G. LandauerLeninA. LiebertF. SanderE. LedererH. Arendt | ||||
(1854-1938) Die soziale Revolution
Vorwort Diese Vorträge wünschte der Verein dann im Druck herauszugeben. Dagegen hatte ich natürlich nichts einzuwenden, aber schon im Interesse der Verbreitung zog ich es vor, sie in einem deutschen Parteiverlag erscheinen zu lassen, wozu die in Frage kommenden holländischen Genossen gern zustimmten. Es ist kein Stenogramm der Vorträge, was hier gegeben wird. Ich habe bei der Niederschrift manchen Gedankengang eingefügt, den ich, um nicht allzulang zu werden, beim Vortrag weglassen mußte. Aber ich bin im Rahmen des Vortrags geblieben und habe kein Buch daraus gemacht. Der Zweck der Arbeit erhellt sich aus ihr selbst und bedarf hier keiner Auseinandersetzung. Einen besonderen Zweck erhielt sie allerdings für Holland dadurch, daß kurz vor meinen Vorträgen, die am 22. und 24. April dieses Jahres stattfanden, der gewesene Minister PIERSON in einer öffentlichen Versammlung die Behauptung aufgestellt und verfochten hat, eine proletarische Revolution müsse aus inneren Gründen notwendigerweise scheitern. Meine Vorträge bildeten eine direkte Antwort darauf. Der Herr Minister war auch so freundlich, dem zweiten beizuwohnen; er machte sich fleißig Notizen, ergriff aber leider nicht das Wort gegen mich. Außer allgemeinen und lokalen propagandistischen Gründen war es aber auch der vorwiegende akademische Charakter meines Publikums, der mich veranlaßte, das Thema der sozialen Revolution für die Vorträge vorzuschlagen. Sind doch die Akademiker diejenigen unter uns, die sich mit dem Gedanken der Revolution am schwersten anfreunden - zumindest in Deutschland. Allerdings in Holland scheint die Sache etwas anders zu liegen, und die Stimmung meines Publikums in Holland hat mich sehr angenehm überrascht. Meine Vorträge stießen auf gar keinen Widerspruch, nur auf Zustimmung. Ich hoffe, daß das nicht ausschließlich auf Rechnung der internationalen Höflichkeit zu setzen ist. Hat doch der Marxismus unter den Akademikern Hollands eine Reihe seiner tüchtigsten Vertreter. Ich kann mir nichts Besseres wünschen, als daß meine Ausführungen dieselbe Zustimmung bei den deutschen Genossen finden, die sie bei den holländischen gefunden haben. Den letzteren für die freundliche Aufnahme, die sie mir bereitet, an dieser Stelle nochmals aufs Beste zu danken, ist mir eine angenehme Pflicht. 1. Der Begriff der sozialen Revolution Es gibt wenige Begriffe, die so umstritten sind wie der der Revolution. Dies kann man zum Teil dem Umstand zuschreiben, daß keiner bestehenden Interessen und Vorurteilen zuwider ist wie dieser, zum Teil aber auch dem Umstand, daß wenige so vieldeutig sind wie er. Vorgänge lassen sich in der Regel nicht so scharf begrenzen, wie Dinge, namentlich nicht gesellschaftliche Vorgänge, die ungeheuer verwickelt sind und immer verwickelter werden, je weiter die Gesellschaft fortschreitet, das heißt, je mannigfaltiger die Formen des Zusammenwirkens der Menschen werden. Und zu den verwickeltsten Vorgängen gehört der einer sozialen Revolution, das heißt, einer völligen Umwälzung der überkommenen Formen des Zusammenwirkens der Menschen. Kein Wunder, daß dieses Wort, das Jeder gebraucht, fast von Jedem in einem anderen Sinn, von Demselben zu verschiedenen Zeiten in verschiedenem Sinn gebraucht wird. Die Einen verstehen darunter Barrikaden, das Niederbrennen von Schlössern, Guillotinen, Septembermorde, die Vereinigung aller denkbaren Scheußlichkeiten. Andere möchten dem Wort jeden Stachel nehmen und es nur im Sinne großer, aber unmerkbarer, friedlicher Umgestaltungen der Gesellschaft betrachten, wie etwa jene, welche durch die Entdeckung Amerikas oder durch die Erfindung der Dampfmaschine erzeugt wurden. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es noch mannigfache Zwischenstufen. MARX bezeichnet in seiner Vorrede zur "Kritik der politischen Ökonomie" als soziale Revolution die langsamer oder raschere Umwälzung des ganzen ungeheuren juristischen und politischen Überbaus der Gesellschaft, die aus der Veränderung ihrer ökonomischen Grundlagen hervorgeht. Halten wir an dieser Definition fest, so scheidet aus dem Begriff der sozialen Revolution von vornherein die "Veränderung der ökonomischen Grundlagen" aus, wie sie etwa die Dampfmaschine oder die Entdeckung Amerikas hervorbrachte. Diese Veränderung ist die Ursache der Revolution, nicht die Revolution selbst. Aber bei dieser Definition der sozialen Revolution möchte ich nicht stehen bleiben. Man kann sie auch in einem engeren Sinn fassen. Dann bedeutet nicht jede Umwälzung des juristischen und politischen Überbaus der Gesellschaft eine Revolution, sondern es ist eine besondere Form oder eine besondere Methode der Umwälzung, die man darunter versteht. Jeder Sozialist strebt die soziale Revolution im weiteren Sinn an, und doch gibt es Sozialisten, welche die Revolution verwerfen und die soziale Umwälzung nur durch die Reform erreichen wollen. Man setzt der sozialen Revolution die soziale Reform entgegen. Dieser Gegensatz ist es, der heute in unseren Reihen diskutiert wird. Nur von der sozialen Revolution in diesem engeren Sinn, als besonderer Methode der sozialen Umwälzung, will ich hier handeln. Der Gegensatz zwischen Reform und Revolution liegt nicht darin, daß im einen Fall Gewalt angewendet wird, im anderen nicht. Jede juristische und politische Maßregel ist eine Gewaltmaßregel, die durch die Gewalt des Staates durchgesetzt wird. Auch besondere Arten der Gewaltanwendung - Straßenkämpfe oder Hinrichtungen - bilden nicht das Wesentliche einer Revolution im Gegensatz zur Reform. Sie entspringen besonderen Umständen, sind nicht notwendig mit einer Revolution verbunden und können Reformbewegungen begleiten. Die Konstituierung der Abgeordneten des dritten Standes als Nationalversammlung Frankreichs am 17. Juni 1789 war eine eminent revolutionäre Tat ohne jede äußerliche Gewalttätigkeit. Dasselbe Frankreich hatte dagegen 1774 und 1775 große Insurrektionen [Aufstände - wp] gesehen, zu dem einzigen, keineswegs revolutionären Zweck, eine Brotsteuer zu erreichen, die der Brotteuerung ein Ende machen sollte! Der Hinweis auf die Straßenkämpfe und Hinrichtungen als Merkmale der Revolution ist aber zugleich ein Hinweis auf die Quelle, aus der wir uns eine Belehrung über das Wesen der Revolution holen können. Die große Umwälzung, die in Frankreich 1789 begann, ist der klassische Typus jeder Revolution geworden. Sie hat man vor allem im Auge, wenn man von Revolutionen spricht. An ihr können wir das Wesen der Revolution und auch ihren Gegensatz zur Reform am besten studieren. Der Revolution war eine Reihe von Reformversuchen vorhergegangen, darunter am bekanntesten die TURGOTs, Versuche, die in vieler Beziehung dasselbe anstrebten, was dann die Revolution durchführte. Was unterschied die Reformen TURGOTs von den entsprechenden Maßregeln der Revolution? Zwischen beiden lag die Eroberung der politischen Macht durch eine neue Klasse. Darin liegt der wesentliche Unterschied zwischen Revolution und Reform. Maßregeln, die dahin streben, den juristischen und politischen Überbau der Gesellschaft den veränderten ökonomischen Bedingungen anzupassen, sind Reformen, wenn sie von den Klassen ausgehen, die bis dahin die Gesellschaft politisch und ökonomisch beherrscht haben - sie sind Reformen, auch wenn sie nicht freiwillig gegeben, sondern durch das Andrängen der beherrschten Klassen oder durch die Macht der Umstände abgerungen werden -; dagegen sind derartige Maßregeln Ausflüsse einer Revolution, wenn sie von einer Klasse ausgehen, die bisher ökonomisch und politisch unterdrückt gewesen und die nun die politische Macht erobert hat, welche sie in ihrem eigenen Interesse notwendigerweise dazu benutzen muß, den ganzen politischen und juristischen Überbau langsamer oder schneller umzuwälzen und neue Formen des gesellschaftlichen Zusammenwirkens zu schaffen. Die Eroberung der Staatsgewalt durch eine bis dahin unterdrückte Klasse, also die politische Revolution, ist demnach ein wesentliches Merkmal der sozialen Revolution im engeren Sinne, im Gegensatz zur sozialen Reform. Wer die politische Revolution als Mittel der sozialen Umwälzung prinzipiell abweist oder diese auf solche Maßregeln beschränken will, die von den herrschenden Klassen zu erlangen sind, der ist ein Sozialreformer, wie sehr auch sein gesellschaftliches Ideal der bestehenden Gesellschaftsfrom entgegengesetzt sein mag. Dagegen ist jeder ein Revolutionär, der dahin strebt, daß eine bisher unterdrückte Klasse die Staatsgewalt erobert. Er verliert diesen Charakter nicht, wenn er diese Eroberung durch soziale Reformen, die er den herrschenden Klassen abzuringen sucht, vorbereiten und beschleunigen will. Nicht das Streben nach sozialen Reformen, sondern die ausgesprochene Beschränkung auf sie unterscheidet den Sozialreformer vom Sozialrevolutionär. Andererseit wird nur jene politische Revolution zu einer sozialen Revolution, die von einer bisher gesellschaftlich unterdrückten Klasse ausgeht, welche gezwungen ist, ihre politische Emanzipation durch ihre soziale zu vollenden, da ihre bisherige gesellschaftliche Stellung in einem unvereinbaren Gegensatz steht zu ihrer politischen Herrschaft. Ein Zwist innerhalb der herrschenden Klassen, er mag noch so sehr die gewalttätigsten Formen eine Bürgerkrieges annehmen, ist keine soziale Revolution. Nur von der sozialen Revolution in dem hier entwickelten Sinn soll im Folgenden gehandelt werden. Eine soziale Reform kann mit den Interessen der herrschenden Klassen sehr wohl verträglich sein, sie läßt sicher für den Moment ihre gesellschaftliche Machtstellung unangetastet und kann unter Umständen diese sogar noch verstärken. Eine soziale Revolution ist dagegen von vornherein unvereinbar mit den Interessen der herrschenden Klassen, da sie unter allen Umständen die Vernichtung ihrer Machtstellung bedeutet. Kein Wunder, daß die jeweilig herrschenden Klassen die Revolution stets verlästerten und brandmarkten und, wenn sie einmal ihre Stellung bedroht glaubten, der Idee der sozialen Revolution die der sozialen Reform entgegenstellten, die sie in den Himmel erhoben. Freilich sehr oft, ohne sie zur irdischen Tat werden zu lassen. Die Argumente gegen die Revolution entnahm man den jeweilig herrschenden Denkformen. Solange das Christentum das Denken der Menschen beherrschte, verwarf man sie als sündhafte Auflehnung gegen die von Gott eingesetzte Obrigkeit. Im neuen Testament fand man genügend Beweisstellen dafür, da es in der römischen Kaiserzeit entstanden war, während einer Epoche, in der jede Auflehnung gegen die herrschenden Machthaber hoffnungslos schien und alles selbständige politische Leben aufgehört hatte. Die revolutionären Klassen antworteten freilich mit Beweisstellen aus dem alten Testament, in dem vielfach noch der Geist einer urwüchsigen bäuerlichen Demokratie lebt. Als dann die theologische Denkweise durch die juristische ersetzt wurde, definierte man die Revolution als gewaltsamen Bruch der bestehenden Rechtsordnung. Niemand aber könne ein Recht auf Verletzung des Rechts haben, ein Recht auf Revolution sei also eine Absurdität, die Revolution in jedem Fall ein Unrecht. Aber die Vertreter der aufstrebenden Klassen setzten dem bestehenden, historisch gewordenen Recht das von ihnen angestrebte Recht als ewiges Vernunft- und Naturrecht, als unveräußerliches Menschenrecht entgegen. Die Wiedervereinigung dieses letzteren Rechts, das offenbar nur durch Rechtsbrüche verlorengegangen sein konnte, war aber unmöglich selbst ein Rechtsbruch, auch wenn sie durch eine Revolution erfolgte. Heute verfangen die theologischen Schlagworte nicht mehr, am allerwenigsten bei den revolutionären Volksschichten. Aber auch der Hinweis auf das historische Recht hat an Kraft eingebüßt. Der revolutionäre Ursprung des heutigen Rechts und der heutigen Regierungen ist dann doch zu jung, als daß man für sie die Legitimität anrufen könnte. Nicht nur die Regierungen Frankreichs, sondern auch die Dynastien Italiens, Spaniens, Bulgariens, Englands, Hollands sind revolutionären Ursprungs; die Könige von Bayern und Württemberg, die Großherzoge von Baden und Hessen verdanken nicht bloß ihre Titel, sondern auch erhebliche Stücke ihres Gebietes der Protektion des revolutionären Parvenu NAPOLEON, die Hohenzollern sind auf Trümmern von Thronen zu ihrer jetzigen Stellung gelangt, und selbst die Habsburger haben vor der Revolution der Ungarn ihre Verbeugung gemacht. Der 1852 in effigie [symbolisch - wp] gehängte Hochverräter ANDRASSY wurde 1867 kaiserlicher Minister, ohne den Ideen der nationalen ungarischen Revolution von 1848 untreu geworden zu sein. Die Bourgeoisie selbst war an allen diesen Durchbrechungen des historischen Rechts lebhaft beteiligt. Sie konnte also nicht gut mehr, einmal zur herrschenden Klasse geworde, im Namen dieses Rechts die Revolution verurteilen, wenn auch ihre Rechtsphilosophie ihr Möglichstes tat, Naturrecht und historisches Recht" miteinander zu versöhnen. Sie mußte wirksamere Argumente zur Brandmarkung der Revolution suchen, und sie fand sie in der neuen, mit ihr aufgekommenen Denkweise, der naturwissenschaftlichen. Solange die Bourgeoisie revolutionär war, herrschten auch in der Naturwissenschaft (Geologie und Biologie) die Katastrophentheorien, die von der Anschauung ausgingen, die Entwicklung der Natur gehe in plötzlichen, großen Sprüngen vor sich. Als die bürgerliche Revolution vollendet war, trat anstelle der Katastrophentheorien die Anschauung von der allmählichen, unmerklichen Entwicklung, die aus der Häufung unzähliger kleiner Fortschritte und Anpassungen im Konkurrenzkampf hervorgeht. Der revolutionären Bourgeoisie war der Gedanke an Katastrophen auch in der der Natur sehr nahe gelegen, der konservativen Bourgeoisie erschien dieser Gedanke unvernünftig und unnatürlich. Ich will natürlich nicht behaupten, es seien die Naturforscher bei ihren jedesmaligen Theorien durch die politischen und sozialen Bedürfnisse der Bourgeoisie bestimmt worden. Gerade die Vertreter der Katastrophentheorien waren mitunter recht reaktionär und nichts weniger als revolutionär gesinnt. Aber Jeder wird unwillkürlich von der Denkart der Klasse beeinflußt, in der er lebt und Jeder trägt etwas von ihr in seine wissenschaftlichen Anschauungen hinein. Bei DARWIN wissen wir es positiv, daß seine naturwissenschaftlichen Hypothesen durch die ökonomischen Anschauungen von MALTHUS, dieses entschiedenen Gegners der Revolution, sehr beeinflußt wurden. Es ist wohl auch nicht zufällig, daß die Theorien der Evolution England (LYELL, DARWIN) entstammten, dem Land, dessen Geschichte seit 250 Jahren nur revolutionäre Ansätze zeigt, denen die herrschenden Klassen stets rechtzeitig die Spitze abzubrechen wissen. Für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Anschauungen beweist ihr Bedingtsein durch die Stimmung der Klassen, denen sie entstammt, natürlich nichts. Wohl aber hängt von dieser Stimmung ihr historischer Erfolg ab. Wenn die neuen Theorien der Entwicklung rasch von weiten Volkskreisen begeistert aufgenommen wurden, die absolut keine Möglichkeit hatten, sie zu prüfen, so rührt das daher, daß sie tiefempfundenen Bedürfnissen derselben entsprachen. Auf der einen Seite - und dies machte sie auch den revolutionären Schichten wertvoll - beseitigten sie viel gründlicher als die alten Katastrophentheorien [sander] jede Notwendigkeit der Anerkennung einer übernatürlichen Macht, die durch Schöpfungsakte die Welt nach und nach hervorruft; auf der anderen Seite, und dadurch gefielen sie am meisten der Bourgeoisie, erklärten sie jede Revolution, jede Katastrophe, für etwas Unnatürliches, den Naturgesetzen Widersprechendes, also auch Unvernünftiges. Wer heute die Revolution wissenschaftlich bekämpfen will, tut es im Namen der naturwissenschaftlichen Theorie der Evolution, die dartut, daß die Natur keine Sprünge kennt, daß jede plötzliche Änderung der sozialen Verhältnisse unmöglich ist, daß der Fortschritt nur vor sich gehen kann auf dem Weg der Summierung kleinster Abänderungen und Verbesserungen, in der Gesellschaft Sozialreformen genannt. Die Revolution ist, von diesem Standpunkt aus betrachtet, ein unwissenschaftlicher Begriff, über den wissenschaftlich gebildete Leute nur noch die Achsel zucken. Darauf könnte man erwidern, daß es doch nicht angeht, gesellschaftliche und natürliche Vorgänge ohne Weiteres einander gleichzusetzen. Unbewußt wird freilich unsere Auffassung der einen wie auch der anderen beeinflussen, wie wir eben gesehen haben, das ist aber gerade kein Vorteil, und wir haben jede direkte Übertragung von Gesetzen des einen Gebietes auf das andere nicht bewußt zu fördern, sondern vielmehr einzuengen. Sicher kann und wird jeder Fortschritt in den Beobachtungsmethoden und in der Einsicht auf dem einen Gebiet auch unsere Methoden und Einsichten auf dem anderen fördern, aber ebenso sicher unterliegt jedes dieser Gebiete auch eigenartigen Gesetzen, die für die anderen nicht gelten. Schon die leblose und die belebte Natur hat man streng zu scheiden und es wird niemandem einfallen, auf äußerliche Ähnlichkeiten hin ein Gesetz, das für das eine dieser Gebiete gilt, ohne Weiteres auf das andere übertragen, etwa die Probleme der geschlechtlichen Fortpflanzung und Vererbung einfach durch die Anwendung der Gesetze der chemischen Verbindungen lösen zu wollen. Den gleichen Fehler begeht man aber, wenn man natürliche Gesetze direkt auf die Gesellschaft anwendet, etwa die Konkurrenz unter Berufung auf den Kampf ums Dasein für eine natürliche Notwendigkeit erklärt oder aus den Gesetzen der natürlichen Evolution die Vewerflichkeit oder Unmöglichkeit der gesellschaftlichen Revolution ableitet. Man könnte aber noch mehr erwidern. Sind auch die alten Katastrophentheorien in der Naturwissenschaft für immer dahin, so finden doch auch die neuen Theorien, welche die Evolution bloß durch eine Häufung kleinster, unmerklicher Veränderungen vor sich gehen lassen, immer stärkeren Widerspruch. Auf der einen Seite wächst die Neigung zu quietistischen Theorien, zu konservativen Theorien, die selbst die Evolution auf ein Mindestmaß reduzieren, auf der anderen Seite zwingen die Tatsachen dazu, den Katastrophen wieder einen größeren Platz in der natürlichen Entwicklung einzuräumen. Dies gilt sowohl für LYELLs Theorien der geologischen, wie für die DARWINs der organischen Evolution. Eine Art Synthese der alten Katastrophentheorien mit den neueren Evolutionstheorien tritt ein, ähnlich der Synthese, die sie im Marxismus gefunden hat. So wie dieser unterscheidet zwischen langsamer ökonomischer Entwicklung und rascherer Umwälzung des juristischen und politischen Überbaus, so erkennen manche neueren und geologischen Theorien neben der langsamen Häufung von kleinen und kleinsten Veränderungen auch plötzliche, weitgehende Formänderungen, Katastrophen an, die aus den ersteren hervorgehen. Ein merkwürdiges Beispiel dieser Art sind die Beobachtungen, die de VRIES auf dem letzten Naturforschertag in Hamburg mitteilte. Er hatte gefunden, daß die Arten der Pflanzen und Tiere lange unverändert bleiben; die einen gehen schließlich unter, wenn sie alt geworden sind und nicht mehr den Lebensverhältnissen genügen, die sich inzwischen geändert haben. Andere Arten sind glücklicher, explodieren plötzlich, wie er selbst sich ausdrückt, um zahlreichen neuen Formen das Leben zu geben, von denen einige sich behaupten und vermehren, andere, die den Lebensbedingungen nicht entsprechen, untergehen. Ich habe nicht die Absicht, aus diesen neuen Beobachtungen einen Schluß zugunsten der Revolution zu ziehen; das hieße in denselben Fehler zu verfallen wie diejenigen, die aus der Evolutionstheorie die Verwerflichkeit der Revolution ableiten. Aber zumindest beweisen die erwähnten Beobachtungen, daß die Naturforscher selbst über die Rolle der Katastrophen in der Entwicklung der Erde und der Organismen nicht einig sind, daß es also schon aus diesem Grund verfehlt wäre, aus irgendeiner ihrer Hypothesen unbesehen Schlüsse auf die Rolle der Revolution in der gesellschaftlichen Entwicklung ableiten zu wollen. Will man aber dies trotz all dem tun, dann können wir mit einem sehr populären, allgemein bekannten Beispiel entgegnen, das sinnenfällig beweist, daß auch die Natur Sprünge macht: ich meine den Vorgang der Geburt. Der Geburtsakt ist ein Sprung. Mit einem Schlag wird jetzt aus einem Fötus, der ein Teil des mütterlichen Organismus ist, seine Blutzirkulation teilt, von ihm ernährt wird, keine Atmung kennt, ein selbständiges menschliches Wesen mit eigener Blutzirkulation, das atmet und schreit, seine eigene Nahrung aufnimmt und durch den Darm ausscheidet. Die Analogie zwischen Geburt und Revolution bezieht sich aber nicht bloß auf das Sprunghafte dieses Vorgangs. Wenn wir näher zusehen, so finden wir, daß diese sprunghafte Umwandlung bei der Geburt beschränkt ist auf die Funktionen. Die Organe entwickeln sich nur langsam und erst auf einer gewissen Höhe der Entwicklung wird jener Sprung möglich, der plötzlich ihre neuen Funktionen auslöst. Geschieht der Sprung, ehe diese Höhe der Entwicklung erreicht ist, so ist das Resultat nicht der Beginn neuer Funktionen der Organe, sondern das Aufhören aller Funktionen, der Tod des Geschöpfs. Andererseits könnte die langsame Entwicklung der Organe im Mutterlei noch so lange vor sich gehen, sie könnten nie ihre neuen Funktionen beginnen ohne den revolutionären Akt der Geburt. Auf einer gewissen Höhe der Entwicklung der Organe wird dieser unvermeidlich. Dasselbe finden wir in der Gesellschaft. Auch hier sind die Revolutionen das Resultat langsamer allmählicher Entwicklungen (Evolutionen). Auch hier sind es gesellschaftliche Organe, die sich langsam entwickeln. Was plötzlich, mit einem Schlag, revolutionär geändert werden kann, sind ihre Funktionen. Das Eisenbahnwesen hat sich nur langsam entwickelt. Dagegen kann man eine Eisenbahn mit einem Schlag aus einem kapitalistisch funktionierenden, der Bereicherung einer Anzahl Kapitalisten dienenden, in ein sozialistisch funktionierendes, ausschließlich dem Gemeinwohl dienendes Unternehmen verwandeln. Und so wie bei der Geburt sämtliche Funktionen des Kindes gleichzeitig revolutioniert werden - Blutkreislauf, Atmung, Verdauung -, so müssen auch alle Funktionen der Eisenbahn gleichzeitig mit einem Schlag revolutioniert werden, denn sie hängen alle auf das Innigste miteinander zusammen. Man kann nicht diese Funktionen nacheinander, stufenweise verstaatlichen, etwa heute die Funktionen der Lokomotivführer und Heizer, einige Jahre später die der Bahnwächter, wieder einige Jahre später die der Kassierer und Buchhalter usw. Das liegt bei einer Eisenbahn klar zutage, aber nicht minder widersinnig wie die stufenweise Sozialisierung der verschiedenen Funktionen einer Eisenbahn ist die eines Ministeriums in einem zentralisierten Staat. Ein solches ist auch ein einheitlicher Organismus, dessen Organe zusammenwirken müssen, die Funktionen des einen lassen sich nicht ändern, ohne daß die aller anderen sich ändern. Die Idee der schrittweisen Eroberung der einzelnen Abteilungen eines Ministeriums durch die Sozialdemokratie ist nicht weniger sonderbar, als es ein Versuch wäre, den Geburtsakt in mehrere etwa monatsweise aufeinanderfolgende Geburtsakte zu zerlegen, in deren jedem ein besonderes Organ aus dem Zustand des Fötus in den des selbständigen Kindes gebracht wird und dabei das Kind an der mütterlichen Nabelschnur zu lassen, bis es gehen und sprechen gelernt hat. Können aber eine Eisenbahn oder ein Ministerium nicht nach und nach, sondern nur mit einem Schlag und in allen ihren Organen gleichzeitig von einem kapitalistischen zu sozialistischen Funktionieren gebracht, aus Organen des Kapitals in Organe der Arbeiterklasse verwandelt werden, so ist das doch nur möglich auf einer gewissen Höhe der Entwicklung der gesamten gesellschaftlichen Organe, wobei sich freilich in der Gesellschaft nicht wie im mütterlichen Organismus wissenschaftlich feststellen läßt, wann der nötige Reifegrad erreicht ist. Andererseits bedeutet aber der Geburtsakt nicht den Abschluß der Entwicklung der menschlichen Organe, sondern den Anfang einer neue Epoche des Entwickelns. Das Kind kommt jetzt in neue Verhältnisse, in denen sich neue Organe bilden, die schon vorhandenen in besonderer Richtung sich weiter vervollkommnen. Im Mund wachsen die Zähne, die Augen lernen sehen, die Hände greifen, die Beine gehen, der Mund sprechen usw. So kann auch eine soziale Revolution nicht den Abschluß der sozialen Entwicklung, sondern nur den Beginn einer neuen darstellen. Eine sozialistische Revolution kann mit einem Schlag eine Fabrik aus kapitalistischem in gesellschaftliches Eigentum überführen. Aber nur stufenweise im Laufe einer allmählich fortschreitenen Entwicklung könnte man eine Fabrik aus einem Ort monotoner abstoßender Zwangsarbeit in eine anziehende Stätte der freudigen Betätigung lebensfroher Menschen umwandeln. Eine sozialistische Revolution könnte auch mit einem Schlag die vorhandenen landwirtschaftlichen Großbetriebe in gesellschaftliches Eigentum verwandeln. Wo dagegen der landwirtschaftliche Kleinbetrieb herrscht, da müssen die Organe gesellschaftlicher, sozialistischer Produktion in der Landwirtschaft erst geschaffen werden, und das kann nur das Ergebnis einer langsamen Entwicklung sein. Wir sehen, die Analogie zwischen Geburt und Revolution ist eine ziemlich weitgehende. Aber das beweist natürlich nur, daß man Unrecht hat, mit der Berufung auf die Natur die soziale Revolution als etwas notwendigerweise Unvernünftiges und Unnatürliches hinzustellen. Wir haben aber, wie schon gesagt, nicht das Recht, aus Vorgängen der Natur direkte Schlüsse auf gesellschaftliche Vorgänge zu ziehen. Wir haben also kein Recht, weiter zu gehen und aufgrund dieser Analogie zu schließen: wie jedes tierische Wesen einmal eine Katastrophe durchmachen muß, um auf eine höhere Entwicklungsstufe zu gelangen (den Geburtsakt oder das Durchbrechen des Eies), so kann auch eine Gesellschaft nur durch eine Katastrophe auf eine höhere Entwicklungsstufe gehoben werden. und Mittelalter Zu einem Schluß darüber, ob die Revolution eine Notwendigkeit ist oder nicht, können wir nur kommen aufgrund der Untersuchung der Tatsachen des gesellschaftlichen Entwicklungsganges und nicht durch naturgeschichtliche Analogien. Man braucht aber bloß einen Blick auf diesen Entwicklungsgang zu werfen, um zu sehen, daß die soziale Revolution in unserem hier angenommenen engeren Sinn keine notwendige Konsequenz jeder sozialen Entwicklung ist. Es gab eine gesellschaftliche Entwicklung, und zwar eine sehr weitgehende, schon vor dem Aufkommen der Klassengegensätze und der politischen Macht. In diesem Stadium war aber selbstverständlich eine Eroberung der politischen Macht durch eine unterdrückte Klasse, also eine soziale Revolution, nicht möglich. Aber auch als Klassengegensätze und eine Staatsgewalt sich gebildet hatten, finden wir noch lange nichts, was unserem Begriff der sozialen Revolution vollkommen entspricht, weder im Altertum noch im Mittelalter. Wohl finden wir erbitterte Klassenkämpfe, Bürgerkriege, politische Katastrophen in Hülle und Fülle, aber wir finden nicht, daß irgendeine dieser Katastrophen eine dauernde und durchgreifende Neuerung in den Eigentumsverhältnissen und damit eine neue Gesellschaftsform herbeiführt. Die Gründe dafür suche ich in Folgendem: Im Altertum und auch im Mittelalter lag der Schwerpunkt des ökonomischen und politischen Lebens in der Gemeinde. Jede Gemeinde bildete eine sich in allen wesentlichen Punkten selbst genügende Gemeinschaft, die nur durch lockere Bande mit der Außenwelt verknüpft war. Große Staaten waren nur Konglomerate von Gemeinden, die entweder durch eine Dynastie oder durch eine die anderen beherrschende und ausbeutende Gemeinde zusammengehalten wurden. Jede Gemeinde hatte ihre besondere ökonomische Entwicklung, die ihren eigentümlichen lokalen Verhältnissen entsprach, und dementsprechend auch ihre besonderen Klassenkämpfe. Die politischen Revolutionen jener Zeiten waren also zunächst nur kommunale Revolutionen, es war von vornherein unmöglich, das ganze gesellschaftliche Leben eines größeren Gebietes durch eine politische Revolution umzuwälzen. Je geringer die Zahl der Individuen in einer gesellschaftlichen Bewegung, je weniger diese eine Massenbewegung war, desto weniger kommt in ihr das Allgemeine, Gesetzmäßige, zum Vorschein, desto mehr überwiegt in ihr das Zufällige und Persönliche. Das mußte die Verschiedenartigkeit der Klassenkämpfe in den verschiedenen Gemeinden noch steigern. Weil aber im Klassenkampf keine Massenerscheinungen auftraten, weil das Gesetzmäßige und Allgemeine durch das Zufällige und Persönliche verdeckt wurde, konnte es auch keine tiefere Erkenntnis der gesellschaftlichen Ursachen und Ziele der Klassenbewegungen geben. So Großes und auch die Philosophie der Griechen geschaffen hatte, der Begriff der wissenschaftlichen Nationalökonomie blieb ihr fremd. ARISTOTELES lieferte nur Ansätze zu einer solchen; was die Griechen und Römer sonst auf ökonomischem Gebiet leisteten, waren Anleitungen zum praktischen Wirtschafts-, namentlich Landwirtschaftsbetrieb, wie sie XENOPHON und VARRO verfaßten. Blieben aber die tieferen gesellschaftlichen Ursachen der Lage der einzelnen Klassen verborgen und wurden sie verdeckt durch das Wirken einzelner Personen und durch lokale Zufälligkeiten, dann war es nicht zu verwundern, daß auch die unterdrückten Klassen, sobald sie einmal die politische Gewalt eroberten, diese vor allem zur Beseitigung einzelner Personen und einzelner lokaler Einrichtungen benutzten und nicht dazu kamen, eine neue Gesellschaftsordnung zu begründen. Die wichtigste Ursache aber, die derartigen revolutionären Bestrebungen im Weg stand, war die Langsamkeit der ökonomischen Entwicklung. Sie ging unmerklich vor sich; Bauern und Handwerker arbeiteten so, wie sie es von Großvaters und Urgroßvaters Zeiten her gewohnt waren; das Alte, das Bewährte, war das Vollkommene und Gediegene. Auch wo man Neues anstrebte, suchte man sich und den Anderen einzureden, es bedeute eine Rückkehr zu dem schon vergessenen Alten. Die Fortschritte der Technik erzeugten nicht das Bedürfnis nach neuen Eigentumsformen, denn sie bestanden nur in einer fortschreitenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung, in der Teilung eines Gewerbes in mehrere; aber in jedem der neuen Gewerbe wurde handwerksmäßig, wie in den alten produziert, waren die Produktionsmittel geringfügig und blieb die Handgeschicklichkeit entscheidend. Wohl finden wir neben Bauern und Handwerkern Großbetriebe - in den letzten Zeiten des Altertums auch industrielle -, aber sie werden mit Sklaven betrieben, die außerhalb des Gemeinwesens stehen, wie Fremde. Es sind nur Luxusbetriebe, die keine besondere wirtschaftliche Kraft entfalten können - außer vorübergehend in Zeiten größerer Kriege, welche die Bauernschaft schwächen und das Sklavenmaterial billig machen. Eine höhere Wirtschaftsform und ein neues soziales Ideal kann aus der Sklavenwirtschaft nicht entstehen. Die einzigen Formen des Kapitals, die sich Altertumd Mittelalter entwickeln, sind Wucher- und Handelskapital. Beide können zeitweise rasche wirtschaftliche Änderungen herbeiführen. Aber das Handelskapital konnte auch nur die Spaltungen der alten Gewerbe in zahlreichere neue und den Fortschritt des Großbetriebes mit Sklavenarbeit fördern; das Wucherkapital wirkte bloß verkümmernd auf die vorhandenen Produktionsformen ein, ohne neue zu schaffen. Der Kampf gegen das Wucherkapital und gegen den landwirtschaftlichen Großbetrieb durch Sklaven verursachen zeitweise politische Kämpfe, die den sozialen Revolutionen unserer Zeit ähnlich sehen. Aber ihr Ziel ist stets nur die Wiederherstellung früherer Zustände, nicht eine gesellschaftliche Neuerung. Dies war der Fall in der Schuldentilgung (Seisachtheia), die SOLON für die attischen Bauern durchführte, oder in den Bewegungen der römischen Bauern und Proletarier, die von den beiden Gracchen ihren Namen erhielten. Zu allen diesen Ursachen - Langsamkeit der ökonomischen Entwicklung, Mangel an Erkenntnis der tieferen gesellschaftlichen Zusammenhänge, Zersplitterung des politischen Lebens in zahlreichen verschiedenartigen Gemeinden, gesellte sich im klassischen Altertum und vielfach auch im Mittelalter noch der Umstand, daß die Machtmittel zur Niederhaltung aufsteigender Klassen verhältnismäßig geringfügig waren. Eine Bürokratie gab es nicht, zumindest nicht dort, wo noch reges politisches Leben herrschte und die Klassenkämpfe aufs Kraftvollste gekämpft wurden. In der römischen Welt z. B. entwickelte sich die Bürokratie erst in der Kaiserzeit. Die Verhältnisse im Innern der einzelnen Gemeinden sowie in ihrem Verkehr untereinander waren einfache, leicht zu übersehende, die ein besonderes Fachwissen nicht voraussetzten. Die herrschenden Klassen konnten die zur Staatsverwaltung nötigen Männer leicht aus ihrer Mitte stellen, umsomehr, da damals Herrschaft auch Muße brachte, die benutzt wurde zu künstlerischer, philosophischer, politischer Betätigung. Die herrschenden Klassen herrschten nicht bloß, sie regierten auch. Auf der anderen Seite war die Volksmasse nicht völlig wehrlos. Gerade in den besten Zeiten des klassischen Altertums herrschte das Milizsystem, war jeder Staatsbürger wehrhaft. Unter diesen Umständen genügte oft eine geringe Verschiebung in den Machtverhältnissen der Klassen, um eine neue Klasse ans Ruder zu bringen, die Klassengegensätze konnten sich schwer zu einer solchen Schärfe zuspitzen, daß in den unterdrückten Klassen der Gedanke an eine völlige Umwälzung alles Bestehenden feste Wurzeln gefaßt hätte und in den unterdrückenden Klassen ein hartnäckiges Festhalten an allen ihren Privilegien die Regel gewesen wäre. Auch das wirkte dahin, daß, wie schon bemerkt, politische Revolutionen meist nur auf die Abstellung einzelner Mißstände und die Beseitigung einzelner Personen ausgingen; es wirkte aber auch dahin, daß die Verhütung derartiger Revolutionen durch Kompromisse nicht selten war. Unter den modernen Großstaaten ist England derjenige, der dem Mittelalter nicht ökonomisch, aber in seinen politischen Formen am nächsten steht; es hat die Bürokratie und den Militarismus am wenigsten entwickelt, besitzt noch eine Aristokratie, die nicht bloß herrscht, sondern auch regiert; dementsprechend ist es auch derjenige moderne Großstaat, in dem die Bestrebungen der unterdrückten Klassen sich am meisten auf die Abstellung einzelner Mißstände beschränken, statt sich gegen das ganze gesellschaftliche System zu richten; derjenige Staat, in dem die Praxis der Verhütung von Revolutionen durch Kompromisse am meisten entwickelt ist. Wenn die allgemeine Wehrhaftigkeit des Volkes auch große soziale Revolutionen nicht begünstigte, so erleichterte sie es umso mehr, daß die Klassen auch bei geringeren Gelegenheiten einander bewaffnet entgegentraten. An gewalttätigen Erhebungen und Bürgerkriegen ist im Altertum und Mittelalter kein Mangel. Die Wut, mit der sie ausgefochten werden, ist oft sehr groß, sie führt mitunter zur Verjagung und Enteignung, ja zur Vernichtung der Besiegten. Wer in der Gewalttätigkeit das Kennzeichen der sozialen Revolution sieht, der wird zahlreiche derartige Revolutionen in unserer Vorzeit finden. Wer aber eine soziale Revolution nur dort anerkennt, wo aus der Eroberung der politischen Macht durch eine bis dahin unterdrückte Klasse eine Umwälzung des juristischen und politischen Überbaus der Gesellschaft, namentlich der Eigentumsverhältnisse, hervorgeht, der wird dort keine soziale Revolution finden. Die soziale Entwicklung geht da stückweise und ruckweise, nicht in einzelnen großen Katastrophen konzentriert, sondern in zahlreichen kleinen zersplittert, anscheinend unzusammenhängend, oftmals unterbrochen, immer wieder sich erneuernd, vorwiegen unbewußt, vor sich. Die größte gesellschaftliche Umgestaltung der hier betrachteten Zeit, das Verschwinden der Sklaverei in Europa, vollzieht sich so unmerklich, daß die Zeitgenossen von diesem Vorgang gar keine Notiz nehmen und man heute gezwungen ist, ihn durch Hypothesen zu konstruieren. der kapitalistischen Periode Ganz anders gestalten sich die Dinge, sobald sich die kapitalistische Produktionsweise entwickelt. Es würde zu weit führen und es hieße allgemein Bekanntes wiederholen, wollte ich hier ihren Mechanismus und seine Konsequenzen darlegen. Genug; die kapitalistische Produktionsweise schafft den modernen Staat, der der politischen Selbständigkeit der Gemeinden und Distrikte ein Ende macht, während gleichzeitig auch ihre ökonomische Selbständigkeit aufhört. Jeder wird Teil eines Ganzen, verliert sein besonderes Recht und seine besondere Eigenart, sie alle werden nivelliert, alle der gleichen Gesetzgebung, den gleichen Steuern, Gerichten, der gleichen Verwaltung unterworfen. Darum muß der moderne Staat auch trachten, ein nationaler Staat zu werden, zu den anderen Gleichheiten auch die Gleichheit der Sprache zu gesellen. Der Einfluß der Staatsgewalt auf das gesellschaftliche Leben wird jetzt ein ganz anderer als im Altertum oder Mittelalter. Jede erhebliche politische Änderung eines modernen Großstaates beeinflußt gleich aufs Tiefste ein ungeheures gesellschaftliches Gebiet in gleicher Weise und mit einem Schlag. Die Eroberung der politischen Macht durch eine bis dahin unterdrückte Klasse muß also schon deswegen jetzt ganz andere soziale Wirkungen nach sich ziehen wie ehedem. Dazu kommt, daß die Machtmittel des modernen Staates ungeheuer gewachsen sind. Die technische Revolution des Kapitalismus erstreckt sich auch auf die Waffentechnik. Seit der Reformation werden die Kriegswaffen immer vollkommener, aber auch immer teurer; sie werden zu einem Privilegium der Staatsgewalt. Schon daduch allein wird die Armee vom Volk getrennt, auch dort, wo die allgemeine Wehrpflicht besteht, wenn diese nicht durch die Volksbewaffnung ergänzt wird, was noch in keinem Großstaat der Fall war. Und überall sind die Führer der Armee Berufssoldaten, vom Volk getrennt, ihm als eine privilegierte Kaste gegenüberstehend. Aber auch die ökonomischen Machtmittel des modernen zentralisierten Staates sind enorm, verglichen mit denen früherer Staaten. Er faßt den Reichtum eines ungeheuren Gebietes zusammen, dessen technische Hilfsmittel selbst die der höchsten Kulturen des Altertums weit hinter sich lassen. Und dabei verfügt der moderne Staat über eine zentralisierte Bürokratie, wie kein Staat zuvor. So ungeheuer sind die Aufgaben der modernen Staatsgewalt gewachsen, daß es unmöglich ist, sie ohne weitgehende Arbeitsteilung und hochgesteigerte Bildung zu bewältigen. Die kapitalistische Produktionsweise raubt aber den herrschenden Klassen die Muße, die sie ehedem hatten. Wenn sie auch nicht produzieren, sondern von der Ausbeutung der produzierenden Klassen leben, so sind sie doch nicht müßige Ausbeuter. Dank der Konkurrenz, dieser Triebkraft des heutigen wirtschaftlichen Lebens, sind die Ausbeuter gezwungen, untereinander rastlos die erschöpfendsten Kämpfe zu führen, die den Unterliegenden mit völliger Vernichtung bedrohen. Die Kapitalisten haben daher weder Zeit, noch Ruhe, noch die Vorbildung für eine künstlerische und wissenschaftliche Betätigung; es fehlen ihnen sogar die Vorbedingungen zu einer regelmäßigen Anteilnahme an der Staatsverwaltung. Wie Kunst und Wissenschaft hört jetzt auch die Verwaltung des Staates auf, von den herrschenden Klassen betrieben zu werden. Diese überlassen sie an Lohnarbeiter, Bürokraten. Die Kapitalistenklasse herrscht, aber sie regiert nicht. Sie begnügt sich damit, die Regierung zu beherrschen. Ebenso begnügte sich damit schon der verfallende Feudaladel, der die Form des Hofadels übernahm. Aber was beim Feudaladel Produkt der Verkommenheit, des Verzichts auf seine gesellschaftlichen Funktionen war, entspringt bei der Kapitalistenklasse gerade aus ihren sozialen Aufgaben und gehört zu ihrem Wesen. Mit Hilfe einer so gewaltigen Staatsmacht kann eine Klasse sich noch lange behaupten, wenn sie schon überflüssig, ja schädlich geworden ist. Und je stärker die Staatsmacht, desto mehr wird eine herrschende Klasse auf sie pochen, desto hartnäckiger wird sie an ihren Privilegien festhalten, desto weniger zu Konzessionen geneigt sein. Je länger sie aber auf diese Weise ihre Herrschaft behauptet, desto schärfer müssen die Klassengegensätze werden, desto krasser muß sich dann der politische Zusammenbruch gestalten, wenn er schließlich doch kommt, desto tiefgreifender müssen die sozialen Umwälzungen sein, die daraus hervorgehen, desto eher muß die Eroberung der politischen Macht durch eine unterdrückte Klasse zu einer sozialen Revolution werden. Gleichzeitig werden sich aber auch die kämpfenden Klassen der gesellschaftlichen Konsequenzen ihrer politischen Kämpfe immer mehr bewußt. In der kapitalistischen Produktionsweise ist das Tempo der ökonomischen Entwicklung ungemein beschleunigt. Die ökonomische Umwälzung, die das Zeitalter der Entdeckungen anbahnte, wurde fortgesetzt durch die Einführung der Maschine in die Industrie. Seitdem sind unsere ökonomischen Verhältnisse einem steten Wechsel unterworfen, nicht bloß rascher Auflösung des Alten, sondern rascher Bildung von Neuem. Der Begriff des Alten, des Überlieferten, hört auf, gleichbedeutend zu sein mit dem des Erprobten, des Verehrungswürdigen, des Unantastbaren. Er wird gleichbedeutend mit dem des Unvollkommenen und Unzureichenden, des Veralteten. Aus dem ökonomischen Leben pflanzt sich diese Auffassung fort in die Kunst und Wissenschaft, in die Politik. Hing man früher ohne Prüfung am Alten, so verwirft man jetzt gern das Alte ohne Prüfung, bloß weil es alt ist - und der Zeitraum, der dazu genügt, um eine Maschine, eine Institution, eine Theorie, eine Kunstrichtung alt und damit alt zu machen, wird immer kürzer. Und schuf man ehedem mit dem Bewußtsein für die Ewigkeit zu schaffen, mit all der Hingabe, die ein solches Bewußtsein einflößt, so schafft man jetzt für den flüchtigen Effekt des Augenblicks, mit all der Leichtfertigkeit des Bewußtseins. So wird das heute Geschaffene oft nicht bloß für die Mode, sondern auch tatsächlich binnen Kurzem unbrauchbar, veraltet. Das Neue ist aber Dasjenige, was man am ehesten beobachtet und eingehender untersucht. Das Herkömmliche und Alltägliche gilt als selbstverständlich. Sicher haben die Menschen viel früher über die Ursachen der Sonnenfinsternisse nachgedacht, als über die des Aufgehens und Untergehens der Sonne. So mußte auch der Drang, die Gesetze der gesellschaftlichen Erscheinungen zu erforschen, nur gering sein, solange diese das Herkömmliche, das Selbstverständliche, das "Natürliche" waren. Dagegen mußte er sofort erstarken, sobald neue, unerhörte Gebilde im Gesellschaftsleben auftauchten. Es war nicht die alte, überkommene Feudalwirtschaft, sondern die neben ihr neuaufkommende Kapitalwirtschaft, die im 17. Jahrhundert zuerst eine wissenschaftliche Beobachtung herausforderte. Aber noch mehr wurde die ökonomische Wissenschaft durch ein anderes Moment gefördert: die kapitalistische Produktion ist Massenproduktion; der Typus des modernen kapitalistischen Staates ist der Großstaat. Die moderne Ökonomie wie die moderne Politik haben mit Massenerscheinungen zu tun. Je größer aber die Menge gleichartiger Erscheinungen ist, die man beobachtet, desto mehr kommt in ihnen, wie schon bemerkt, das Allgemeine, Gesetzmäßige zur Geltung, desto mehr tritt das Individuelle und Zufällige zurück, desto leichter wird es möglich, die Gesetze ihrer Bewegung zu entdecken. Die methodische Massenbeobachtung der gesellschaftlichen Erscheinungen, die Statistik, und die Wissenschaft von der Gesellschaft, die ausgeht von der politischen Ökonomie und ihren Höhepunkt findet in der materialistischen Geschichtsauffassung, wurden erst möglich in der kapitalistischen Produktionsweise. Jetzt erst konnten die Klassen zu einem vollen Selbstbewußtsein über den gesellschaftlichen Inhalt ihrer Kämpfe kommen, jetzt erst konnten sie sich große gesellschaftliche Ziele stecken, nicht als willkürliche Träume und fromme Wünsche, die an den harten Tatsachen scheiterten, sondern als Ergebnisse wissenschaftlicher Einsicht in das ökonomisch Mögliche und Notwendige. Wohl kann auch diese wissenschaftliche Erkenntnis irren, manche ihrer Schlüsse können sich als Jllusionen erweisen. Aber wie groß auch mitunter diese Irrtümer sein mögen, das Kennzeichen jeder wahren Wissenschaft können sie nicht verwischen, das Streben nach einer einheitlichen Zusammenfassung aller Erscheinungen zu einem widerspruchslosen Ganzen, das heißt also in der Gesellschaftswissenschaft die Erkenntnis der gesamten Gesellschaft als eines einheitlichen Organismus, in dem man nicht einzelnen Teile willkürlich und für sich allein ändern kann. Die theoretische Kritik der gesellschaftlich unterdrückten Klassen richtet sich von nun an immer mehr nicht bloß gegen einzelne Personen und Einrichtungen, sondern gegen die gesamte bestehende Gesellschaft, und ebenso wird durch diese Erkenntnis jede unterdrückte Klasse, welche die politische Gewalt erobert, dazu getrieben, die ganzen gesellschaftlichen Grundlagen umzuwälzen. Die kapitalistische Gesellschaft, die aus der Revolution von 1789 und ihren Ausläufern entsproß, war in ihren Grundlinien vorher schon von den Physiokraten und ihren englischen Nachfolgern im Kopf geschaut worden. Auf diesen Unterschieden des modernen Staates und der modernen Gesellschaft von den antiken und mittelalterlichen Organisationen beruth der Unterschied in den Formen ihrer Entwicklung: dort eine vorwiegend unbewußte, in steten lokalen und persönlichen Zwistigkeiten, Kämpfen, Rebellionen zahlloser kleiner Gemeinwesen der verschiedensten Entwicklungshöhe sich zersplitternde; hier eine immer mehr und mehr bewußte, einem erkannten großen gesellschaftlichen Ziel zustrebende, das durch wissenschaftlich-kritische Arbeit festgestellt und propagiert wird. Die politischen Revolutionen werden seltener, aber umfangreicher, ihre sozialen Folgen gewaltiger. Den Übergang von den antiken und mittelalterlichen Bürgerkriegen zur modernen Revolution, der sozialen Revolution in dem Eingangs erwähnten Sinn, bildet die Reformation, die noch halb mittelalterlich und schon halb modern ist. Höher steht schon die englische Revolution der Mitte des 17. Jahrhunderts, bis schließlich die große französische Revolution den klassischen Typus der sozialen Revolution liefert, zu der die Erhebungen von 1830 und 1848 nur einen schwachen Nachhall bilden. Die soziale Revolution im hier gebrauchten Sinn ist ein der kapitalistischen Gesellschaft und dem kapitalistischen Staat eigentümliches Stadium ihrer sozialen Entwicklung. Es findet sich nicht vor dem Kapitalismus, weil vordem der politische Rahmen zu eng, das gesellschaftliche Verständnis zu unentwickelt war. Es wird mit dem Kapitailsmus verschwinden, da dieser nur überwunden werden kann durch das Proletariat, das, als unterste aller Klassen, seine Herrschaft dazu benutzen muß, alle KLassenherrschaft und die Klassen überhaupt, damit aber auch die Vorbedingung jeder sozialen Revolution aufzuheben. Nun erhebt sich aber eine große Frage, eine Frage, die uns heute auf das Tiefste bewegt, weil sie auf unser praktisches Verhalten in der Gegenwart von größtem Einfluß ist. Sie lautet: Ist die Zeit der sozialen Revolutionen jetzt schon vorüber oder nicht? Sind heute bereits die politischen Bedingungen gegeben, daß sich der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus ohne politische Revolution, ohne die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat vollziehen kann, oder haben wir noch eine Epoche von Entscheidungskämpfen um den Besitz dieser Macht, also eine Epoche der Revolution zu erwarten? Gehört die Idee einer sozialen Revolution zu jenen veralteten Ideen, an denen nur gedankenlose Nachbeter überkommener Anschauungen oder demagogische Spekulanten auf den Beifall unwissender Massen festhalten, die aber von jedem ehrlichen, modernen Menschen zurückgewiesen werden müssen, der die Tatsachen der heutigen Gesellschaft unbefangen beobachtet? Das ist die Frage: Sicher eine wichtige Frage, die nicht nur mit ein paar Redensarten abgetan werden darf. Wir haben gefunden, daß die soziale Revolution ein Produkt besonderer historischer Vorbedingungen ist. Sie setzt nicht bloß hochgespannte Klassengegensätze voraus, sondern auch einen nationalen Großstaat, der alle provinziellen und kommunalen Sonderrechte aufhebt, und der sich aufbaut auf eine Produktionsweise, die ebenfalls nivellierend gegenüber jedem Partikularismus wirkt; ferner eine durch Bürokratie und Militarismus kraftvolle Staatsgewalt, eine Wissenschaft der politischen Ökonomie und ein schnelles Tempo des ökonomischen Fortschritts. Keiner dieser Faktoren der sozialen Revolution ist in den letzten Jahrzehnten abgeschwächt worden, jeder wurde vielmehr verstärkt. Nie war das Tempo der ökonomischen Entwicklung ein rapideres. Die wissenschaftliche Ökonomie macht wenigstens Fortschritte in die Breite, wenn schon nicht in die Tiefe, dank dem Zeitungswesen. Nie war ökonomische Einsicht so weit verbreitet wie heute, nie waren die herrschenden Klassen wie die Volksmassen so sehr in der Lage, die ferner liegenden Konsequenzen ihres Tuns und Strebens zu erfassen. Das allein weist schon darauf hin, daß wir den ungeheuren Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus nicht unmerklich vollziehen, daß wir nicht die Herrschaft der ausbeutenden Klassen langsam aushöhlen können, ohne daß diese sich dessen bewußt werden, sich dagegen zur Wehr setzen und ihre ganzen Machtmittel zur Niederhaltung des an Kraft und Einfluß wachsenden Proletariats in Anwendung bringen. War aber die Einsicht in die gesellschaftlichen Zusammenhänge nie so verbreitet wie heutzutage, so war auch die Staatsgewalt nie so stark wie jetzt, waren ihre militärischen, bürokratischen, ökonomischen Machtmittel noch nie so gewaltig entwickelt. Daraus folgt, daß das Proletariat, wenn es die Staatsgewalt erobert, damit die Macht bekommt, sofort höchst weitgehende soziale Veränderungen vornehmen zu können; es folgt daraus aber auch, daß die heute herrschenden Klassen mit Hilfe dieser Gewalt ihr Dasein und ihre Plünderung der arbeitenden Volksmassen noch lange fortsetzen können, nachdem ihre ökonomische Notwendigkeit schon aufgehört hat. Je mehr aber die herrschenden Klassen sich auf die Staatsmaschinerie stützen und diese zu Zwecken der Ausbeutung und Unterdrückung mißbrauchen, desto mehr muß im Proletariat die Erbitterung gegen sie steigen, der Klassenhaß wachsen und Bestreben gewaltiger werden, die Staatsmaschinerie zu erobern. Man hat dagegen eingewendet, daß diese Auffassung den neuesten sozialen Erscheinungen nicht Rechnung trägt, die deutlich bewiesen, daß die Entwicklung in anderer Richtung vor sich geht. Der Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie sei nicht in Zunahme, sondern in Abschwächung begriffen, und in jedem modernen Staat gebe es genug demokratische Einrichtungen, die es dem Proletariat ermöglichten, wenn auch die die Macht, so doch Macht zu gewinnen und diese allmählich, stückweise, nach und nach zu vermehren, so daß jede Notwendigkeit einer sozialen Revolution aufhört. Sehen wir zu, inwieweit diese Einwände berechtigt sind. Betrachten wir zunächst den ersten Einwand: der soziale Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat sei im Abnehmen begriffen. Ich sehe hier ab von der Frage der industriellen Krisen, deren Abschwächung vor einigen Jahren behauptet wurde. Diese Anschauung hat seitdem durch offenkundige Tatsachen eine so energische Widerlegung erhalten, daß ich hier darauf verzichten kann, sie noch einmal zu erörtern, was uns zu weit ablenken würde. Ich will auch nicht noch einen weiteren Beitrag zur Debatte über die schon zum Überdruß erörterte sogenannte Verelendungstheorie liefern, die man bei einiger Geschicklichkeit, wenn man will, ins Endlose fortspinnen kann und bei der es sich mehr um die Auslegung des Wortes Elend als um die Konstatierung bestimmter Tatsachen handelt. Wir Sozialisten sind alle einig darüber, daß die kapitalistische Produktionsweise, wo sie sich selbst überlassen bleibt, eine Zunahme des physischen Elends im Gefolge hat; ebenso einig aber auch darüber, daß schon in der heutigen Gesellschaft die Organisation der Arbeiterklasse und das Eingreifen der Staatsgewalt imstande sind, dieses Elend einzudämmen; schließlich einig darüber, daß wir die Emanzipation des Proletariats nicht von seiner wachsenden Verkommenheit, sondern von seiner wachsenden Kraft erwarten. Eine andere Frage aber ist die des wachsenden Gegensatzes zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Sie ist zunächst eine Frage der wachsenden Ausbeutung. Daß diese zunimmt, hat MARX schon vor einem Menschenalter bewiesen und meines Wissens hat ihn nach niemand widerlegt. Wer die Tatsache der wachsenden Ausbeutung des Proletariats bestreitet, mußte zunächst auf eine Widerlegung des "Kapital" von MARX hinweisen können. Nun wird man mir freilich einwenden, das sei bloß graue Theorie; für uns gelte aber nur als wahr und bewiesen, was wir mit den Händen greifen können. Man gebe uns nicht ökonomische Gesetze, sondern statistische Ziffern. Solche sind nicht so leicht aufzutreiben, denn es ist noch niemandem eingefallen, die Summen nicht bloß der Löhne, sondern auch der Profite statistisch aufzunehmen, schon aus dem Grund, weil seine feuerfeste Kasse ein Burg ist, die selbst der feigste und sanftmütigste Bourgeois gegen jedes behördliche Eindringen wie ein Löwe verteidigt. [...] Woher soll denn nun der Arbeiter die steigende Ausbeutung empfinden, wenn sie nicht offen zutage liegt, sondern nur durch langwierige Untersuchungen bloßgelegt werden kann? Die Massen der Arbeiter treiben weder Statistik, noch denken sie über die Theorien des Werts und Mehrwerts nach. Das dürfte schon stimmen. Und doch gibt es einen Weg, auf dem ihnen das Wachstum der Ausbeutung fühlbar gemacht wird. In demselben Maß wie die Masse des Profits, steigt auch die Lebenshaltung der Bourgeoisie. Aber die Klassen sind nicht durch Scheidemauern voneinander getrennt. Die steigende Lebenshaltung der oberen Klassen sichert nach und nach durch zu den unteren, erweckt auch bei ihnen neue Bedürfnisse und Ansprüche, zu deren Befriedigung aber der langsamer wachsende Lohn nicht ausreicht. Die Bourgeoisie zetert über das Schwinden der Anspruchslosigkeit der unteren Klassen, über ihre zunehmende Begehrlichkeit, und vergißt, daß die steigenden Ansprüche unten nur der Reflex sind der steigenden Lebenshaltung oben, daß ihr Beispiel es ist, das die Begehrlichkeit der unteren Schichten entzündet. Daß die bürgerliche Lebenshaltung rascher wächst als die proletarische, das sehen wir auf Schritt und Tritt. Die Arbeiterwohnungen haben sich seit 50 Jahren nicht erheblich verbessert, dagegen ist die Wohnung eines Bourgeois von heute eine prunkhafte im Vergleich mit einer durchschnittlichen bürgerlichen Wohnung von 50 Jahren. Ein Waggon 3. Klasse von heute und einer vor 50 Jahren unterscheiden sich in der inneren Ausstattung nicht sehr voneinander. Man vergleiche aber einen Waggon 1. Klasse der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Waggon eines modernen Luxuszuges! Ich glaube nicht, daß die Matrosen der überseeischen Fahrzeuge heute viel besser untergebracht sind als vor 50 Jarhen, wohl aber wäre der Luxus, wie er im Salon eines modernen Passagierdampfers entfaltet wird, vor 50 Jahren selbst in einem fürstlichen Luftschiff etwas Unerhörtes gewesen. Soviel über die wachsende Ausbeutung des Proletariats. Aber wird dieser ökonomische Faktor nicht wettgemacht durch die fortschreitende politische Annäherung der Klassen? Wird nicht politisch und gesellschaftlich der Arbeiter von der Bourgeoisie immer mehr als Ihresgleichen anerkannt? Kein Zweifel, das Proletariat gewinnt rasch an politischem und gesellschaftlichem Ansehen. Bleibt sein Aufsteigen in ökonomischer Beziehung hinter dem der Bourgeoisie zurück, und muß sich daraus eine wachsende Begehrlichkeit und Unzufriedenheit entwickeln, so ist dagegen vielleicht die auffallende Erscheinung der letzten fünfzig Jahre das rapide und ununterbrochene Aufsteigen des Proletariats in moralischer und intellektueller Beziehung. Noch vor wenigen Jahrzehnten stand das Proletariat so tief, daß es selbst Sozialisten gab, die vom Sieg des Proletariats die schlimmsten Folgen für die Kultur erwarteten. Nach 1850 schrieb RODBERTUS:
So ist dann auch die Furcht in einem raschen Schwinden begriffen, die noch nach der Pariser Kommune die ganze bürgerliche Welt beherrschte, die Furcht, das siegreiche Proletariat werde in unserer Kultur gleich den Vandalen der Völkerwanderung hausen und auf einem Trümmerhaufen ein Reich barbarischer Asketik begründen. Zum Teil auf dem Schwinden dieser Furcht ist es begründet, wenn in der bürgerlichen Intelligenz die Sympathien mit dem Proletariat und dem Sozialismus in sichtlicher Zunahme begriffen sind. Wie das Proletariat ist auch die Intelligenz als Klasse eine Eigentümlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise. Ich habe schon oben darauf hingewiesen, daß diese die herrschenden Klassen dermaßen in Anspruch nimmt, daß ihnen weder das Interesse noch die Muße bleibt, die Geschäfte der Staatsverwaltung zu besorgen oder sich den Künsten und Wissenschaften zu widmen, wie es etwa die Aristokratie Athens oder die Geistlichkeit in den besten Zeiten der katholischen Kirche getan hat. Die gesamte höhere geistige Tätigkeit, die ehedem ein Privilegium der herrschenden Klassen war, überlassen diese heute an bezahlte Arbeiter, und die Zahl dieser berufsmäßigen Gelehrten, Künstler, Ingenieure, Beamten ist in rascher Zunahme begriffen. Sie bilden zusammen die Klasse der sogenannten "Intelligenz", den "neuen Mittelstand", aber sie unterscheiden sich vom alten Mittelstand vor allem durch den Mangel eines besonderen Klassenbewußtseins. Einzelne Schichten von ihnen haben ein besonderes Standesbewußtsein, sehr oft einen besonderen Standesdünkel, aber die Interessen jeder dieser Schichten sind zu eigenartige, als daß sie ein gemeinsames Klassenbewußtsein entwickeln könnten. Ihre Mitglieder schließen sich den verschiedensten Klassen und Parteien an: die Intelligenz liefert die geistigen Kämpfer für jede derselben. Ein Teil verficht die Interessen der herrschenden Klassen, denen viele der Intellektuellen berufsmäßig zu dienen haben. Andere haben die Sache des Proletariats zu der ihrigen gemacht. Die meisten aber blieben bisher in einem kleinbürgerlichen Gedankenkreis befangen; nicht nur entsprangen sie vielfach dem Kleinbürgertum, ihre soziale Stellung als "Mittelstand" war auch eine der kleinbürgerlichen ähnliche Mittelstellung zwischen dem Proletariat und den herrschenden Klassen. Diese Schichten der Intelligenz sind es, die, wie oben bemerkt, immer mehr Sympathien für das Proletariat und den Sozialismus an den Tag legen. Da sie keine bestimmten Klasseninteressen haben und durch ihre Berufstätigkeit wissenschaftlicher Einsicht am ehesten zugänglich sind, können sie am ehesten durch wissenschaftliche Erwägungen für bestimmte Parteien gewonnen werden. Der theoretische Bankrott der bürgerlichen Ökonomie und die theoretische Überlegenheit des Sozialismus mußte ihnen klar werden. Dabei empfanden sie immer mehr, daß die anderen Klassen Kunst und Wissenschaft immer tiefer herabzudrücken streben. Manchen imponiert endlich auch der Erfolg, das unaufhaltsame Vordringen der Sozialdemokratie, namentlich, wenn sie damit den unaufhaltsamen Verfall des Liberalismus vergleichen. So werden Arbeiterfreundlichkeit und Sozialismus populär unter den Gebildeten; es gibt kaum noch einen Salon, in dem man nicht über einen oder mehrere "Sozialisten" stolpert. Wären diese Kreise der Gebildeten gleichbedeutend mit der Bourgeoisie, dann allerdings hätten wir gewonnenes Spiel und wäre jede soziale Revolution überflüssig. Mit diesen Schichten könnte man sich sehr wohl friedlich auseinandersetzen, von ihnen hat die langsame, stille Entwicklung keine gewalttätige Behinderung zu erwarten. Leider aber bilden sie nur einen Teil der Bourgeoisie, und zwar denjenigen, der zwar im Namen der Bourgeoisie schreibt und spricht, nicht aber jenen, der ihr Handeln bestimmt. Und man soll die Menschen, also auch eine Klasse, bekanntlich nicht an ihren Worten, sondern an ihren Taten erkennen. Auch ist es der am wenigsten kampfesfähige und kampfesfrohe Teil der Bourgeoisie, der da proletarische Sympathien entwickelt. Ehedem freilich, als der Sozialismus unter der Masse der Gebildeten selbst als Verbrechen oder Aberwitz gebrandmarkt wurde, konnten bürgerliche Elemente sich der sozialistischen Bewegung nur zuwenden, wenn sie mit der gesamten bürgerlichen Welt brachen. Wer sich damals aus bürgerlichen Kreisen zum Sozialismus durchrang, der bedurfte dazu viel größerer Energie, revolutionärer Leidenschaft und Überzeugungskraft als ein Proletarier. In der sozialistischen Bewegung zählten daher gerade diese Elemente in der Regel zu den radikalsten und revolutionärsten ihrer Mitglieder. Ganz anders heute, wo der Sozialismus salonfähig geworden ist. Es bedarf keiner besonderen Energie, keines Bruchs mit der bürgerlichen Gesellschaft mehr, wenn man den Namen eines Sozialisten tragen will. Kein Wunder, daß immer mehr dieser neuen Sozialisten auch in der herkömmlichen Denk- und Empfindungsweise ihrer Klasse befangen bleiben. Die Kampfesmethoden der Intellektuellen sind aber andere als die des Proletariats. Dieses hat dem Reichtum und der Gewalt der Waffen seine Überzahl und die Geschlossenheit seiner Klassenorganisationen entgegenzusetzen. Die Intellektuellen sind an Zahl verschwindend und ohne jede Klassenorganisation. Ihre einzige Waffe ist die Überredung durch Wort und Schrift, der Kampf mit "geistigen Waffen", die "moralische Überlegenheit"; und durch diese Waffen möchten die Salonsozialisten auch die proletarischen Klassenkämpfe entschieden wissen. Sie erklären sich bereit, dem Proletariat ihre moralische Hilfe angedeihen zu lassen, aber unter der Bedingung, daß es auf die Anwendung von Gewalt nicht nur dort verzichtet, wo sie aussichtslos ist - da verzichten auch die Proletarier darauf -, sondern auch dort, wo sie aussichtsvoll sind. Daher suchen sie die Idee der Revolution in Mißkredit zu bringen, sie als untaugliches Mittel hinzustellen. Sie suchen vom revolutionären Proletariat einen sozialreformerischen Flügel abzusondern, wirken also dahin, es zu spalten und zu schwächen. Das ist bisher praktisch die einzige Wirkung der beginnenden Bekehrung der Intellektuellen zum Sozialismus. Neben dem "neuen Mittelstand" vegetiert noch der alte fort, das Kleinbürgertum. Diese Art Mittelstand war ehedem das Rückgrat der Revolutionen; kampflustig und kampffähig, empörte es sich leicht, wo ihm die Verhältnisse günstig waren, gegen jede Knechtung und Ausbeutung von oben, gegen die Herrschaft der Bürokratie und des Militarismus, gegen feudale und pfäffische Privilegien. Es bildete die Kerntruppe der bürgerlichen Demokratie. So wie heute ein Teil des neuen Mittelstandes stand auch dieser alte dem Proletariat zeitweise sehr sympathisch gegenüber, wirkte mit ihm zusammen, gab ihm und empfing von ihm geistige Anregungen und materielle Kräfte. Aber ebenso wie der neue war auch der alte Mittelstand stets ein unzuverlässiger Bundesgenosse, gerade wegen seiner Mittelstellung zwischen den ausgebeuteten und den ausbeutenden Klassen. Wie schon MARX bemerkt hat, ist der Kleinbürger weder ganz Proletarier, noch ganz Bourgeois und fühlt sich je nach der Situation bald als letzterer, bald als ersterer. Aus dieser Doppelstellung entwickelt sich aber eine Zweiteilung des Bürgertums; die Einen seiner Schichten identifizieren sich mit dem Proletariat, die anderen mit seinen Gegnern. Der Kleinbetrieb ist zum Untergang verurteilt, sein Untergang geht unaufhaltsam vor sich. Aber er äußert sich nur langsam in der Verringerung der Kleinbetriebe, dagegen rasch in ihrem Verkommen. Die einen ihrer Besitzer geraten in vollständige Abhängigkeit vom Kapital, sind nichts als Heimarbeiter, Lohnarbeiter, die statt in einer Fabrik, in ihrer Wohnung für einen Unternehmer schuften. Andere, namentlich Kleinhändler und Wirte, bleiben selbständig, finden aber ihre Kundschaft nur in Arbeiterkreisen, so daß ihre Existenz vollständig vom WOhl und Weh der Arbeiterschaft abhängt. Diese Schichten schließen sich immer mehr und mehr dem kämpfenden Proletariat an. Anders dagegen sind jene Schichten des Kleinbürgertumd, die noch nicht in völlige Abhängigkeit vom Kapital geraten sind, aber ihr oder dem Ruin entgegengehen, sowie jene, die ihre Kundschaft in anderen als proletarischen Schichten suchen. Sie verzweifeln daran, aus eigener Kraft wieder emporzukommen, sie erwarten Alles von oben, von den oberen Klassen und von der Staatsgewalt. Und da jeder Fortschritt sie bedroht, stellen sie sich jedem Fortschritt, auf welchem Gebiet auch immer, feindlich entgegen. Serviliät und das Bedürfnis nach Reaktion macht sie zu willigen Helfern, ja zu den fanatischsten Verteidigern der Monarchie, der Kirche und des Adels. Dabei bleiben sie aber demokratisch, denn nur unter demokratischen Formen können sie politischen Einfluß üben und dadurch die Unterstützung der Staatsgewalt erlangen. Auf dieser Zweiteilung des Kleinbürgertums beruth hauptsächlich der Niedergang der bürgerlichen Demokratie. Die Einen ihrer Schichten wenden sich der proletarischen Sozialdemokratie zu, die Anderen der reaktionären Demokratie, die in den verschiedensten Farben schillert, als Anti-Semitismus, Nationalismus, christliche Demokratie, Teile der konservativen und der Zentrumspartei, aber immer den gleichen sozialen Inhalt aufweist. Manche ihrer Wendungen und Argumente hat diese reaktionäre Demokratie dem sozialdemokratischen Denken entnommen, und Mancher glaubte daher Anfangs, sie bilde nur eine besondere Übergangsform vom Liberalismus zur Sozialdemokratie. Heute liegt die Unhaltbarkeit dieser Anschauung offen zutage. Die Sozialdemokratie hat keinen erbitterteren Feind als die reaktionäre Demokratie. Muß die Sozialdemokratie jeden Kulturfortschritt fördern, ob er nun den proletarischen Klasseninteressen direkt zugute kommt oder nicht, so wird die reaktionäre Demokratie durch ihr ganzes Wesen getrieben, sich jedem Kulturfortschritt entgegenzustemmen, mag er auch nicht direkt das Kleinbürgertum bedrohen. Ist die Sozialdemokratie die fortschrittlichste, so die reaktionäre Demokratie die rückschrittlichste Partei, da sie zum Haß der anderen reaktionären Parteien gegen den Fortschritt noch die ganze Rücksichtslosigkeit der gröbsten Unwissenheit über alles, was außerhalb des beschränktesten Gesichtskreises steht, hinzugesellt. Dazu kommt es, daß die Kleinbürger als Aubeuter ihre Existenz nur noch dadurch fristen, daß sie die schwächsten und widerstandslosesten Arbeitskräfte, Frauen und Kinder, unmenschlich abrackern. Dabei begegnen sie natürlich vor allem der Gegnerschaft der Sozialdemokratie, die durch Organisation und Zwangsgesetz dieser Verwüstung von Menschenleben entgegenzuwirken sucht. So wird das Kleinbürgertum, soweit es nicht zur Sozialdemokratie kommt, aus einem Bundesgenossen und einem zwischen dem Proletariat und den oberen Klassen vermittelnden Elementen ein erbitterter Feind des Proletariats. Anstelle einer Milderung finden wir hier die denkbar schroffste Zuspitzung der Klassengegensätze, und zwar eine rapide fortschreitende, denn sie ist erst vor wenigen Jahren deutlich merkbar hervorgetreten. Was vom Kleinbürgertum, gilt mit geringen Abänderungen auch von der Bauernschaft. Auch sie spaltet sich in zwei Lager, eines der proletarischen (die Zwergbauernschaft) und eines der besitzenden Elemente. Unser Aufgabe ist es, diesen Spaltungsprozeß zu beschleunigen, indem wir die ersteren Elemente über ihre mit den proletarischen übereinstimmenden Interessen aufklären und dadurch der Sozialdemokratie zuführen. Wir hemmen ihn aber, wenn wir ihn ignorieren und uns an die ganze Landbevölkerung ohne Unterschied der Klasse wenden. Die reaktionäre Demokratie auf dem Land ist uns in ihrem Wesen ebenso feindlich wie die in den Städten, wenn sie sich dieses Gegensatzes auch nicht immer klar bewußt wird. Jene Genossen, die glaubten, die Bauernbündelei sei nur ein Übergangsstadium für den Bauern von den alten Parteien, namentlich der Zentrumspartei, zur Sozialdemokratie, täuschten sich ebenso, wie jene, die dasselbe vom Anti-Semitismus in den Städten erwarteten. Der mittlere und große Bauer haßt die Sozialdemokratie schon deswegen, weil sie dafür kämpft, daß die Arbeiter kürzere Arbeitszeit und höheren Lohn erlangen und weil sie dadurch eine wichtige Ursache dafür wird, daß die Landarbeiter den Städten zuwandern und die Bauern im Stich lassen. Auch auf dem Land verschärfen sich die sozialen Gegensätze zwischen den Besitzenden und den Proletariern. Noch mehr als für den Gegensatz zwischen Bauer und Lohnarbeiter trifft dies zu für den Gegensatz zwischen Großgrundbesitzer und Lohnarbeiter. Im landwirtschaftlichen Großbetrieb spielt der Lohnarbeiter eine viel wichtigere Rolle als im bäuerlichen Betrieb. Für jenen sind aber auch hohe Preise der Lebensmittel von ganz anderer Bedeutung als für den Bauern, der einen großen Teil seiner Produkte selbst verzehrt. Der Gegensatz zwischen dem Produzenten und dem Konsumenten von Lebensmitteln ist freilich nicht der zwischen dem Arbeiter und seinem Ausbeuter, sondern der zwischen Stadt und Land. Aber in der Stadt sind die Proletarier heute die zahlreichste, kampffähigste und kampfeslustigste Klasse und so stößt der Verkäufer von Lebensmitteln auch hier wieder auf den Proletarier als auf seinen energischsten Feind. Kein Wunder, daß der Großgrundbesitzer heute über den Industriearbeiter anders denkt als ehedem. Früher ließen ihn die Kämpfe zwischen den industriellen Kapitalisten und ihren Arbeitern gleichgültig, ja er verfolgte sie oft mit unverhehlter Schadenfreude dem Kapitalisten gegenüber, mitunter sogar mit einer gewissen Sympathie für den Proletarier. Dieser stand ihm damals nicht im Weg, wohl aber der Kapitalist, der dort Schutzzölle forderte, wo er Freihandel brauchte und umgekehrt, der in der Grundrente eine Beeinträchtigung des Profits sah und ihm das Monopol auf die höheren Stellen in Armee und Bürokratie zu entreißen suchte. Heute ist das anders geworden, die Zeiten der arbeiterfreundlichen Tories und Junker, der DISRAELI, RODBERTUS, VOGELSANG, sind längst vorbei. Wie das Kleinbürgertum und die Klasse der mittleren und größeren Bauern wird auch der große Grundbesitz immer arbeiterfeindlicher. Aber die Kapitalistenklasse? Sie ist heute die entscheidende Klasse. Wird nicht sie wenigstens, gleich der Intelligenz, arbeiterfreundlicher? Ich bedaure, davon ebenfalls nicht zu merken. Gewiß, auch die Kapitalistenklasse ändert sich, sie bleibt nicht immer dieselbe. Welches sind aber die wichtigsten ihrer Änderungen in den letzten Jahrzehnten? Auf der einen Seite finden wir die Abschwächung, ja mitunter eine völlige Aufhebung der Konkurrenz, welche sich die Kapitalisten eines einzelnen Industriezweiges innerhalb eines Landes machen, durch Unternehmerverbände, Kartelle und Trusts, auf der anderen Seite die Verschärfung der internationalen Konkurrenz durch das Aufkommen neuer, kapitalistischer Großmächte, namentlich Deutschlands und der Vereinigten Staaten. Die Unternehmerverbände beseitigen die Konkurrenz unter den Unternehmern nicht bloß gegenüber den Käufern ihrer Produkte, sondern auch gegenüber ihren Arbeitern. Statt zahlreichen Abnehmern ihrer Arbeitskraft stehen diese jetzt einem einzigen gegenüber. Wie sehr dessen Überlegenheit dadurch erhöht, damit aber auch sein Gegensatz zu den Arbeitern verschärft wird, bedarf keiner weiteren Ausführung. Nach dem neuesten Sensus der Vereinigten Staaten sind von 1890-1900 die Löhne der Arbeiter in der amerikanischen Industrie absolut zurückgegangen. Ist dies richtig, dann gehen wir wohl nicht fehl, wenn wir darin eine Wirkung der Kartelle und Trusts sehen. In derselben Richtung wirkte aber die Verschärfung der auswärtigen Konkurrenz. Auch hier sind es neben den Konsumenten die Arbeiter, zu deren Ungunsten diese Entwicklung ausschlägt. Neben der Verteuerung der Waren durch Schutzzölle, die wieder die Bildung von Unternehmerverbänden begünstigen, ist es die verstärkte Ausbeutung der Arbeiter, wodurch die Kapitalisten der auswärtigen Konkurrenz zu begegnen suchen. Daher eine Verschärfung ihres Kampfes gegen die Kampforganisationen der Arbeiter, politische und gewerkschaftliche, die ihnen dabei im Weg stehen. Also auch da keine Milderung, sondern eine Steigerung der Klassengegensätze. Dazu gesellt sich als drittes Moment die zunehmende Verschmelzung des industriellen Kapitals mit dem Geldkapital, der hohen Finanz. Der industrielle Kapitalist ist ein Unternehmer, der auf dem Gebiet der Produktion einen Betrieb besitzt, diese im weitesten Sinn genommen (das Transportwesen eingeschlossen), in dem er gemietete Lohnarbeiter ausbeutet und aus ihnen seinen Profit zieht. Der Geldkapitalist ist dagegen die modernisierte Form des alten Wucherers. Er zieht sein Einkommen aus seinem Geld, das er gegen Zins verleiht, heutzutage nicht bloß, wie ehedem, an notleidende Private, sondern auch an kapitalistische Unternehmer, Gemeinden, Staaten, usw. Zwischen dem industriellen Kapitalisten und dem Geldkapitalisten besteht ein großer Gegensatz, ähnlich dem zwischen dem Ersteren und dem Grundbesitzer. Wie die Grundrente (Pacht, Miete) ist der Zins für geliehenes Kapital ein Abzug vom Unternehmergewinn. Die Interessen beider Arten von Kapital widersprechen also einander in diesem Punkt. Aber auch politisch gehen sie auseinander. Wie der Großgrundbesitz heute für eine starke, am liebsten monarchische Staatsgewalt eintritt, weil er, soweit er Hofadel, den Monarchen und damit die Staatsgewalt persönliche beeinflussen kann; wie er ferner für den Militarismus schwärmt, der seinem Nachwuchs die Offizierskarriere eröffnet, für die der bürgerliche Nachwuchs weniger geeignet, wie er daher stets eine gewalttätige Politik nach innen und außen befürwortet, so ist auch die hohe Finanz für den Militarismus und eine kraftvolle gewalttätige Regierungspolitik nach innen und außen sehr eingenommen. Die Spitzen des Geldkapitals brauchen eine starke, von Volk und Parlament unabhängige Staatsgewalt nicht zu scheuen, da sie diese ja doch als Gläubiger, oft auch durch persönliche höfische Einflüsse beherrschen. Am Militarismus, an Kriegen und Staatsschulden haben sie aber auch ein Interesse, sowohl als Gläubiger wie als Lieferanten des Staates, denn das Gebiet ihres Einflusses und ihrer Ausbeutung, ihre Macht und ihr Reichtumg werden dadurch vermehrt. Anders das industrielle Kapital. Militarismus, Kriege, Staatsschulden bedeuten erhöhte Steuern, an denen es reichlich mitzutragen hat oder die ihm doch die Produktionskosten verteuern. Der Krieg bedeutet überdies ein Stocken der Warenproduktion und des Warenabsatzes, geschäftliche Schwierigkeiten, oft den Ruin. Ist der Finanzmann waghalsig, verschwenderisch und gewalttätig, so ist der industrielle Unternehmer sparsam, ängstlich und friedliebend. Eine starke Staatsgewalt flößt ihm Bedenken ein, umso mehr, da er sie direkt nicht beeinflussen kann. Nicht eine starke Regierung, sondern ein starkes Parlament entspricht seinen Interessen. Im Gegensatz zum Großgrundbesitz und zur hohen Finanz neigt er daher zum Liberalismus. Dessen Halbheit ist auch die seine. Beschränken auf der einen Seite Grundrente, Zins, Steuern seinen Profit, so bedroht auf der anderen Seite das aufstrebende Proletariat die ganze Profitwirtschaft. Aber auch dem Proletariat gegenüber zieht er, wo dies ihm nicht allzu drohend erscheint, die friedlichen Methoden des "Teile und herrsche", der Korrumpierung und Fesselung durch Wohltätigkeitsanstalten usw. der Methode der gewaltsamen Niederschlagung vor. Wo das Proletariat noch keine selbständige Politik treibt, da bedient sich das industrielle Kapital seiner ganz gern als Sturmbock, als Stimmvieh, um seine eigene politische Gewalt zu vermehren. Dem kleinbürgerlichen Sozialismus erscheint der Gegensatz zwischen dem industriellen Kapital und dem Proletariat geringfügiger als der zwischen dem Unternehmergewinn einerseits und der Grundrente wie dem Kapitalzins andererseits. Die Aufhebung des Zinses und der Grundrente betrachtet er als die Lösung der sozialen Frage. Der Gegensatz von Finanz und Industrie hört aber immer mehr auf, denn mit dem Fortschreiten der Kapitalskonzentration bemächtigt sich die Finanz immer mehr und mehr der Industrie. Ein wichtiges Mittel dabei ist die fortschreitende Verdrängung des privaten Unternehmers durch die Aktiengesellschaften. Wohlmeinende Optimisten sehen in diesen ein Mittel, das Kapital zu "demokratisieren" und so nach und nach das Kapital auf friedlichem Weg, ohne daß man es merkt, in Volkseigentum zu verwandeln. Tatsächlich ist es ein Mittel, alles Geld der mittleren und unteren Klassen, das diese nicht zu sofortigem Konsum gebrauchen, in Geldkapital zu verwandeln und als solches den großen Geldkapitalisten zu ihrer Auskaufung der industriellen Unternehmer zur Verfügung zu stellen, die Mittel der Finanz zur Konzentration der Industrie in den Händen von wenigen Geldkapitalisten zu vermehren. Ohne das Aktienwesen könnten die großen Finanzleute nur Betriebe beherrschen, sie mit eigenem Geld gekauft haben. Dank dem Aktienwesen können sie zahlreiche Betriebe von sich abhängig machen und dadurch ihre Erwerbung beschleunigen, zu deren Ankauf sie das nötige Geld nicht besitzen. Die ganze märchenhafte Macht der Pierpont Morgan und Co., die in den Vereinigten Staaten binnen wenigen Jahren zahlreiche Eisenbahnen, Bergwerke, die meisten Eisenwerke in einer Hand vereinigt und jetzt auch schon die wichtigsten überseeischen Dampferlinien monopolisiert haben - diese ganze sprunghafte Eroberung der Herrschaft über Industrie und Verkehr der wichtigsten Kulturländer wäre unmöglich ohne das Aktienwesen. Nach dem Londoner "Economist" besitzen fünf Männer, J. D. ROCKEFELLER, E. H. HARRIMAN, J. PIERPONT MORGAN, W. R. VANDERBILT und G. D. GOULD zusammen über 3000 Millionen Mark. Sie beherrschen aber zusammen ein Kapital von mehr als 30 000 Millionen Mark, während das Gesamtkapital, das in den Banken, Eisenbahnen und Industriegesellschaften der Vereinigten Staaten angelegt ist, 70 000 Millionen beträgt. Also dank dem Aktienwesen beherrschen sie fast die Hälfte dieses Kapitals, von dem seinerseits wieder das ganze wirtschaftliche Leben der Union abhängt. Wie immer, so wird auch diesmal die Krisis, die in Amerika nicht ausbleibt, die kleinen Aktionäre expropriieren [enteignen - wp] und den Besitz der großen erweitern und befestigen. Je mehr aber das Geldkapital sich der Industrie bemächtigt, desto mehr nimmt auch das industrielle Kapital die Methoden des Geldkapitals an. Für den privaten Unternehmer, der neben seinen Arbeitern lebt, sind diese doch Menschen, deren Wohl und Wehe ihm nicht ganz gleichgültig bleiben kann, wenn er nicht total verhärtet ist. Für den Aktienbesitzer existiert nur die Dividende, die Arbeiter sind für ihn bloße Ziffern in einem Rechenexempel, aber in einem, an dessen Resultat er im höchsten Grad interessiert ist, das ihm einen vermehrten Wohlstand, vermehrte Macht oder Einschränkung und eine soziale Degradierung bringen kann. Der Rest an Rücksichtnahme auf die Arbeiter, die der private Unternehmer noch bewahren konnte, geht da verloren. Das Geldkapital ist diejenige Art des Kapitals, die am meisten zur Gewalttätigkeit neigt; diejenige, die sich am leichtesten zu Monopolen zusammenschließt und dadurch grenzenlose Macht über die Arbeiterklasse erlangt; diejenige, die dem Arbeiter am meisten entfremdet ist: sie ist es, die das Kapital des industriellen privaten Kapitalisten verdrängt, und die ganze kapitalistische Produktion immer mehr beherrscht. Die naturnotwendige Folge davon ist auch hier: Verschärfung des sozialen Gegensatzes. Aber England! wird man mir entgegenhalten. Finden wir nicht in England eine fortschreitene Abschwächung der Klassengegensätze? Und hat nicht schon MARX gesagt, England sei das klassische Land der kapitalistischen Produktionsweise und es zeige uns unsere eigenen Zukunft? Ist also nicht der jetzige Zustand Englands derjenige, dem wir entgegengehen? Immer ist es England, worauf uns die Schwärmer für den sozialen Frieden hinweisen, und merkwürdigerweise sind dieselben Leute, die uns "orthodoxen" Marxisten am lautesten das hartnäckige Festhalten an jedem Satz von MARX vorwerfen, gerade jene, die uns mit dem eben erwähnten Satz am entschiedensten zu schlagen meinen. Tatsächlich aber haben sich die Verhältnisse seit der Abfassung des "Kapital" sehr geändert. England hat aufgehört, das klassische Land des Kapitalismus zu sein. Seine Entwicklung gerät immer mehr ins Stocken, es wird immer mehr von anderen Nationen überholt, namentlich Deutschland und Amerika, und nun beginnt sich das Verhältnis umzudrehen. England hört auf, uns unsere Zukunft zu zeigen, wohl aber beginnen unsere Zustände Englands Zukunft in der kapitalistischen Produktionsweise zu zeigen. Das ist es, was die Untersuchung der tatsächlichen Verhältnisse jenen "orthodoxen" Marxisten zeigt, die nicht MARX gedankenlos nachbeten, sondern seine Methode anwenden, um die Gegenwart zu begreifen. England war der klassische Boden des Kapitalismus, jener, auf dem das industrielle Kapital zuerst zur Herrschaft kam. Es kam zur Herrschaft, ökonomisch übermächtig nicht nur gegenüber den anderen Klassen seines Landes, sondern auch gegenüber dem Ausland. So konnte es jene Eigenschaften, die ich oben als die ihm eigentümlichen bezeichnet habe, am freiesten entfalten. Es verzichtete auf die gewaltsame Niederhaltung der arbeitenden Klassen und verlegte sich vielmehr darauf, sie "friedlich" zu spalten, indem es ihren kräftigeren, organisierten Schichten politische Privilegien verlieh und ihre Führer durch freundliches Entgegenkommen zu kaufen und zu korrumpieren suchte, was ihm nur zu oft gelang. Es verzichtete auch auf jede Gewalttätigkeit nach außen, Friede und Freihandel wurde seine Losung; es vertrug sich friedlich mit den Buren und machte schließlich sogar Miene, das jahrhunderlange Unrecht Englands an Irland zu sühnen und diesem ein Home Rule zu gewähren. Aber inzwischen ist die auswärtige Konkurrenz mächtig, ja vielfach übermächtig geworden und sie drängt die Kapitalisten dahin, daß sie alle Widerstände ihrer Ausbeutung im Innern zu beseitigen, gleichzeitig aber auch sich Märkte durch Gewaltmaßregeln zu sichern suchen. Hand in Hand damit geht das Überwuchern der hohen Finanz im Produktionsprozeß. Seitdem bekommt England ein anderes Gesicht. "Der Geist der Zeit", konstatierten die WEBBs in der "Sozialen Praxis" (20. März 1902), "hat sich während des letzten Jahrzehnts gegen die "korporative Selbsthilfe" in den Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeiter gewendet, die eine frühere Generation kennzeichnete. Ja, die öffentliche Meinung der begüterten und berufstätigen Klassen ist tatsächlich gegen Gewerkvereinswesen und Streiks feindlich gesinnt, als dies vor einer Generation der Fall war." Infolge dieses Umschwungs werden die Gewerkschaften von den Gerichten auf das Empfindlichste in ihrer Wirksamkeit eingeengt. Anstelle des Freihandels tritt die Verteuerung der Lebensmittel durch den Zoll; die koloniale Eroberungspolitik beginnt von Neuem und gleichzeitig erneuert sich auch die Zwangsgesetzgebung gegen Irland. Nur die Gestaltung des Heerwesens nach preußischem Must fehlt noch, und England bewegt sich vollständig in den Bahnen der Politik Deutschlands, seiner Polenpolitik, seiner Handelspolitik, seiner Sozialpolitik, seiner auswärtigen Politik, seiner Heerespolitik. Zeigt das nicht deutlich, daß man heute in Deutschland (und auch in Amerika) Englands Zukunft studieren kann, daß Englands Zustände aufgehört haben, unsere Zukunft darzustellen? Das Stadium der "Milderung der Klassengegensätze" und der Anbahnung des "sozialen Friedens" ist auf England beschränkt geblieben und bedeutet auch dort ein Ding der Vergangenheit. GLADSTONE war der hervorragendste Vertreter der Politik der Konzessionen zur Milderung der Gegensätze, die der Denkweise des allen anderen Klassen und Ländern ökonomisch übermächtig gegenüberstehenden industriellen Kapitals Englands entsprach. Der hervorragendste Vertreter der neuen Methode des um seine Herrschaft gewalttätig ringenden Geldkapitals ist CHAMBERLAIN. Es gehört zu den sonderbarsten Ironien der Geschichte, daß uns in Deutschland das GLADSTONE'sche Stadium als unsere Zukunft und als unverlierbare Errungenschaft Englands gerade zu der Zeit am lautesten angepriesen wurde, als die GLADSTONE'sche Erbschaft in alle Winde zerstob und CHAMBERLAIN der Heros des englischen Volkes wurde. Ich will es offen gestehen, auch ich habe ehedem auf England große Hoffnungen gesetzt. Erwartete ich auch nicht, daß das GLADSTONEsche Stadium jemals auf Deutschland übertragen würde, so hoffte ich doch, daß in England infolge seiner eigenartigen Verhältnisse die Entwicklung vom Kapitalismus zum Sozialismus nicht durch eine soziale Revolution, sondern durch eine Reihe fortschreitender Konzessionen der herrschenden Klassen an das Proletariat friedlich vor sich gehen könne. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben meine Hoffnungen auch für England zerstört. Die englische innere Politik fängt heute an, sich nach dem Muster ihres deutschen Konkurrenten zu bilden. Mögen ihre Rückwirkungen auf das englische Proletariat auch die entsprechenden sein! Wir sehen jetzt, wie weit die Annahme einer steigenden Milderung der Klassengegensätze, einer Annäherung der Bourgeoisie an das Proletariat berechtigt ist. Sie erweist sich zwar nicht als ganz aus der Luft gegriffen, sie stützt sich auf bestimmte Tatsachen, aber ihr Fehler besteht darin, daß sie diese Tatsachen, die auf ein kleines Gebiet beschränkt sind, für allgemeine Tatsachen annimmt. Sie setzt einige Schichten der Intelligenz der ganzen Bourgeoisie gleich und gibt eine besondere, bereits der Vergangenheit angehörende soziale Tendenz Englands für eine allgemeine, immer mehr sich verstärkende Tendenz der gesamten kapitalistischen Produktionsweise aus. |