob der Wille jemals ohne einen Beweggrund handeln kann, oder in welchen Beziehungen er zu seinen Beweggründen steht, oder ob die Begierden nicht zuweilen für seine noch so entwickelte Kraft zu stark sein können; aber sie bilden eine Theorie der menschlichen Freiheit, die, wie ich glaube, die höchste ist, die wir erlangen können. Wer es dazu gebracht hat, daß er einerseits seinem Willen gemäß zu handeln vermag, und daß andererseits die Kraft seines Willens sich von der Herrschaft der Lust und Unlust befreit und die Aufwallung der Gemütsbewegungen beschränkt und beherrscht, der hat, allem Anschein nach, die Grenzen seiner Freiheit berührt.

Der Kampf des Willens für ein richtiges Motiv gegen den Druck der Begierden ist eine Hauptform der Tugend, und das gegenseitige Verhältnis dieser beiden Einflüsse ein Hauptmaßstab für den sittlichen Standpunkt jedes Individuums. Zuweilen erlang im Streit zwischen dem Willen und einer besonderen Begierde der erste entweder durch seine eigene natürliche Kraft, oder durch die natürliche Schwäche seines Gegners, oder durch die erwähnte Entwicklung einer geistigen Disziplin, ein so hohes Übergewicht, daß es selten oder niemals ernsthaft bedroht wird. Zuweilen halten sich die zwei Kräfte durch angeborene Ursachen, und vielleicht noch öfter durch Ursachen, die auf unsere Rechnung kommen, beinahe das Gleichgewicht und oft unterliegt eine der andern. Zwischen diesen beiden Verhältnissen gibt es zahlreiche Abstufungen, so daß jede Ursache, die in irgendeinem Maß die Begierden verstärkt, ihnen in gewissen Fällen den Sieg über den Willen verleiht. Die Anwendung dieser Prinzipien auf jene stets wiederkehrenden Zahlen, welche die Sittenstatistik aufweist, ist nicht schwer. Der Statistiker zeigt, zum Beispiel, daß ein gewisser Stand der Temperatur die Kraft einer Leidenschaft, oder die Verführung zu einem besonderen Laster steigert; und er schließt daraus weiter, daß die ganze Geschichte jenes Lasters sich genau nach den atmosphärischen Veränderungen reguliert. Das Laster steigt zum Höhepunkt mit der steigenden Temperatur, es erhält sich darauf während deren Fortdauer und fällt mit ihrem Sinken. Jahr auf Jahr wiederholen sich beinahe dieselben Zahlen und dieselben Schwankungen. Untersuchungen bei den verschiedensten Völkern bestärken nur den Beweis, und seine Kraft ist so uneingeschränkt, daß sie uns innerhalb gewisser Grenzen sogar die Zukunft vorauszusagen befähigt. Die Flüsse, welche durch die Winterflut und die Sommerdürre steigen und fallen, das Insektenleben, welches durch den heiteren Frühling ins Dasein gerufen und durch den wiederkehrenden Frost zerstört wird, der Anblick der Vegetation, der seine bestimmten Veränderungen durch die wiederkehrenden Jahreszeiten durchmacht, sie spiegeln die äußeren Einwirkungen nicht treuer, oder gehorchen ihnen nicht unbedingter, als es einige große Gebiete der menschlichen Handlungen tun.

Dies ist die Tatsache, welche dies statistischen Tabellen beweisen; allein, welcher Schluß ist daraus zu ziehen? Sicherlich nicht, daß es so etwas, wie einen freien Willen gar nicht gibt, sondern, was wir hätten von vornherein ansehen müssen, daß der Grad von Kraft, mit der er sich geltend macht, in verschiedenen Perioden fast derselbe ist. Solange der Widerstand unverändert ist, bestimmen die Schwankungen unserer Begierden die Schwankungen unserer Handlungen. Hierin liegt nichts Außerordentliches. Es würde in der Tat sonderbar sein, wenn es anders wäre - sonderbar, wenn, da die Durchschnittszahl der tugendhaften Handlungen dieselbe oder fast dieselbe bleibt, ein gleiches Maß an Versuchung nicht zu verschiedenen Perioden dasselbe oder fast dasselbe Maß an Nachgiebigkeit erzeugte.

Die Tatsache, daß es eine Ordnung und Folgerichtigkeit in der Geschichte des Lasters gibt, und daß von menschlicher Kontrolle ganz unabhängige Einflüsse bedeutend zu ihrem Verlauf beitragen, zerstört daher nicht im mindesten die Freiheit des Willens, und der Schluß des Geschichtsschreibers ist mit den Prinzipien des Moralisten vollkommen vereinbar. Aus diesem Anblick der Regelmäßigkeit schließen wir einfach, daß die Veränderungen im sittlichen Zustand der Menschheit sehr gering sind, und daß es Perioden gibt, in denen, wenn gewisse Begierden durch natürliche Ursachen verstärkt werden, die Arbeit des Willens, sich ihnen zu widersetzen, besonders schwierig wird, und daß jeder Versuch, eine Geschichte des Lasters zu schreieben, ohne Rücksichtnahme auf die äußeren Einflüsse, auf eine klägliche Weise fehlschlagen würde.

Wenden wir uns nun zu einer anderen Klasse von Erscheinungen, so kann einem aufmerksamen Beobachter nichts gewisser sein, als daß die große Mehrzahl selbst  derer,  welche über ihre Meinungen viel nachdenken, zu ihren Schlüssen durch einen vom Nachdenken verschiedenen Prozeß gelangt sind. Sie mögen sich der Tatsache ganz vollkommen unbewußt sein, aber sie unterliegen der Herrschaft der gewohnten Ideenassoziation; und in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle schließen die Menschen der allerverschiedensten Bekenntnisse ihre Untersuchungen einfach damit, daß sie bei den erlernten Meinungen stehen bleiben. Sie beurteilen alle Fragen, ohne es zu merken, nach einem durch die Erziehung ihnen beigebrachten geistigen Maßstab, sie bemessen ihre Aufmerksamkeit und Sympahtie nach dem Grad, in welchem die Tatsachen oder Argumente ihnen einen Stützpunkt zu uhren früheren Schlüssen gewährten; und auf diese Weise überzeugen sie sich bald, daß die Argumente  für  ihre angeerbten Meinungen unwiderstehlich überzeugend und die Argumente  gegen  dieselben im höchsten Grad abgeschmackt sind. Auch sind  die,  welche sich von den angelernten Meinungen losgemacht haben, nicht notwendig unabhängiger von ungehörigen Einflüssen. Die Liebe zur Sonderbarkeit, der Ehrgeiz für geistig überlegener als Andere zu gelten, die Richtung des Geschmacks, die Anziehungskraft des Lasters, der Einfluß der Freundschaft, der Magnetismus des Genius, - diese und unzählige andere Einflüsse, die aufzuzählen überflüssig ist, bestimmen allesamt die Schlüsse. Die Zahl der Personen, die eine rationale Basis für ihren Glauben haben, ist wahrscheinlich unendlich klein; denn ungehörige Einflüsse bestimmen nicht bloß die Überzeugungen derer, die nicht prüfen, sondern gewöhnlich geben sie die herrschende Richtung den Schlüssen deren, die es tun. Es würde aber überaus lächerlich sein, hieraus zu schließen, daß die Vernunft bei der Bildung der Meinungen nicht beteiligt und tätig ist. Es ist wahr, kein Geist war jemals ganz frei von entstellenden Einflüssen; allein im Kampf zwischen der Vernunft und der Leidenschaft, der zur Wahrheit führt, wird, wie im Kampf zwischen dem Willen und den Begierden, der zur Tugend führt, jede Anstrengung mit einem Maß von Erfolg gekrönt, und unzählige Stufen des Fortschritts treten zutage. Alles, was wir füglich folgern können, ist, daß der Prozeß des Schließens viel schwieriger ist, als man gewöhnlich glaubt, und daß für diejenigen, welche die Ursachen der vorhandenen Meinungen erforschen wollen das Studium der Stimmungen viel wichtiger ist, als das der Argumente.

Die Lehre, daß die Meinung eines bestimmten Zeitraums hauptsächlich vom intellektuellen Zustand der Gesellschaft bestimmt wird, und daß jeder große Umschlag der Meinung die Folge allgemeiner Ursachen ist, besagt lediglich, daß es eine starke Hauptrichtung gibt, die auf große Menschenmassen wirkt und schließlich über jedes Hindernis siegt. Die Ungleichförmigkeiten der Zivilisation, die aus besonderen Umständen entstehenden Einflüsse, die Macht des Konservatismus und die Anstrengungen des individuellen Genius erzeugen unzählige Verschiedenheiten; aber eine genaue Prüfung zeigt, daß sie nur die Gegenströmungen eines vorwärts treibenden Stromes sind, daß all die verschiedenen Systeme sich allmählich nach einer bestimmten Richtung gestalten und daß eine gewisse Klasse von Tendenzen mit immer wachsender Macht auf allen geistigen Gebieten der Erkenntnis zutage tritt. Einzelne mögen dem Strom widerstehen - und diese Kraft gewährt dem Theologen einen festen und zuverlässigen Stützpunkt; allein, diese Anstrengungen sind zu selten und schwach, um auf die allgemeine Entwicklung vielen Einfluß zu haben.

In Bezug auf die letzte Behauptung ist aber eine wichtige Ausnahme zugunsten der Männer von Genie zu machen, die gewöhnlich Vertreter und Schöpfer zugleich sind. In ihnen verkörpern und spiegeln sich die Richtungen ihrer Zeit, aber häufig modifizieren sie dieselben auch wesentlich, und ihre Ideen werden der Gegenstand oder die Grundlage der folgenden Entwicklungen. In jeder großen Bewegung, ohne Überschätzung einer Seite, den Teil auszusuchen, der den individuellen, und den, der den allgemeinen Ursachen angehört, ist eine der feinsten Arbeiten des Geschichtsschreibers.

Das Gesagte, hoffe ich, wird genügen, die Verschiedenheit der Sphäre des Geschichtsschreibers und der des Theologen zu zeigen. Man muß indessen anerkennen, daß sie einige Berührungspunkte haben; denn man kann unmöglich die Ursachen, die eine Meinung ins Dasein riefen, bloßlegen, ohne ihren inneren Wert etwas zu beleuchten. Man muß auch anerkennen, daß es eine Theorie oder Methode der Forschung gibt, welche die zwei Sphären vermischen, oder genauer gesprochen, den Theologen dem Historiker ganz und gar unterordnen möchte. Die, welche den äußerst geringen Einfluß scharfer Argumente auf die Bestimmung der Meinungen des Einzelnen oder eines Volkes begriffen und welche bemerkt haben, wie unausbleiblich eine Zunahme der Zivilisation eine Umgestaltung des Glaubens in sich schließt, und wie vollständig die Polemiker der folgenden Zeitalter die Puppen und unbewußten Träger des tiefen, geheim wirkenden Einflusses ihrer Zeit sind, werden ein scharfes Mißtrauen gegen ihre unterstützte Vernunft fühlen, und werden sich natürlich nach einem Führer für ihr Urteil umsehen. Ich denke, man muß zugeben, daß die allgemeine und wachsende Tendenz heutzutage darin besteht, einen solchen Führer im Gesamtwissen der Menschheit, wie es sich in den Entwicklungen der Geschichte entfaltet, zu suchen. Mit anderen Worten, unsere tonangebenden Denker bilden, bewußt oder unbewußt, dadurch ihre Meinungen, daß sie zu ermitteln suchen, welche Gesetze die aufeinanderfolgenden Umgestaltungen des Glaubens beherrschen, in welche Richtungen, zu welchen Vorstellungen der Geist des Menschen mit dem Fortschritt der Zivilisation fortschreitet, welche leitende Merkmale den Glauben der zivilisierten Zeiten und Völker im Vergleich mit den barbarischen, und der gebildetsten im Vergleich mit den ungebildetsten Klassen kennzeichnen. Diese Art der Forschung hat 3 Aufgaben zu lösen. Sie muß erstens ermitteln, welches die allgemeinen intellektuellen Tendenzen der Zivilisation sind, dann feststellen, wei weit diese Tendenzen untereinander in Verbindung stehen, oder wie weit die Existenz der einen von der Existenz der anderen abhängt und sie voraussetzt, und schließlich bestimmen, ob eine Zunahme oder Verringerung von Glück, Tugend und Menschenliebe sie begleitet haben.

Im vorliegenden Werk habe ich mir die Aufgabe gestellt, die Geschichte der Aufklärung zu schreiben, worunter ich nicht irgendeine Klasse von bestimmten Behauptungen oder Widerlegungen, sondern vielmehr einen gewissen Gedankengang oder eine Urteilsrichtung verstehe, die während der letzten drei Jahrhunderte ein entschiedenes Übergewicht in Europa erlangt hat. Die Natur dieser Richtung wird in den folgenden Blättern im Einzelnen nachgewiesen werden, wo wir ihren Einfluß auf die mannigfachen Formen der sittlichen und intellektuellen Entwicklung untersuchen. Für jetzt wird es genügen zu sagen, daß sie bei allen Gelegenheiten die Menschen anleitet, die dogmatische Theologie den Aussprüchen der Vernunft und des Gewissens unterzuordnen und, als notwendige Folge, ihren Einfluß auf das Leben stark zu beschränken. Sie bestimmt die Menschen, in der Geschichte alle Arten von Erscheinungen eher natürlichen, als wunderbaren Ursachen heizumessen, in der Theologie die aufeinanderfolgenden Systeme als Ausdrücke der Bedürfnisse und Wünsche zu betrachten, und in der Sittenlehre nur das als Pflicht anzuerkennen, was das Gewissen als solche offenbart.

Es ist klar, daß man bei dem Versuch, die Geschichte einer geistigen Richtung zu schreiben, Schwierigkeiten zu überwinden hat, die ganz verschieden sind von denen, die eine einfache Aufzählung der Tatsachen begleiten. Niemand kann in Wahrheit sagen, er verstehe irgendein großes Glaubenssystem, wenn er nicht in gewissem Grad auf den Standpunkt eingegangen ist, aus welchem dessen Argumente einen Anschein von Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft gewinnen, wenn er sich nicht die Gedankenrichtung angeeignet hat, die seine mannigfachen Dogmen wahrscheinlich, übereinstimmend und folgerecht erscheinen lassen. Doch, sogar in den großen Streitigkeiten der Gegenwart - selbst in den Kämpfen zwischen Katholiken und Protestanten ist es offenbar sehr wenigen Polemikern gelungen, zu dieser Würdigung der von ihnen bekämpften Meinungen zu gelangen. Aber die Schwierigkeit wird noch weit größer, wenn unsere Untersuchung sich über Glaubensformen erstreckt, die keine lebenden Vertreter haben, und wenn wir nicht bloß die verschiedenen Maße der Wahrscheinlichkeit bei den verschiedenen Gesellschaften zu schätzen, sondern auch ihre Ursachen und Wandlungen anzugeben haben. Denkweisen sich wieder zu vergegenwärtigen, die längst aus unserer Mitte geschwundene abergläubische Begriffe erzeugten, durch das Dunkel der fernen Vergangenheit jene verborgene Richtung der Einbildung zu verfolgen, die - tiefer als irgendein Kampf der Argumente, tiefer als irgendeine Glaubensveränderung - in jeder folgenden Zeit den wirklichen Glauben bestimmt, das Prinzip der Analogie oder der Übereinstimmung zu erfassen, wonach sich die Begriffe einer bestimmten Periode gruppieren und zusammenfügen, und dann zu zeigen, wie die Entdeckungen der Wissenschaft oder die Umwälzungen in der Philosophie, oder die Entwicklungen des industriellen und politischen Lebens neue Mittelpunkte der Anziehung einführten und die Kraft der Analogie in neuen Richtungen wirken machten; den Vorgang bis zu der Periode zu verfolgen, wo die Schlüsse, welche die Vernunft einst natürlich und fast instinktmäßig angenommen hatte, ungereimt und lächerlich scheinen, und bis dahin, wo sich die ganze Strömung der intellektuellen Tendenzen ändert - dies ist die Arbeit, die jedem zufällt, der die Schwankungen der Meinungen aufzuzählen und etwas Licht auf die Gesetze zu werfen such, die sie beherrschen.

Die größte Schwierigkeit einer derartigen Untersuchung liegt wohl in der weiten Verschiedenheit zwischen dem Bekenntnisglauben und dem wirklichen. Wenn eine Meinung, die dem Zeitalter widerstrebt, der Umgestaltung unfähig und dem Fortschritt ein Hindernis ist, wird sie schließlich offen verworfen; ist sie jedoch mit irgendwelchen bestehenden Interessen identifiziert, oder mit einer ewigen Wahrheit verbunden, dann ist ihr Verwerfung von Anfällen schmerzlicher Erschütterung begleitet. Aber viel häufiger läßt die Zivilisation die ihr widerstrebenden Meinungen einfach veralten. Sie sterben durch Gleichgültigkeit, nicht durch Kampf. Sie werden in das düstere Dämmerland verwiesen, das jeden lebendigen Glauben umgibt; das Land, nicht des Todes, sondern des Schattens des Todes; das Land des Unwirklichen und Unwirksamen. Zuweilen finden wir auch die Redeweise, die Bräuche, die Rituale, die äußere Seite einer längst verschwundenen Glaubensphase mit einem System verbunden, das aus den Bedürfnissen der modernen Zivilisation hervorgegangen und von ihrem Leben durchdrungen ist. Sie gleichen jenen Bildnissen der verstorbenen Ahnen, welche die alten Äthiopier auf ihre Körper zu malen gewohnt waren, um gleichsam die angenehme Täuschung festzuhalten, daß  die  nicht wirklich tot sein können, deren Züge bei ihnen noch sichtbar und noch mit dem Leben verbunden sind. Um die Wandlung zu begreifen, müssen wir diese Meinungen in Taten übersetzen, müssen prüfen, welches ihre Folgen sein würden, wenn sie vollständig betätigt würden, und feststellen, inwiefern diese Folgen wirklich hervortreten. Daher ist es nötig, nicht bloß die aufeinanderfolgenden Bekenntnisse zu prüfen, sondern auch die Charaktertypen der aufeinanderfolgenden Zeiten zu studieren.

Es bleibt mir, ehe ich diese Einleitung schließe, nur noch übrig, die Methode anzugeben, die ich bei der Darstellung des Einflusses des rationalistischen Geistes auf die Meinungen angewendet habe. Ich habe erstens die Geschichte und die Ursachen von jener Abnahme des Sinnes für das Wunderbare untersucht, die ein so offenbares Ergebnis der Zivilisation ist. Aber es stellt sich bald heraus, daß man diese Bewegung nicht für sich allein betrachten kann; denn die Stimmung zugunsten der Wunder entsteht und kann nur richtig erklärt werden aus gewissen Vorstellungen von der Natur des höchsten Wesens und von der bestehenden Regierung der Welt, welche die frühere, oder wie man sie nennen kann, die anthropomorphistische Stufe der intellektuellen Entwicklung unabänderlich begleiteten. Von der Natur dieser Stufe haben wir einen wichtigen Beweis in der Geschichte der Kunst, die damals wahrscheinlich der angemessenste Ausdruck der religiösen Vorstellungen ist, während die Geschichte vom Eingreifen der Naturwissenschaft in unsere ersten Vorstellungen vom Weltsystem dahin führt, ihren Verfall zu erklären. In Gemeinschaft mit der intellektuellen Bewegung haben wir eine sittliche Bewegung in Betracht zu ziehen, die sie begleitete, welche die Wirkung hatte, den Einfluß der Furcht als Beweggrund der Pflicht zu verringern, die überwältigende Wichtigkeit der dogmatischen Lehre zu zerstören, und die Oberherrschaft des Gewissens einzuführen. Dieser Fortschritt schließt viele wichtige Folgen in sich; aber die merkwürdigste von allen ist die Abnahme der Verfolgung, die, wie ich zu zeigen suchte, mit einem tiefen Umschlag der theologischen Vorstellungen unlöslich verbunden ist. Ich habe schließlich neue Beweise für die Wirkungen des rationalistischen Geistes auf dem großen Feld der Politik und der Industrie zu sammeln gesucht. Erstens habe ich gezeigt, wie die Verweltlichung durch alle Gebiete des politischen Lebens ging, wie der Fortschritt der Demokratie die theologischen Tendenzen beeinflußte und von ihnen beeinflußt wurde, und wie die politischen Bestrebungen zur Bildung von Denkarten beitrugen, die den ganzen Kreis unserer Urteile berühren. Zweitens habe ich den Ursprung des industriellen Geistes in Europa beschrieben, seine Kollisionen mit der Kirche, die tiefen sittlichen und intellektuellen Veränderungen, die er bewirkte und die Tendenz der großen Wissenschaft der Staatswirtschaft, die ihr Ausdruck ist.

Ich bin mir tief bewußt, daß das vorliegende Werk, im besten Fall, nur eine magere Skizze dieser Gegenstände darbieten kann, und daß sie nach Gebühr zu behandeln, einen Umfang sowohl von Gelehrsamkeit wie Talent erfordern würde, auf den ich keinen Anspruch erheben kann. Ich werde zufrieden sein, wenn es mir gelungen wäre, ein vergessenes Glied in der großen Kette der Ursachen entdeckt, oder einen Lichtstrahl auf einige dunklere Blätter in der Geschichte der Meinungen geworfen zu haben.
LITERATUR William Edward Hardpole Lecky, Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa, Leipzig und Heidelberg 1868