A. CartellieriR. MondolfoG. LandauerE. BurkeH. ArendtK. Kautsky | ||||
Vom Geist der Revolutionen
1. Die philosophische Einstellung auf die Revolutionen Und dieser Eindruck hat, wie gesagt, seinen guten Grund. Denn in der Tat reckt sich in den Revolutionen ein Absolutes empor, das nicht nur das Dasein und den Bestand, sondern auch den Wert, das Recht, den Sinn alles geschichtlich Gewordenen und geschichtlich Gültigen und somit alles Endlichen und Relativen zu verneinen und zu beseitigen strebt. In ihnen und durch sie scheinen sich nicht nur die Zeiten zu wenden oder neue Zeiten anzubrechen, sondern in ihnen lebt und wirkt ihrem Begriff und ihrer Tendenz nach ein Radikalismus, der die ganze Welt von Anfang an nicht nur völlig neu, sondern auch völlig "vernünftig" gestalten möchte. Was bedeutet dieser radikale und absolutistische Sinn der Revolution? Wie läßt er sich begründen? In welchen Formen spricht er sich aus? Welche Tragweite ist ihm eigen? - Indem wir unsere Untersuchung auf die Beantwortung dieser Fragen einstellen, ist es deutlich, daß wir keine einzelne geschichtliche Revolution, daß wir hier nicht die empirische Tatsache einer solchen berücksichtigen, sondern daß wir hier den allgemeinen Begriff der Revolution überhaupt, ihren umfassenden und übergreifenden metaphysischen Gehalt, daß wir hier ihren Geist als solchen ins Auge fassen. Wir fragen hier nicht nach dem Wesen irgendeiner zeitlichen Revolution, auch nicht nach demjenigen irgendwelcher religiösen, künstlerischen, politischen, wissenschaftlichen usw., sondern nach denjenigen allgemeingültigen Grundbezügen und Wesensformen, nach denjenigen Prinzipien und Inhaltlichkeiten, die den Begriff der Sache ausmachen, d. h. die ihren Charakter in der Idee begründen und kennzeichnen. Denn welches auch immer die besonderen Ursachen sein mögen, auf denen eine bestimmte geschichtliche Revolution beruth, wie gerade diejenigen speziellen Kräfte, beschaffen sein mögen, die ihre Auslösung hervorrufen, welche besonderen Absichten sie verfolgen und welche besonderen Errungenschaften sie zeitigen, unter welchen besonderen Umständen sie ins Leben und zu konkreter, geschichtlicher Auswirkung gelangen mag, so ist doch jede Revolution, ganz gleich, wann und wo und wie sie hervorbricht, zu tiefst das Ergebnis und der Niederschlag allgemeingültiger und ewiger Bedingungen und Notwendigkeiten. Vor dieser Einstellung und Betrachtung erweist sie sich als der Ausdruck einer metaphysischen Gesetzlichkeit und Schicksalshaftigkeit, die nicht sowohl ihre jeweilige Gestalt und die jeweilige Form ihres Auftretens und ihres Verlaufs als vielmehr ihren Sinn als solchen, die ihren begrifflichen und ideellen Wert, die ihre typische Eigentümlichkeit und Bedeutsamkeit bestimmen und verdeutlichen. Ein tieferes Verständnis der einzelnen Revolutionen ist aber auch erst von diesem übergeordneten Standpunkt aus zu gewinnen. Denn was sich in ihnen allen darstellt und auswirkt, ruht auf dem allgemeinen Grund jener unbedingten Voraussetzungen, die sich in ihnen allen, oft in nur schwer erkennbarer Verpuppung, betätigen, die mit anderen Worten ihre nicht mehr zeitlichen Quellen bedeuten. Indem wir nun jene Erscheinungen, die als Revolutionen gelten, utner den angegebenen Gesichtspunkt rücken, könnten wir unsere Aufgabe auch so formulieren: Es handelt sich uns um die Philosophie oder vorausgesetzt, daß dieser Ausdruck nicht Bedenken erregt, um die Metaphysik der Revolution, um die Aufweisung derjenigen letzten Bedingungen, die den Sinn aller Revolution überhaupt ermöglichen und gewährleisten, und die die Bedeutung von Urgesetzlichkeiten für sie besitzen. So gehen wir von der Tatsache der Revolution zurück auf ihr Wesen, von ihrer Erscheinung auf ihre Prinzipien. Wie aber ist diese Absicht durchführbar? Nicht anders, als daß wir unsere besondere Aufgabe einordnen in die umfassendere der Philosophie der Geschichte überhaupt, eine Aufgabe, die die systematische Philosophie der Gegenwart mit tiefem Recht in so angelegentlicher Weise als eine ihrer dringlichsten Obliegenheiten behandelt. Dadurch jedoch, daß wir dieser Pflicht genügen und die Philosophie der Revolution als ein Kapitel aus der Philosophie der Geschichte überhaupt auffassen, haben wir einen großen methodischen Vorteil errungen; wir haben damit bereits die allgemeinen und grundsätzlichen Richtlinien für die Behandlung unseres Themas gewonnen. Die philosophische Grundlegung der Revolution bildet einen Teil aus der philosophischen Grundlegung der geschichtlichen Kultur überhaupt. Sie arbeitet mit denjenigen allgemeinen Bestimmungen, die ihr von seiten der systematischen Theorie der Geschichte geliefert werden. Hier ist nun gleich ein Mißverständnis abzuwehren. Die Einordnung der Philosophie der Revolution in die Philosophie der Geschichte bedeutet keineswegs, daß nun die Revolution selber dem geschichtlichen Zusammenhang restlos zu- und eingeordnet werden muß. Ein solches Bemühen würde am tiefsten Sinn der Revolution vorübergehen, daran, daß die Revolution gerade den tragischen Versuch darstellt, das Leben, seinen Wert, seine Autonomie, sein Recht von der Allgewalt der Geschichte zu befreien, es aus seiner Verklammerung in den gigantischen Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung aufzulösen, seine Eigengeltung gegenüber den Abhängigkeiten von dieser Entwicklung und ihren Relativitäten sicherzustellen. Trotzdem kann der Begriff der Revolution nicht anders erfaßt und bestimmt werden als unter strengster Beziehung auf den Begriff der Geschichte, und es muß sich die Philosophie der Revolution für ihre eigene theoretische Ermöglichung auf die grundliegende Idee der Einheit der Geschichte stützen. Wir haben hier genau denselben Fall wie bei der philosophischen Behandlung irgendeiner naturwissenschaftlichen Erscheinungsgruppe, etwa dann, wenn die Philosophie der Mechanik zu entwickeln wäre. Auch für diese ruht die letzte, grundlegende Voraussetzung in der Idee der Einheit der Natur, von der aus jede besondere begriffliche Analyse ihren Weg nehmen muß, ganz abgesehen davon, wie nun diese Idee näher bestimmt werden mag. Aber auch die weitere Annahme oder Mißdeutung wird nicht mehr entstehen können, daß wir die Erscheinung der Revolution einer historischen oder entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung unterziehen. Das ist darum nicht der Fall, weil die Einheit der Geschichte gar keine geschichtliche Tatsache, gar keine historische Gegebenheit darstellt, weil die Einheit der Geschichte nicht mit der Erscheinung der Geschichte zusammenfällt. Diese Unterscheidung ist für die Erfüllung unserer besonderen Aufgabe von grundlegender und folgenreichster Wichtigkeit. Denn im Wesen der Revolution prägt sich eine tiefe, für ihren Sinn geradezu charakteristische und unaufhebbare Antinomie aus, die ihren letzten Grund und Halt in der tiefen und wurzelhaften Antinomie hat, die allem Geschichtlichen eigen ist. Es ist eine der allergrößten Paradoxien in der Welt des Geistes, daß das geschichtliche Leben seinem Sinn nach viel mehr ist als bloß geschichtliches Leben, daß es über seine empirische und gegenständliche Bedeutung notwendig und unvermeidlich hinausgreift, ja diese zum Teil verneint, und daß es nur in diesem Widerspruch gegen sich selbst sich den eigentlichen Grund seines Sinns setzt. Die Geschichte ist ihrem Begriff und ihrem ideellen Geltungswert nach gar nicht zu bestimmen und zu errichten aus der Bezugnahme auf ihren tatsächlichen Ablauf, da dieser durch die biologischen Motive und Momente des Geschehens gespeist und durch eine empirische Gesetzmäßigkeit festgelegt ist. Im Wesen des geschichtlichen Werdens aber wirkt ein Faktor, durch den das bloß Geschichtliche über sich hinaus- und damit überhaupt erst zur Höhe geschichtlicher Bedeutsamkeit emporgehoben wird. Es wirkt im tatsächlichen Strom der Geschichte eine Kraft und Tendenz, die es bedingt, daß dieser Strom mehr ist als ein bloßes Dahinströmen, mehr ist als eine einfache Bewegung von Ort zu Ort. Und diese, allem Geschichtlichen eigene und, wie wir sehen werden, notwendig eigene Antinomik macht sich nun zu bestimmten Zeiten und unter bestimmten Umständen von allen Verkleidungen und Abschwächungen, von allen Einengungen und Relativierungen frei, sie läßt ihre Masken fallen und tritt in all ihrer Unbedingtheit und Wahrheit mit schonungsloser Härte zutage. Diese Momente und Prozesse sind die Revolutionen. In ihnen gewinnt die Urproblematik und Urantinomik, die in jedem Atemzug des geschichtlichen Lebens in begünstigender Kraft und Form wirksam ist, ihre klar erfaßbare Gestalt, sie kommt in der Revolution zu sich selbst. Worin besteht diese Urproblematik? Welche Spannung durchzieht und erfüllt den bloß geschichtlichen Ablauf so, daß ihm der Charakter des Antagonistischen anhaftet? Es ist nun sehr oft darauf hingewiesen worden, daß der ganze Kampf, von dem das geschichtliche Leben erfüllt ist, im notwendigen Gegensatz zwischen einer auf Beharrung und einer auf Bewegung gerichteten Tendenz besteht, und daß sich im Wechselspiel dieser beiden Strömungen die Entwicklung des Ganzen vollzieht. Danach würde also die einzelne Stufe in ihr den relativen Ausgleich zwischen beiden Tendenzen bedeuten. Ohne den Sinn dieser Entscheidung antasten zu wollen, muß ihr gegenüber doch gesagt werden, daß sie nicht bis in die eigentliche Tiefe, bis in die Struktur des geschichtlichen Lebens hineingreift. Denn alle konservativen und liberalen Gesinnungen und Bestrebungen sind ansich schon wieder Formen, Verkörperungen, Stufen, sind Bestimmtheiten und Verfestigungen, in denen die prinzipiellen Bedingungen und Gesetzlichkeiten des Geschichtlichen ihren zeitlichen Niederschlag finden. Wohl konstituiert sich in einer Beziehung, im Verhältnis zwischen Statik und Dynamik das wirkliche historische Geschehen, aber dieses Verhältnis selber ist weit davon entfernt, den Wert einer letzten, metaphysischen Grundlage des Geschichtlichen darzustellen. Und das wird daraus ersichtlich, daß man ihm gegenüber stets die Frage aufwerfen kann, welche Bedingungen es denn sind, die zu einem statisch-dynamischen Spiel in den Erscheinungen und Vorgängen des geschichtlichen Lebens führen. Das Wechselverhältnis zwischen Statischem und Dynamischem stellt bloß die Erscheinung des Geschichtlichen dar, es ist der Eintritt desselben in die sinnliche, erfahrbare Welt. Die absolute, metaphysische Verfassung des Geschichtlichen und damit auch der Revolution prägt sich aber ebensowenig in der Beziehung zwischen einer mehr nach der demokratisch-liberalen und einer mehr nach der sozialistischen Seite gerichteten Einstellung und Betätigungsweise aus. Daß diese Formen und Formungen des historischen Geschehens jene gesuchte Bedeutung nicht besitzen, erweist sich deutlich darin, daß sie auf menschlich-subjektive Willens- und Gemütsrichtungen zurückgehen, und daß sie im letzten Grund menschlich-subjektive Bedingungen und Formen der Bewertung darstellen. Dringt man bis in die grundlegenden Momente ihres Gefüges ein, so ergibt sich, daß Sozialismus wie Demokratismus auf menschlichen Stellungnahmen zu den Erscheinungen der Wirklichkeit beruhen, und daß in ihnen zwar ursprüngliche, aber doch nur im anthropologischen Sinn ursprüngliche Forderungen zum Ausdruck kommen. Die philosophische Begründung des Sozialismus oder des Demokratismus wird immer, so objektivistisch diese Begründung selber in ihrer Methode auch sein mag, auf subjektive Quellen für dieselben verweisen, die, so notwendig sie auch sind, doch eben die subjektive Notwendigkeit menschlichen Verlangens, menschlicher Überzeugungen, menschlicher Art, das Leben zu nehmen und sich mit ihm auseinanderzusetzen, darstellen. Daß in der Entwicklung des Staates oder der Wirtschaft z. B. einmal ein Zeitalter des Sozialismus, ein andermal ein solches des Demokratismus hervortritt, das findet seinen Grund in der allgemeinen Willensbeschaffenheit und Willensausstattung der Menschen jenes Zeitalters, die ihrerseits nun wieder von Bedingungen übergreifender Geltung abhängig sind, etwa von religiösen oder philosophischen Bewegungen, allgemeinen wirtschaftlichen oder politischen Lageverhältnissen usw. Mit anderen Worten: wenn wir das geschichtliche Leben unter dem Gesichtspunkt betrachten, wie es sich in demokratischen oder in sozialistischen Formen und Einrichtungen ausprägt, so bewegen wir uns immer noch im Umkreis einer empirisch-historischen Betrachtung. Ohne dem Wert nahetreten zu wollen, den die Begriffe des Sozialismus und des Demokratismus in methodischer Hinsicht für die Erkenntnis des Aufbaus der geistig-gesellschaftlichen Welt ohne Frage besitzen, so darf doch nicht vergessen werden, daß jenen Begriffen eine grundlegende logische Priorität nicht zukommt. Es sind nicht endgültige, jeglicher empirischen Tatsächlichkeit übergeordnete, es sind nicht rein systematische Begriffe, sondern es sind begriffliche Bestimmungen, die bestimmte, jeweilige geschichtliche Verhältnisse logisch konstituieren, die sich auf bestimmte, jeweilige Darstellungen und Stufen der geschichtlichen Gesamtbewegung beziehen. Unter Demokratismus bzw. Sozialismus werden konkrete Formen des menschlichen Gemeinschaftslebens verstanden, Formen, die dieser Gemeinschaft eingelagert sind, und die sich mit der Veränderung derselben mit verändern, die sich im Spiel der Geschichte ablösen, gegenseitig beeinflussen, denen keine Ewigkeit und Unbedingtheit im Sinne systematischer Grundwerte und unbedingter metaphysischer Grundgesetzlichkeiten eigen ist. Jene Antinomie oder Problematik des geschichtlichen Lebens hingegen, der eine metaphysische, also keine auf noch tiefer gelegene Bedingungen rückführbare Geltung innewohnt, liegt vor im ursprünglichen Gegensatz zwischen jenem Bedeutungswert, den wir allgemein als das Absolute bezeichnen, und seinem gewöhnlich mit dem Stichwort des Relativen oder Endlichen bezeichneten Gegenpol. Dem Sinn nach stimmt mit dieser Urantinomie von objektiver Geltung diejenige überein, die im Verhältnis zwischen Freiheit und Notwendigkeit dargestellt ist. Denn ebenso wie das Absolute nur als Freiheit zu verstehen ist, da es als Absolutes autonom ist, d. h. keine andere Gesetzlichkeit hat, kennt, anerkennt als seine eigne, so ist alles Relative unfrei, gebunden, da es immer und ganz unvermeidlich in einem festen Zusammenhang steht, einem bestimmten Zusammenhang zugehört. Das Relative hat darin seine Paradoxis, daß es, um überhaupt relativ sein zu können, sich in eine Verbundenheit einfügt, deren Form den Charakter der Gesetzmäßigkeit trägt, mit anderen Worten: daß es Glied in einer Reihe, Glied in einem System ist, daß es auf ein Notwendiges bezogen, in einem Notwendigen begründet und verankert ist. Mit der Aufstellung jener Urantinomie zwischen dem Unbedingten, Ewigen, Unendlichen, Freien und dem Relativen, Endlichen, Gebundenen, Zeitlichen als der begründenden metaphysischen Bedingung für das ganze Spiel und für die Auswirkung der geschichtlichen Lebensverhältnisse ist der Zusammenhang angegeben, der zwischen den vorliegenden Betrachtungen und der konstruktiv-idealistischen Geschichtsphilosophie FICHTEs und HEGELs z. B. waltet. Denn auch die letztere sucht die geschichtliche Welt darzustellen als den Schauplatz eines Kampfes, in welchem und mittels welches sich das Absolute in der Fülle der einzelnen geschichtlichen Gestalten und Erscheinungen auszuwirken strebt. Deshalb gilt ihr die tatsächliche Geschichte als die endliche, zeitliche Darstellung und Objektivierung jenes Absoluten, auf das jegliches Moment und jegliche Stufe der konkreten Wirklichkeit innerlich und notwendig zurückbezogen sind. Nur daß in dieser Geschichtsphilosophie die grundlegende Antinomie zwischen dem Absoluten und Freien und dem Endlichen und Gebundenen nicht so unverhüllt behauptet wird und hervortritt wie im Zusammenhang unserer Betrachtungen. Wohl aber dient auch ihr der Begriff dieser Antinomie zum methodischen Führer, da sie stets darauf verweist, daß das Absolute niemals seine restlose und abgeschlossene Darstellung und Offenbarung im Prozeß des Geschichtlich-Endlichen habe, noch je haben könne. - Wenden wir nun den angegebenen Gesichtspunkt, der für unsere Untersuchung von grundlegender Tragweite ist, auf die Erscheinung jener Ereignisse und Bewegungen an, die als Revolutionen gelten. Alsdann ergibt sich sofort in einleuchtender Weise, daß die Revolution, die, wie alles Geschichtliche, auf der bezeichneten Antinomie als ihrer metaphysischen Grundlage ruht, diese Antinomie in der schärfsten und in der schneidensten Eindringlichkeit zum Ausdruck bringt.
Diese Gedanken wollen also erstens besagen, daß das Wesen der Revolution sich vor allem in der Zusammendrängung und Aufhäufung und in der dadurch hervorgerufenen heftigen Spannung aller derjenigen Kräfte und Bewegungen bekundet oder erschöpft, die sich in den Abschnitten ruhigeren Ablaufs über einen breiteren Zeitraum verteilen und deshalb nicht zu einem so verhängnisvollen Zusammenprall aufeinanderrücken. Eine solche zunehmende Verdichtung in dem immer vorhandenen und wirksamen Antagonismus des historischen Geschehens bringt die revolutionäre Spannung zur Entladung. Aber auch hier muß natürlich die Veranlassung vom inneren Prinzip und Sinn der Sache genau unterschieden werden. In dem Augenblick, in dem die Reibung der grundlegenden Bedingungen die äußerste Schärfe erreicht hat, erfolgt die Revolution als die allein noch mögliche Form der Auseinandersetzung zwischen diese Kräften und der Wiederherstellung eines erträglichen und zur Gleichgewichtslage hinstrebenden Verhältnisses zwischen ihnen. Denn aus der Eigentümlichkeit der metaphysischen Grundrichtungen ergibt sich mit Notwendigkeit, daß die Beziehung zwischen ihnen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung zu einer immer stärker werdenden Spannung kommt, daß, wie wir noch sehen werden, die Mischung zwischen ihnen sich immer mehr zugunsten der einen verschiebt. Und nun ist die Entstehung der Revolution darin begründet, aß sie einen sinngemäßen Ausgleich anstrebt, daß sie der einen, bis dahin unterdrückten oder ins Hintertreffen geratenen Grundtendenz des Lebens das Übergewicht zu verschaffen unternimmt. Ihr Prinzip ist also kein anderes als dasjenige der Geschichte überhaupt. Nur enthüllt sich in ihr jenes Urprinzip in seinem Wesen, das Geschichtliche entblößt in ihr die bedingenden Fäden seines ganzen Spiels und all seiner Verschlingungen mit unvergleichlicher und darum stets zunächst verhängnisvoller Schärfe. Und wir nennen jene Zeiten revolutionäre, in denen die Urantinomie des geschichtlichen Lebens und seines Bestandes in ihrer ungeheuerlichen Problematik mit unwiderstehlicher Gewalt ihr Wesen entfaltet und damit die großen Entladungen, die ja keineswegs nur solche politischer Natur sind, mit Notwendigkeit herbeiführt. Erweist sich also der Sinn der Revolution darin, daß sie das Symbol und der wahrhaftigste Ausdruck für die tragische und metaphysische Problematik ist, die die Urbedingung des Geschichtlichen überhaupt bedeutet, so folgt nun eben daraus, weil sie diese Bedeutung so scharf, so unmittelbar, so brüsk erfüllt, daß sie mit unendlich stärkerer Gewalt als jede mehr ausgeglichene Zeitspanne um die Befreiung von eben dieser Problematik kämpft. Wie ist das zu verstehen? Es ergeht der Revolution genau ebenso, wie es jedem anderen geschichtlichen Begebnis und wie es jeder geschichtlichen Persönlichkeit ergeht. Je zwingender die Problematik des Lebens erlebt, erfaßt, erkannt, zum Ausdruck gebracht wird, umso kräftiger wird sich natürlich das Bestreben geltend machen, dieser Problematik Herr zu werden. Ob diese Absicht restlos erfüllbar ist, oder ob nicht gerade der tiefste Sinn und Gehalt der geschichtlichen Wirklichkeit nicht sowohl in der Gewinnung einer Ruhelage als im Streben nach ihr, im Kampf um Überwindung der Problematik besteht, das ist eine Frage für sich, die in einem System der Geschichtsphilosophie eingehend behandelt werden müßte. Jedenfalls ergibt sich aus dem Begriff der Revolution des weiteren, daß sie nun ihre geschichtliche Aufgabe und Wirksamkeit darin erblicken muß, jene Problematik zu beseitigen, zu löschen. Denn in ihr erreichen eben die einander widerstrebenden Kräfte und Tendenzen, die im Gefüge der Geschichte herrschen, ihre Zusammenziehung zu sinnlich erfaßbarer, zeitlich und räumlich begrenzter Gestalt. In einem solchen Augenblick aber kann es kein anderes Ergebnis als das einer gewaltsamen Entladung geben, da die bestehende Reibung so stark geworden ist, daß sie jede andere Lösung ausschließt. - Die Entwicklung der geschichtlichen Wirklichkeit führt mit unerbittlicher Zwangsläufigkeit dazu, daß sich das Relative und Zeitliche, das Gewordene und Traditionelle, d. h. das Geschichtliche im empirischen Verstand die Geltung eines Unbedingten, das Ansehen und das Recht eines absoluten Wertes anmaßt. Deshalb drängt es zu einem verhängnisvollen und maßlos schweren Konflikt mit der Absolutheit des in aller Geschichtlichkeit wirksamen Un- oder Übergeschichtlichen. Das Endliche und im Zustand der Anerkennung Befindliche strebt nach der Herrschaft über die ewigen, überempirischen Mächte und Vernünftigkeiten, über die absoluten, gleich noch genauer zu verdeutlichenden autonomen Werte. Die den letzteren aus der Entwicklung der Geschichte immer erwachsende Bedrohung muß erst bis zu jenem höchsten Grad gediehen sein, wie es beim Eintritt revolutionärer Zeiten und Bewegungen der Fall ist, um erstens überhaupt in ihrer Bedeutung erkannt und zweitens mit aller Schonungslosigkeit bekämpft werden zu können. Erkenntnis und Kampfansage kommen also in der Berufung auf übergeschichtliche, als autonom geltende Werte zum Ausdruck. Und in dieser Berufung äußert sich der jeglicher Revolution eigene übergeschichtliche und absolutistische Zug. Man kann ihn ebenso bei rein politischen, wie rein geistigen Revolutionen feststellen. So haben wir z. B. in den großen Krisen und Reformbestrebungen, die die Philosophie und die Geisteswissenschaften der Gegenwart zeigen, die Auflehnung gegen die hier eingebürgerte historische Einstellung und Forschungsweise zugunsten der Anerkennung ewiger und unbedingter Vernunftprinzipien. Diese lebhafte Auflehnung spricht sich in dem bezeichnenden Wandel von der bloß entwicklungsgeschichtlichen und historisch orientierten zur systematischen, auf die Erfassung autonomer Grundlagen gerichteten Betrachtungsart in der Philosophie der Gegenwart aus. Die politische Revolution die wir jüngst durchlebt haben, oder: in deren Mitte wir noch stehen, erweist sich vor einer allgemeinen Betrachtung als ein Sonderfall aus einer umfassenden Bewegung, an der wohl alle Gebiete und Richtungen des Geistes unserer Zeit teilhaben. Gemeinsame ist ihnen allen nicht nur die Tatsache einer Revolution, zumindest diejenige einer sehr tiefgreifenden Reform, sondern auch die ganze Art der näheren Begründung und Rechtfertigung und Durchführung derselben. Und es wäre eine ebenso lohnende wie fruchtbare Aufgabe, sowohl die allgemeinen Züge dieser fast universal zu nennenden Revolution als auch ihre inneren Motive und Rechtsquellen darzustellen. Mit einer etwas stark abgerundeten Bezeichnung: Diese ganze große Bewegung richtet sich gegen die Herrschaft und Verehrung dessen, was darum anerkannt wird und bereits beglaubigt erscheint, weil es aus der geschichtlichen Entwicklung als solcher hervorgewachsen ist und einen Platz im Zusammenhang derselben einnimmt. Sie ist der Kampf gegen das bloß Historische und das Bemühen um die Ablösung von Historismus, diesen Begriff im weitesten Sinn genommen. - Denn es gehört zum eigentlichen Sinn des Wesens der Revolution, daß sie aus dem tiefen Grund ihrer absolutistischen und autonomistischen Einstellung das Recht dessen ablehnt, was sich nur darauf berufen kann, daß es aus dem Fluß des geschichtlichen Werdens hervorgegangen ist. Was sich darum als achtenswert oder gültig, berechtigt oder heilig hinstellt, weil zu seinem Dasein und Bestand eine bestimmte Entwicklung geführt hat, das scheint ihr der wahren Rechtsgrundlagen und Bürgschaften zu entbehren, das scheint nur äußerliche Titel vorweisen zu können und sein Ansehen nur geistiger Unfreiheit zu verdanken. Und es ist keine Frage, daß durch die geschichtliche Entwicklung das Maß an Bindungen der verschiedensten Art in gewisser Hinsicht immer größer wird. Denn diese Entwicklung veranlaßt schon um ihrer selbst willen, daß sich die einzelnen Lebensmomente, Handlungen, Personen immer enger und enger miteinander verknoten, in eine immer dichtere Beziehung zueinander treten. Dieser Druck prägt sich z. B. in der Verstärkung der Tradition, der Konvention usw. aus, die jede älter werdende Kultur zeigt. In ihr gelangen allmählich immer allgemeiner und starrer werdende Formen, Formeln, Regeln, Gewohnheiten, Sitten zu immer größerer Herrschaft, und die Wendung zum Individualismus ist nicht nur Absage vom Kollektivismus, sondern auch von den bloß geschichtlich begründeten Verfestigungen, wie Anschauungen, Verfassungen, Vorschriften, Denkgewöhnungen, Glaubenssatzungen und Glaubensforderungen. Das zeigt ganz deutlich die im Sinne des Individualismus erfolgende Auflehnung der Renaissance gegen die eingewohnten und darum erstarrten Lebens- und Erkenntnisformen des Mittelalters. Es ist unbestreitbar und erwächst aus dem Wesen der Sache selber, daß das historische Geschehen neben allem Großen, Werthaften, Gehaltvollen, Innerlichen, das in ihm entsteht und wirkt, der Frische und Unmittelbarkeit des Wollens und Fühlens eine gewisse und zunehmende Beschränkung auferlegt, daß sich bestimmte typische Formen und Förmlichkeiten, gewisse Durchschnittsweise für das Leben und Denken herausbilden, die der Geburt und Durchsetzung des Neuen nicht gerade förderlich zu sein pflegen. Man kennt ja nicht nur den Konservatismus, sondern auch den Konventionalismus, die sich im Laufe der Kulturentwicklung einstellen, und die den älter werdenden Kulturen den Charakter des Erstarrten und Lebensarmen geben. Bestand, Erhaltung, Durchsetzung des geschichtlichen Zusammenhangs sind zum guten Teil geknüpft an die Entstehung, Einwurzelung und Verbreitung solcher Bindungen, an die Pflege und Ausgestaltung solcher Förmlichkeiten, denen schließlich ein besonderer Rang und eine innerliche Bedeutung zugesprochen werden. Kommt es doch oft dahin, daß nur demjenigen der Zutritt zur betreffenden Kultur und die Teilnahme an ihrem Bestand eingeräumt wird, der sich jene Förmlichkeiten angeeignet hat und sie mit äußerlicher Sicherheit anwenden und handhaben kann. Eine immer breiter und tiefer werdende Schicht von äußeren und äußerlichen Normen und Leistungen schiebt sich wie eine Decke und Last über diejenigen Strömungen, die das geschichtliche Leben als seine ursprünglichen Kräfte und Werte tragen und speisen. So muß die Geschichte mit einem stetig anwachsenden Vorrat von Elementen arbeiten, deren Recht lediglich im Umstand ihres Vorhandenseins und ihres Gebrauchs liegt, ja, deren Recht geradezu aus diesen Momenten abgeleitet wird. Solche Elemente sammeln sich auf dem politischen und wirtschaftlichen, dem rechtlichen und dem militärischen, dem wissenschaftlichen und dem philosophischen, dem religiösen und dem künstlerischem Gebiet an. Sie bilden, zusammengefaßt, das, was man als die relativen Werte in der Geschichte bezeichnen kann. Ihre Summe und ihr Ansehen, ihre Macht und ihr Einfluß erreichen im Laufe der Zeit eine solche Höhe und Kraft, daß das Leben überhaupt im Gewebe dieser Relativitäten zu bestehen scheint, daß es ganz und gar in ihnen aufzugehen droht, daß es Gefahr läuft, seine tieferen Grundlagen und Quellen zu verlieren. Die Tendenz zu einer ungeheuren Relativierung aller ihrer Werte und damit auch ihrer selbst ist der geschichtlichen Entwicklung eigen. Zugleich drängen diese Werte aber nach der Anerkennung, als absolut und bindend, als unbedingt und ursprünglich angesehen zu werden, als schämten sie sich ihrer Relativität. Und das geschichtliche Leben muß ihnen eine solche höhere Geltung zubilligen, um sich selber eine gewisse Glaubwürdigkeit und Tiefe, um sich ein möglichst hohes Maß an Vertrauen und Autorität zu sichern. Würde diese Entwicklung ohne jede Behinderung immer weiter und weiter gehen können, dann würden die Ursprünglichkeiten des Lebens so stark abgeschwächt, so sehr ausgeschaltet werden, daß sie überhaupt - nun: dieser Satz braucht nicht vollendet zu werden. Denn ein solcher Verlauf ist eben unmöglich. Wenn für jene Ursprünglichkeiten eine Gefahr eintritt, dann regen sie sich von selbst, weil das Absolute nie abgeschwächt oder gar ausgeschaltet werden kann. Es erhebt sich zur Abwehr gegen die Herrschaft des Relativen und gegen seine Anerkennung, es bannt die ihm und damit auch dem geschichtlichen Leben nahende Gefahr. Aber eine solche Gefahr droht immer und droht tatsächlich und sie führt zu der allseits bemerkbaren Tragik, die darin besteht, daß die geschichtliche Entwicklung überall in den Zustand einer gewissen Blutarmut oder Blutverdünnung gerät, daß das Leben, aus dem sie doch hervorgegangen ist, sich in ihr zu verflüchtigen oder zu verlieren droht. Und diese Not tritt darum ein, weil der Ausbau der geschichtlichen Kultur das Leben zu einer Selbstteilung zwingt, weil der ursprünglich volle und ungebrochene Strom nun durch tausend Kanäle fließen und tausend Arme und Nebenzweige speisen muß. So zerspaltet und verstrickt es sich in unzählige Relativitäten, es wird schwächer und schwächer und pulsiert langsamer und langsamer. Und es kommen mit Notwendigkeit wie im Spiel der Paradoxie der Augenblick und der Zustand, in denen die geschichtliche Entwicklung, schon um bloß sich selbst zu erhalten, nach einer jenseits aller Relativierungen und Verendlichungen gelegenen, aber von ihr selber nicht mehr abhängigen Kraft und Tendenz verlangen muß, daß sie nach einem Absoluten fragt und von ihm her Ergänzung, Sicherung, Belebung, neue Tiefen und Weiten, Auffrischungen und Stärkungen erhofft. Es wird eine Lebensnotwendigkeit für sie, wieder den Anschluß an die ursprünglichen Quellen, Grundlagen und Kräfte zu gewinnen. Ganz gleich, ob es sich um eine wissenschaftliche oder um eine religiöse oder um eine soziale Revolution handelt, ob man mit SOKRATES die Bestimmung des Begriffs einer Sache, mit dem Christentum die unmittelbare, im Glauben verwurzelte Gotteskindschaft, ob man mit der Reformbewegung von Cluny oder mit LUTHER ein Zurückgehen auf das eigentliche Wesen des evangelischen Christentums verlangt, ob man mit ROUSSEAU die Forderung des Zurück zur Natur erhebt: stets ist hier das Bestreben leitend, aus einem der Unmittelbarkeit und Urwüchsigkeit entbehrenden, in eine gewisse Dogmatik und Gezwungenheit eingefangenen Lebenszustand wieder zu den primären Bedingungen und Gesetzlichkeiten der Wirklichkeit hinzugelangen. Daß sich in dieser Absicht und Bestrebung auch ihrerseits wieder ein Dogmatismus geltend macht, dem ein Mangel an geschichtlichem Sinn und an geschichtlicher Besonnenheit innewohnt, ist unverkennbar. Und es wird sich uns erweisen, daß er es ist, der jedes revolutionäre Bemühen in eine unaufhaltsame Katastrophe treibt. Zunächst ist aber einmal mit dieser innerlichen Wendung der geschichtlichen Entwicklung zu irgendeinem unabgeleiteten Wert, zu irgendeiner ursprünglichen Mächtigkeit, mit dem Drang einer Abwendung von der bloßen Relativität ihres Verlaufs und ihrer Gültigkeit und einer Hinwendung zu einem Absoluten zu rechnen. a) Das Leben (Die Autonomie des Willens) So entsteht nun nach allen bisherigen Ausführungen die Aufgabe, die Grundbedingungen der Revolutionen, in denen sich ihr autonomistischer und absolutistischer Zug und Sinn ausspricht und betätigt, des genaueren zu entwickeln. Zwei Formen der Autonomie und des Absoluten kommen wohl in Frage. Erstens die des ursprünglichen, gegen die traditionellen geschichtlichen Lebenswerte und ihre Erhaltung mit allem Ungestüm anrennenden Lebenswillens. In diesem Willen, es ist gleich, ob man ihn mit SCHOPENHAUER einfach als Willen zum Leben, zum Dasein oder mit NIETZSCHE als Willen zur Macht bezeichnet, haben wir die biologisch-anthropologisch-naturalistische Form und Ausprägung des Absoluten vor uns. Dieses Wollen ist es, das den ebenso blinden und leidenschaftlichen, wie zwangsläufigen und aus dem elementaren Wesen des Lebens begründeten Sturmlauf der Menschen gegen die Existenz und die Geltung des Überkommenen hervorruft. Dieses Wollen ist es, das die Bemühung um Beseitigung des in der Tradition sich ablagernden Bestandes an Einrichtungen, Auffassungen, Bewertungen, Erkenntnissen usw. bedingt und in bestimmter Beziehung leitet. Nicht die Stellung, den die in der Herrschaft befindlichen Schichten des Volkes innehaben, ist es, nicht ihre Geltung und Vorrechte sind es, wodurch die revolutionäre Explosion innerlich verursacht wird. Zwar hat man oft gesagt, daß Revolutionen von oben her gemacht werden, daß es das Verhalten der "oberen" Kreise und der von ihnen allein beanspruchte Genuß an den materiellen und geistigen Gütern der Kultur ist, der eine Revolution bedingt. Das aber ist doch nur ein einem eingeschränkten Sinn zutreffend. Denn jene Geltung und all jene bevorrechtigten Stellungen sind nur der äußere Gegenstand, gegen den die Revolution sich richtet. Der bloße Druck als solcher würde schließlich zu einer einfachen und restlosen Unterdrückung führen, zu einer Ausmerzung und Zermalmung der vom Mitgenuß an den geschichtlichen Werten relativ ausgeschlossenen Schichten. Er würde einfach ihren Untergang bedingten, und es würde damit niemals zu einer Revolution kommen, wenn nicht in diesen Schichten eine schließlich doch ununterdrückbare, eine elementare und wurzelhafte Willensgewalt lebendig und wirksam wäre, die jeglichem Lebewesen schon lediglich aufgrund seines sinnlichen Daseins und seiner Animalität eigen ist. Eine Beschränkung dieser Vitalität sichert den vorhandenen Bestand; und wenn JAKOB FRIES bemerkt, daß "Trägheit der einzelnen und die Macht der Gewohnheit der Garant jeder Staatsverfassung" sind, und daß "fast jeder bürgerlich gute Wille mit einer hinlänglichen Last von Trägheit beschwert ist, um sich lieber im gewohnten Gleis fortzubewegen, als eine neue Bahn zu brechen", so gilt dieser Satz nicht nur für die Aufrechterhaltung der politischen Einrichtungen und der Staatsverfassungen im besonderen (Jakob Friedrich Fries, Philosophische Rechtslehre, 1803; neu hg. 1914, Seite 84). Jede Art von Umwälzung beruth in einer Richtung auf der Erregung und dem Hervorbrechen ganz einfacher, primitiver Kräfte, die durch Sitte, Bequemlichkeit, Behaglichkeit der Existenz, auch durch Mangel an entschiedener geistiger Rüstigkeit, durch natürliche Gewohnheit und Lässigkeit, durch Einspannung in bewährte Lebens-, Stil- und Denkformen und deren Anerkennung in einer gewissen Gebundenheit gehalten worden sind. Das läßt sich leicht und klar besonders an Neuerungsbestrebungen auf religiösem und auf künstlerischem Gebiet verfolgen. Zwar ermöglicht und fördert die gewöhnliche Entwicklung des geschichtlichen Lebens die Entladung und Betätigung der natürlichen Kräfte, doch geschieht das immerhin nur in begrenztem Umfang. Wir gewahren dann einen verhältnismäßig reibungslosen Ablauf dieser Entwicklung, wenn jene natürlichen Kräfte in einem solchen Ausmaß in das geschichtliche Leben hineingeleitet werden, daß dieses von allzustarken Erschütterungen und Katastrophen frei bleibt, Wenn also ein Ausgleich erreicht wird zwischen der aufquellenden und aufbegehrenden Energie des Lebens und der notwendigen Erhaltung des vorhandenen Bestandes desselben an Gütern und Werten durch jene Energie. Aber jeder tiefere Blick in die Hintergründe dieser Beziehungen verrät es, daß die ursprünglichen Energien des Lebens sich niemals restlos und erschöpfend in den tatsächlichen geschichtlichen Zusammenhang ergießen und ergießen können. Denn dieser Zusammenhang muß eine feste Form und Gesetzlichkeit annehmen und bewahren, nicht nur um sich selber, sondern auch um die in ihm lagernden Werte vor der Vernichtung zu schützen. Form aber bedeutet Bändigung der Kräfte, Zurückhaltung des in ihnen wirkenden Ungestüms. Das zeigt sich schon in jeder einzelnen Zeitepoche, die bewußt auf die Schöpfung und Herrschaft eines Formprinzips, eines Stils ausgeht, wie etwa im Übergang vom Sturm und Drang zum Klassizismus. Das aber zeigt sich nicht minder im Ganzen der Geschichte. Diese setzt dem ungezügelten Ausleben bestimmte Grenzen, aber sie gibt ihnen nicht nur ein festes Bett, sondern bewirkt es auch, daß sich die Kräfte nun mehr aneinanderpressen, daß die Reibung zwischen ihnen größer und größer wird. Wohl gewinnt sie selbst nach einer Richtung aus dieser Zusammenziehung und Spannung der elementaren Mächte, so daß man beinahe sagen möchte, sie nähme jene Arbeit aus diesem Grund vor. Sie wird durch diese Sättigung an Kräften reicher und lebenerfüllter, und ihr Gehalt wächst in demselben Grad, in dem die Zusammendrängung der verschiedenartigsten Bewegungen größer wird. Zugleich jedoch, und darin prägt sich die Kehrseite der Sache aus, und zwar eine solche, die eine Paradoxie in sich trägt, kann und darf sie der von ihr benötigten Spannung und Erhöhung der Kräfte keinen unbeschränkten Spielraum gestatten, und das aus einem Grund, der zu leicht erkennbar ist, um noch genauer dargelegt zu werden. Deshalb bringt jede geschichtliche Entwicklung mit Notwendigkeit eine bestimmte Stauung und Aufsammlung der elementaren Kräfte mit sich, die nun wieder, in einem tragischen und verhängnisvollen Zirkelspiel, nicht zu völlig ungehinderter Auslösung gelangen können und deshalb die Gefahr einer gewaltsamen, d. h. eine sogenannten gesetzlosen und zerstörenden Entladung mit sich führen. - Fassen wir alle diese elementaren und naturhaften Kräfte unter der gemeinsamen Bezeichnung des ursprünglichen Willens zum Leben, zur Darstellung, schließlich auch zur Macht und Geltung zusammen. Dieser ursprüngliche Wille zur Macht ist aber zunächst nichts weiter als eine rein biologische Kraft. Als solche steht er durchaus jenseits jeder sittlichen oder sonstwie geistigen Bedeutsamkeit und Qualität. Dieser Umstand ist für die Durchsetzung und den Fortgang der Revolution, besonders aber für ihren inneren Gehalt und für ihren Wert als Form und Moment der Kultur von höchster Wichtigkeit. Was sich in jenem Willen und durch ihn verwirklicht und durchsetzt, das ist gar kein höheres geistiges Moment oder Verlangen, sondern lediglich der Trieb zu den besseren Weideplätzen und den volleren Futternäpfen. In dieser biologischen Fundierung aller Revolutionen ruht deren naturhafte Grundlage, ruht es, daß sie ganz in der Weise von wilden Naturkräften ihren Weg nehmen. Deshalb pflegt auch ihr Weg zunächst meistens noch nicht der Weg des Aufbaus, nicht der der Gewinnung neuer Werte, sondern der der Zerstörung zu sein. Und von dieser Grundlage aus wohnt den Revolutionen auch noch kein anderes, kein höheres Recht inne als dasjenige eines bloßen, elementaren Geschehens. Es liegt hier nur dasjenige Recht vor, das überhaupt und soweit ein solches der bloßen Natur und ihren Begebnissen, der bloßen Tatsächlichkeit und ihren Niederschlägen und Auswirkungen eigen ist. Ja, es kann ein Zweifel darüber aufkommen, ob den Revolutionen unter diesem Gesichtspunkt überhaupt ein höherer Wert und ein höheres Recht eigen sind. Denn es gehört zu den umstrittensten Fragen der Geschichtsphilosophie, ob dem Seienden als solchem und ansich schon eine Geltung im höheren Sinne, ob ihm ein geistlich-sittliches Recht zugehört. Oder ob nicht die Verleihung dieses Rechts durchaus einem anderen Gerichtsstand als dem der bloßen Natur oder dem bloßen Sein möglich wäre und zusteht. Muß dem Sein diese Fähigkeit und Macht abgesprochen werden, so ist nicht ersichtlich, wie den Revolutionen, soweit sie Ausdruck und Ergebnis des biologischen Autonomismus und Absolutismus sind, eine tiefere Bedeutung und eine innere Berechtigung zukommen können. Es wohnt ihnen alsdann noch keine eigentlich aufbauende und schöpferische Kraft und noch kein positiver geschichtlicher Gehalt inne, sondern ihr ganzer Wert besteht in ihrer das Alte, Vorhandene, Eingebürgerte, In-Geltung-Befindliche bekämpfenden und möglichst verneinenden und forträumenden Leistung. Ein kahler, nackter, rücksichtsloser, einfach-naturhaft bestimmter, sinnlicher Wille macht sich dann in ihnen geltend. Sie erscheinen als geboren aus ganz gewöhnlichen Gierigkeiten und aus bloß macht- und genußhungrigen Wünschen und Interessen, und ihr Sinn scheint in der möglichst restlosen und möglichst geschwinden Erfüllung all dieser Triebe aufzugehen. Soweit eine Revolution nur auf dieser Form des Absoluten und Autonomen beruth, und soweit nur diese in ihr sich betätigt und durchsetzt, muß sie zugleich einen verhältnismäßigen Mangel an Größe und Schönheit aufweisen, kann kaum höher gestimmte Liebe und Begeisterung ihren Verlauf begleiten. Man wird von ihr eher erschüttert als erhoben, eher bedrückt als bereichert, eher abgeschreckt als hingerissen sein. Und es gehört schon ein sehr hoher Grad von Objektivität und reifer Menschenkenntnis dazu, um dem vielen Menschlichen, Allzu-Menschlichen, das sich in ihr zeigt, eine ruhige Würdigung nicht zu versagen. Die Entfaltung einer ungestümen Triebhaftigkeit bedroht die ideologischen Wurzeln der Revolution mit Zurückdrängung und Verkümmerung. Und es muß in jeder Revolution der Augenblick eintreten, in dem sie jede höhere Zielsetzung zu verleugnen, die Verwirklichung geistig-sittlicher Werte nicht zu kennen und anzustreben neigt. GOTTFRIED KELLER hat einmal in der Novelle "Ursula" (Züricher Novellen) folgenden prachtvollen Gedanken ausgesprochen: "Wenn die Religionen sich wenden, so ist es, wie wenn die Berge sich auftun; zwischen den großen Zauberschlangen, Golddrachen und Kristallgeistern des menschlichen Gemütes, die ans Licht steigen, fahren alle häßlichen Tazzelwürmer und das Heer der Ratten und Mäuse hervor." Und vielleicht läßt sich überhaupt an den Revolutionen gerade religiöser Natur das Wesen der Revolutionen überhaupt am klarsten erkennen. Das dürfte darin seine Ursache finden, daß die Grundnatur des Menschen gerade in den Augenblicken religiöser Ergriffenheit zu oft erschütterndem Ausdruck gelangt, daß hier die Schleier sinken, die über den Tiefen und Untiefen unserer Seele wallen, daß hier gewisse letzte Ströme hervorbrechen, weil die Fragen der Religion die Grundfesten unseres Wesens berühren, weil das religiöse Erleben nicht nur Heiliges, sondern nicht selten auch sehr Unheiliges in unserem Innern lebendig macht. Die Relgionspsychologie unserer Tage hat auf diese dunklen Mächte, auf denen neben allem Reinen und Geistigen die Religionen beruhen, ein mannigfach aufklärendes Licht geworfen. Wir gewahren in ihnen neben Hohem und Erhebendem den Ausbruch der sinnlichen, von wilder Glücksbesessenheit aufgepeitschten Naturseite des Menschen, die dahin neigt, auch die Vorstellungen des Göttlichen mit wirren und erregten Zügen zu durchranken. Gewiß, darin prägen sich nicht der eigentliche Wert und Sinn weder einer religiösen Revolution noch derjenige der Revolution überhaupt aus. Aber man darf diese, aus der Sinnlichkeit und sinnlichen Begehrlichkeit des Menschen stammenden naturwüchsigen Auswirkungen weder verkennen noch geringschätzen oder mißachten. Sie sind da; sie zeigen ihre Kraft, sie arbeiten mit an der Umgestaltung des geschichtlichen Bestandes; man braucht sie nicht zu lieben oder zu verherrlichen; man wird auf sie allein nicht die Entstehung und das Recht der Revolutionen zurückführen können. Aber es wäre Zimperlichkeit, sie fortzuwünschen, weil es gegen die Natur wäre; es wäre ungerecht, sie ohne weiteres zu verleumden oder zu verdammen, weil es gegen das Menschliche gerichtet wäre, das wir, nach einem Wort SPINOZAs, nicht zuerst belachen oder beweinen, sondern erkennen sollen. Wie auch immer der Staatsmann oder der praktische Politiker sich zu diesem Ausbruch der sinnlichen Leidenschaften stellen mag und stellen muß, der Wissenschaftler, der Kulturhistoriker, der Kulturpsychologe, der Philosoph: sie alle müssen die naturhafte Bedeutung dieser Kräfte erkennen und würdigen, die die eine Gruppe notwendiger sachlicher Bedingungen für die Revolutionen darstellt. Denn so sehr auch dieser Grundlage die sittlich-vernünftige Rechtfertigung und Werthaftigkeit fehlen mag, so ist sie doch in ihrer elementaren Gewalt für die geschichtliche Wirklichkeit nicht zu unterschätzen. Dieser Wille zum Leben, zum Einfluß, zur Macht usw. ist eine der tragenden metaphysischen Bedingungen und Kräfte, die ihre Selbständigkeit, Eigenwertigkeit, Unableitbarkeit und Geltung trotz aller, von einem anderen Gesichtspunkt aus erfolgenden Anzweiflungen mit einer Stärke durchzusetzen streben, die ihr Recht aus dem naiven und elementaren Recht des Lebens zieht. Gewiß, dieses Recht kann für sich keine andere Quelle namhaft machen, als die des Lebens selber. Aber dieses Leben trägt doch auch eine Art von geschichtlichem Recht in sich; ohne dieses Leben wäre die geschichtliche Wirklichkeit nicht möglich, allerdings möglich nur in dem einfachen Sinn ihrer bloßen Existenz, der zunächst noch jegliche Werthaftigkeit und Würde, jegliche Tiefe und Innerlichkeit abgeht. Denn gerade die philosophische Betrachtung wird doch bei dieser Anerkennung und Würdigung nicht stehen bleiben können. Es ist schon darauf aufmerksam gemacht worden, daß den Revolutionen, soweit die jetzt ins Auge gefaßte naturhaft-autonome Grundlage und Motivkette in Betracht kommt, das Recht in einem höheren Sinn mangelt. Dazu kommt nun, daß sie aus ihrem naturhaften Charakter auch noch einen inneren Widerspruch in sich hineintragen. Dieser Charakter muß es nämlich bedingen, daß sie doch weiter nichts sind und weiter nichts bleiben, als nackte Empörungen, als elementare Auflehnungen. Jede Geistigkeit fehlt ihnen. Weiter nichts als Bedrohung und Gefährdung oder völlige Beseitigung des bis dahin Gültigen und Eingewurzelten scheinen ihr Ziel zu sein. Vergebens befragt man sie nach Zwecksetzungen im höheren Verstand. So sehr man das Recht der Natur zu achten gelernt haben mag, alles Recht ist darum einer Revolution noch nicht zuzusprechen, weil sie sich auf die Herrschaftsansprüche des bloßen Drangs zum Leben berufen kann. Die Autonomie des naturhaften Wollens bedeutet weiter nichts als die Autonomie der Natur; sie verbürgt wohl die Tatsächlichkeit und tatsächliche Notwendigkeit der Revolution, sie verbürgt aber nicht ihre ideelle und rechtliche Zugänglichkeit. Aufgrund dieses biologischen Autonomismus fehlt ihr zwar nicht die Tatsache, wohl aber der Wert der Absolutheit, das Recht zur Absolutheit; ja, es fehlt ihr in dieser Hinsicht im Widerspruch zu ihrer Absicht und zum Sinn, in dem sie ihre Berufung vertritt, überhaupt die tiefere Absolutheit. Sie wird, ja, sie ist alsdann doch nur, und schon darin bekundet sich eine seltsame Paradoxie, etwas innerlich Unzulängliches, Einseitiges, Problematisches. Darin ist es begründet, daß sie diejenigen, die die ideellen Wurzeln z. B. der politischen Revolutionen sehen, und die sie mit sittlichen Erwartungen begrüßen und begleiten, so oft und so bitter enttäuscht. Ist es doch, wie gesagt, der sinnliche Mensch in all der Heftigkeit und Härte seines biologischen Wesens, der in ihr und durch sie die Stärke seines Glücksverlangens und seine Sehnsucht nach positivem Genuß und materieller Lust erfüllen möchte. RUDOLF STAMMLER weist, wie außer ihm manche anderen Soziologen, Rechtsphilosophen, Historiker, darauf hin, daß aus einer Revolution neues Recht hervorgeht.
(Die Autonomie des Geistes) Jener naturhafte, biologische Autonomismus stellt doch eben nur die eine Seite der umfassenden und tiefen Autonomie dar, auf die die Revolutionen sich berufen. Der Kampf, den sie gegen die geschichtlich bedingte Anhäufung und Festsetzung bestimmter Werte führen, erfolgt bekanntlich auch unter dem Schlachtruf der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Vernunft. In ihm kommt jene Form der Autonomie zum Ausdruck, die man im Gegensatz zu der soeben berührten naturalistischen die ideelle Autonomie der Revolutionen nennen könnte. Diese Autonomie bedeutet den Inbegriff all jener Forderungen, Bewegungen, Zielsetzungen, Unternehmungen, die sich auf die Gebiete der Wissenschaft, der Kunst, der Religion, des rechtlichen und des politischen Lebens, kurz des höheren geistigen Handelns in jeder Hinsicht beziehen. Sie stellt, mit einem Wort, nicht die Autonomie der sinnlichen Natur, sondern diejenige der Vernunft dar. Wie in der umfassenden Einheit der Vernunft alle einzelnen geistigen Funktionen und ihre konkreten Ausgestaltungen zu besonderen Gebieten der Kultur beschlossen sind, so bedeutet die Autonomie der Vernunft auch die Autonomie all dieser einzelnen Funktionen und Gebiete. Nun erscheinen die Selbständigkeit und Ursprünglichkeit dieser Gebiete dem Geist der Revolution gefährdet durch die geschichtliche Entwicklung, sie gelten ihr durch äußerliche und willkürliche Zutaten, durch eigenmächtige Bestimmungen und Verfassungseinrichtungen so belastet, so umgebogen, so ihrem menschheitlichen Sinn entfremdet, daß die Auflehung dagegen als sittliche Pflicht angesehen wird. Nicht die Souveränität des Willens, sondern die der Vernunft ist es, die gegen sie ins Spiel geführt wird. Die Revolutionen erfassen sich als notwendig, indem sie den Primat der Vernunft gegenüber der Geschichte zu vertreten unternehmen. Daraus wächst ihnen eine andere, tiefere Beglaubigung und Rechtfertigung zu als durch die Berufung auf den naturhaften Willen und auf die elementaren Triebe und Instinkte des Lebens. Durch die Voranstellung und Ausrufung der Autonomie der Vernunft vermeint und erhofft, glaubt und fordert die Revolution einen Neubau von Grund aus aufführen zu können. Dieser Neubau bezieht sich nicht auf das bloße Leben und auf die sinnliche Befriedigung seiner naturhaften Bedürfnisse, wie das unter der Leitung des Willens der Fall ist, sondern auf die Kultur oder mit anderen Worten: auf die eigentliche Geschichte als den zeitlichen Vollzug der Einheit aller Kulturwerte. Wie die Revolution unter zwei Gesichtspunkten die Ausführung ihres Werkes unternimmt, so sind es auch gleichsam zwei verschiedene Wirklichkeiten oder zwei eigene Schichten der Wirklichkeit, an deren Neuerrichtung sie herantritt: das einfache Leben als solches, wie es sich in den primitiven Äußerungen von Hunger, Durst, Fortpflanzung und deren Sättigungen darstellt, und die Wirklichkeit der Kultur als Ganzes und in ihren Ausprägungen als Wissenschaft, Kunst, Religion, Staat, Gesellschaft, Recht, Sitte, Wirtschaft usw. Wohl macht sich in den einzelnen geschichtlichen Revolutionen bald mehr die eine, bald mehr die andere Tendenz zur Formung und Gestaltung der geschichtlichen Kultur geltend, es geschieht auch, daß sich eine Teilverbindung unter ihnen vollzieht: grundsätzlich aber und dem Begriff nach stützt und beruft sich die Revolution zugleich auch auf die umfassende Einheit der Vernunft überhaupt. Deren Primat und Autonomie sind ihr die inneren, sittlichen Grundlagen und Bürgschaften für das Recht, das sie für sich in Anspruch nimmt. Das an Revolutionen der verschiedenartigsten Gestalt so reiche 17. und 18. Jahrhundert bietet dafür ein deutliches Beispiel. Alle seine mannigfachen naturrechtlichen Konstruktionen und alle seine zahlreichen Versuche, dieselben zur Tat werden und sich praktisch bewähren zu lassen, die ganze "instauratio magna" [große Erneuerung - wp] um mit FRANCIS BACON zu sprechen, die es als seine ihm gleichsam von der Vorsehung gestellte Aufgabe betrachtet, die Bemühungen um begriffliche und praktische Neuschöpfung oder zumindest Umgestaltung der Wirklichkeit: alles das tut es im Namen der Vernunft. Überall der Versuch einer theoretischen Neubegründung und konkret-tatsächlichen Neuerzeugung möglichst aller Richtungen und Formen, Linien und Gebärden, Inhalte und Werte der Kultur aus der als ursprünglich angesehenen Kraft und Allmacht der Vernunft, aus ihrer als unbedingt gewerteten Spontaneität und ihrem als unantastbar betrachteten Primat. Denn auch da, wo eine Revolution des religiösen Lebens und Brauchs eintritt, und selbst da, wo eine solche Revolution auf geheimnisvolle, rein gefühlsgemäße und erlebnishafte Quellen des Lebens zurückgeht, wo wieder mystische Stimmungen und Gesinnungen im Gegensatz zu einer mehr rationalistischen Artung der Religion wach werden, beruft sich dieser Wandelt auf die Kräfte der Vernunft. Denn einmal ist die Vernunft nicht gleichbedeutend mit dem Verstand, indem ihrer umfassenden Einheit neben diesem noch alle anderen Kräfte und Betätigungen des Gemüts und Geistes innewohnen. Ferner aber ist die Religion der Vernunft nicht gleichbedeutend mit einer rationalistischen Religion. Die letztere ist der Ausdruck eines einseitigen Dogmatismus, dem die Religion als ein Inbegriff fester und verstandesmäßig begründeter und ableitbarer Regeln, meistens für ein Handeln im Sinne der durchschnittlichen oder bürgerlichen Moral, gilt. Die Religion der Vernunft dagegen ist in ihrem Begriff und Wesen ungleich tiefer und reicher, da sie alle Seiten und Züge des Gemüts, auch diejenigen mystischen Glaubens und Fühlens umfaßt und das religiöse Leben nicht nur auf die Befolgung der Formen der bürgerlichen Sittlichkeit abzweckt, sondern ihm alle Inhalte und Werte, alle Bewegungen und Bestände, alle Quellen und Ziele der Kultur zuspricht, also auch z. B. das Gebiet der Kunst. Aus der Berufung auf die Autonomie und Absolutheit der Vernunft ergibt sich demnach, daß den einzelnen Revolutionen oft auch ein künstlerischer, oft auch ein religiöser Zug und Schwung eigen ist, ja, daß sie geradezu künstlerische und religiöse Bedeutung und Tragweite in sich fassen. Und je nach dem besonderen Sinn, in dem zu einer bestimmten Zeit und unter bestimmten geschichtlichen Einschränkungen der Gesamtgehalt der Vernunft begriffen und ausgewertet wird, gewinnen die in den Wehen der Revolution hervortretenden Formen der Kunst oder der Religion bald diese, bald jene Gestalt. Wird in der Vernunft z. B. stärker das soziale Moment betont, erfaßt man als vernünftig das, was sich in den Beziehungen der Solidarität und der Gemeinschaft darstellt, so wird demzufolge auch die betreffende Stufe der Kunst oder der Religion mehr soziale Tendenzen und Züge in sich tragen. Dabei ist aber nie außer acht zu lassen, daß alle diese sozialen Tendenzen und Züge Verendlichungen der Unendlichkeit der Vernunft darstellen, daß sie nur besondere, zeitliche Formen der Ewigkeit derselben sind, daß sie nur eine ihrer geschichtlichen Gestalten bedeuten. Neben diesen, aus der Vernunftautonomie erwachsenden Teilfunktionen und Teilbedeutsamkeiten der Revolution gehört ihrem Wesen als weitere und besondere Vernunftform und Vernunftarbeit diejenige an, die man als ihre wissenschaftliche und wissenschaftlich-kritische Seite bezeichnen kann. Auch über diese hier nur wenige Worte, wie wir uns auch mit einigen knappen Andeutungen in Bezug auf die anderen begnügten. Die Revolution erfaßt es als eine ihrer ernstesten Verpflichtungen, die überkommenen Anschauungen, Überzeugungen, Erkenntnisse, Einrichtungen, Zustände einer rationalen Kritik zu unterziehen. Sie betrachtet diese als eines der wesentlichen Stücke der Instauratio magna. Der Geist der Kritik gehört zum Wesen des Rationalismus oder Intellektualismus als solchem. Schon indem ganz einfach, ganz schlicht, scheinbar ganz naiv die Entstehung und die Entwicklung der traditionellen Werte untersucht werden, erhebt sich die erste Stufe der Kritik. Denn es ist eine Voraussetzung für eine solche Untersuchung, daß sich der Mensch und sein Verstand von der naiven Hingabe an die geschichtlichen Tatsächlichkeiten, welcher Art auch immer diese sein mögen, befreit, daß er sich diesen Tatsächlichkeiten gegenüberstellt, sich - und eben darauf beruth seine Kritik - über sie stellt. Alle Kritik ist ein Ausdruck der Autonomie der Vernunft in der besonderen Gestalt der Autonomie des Verstandes. Die Vernunft macht sich als Kritik, d. h. hier als Verstand frei von der Hörigkeit unter die geschichtlichen Gegebenheiten und ihre Zusammenhänge. Bereits die bloß historisch gerichtete Betrachtung, die weiter nichts anstrebt, als den kausal-genetischen Verlauf irgendeiner Erscheinung zu erhellen, trägt in sich einen deutlichen Ansatz zur Kritik und in weiterer Folge daraus den zur Auflehnung, zumindest zur Berichtigung. Auch hier tritt uns wieder eine seltsame Paradoxie entgegen: Der Historismus kann sehr leicht zum Feind des Historischen werden, ja, er wird es in gewisser Weise mit Notwendigkeit. Die unermüdliche historische Betrachtung nimmt dem Geschichtlichen nicht selten seinen Glanz; sie führt auch oft zur Erkenntnis seiner Relativität und fördert dadurch ohne Frage den Vorgang seiner tatsächlichen Relativierung und Auflockerung. Es ist nur natürlich, und es trifft in der Welt der Tatsachen oft ein, daß der Besitzende mehr Gewicht auf den Genuß seines Eigentums und auf dessen Anerkennung durch andere legt als auf die Nachprüfung und Aufhellung des Weges, auf dem er zu ihm gelangt ist. Diejenigen, die an der Erhaltung und Sicherstellung des Bestehenden ein besonderes Interesse haben, könnten unter Umständen die wissenschaftliche Aufklärung von den breiten Massen des Volkes fernzuhalten suchen, da es nicht feststeht, wie das Volk eine gar zu weitgehende und allzu rückhaltlose Aufklärung aufnehmen, und welchen Gebrauch es von ihr machen wird. So ohne weiteres scheint es doch nicht ausgeschlossen, ob die historische Bildung neben allem, was sie an Wissen und an innerem Begreifen der Wirklichkeit liefert, nicht doch auch an der Revolutionierung der Geister mitbeteiligt ist, und ob nicht die tiefe Unruhe und Rastlosigkeit, die seit dem Abschluß der mittelalterlichen Kultur und der Einschränkung der für sie charakteristischen Denkweise in Europa herrschen, durch die starke geschichtlich gerichtete Betachtungsart mitbedingt ist. Ich hebe das nicht darum hervor, um gegen diese rationalistische Entwicklung des europäischen Geistes irgendetwas einzuwenden, sondern lediglich um auf diese Tatsache als solche hinzuweisen. Auch die geschichtlich gerichtete Untersuchungsart ist eine Form des Rationalismus, d. h. ein Ausdruck der Autonomie der Vernunft. Um geschichtliche Erscheinungen und ihre Zusammenhänge auch nur geschichtlich betrachten zu können, ist eine oft nicht geringe Loslösung und Entfernung von der Geschichte erforderlich, muß es dem Denken irgendwie möglich sein, aus den Relativitäten des geschichtlichen Lebens herauszutreten und einen "absoluten" Standpunkt einzunehmen. - Alle diese mannigfachen religiösen, künstlerischen, wissenschaftlichen Begründungen, Tendenzen und Abzweckungen der als Revolution zum Ausbruch gelangenden Autonomie der Vernunft sind jedoch nur Teilfunktionen und Teiläußerungen in der umfassenden, unbedingten Einheit der letzteren. Das Wesen, der metaphysische Sinn und Gehalt der Revolutionen spricht ich doch erst darin aus, daß diese Autonomie als Ganzes in der einheitlichen Fülle ihrer ganzen Kraft und Bedeutung zu grundsätzlich ungehinderter Geltung zu kommen sucht. Diese Geltung prägt sich in der Tendenz zur Schöpfung neuer Werte, in einem Bestreben um die Gewinnung neuer Kulturhöhen, in der Forderung um die Anknüpfung des äußeren Lebens und seines materiellen Verlaufs und Inhalts an jene ewigen Gründe und Gerechtsame aus, die allein der Erfahrung und ihren Werken die innere Beglaubigung zu erteilen vermögen. Daher kommt es, daß einen Augenblick lang die ganze Weite der sinnlichen und geschichtlichen Welt von der Revolution in Frage gestellt, gleichsam in die Luft gehoben zu werden scheint. Denn es liegt in ihrem Begriff, daß sie diese tatsächliche Welt nicht zu kennen oder zumindest geringzuschätzen neigt, daß sie deren Größe und Notwendigkeit zu übersehen oder vernachlässigen zu können meint. Dieser Radikalismus, der ihrem Sinn innewohnt, bedingt, was sich uns noch genauer erweisen wird, eine besondere Tragik und Dialektik der Revolution, die umso größer und unvermeidlicher sind, je reiner und entschiedener die Revolution die Erfüllung und Verwirklichung ihres Sinnes anstrebt. Grundsätzlich widerspricht sie der geschichtlichen Entwicklung, widerspricht sie den Leistungen und Einrichtungen derselben - aber dieser Widerspruch wird ihr selber zur Fußangel, zum Fallstrick, zum Verhängnis, denn die Wirklichkeit als solche stellt in vollem Umfang und in der vollen Tiefe ihres Wesens und ihres Bestandes die antinomische Verkettung von Absolutem und von Relativem dar. Und wer auch immer sich gegen dieses allgewaltige Gewebe aufbäumt, geschehe es von seiten des Absoluten oder vom Relativen her, der büßt es, indem er doch wieder rettungslos in den Zusammenhang jenes Gewebes eingeordnet wird. - Aber noch haben wir es nicht mit jener tragischen Problematik der Revolution zu tun. Sondern uns beschäftigen jetzt Art und Bedeutung der Autonomie der Vernunft als Ganzes in der Revolutione und für dieselbe. GOETHE weist durch Mephistos Mund auf jene Vernunft hin, die durch den schicksalsmäßigen Gang der geschichtlichen Entwicklung zum Unsinn wird, und er beklagt den Enkel, der sich nicht mehr im Besitz und Genuß desjenigen Rechtes befindet, das mit ihm geboren ist. In diesen Gedanken spricht sich nicht nur die Lebensstimmung und Lebensforderung des Klassizismus aus, sondern diejenige jeder Epoche der Kultur, die sich und ihre Werke auf die Autonomie der Vernunft stützt und stellt. Und das ist z. B. auch bei der Aufklärung der Fall. Denn was bedeuten diese Stimmung und Forderung? Im tiefsten Grund nichts anderes als dasjenige, was wir unter der Idee der Humanität verstehen und mit ihr bezeichnen. In ihrer Aufstellung und Berücksichtigung gewinnen die Bestrebungen und Absichten, die Beweggründe und Zielsetzungen der Revolutionen, insofern diese sich auf den Primat der Vernunft berufen, eine bestimmte Fassung und greifbare Gestalt. In ihr verdeutlicht sich die tiefere, sittliche Bedeutsamkeit, die die Revolution für sich in Anspruch nimmt. Ob mit uneingeschränktem Recht und mit welchem Gelingen, das bleibt eine Frage für sich. Jedenfalls erhebt sie sich dadurch über den Charakter einer bloßen naturhaften Empörung, bleibt sie kein Aufruhr animalischer Triebe und Begierden gegen das Herkommen und die eingesessene Ordnung. Sie ergänzt und vertieft dadurch nicht nur ihre biologisch-naturhafte Grundlage, sondern erst von jener Wurzel und Motivierung aus ist sie imstande, sich ein höheres Recht zu schaffen, ist sie innerlich befugt, als ein Wert in der Kultur und für dieselbe aufzutreten. Erst dadurch trägt sie außer ihrer naturhaften Notwendigkeit denjenigen Bedeutungsgehalt in sich, der als der Zug zur Gewinnung einer geschichtlichen Würde gelten kann. Und allein jener Zug fesselt an der Revolution auch diejenigen Menschen, die zu ihr keine wirtschaftlichen oder ökonomischen Beziehungen im eigentlichen Sinne unterhalten. In diesem, zur Erzeugung neuer Werte hindrängenden Zug soll also eine Gesamtbereicherung der Kultur erreicht werden. Und damit stellt sich die Revolution bewußt und absichtlich in den Dienst des geschichtlichen Fortschritts. Wieder bleibt dann noch zu entscheiden, ob oder in welchem Ausmaß sie tatsächlich diesen Fortschritt unterstützt, was sie wirklich dazu beiträgt, um durch sich allein die Kultur nicht nur auf eine andere, sondern auf eine höhere Stufe zu heben. Doch davon abgesehen, so lebt und kämpft in ihr eine durchaus optimistische Bewegung, die auf dem Glauben beruth, daß es doch irgendwie möglich sein soll, der Menschheit das ersehnte Heil zu bringen. Das braucht keineswegs immer ein irdisches Heil zu sein. Wo in einer Revolution, und das wird besonders bei einer religiösen der Fall sein, apokalyptische und Weltuntergangsgedanken eine bestimmte Rolle spielen, selbst da wird nur die diesseitige Ebene der Wirklichkeit verneint, während der Glaube die Erreichung einer anderen Welt als das positive Ziel des Kampfes aufstellt. So sehr auch die Revolution, gerade aus ihren sittlichen Quellen heraus, innerlich hohl Gewordenes zu stürzen sucht, so spricht sich ihre eigentliche Kraft und Tendenz doch nicht in jener Arbeit des Niederreißens aus, sondern in ihrer Begabung zu positiven Leistungen, in ihrem Gehalt an aufbauenden Ideen und in ihrer Fähigkeit zur wirkungsvollen Durchsetzung derselben. Aus der bloß naturhaften Autonomie ist keine im höheren Sinne schöpferische Arbeit, ist keine Erringung neuer Wertstufen abzuleiten; die Revolution bleibt alsdann nicht nur etwas Leeres,, sondern auch etwas im tieferen Verstand Wirkungsloses, etwas, das über das geschichtliche Leben nur wie ein Unwetter dahinrast, ohne ihm befruchtenden Regen zu schenken. |