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Die moralische Statistik und die Willensfreiheit [ 2 / 3 ]
1. Einleitendes [Fortsetzung] Wir können nun als das allgemeine Ergebnis der vorstehenden Erörterungen folgenden Satz aufstellen: Überall, wo konstante Ursachen mit regellos variierenden akzidentiellen Ursachen wiederholt zusammentreffen, hierdurch aber nur alternativ zweierlei einander ausschließende (entgegengesetzte) Arten von Ereignissen bewirkt werden können, müssen bei einer hinlänglich großen Zahl der Wiederholung dieses Zusammentreffens die Zahlen, in welchen die Ereignisse beider Arten eintreten, sich allmählich einem konstanten Verhältnis nähern. Diesen Satz wird man aber auch umkehren und schließen dürfen, daß überall, wo in einer langen Reihe regellos wechselnder Ereignisse von zweierlei Art allmählich zwischen den Zahlen der Ereignisse jeder von beiden Arten ein konstantes Verhältnis hervortritt, mit regellos variierenden akzidentiellen Ursachen konstante Ursachen zusammenwirken müssen; denn ohne die Voraussetzung von konstanten Ursachen würde die konstante Folge ganz unerklärlich sein. Derselbe Schluß wird aber auch noch gelten, wenn solche Ereignisse nicht sukzessiv eintreten, sondern unter einer Menge gleichzeitiger Ereignisse entgegengesetzter Art, je größer ihre Anzahl, umso mehr ein konstantes Verhältnis zwischen den Zahlen, in welchen beide Arten vorkommen, sich bemerkbar macht. Es wird endlich dieser Schluß verdoppelt zur Anwendung kommen, wenn das konstante Verhältnis, das bei einer großen Anzahl gleichzeitiger Ereignisse hervortritt, sich sukzessiv innerhalb gleicher Zeiträume wiederholt. Das ist nun der Fall, der in der moralischen Statistik tatsächlich vorliegt. Diese nämlich, eine wertvolle wissenschaftliche Erwerbung der Neuzeit, hat die überraschende Entdeckung gemacht, daß in den willkürlichen Handlungen der Menschen, von denen man denken sollte, daß sie sich jeder Regel entziehen und die in der Tat auch im Einzelnen einer solchen nicht unterworfen sind und niemals werden vorausbestimmt werden können, doch, wenn man sie im Großen und Ganzen betrachtet, eine Gesetzmäßigkeit waltet, die sich zunächst in folgendem allgemeinen Satz aussprechen läßt:
Nun sind aber diese konstanten Verhältniszahlen, ebensowenig wie die Sterblichkeitsverhältnisse, weder in allen Ländern, Völkern und Staaten dieselben, noch auch innerhalb einer und derselben Bevölkerungsgruppe für immer von gleichem Wert. Denn abgesehen von den in manchen Jahren auffallend großen Abweichungen, die als Anomalien erscheinen, ändern sich in längeren Perioden allmählich ihre Werte, so daß in späteren Jahrzehnten die Quote der Bevölkerung, die gewisse willkürliche Handlungen begeht, bald größer bald kleiner ist als in einem früheren Jahrzehnt. Das beweist, daß die tatsächlich vorhandene Gesetzmäßigkeit nicht bloß von konstanten allgemein menschlichen, sondern auch von besonderen, teils physischen teils moralischen Ursachen, vorzüglich von sozialen Verhältnissen und Zuständen der Bevölkerungsgruppen abhängt, die denselben wiederum teils bleibend eigentümlich sind, teils sich mit der Zeit ändern. Die moralische Statistik bleibt ferner innerhalb jeder Bevölkerungsgruppe nicht bei den allgemeinsten Kategorien von Personen und willkürlichen Handlungen stehen; sie untersucht vielmehr weiter, in welchem Maße sich die beiden Geschlechter, und diese wieder je nach ihren verschiedenen Lebensaltern an Heiraten, Verbrechen und Selbstmorden beteiligen. Sie unterscheidet z. B. Heiraten zwischen ledigen Personen von solchen, bei denen ein Teil oder beide Teile zuvor verwittwet waren; sie klassifiziert die Verbrecher und Selbstmörder nach ihren Berufsarten, Lebensverhältnissen, ihrer Religion und Konfession usw.; sie scheidet die Verbrechen gegen das Eigentum von denen gegen Personen, Verbrechen aus Eigennutz von denen aus Bosheit, sie spezifiziert weiter die Verbrechen gegen Personen, als Totschlag, Mord, Unzucht, Vergiftung usw.; sie untersucht, in welchen Jahres- und Tageszeiten Verbrechen und Selbstmord am häufigsten und mit welchen Mitteln sie begangen werden; sie registriert, in welchem Verhältnis die Selbstmorde Folge von geistiger oder körperlicher Krankheit, oder von Lastern, Leidenschaften, unglücklichen Lebensverhältnissen sind. Wie weit sie aber auch in diesen immer mehr sich verfeinernden Einteilungen gehen mag, immer findet sie, sofern ihr nur hinlänglich große Zahlen vergleichbarer Fälle zu Gebote stehen, Verhältniszahlen, die wenigstens innerhalb nicht allzu ausgedehnter Zeiträume nahezu konstant bleiben. Die moralische Statistik enthüllt auf diese Weise jedenfalls einen Teil der die willkürlichen menschlichen Handlungen bedingenden oder mindestens bei ihrer Ausführung mitwirkenden Ursachen derselben. Hieraus entwickeln sich nun zwei Ansichten über die Natur dieser Handlungen. Die eine hält sich überzeugt, daß alle Willkür sich zuletzt in einen bloßen Schein auflösen muß, daß alle willkürlichen Handlungen der Menschen und auch ihre psychischen Motive, durch den gesetzlichen Naturlauf, dem der Mensch als geistiges wie als körperliches Wesen eingereiht sei, mit Notwendigkeit bestimmt werden und alle Willensfreiheit auf einer bloßen Täuschung beruhe. Die andere Ansicht gesteht zwar der individuellen Willkür einen gewissen Spielraum zu, glaubt ihn aber, den Ergebnissen der moralischen Statistik zufolge, in so enge Grenzen einschließen zu müssen, daß er im Großen und Ganzen der menschlichen Handlungen verschwindet und daß hier nur die mächtigen Wirkungen allgemeiner und konstanter, über der individuellen Willkür stehender Ursachen zur Erscheinung kommen. ADOLF WAGNER hat mit lebhaften Farben ein Bild von dem Eindruck entworfen, den die Resultate der moralischen Statistik durch ihre überraschende Gesetzmäßigkeit auf einen poetisch gestimmten Geist wohl machen könnten. Er sagt (1):
2. Hauptresultate aus der Durchmusterung der moralischen Statistik 1) Alle Gesetzmäßigkeit, welche die moralische Statistik in den willkürlichen menschlichen Handlungen nachweist, rührt nicht von einem fatalistischen Gesetz her, von einem Verhängnis, das blinde Unterwürfigkeit forderte und sich mit unwiderstehlicher Macht vollstreckte, sondern sie ist das Produkt von konstanten, aber auch modfizierbaren Ursachen. 2) Die Gesetzmäßigkeit, welche die moralische Statistik nachweist, betrifft nur gewisse Klassen der willkürlichen menschlichen Handlungen und bezieht sich immer nur auf einen kleinen Bruchteil der Bevölkerung eines Landes, der zu diesen Handlungen vorzugsweise befähigt ist. Sowohl der mittlere Mensch überhaupt, als im besonderen der des männlichen und des weiblichen Geschlechts und eines bestimmten Lebensalters ist nur eine abstrakte mathematische Fiktion, welche zwar insofern gestattet ist, als sie anzeigt, in welchem Verhältnis die Zahl derjenigen Personen, welche eine gewisse Art von willkürlichen Handlungen begehen, zur Zahl der übrigen Personen derselben Klasse, welche sie nicht begehen, steht; es hat aber dieser abstrakte Begriff durchaus nicht die Bedeutung, als ob die Gesamtheit der Individuen dieser Klasse an den betreffenden Handlungen einen reellen Anteil hätte. 3) Die Befähigung zu den von der moralischen Statistik untersuchten Handlungen ist teils in der menschlichen Natur überhaupt begründet, teils in besonders begünstigenden Anlagen, die wiederum entweder individuell sind oder mit natürlichen Stammeseigentümlichkeiten zusammenhängen, teils in der gesellschaftlichen Stellung und Lebensgeschichte der Individuen. 4) ob und wie diese Befähigung zur Wirksamkeit gelangt, hängt von der Stärke der Veranlassung zum Handeln ab, von der Gelegenheit zur Ausführung und dem größeren oder geringeren Widerstand, den eine besonnene Überlegung und sittliche Bildung den verlockenden Antrieben entgegensetzen. 5) Die Beständigkeit der statistischen Zahlen weist darauf hin, daß in einem größeren sozialen Verband die Veranlassung und Gelegenheiten zu den Handlungen, auf welche sich jene Zahlen beziehen, alljährlich ziemlich gleichmäßig wiederkehren, aber auch, daß die Zahl der Individuen, für welche entweder (wie bei den nicht leichtsinnig geschlossenen Ehen), den Antrieben zum Handeln zu widerstehen, kein Grund vorhanden oder in denen (wie bei den Verbrechen und Selbstmorden) der sittliche Widerstand zu schwach ist, sich im Ganzen ziemlich gleich bleibt. 6) Die Veranlassungen und Gelegenheiten zu solchen Handlungen haben größtenteils ihren Sitz in sozialen Verhältnissen und Zuständen, die sich zwar längere Zeit behaupten, aber nicht schlechthin unveränderlich sind. Sie hängen aber zum Teil auch von der Gunst oder Ungunst ab, mit welcher die Natur unter verschiedenen Himmelsstrichen und zu verschiedenen Zeiten den menschlichen Bedürfnissen entgegenkommt. Die Frequenz der betrachteten Handlungen ist daher nicht schlechthin und allgemein eine konstante, sondern erleidet örtliche und zeitliche Modifikationen. 7) Ganz besonders die intellektuelle und moralische Bildung, die der Verlockung zu unbesonnenen und unerlaubten Handlungen Widerstand leisten kann, hängt von sozialen Zuständen, von der ganzen Gliederung und Organisation der Gesellschaft ab. Diese ist ebenso mannigfaltig wie die Völkerschaften, Volkssitten und Staatseinrichtungen. Aber auch der Organismus der Gesellschaft ist nicht stationär, sondern Veränderungen unterworfen, zufolge deren die sozialen Zustände sich bald verbessern bald verschlechtern und mit ihnen mindern oder mehren sich die unsittlichen Handlungen. 8) Versteht man unter willkürlichen Handlungen solche, welche einzig und allein das Werk des bloßen Wollens (die Kür, die Wahl des reinen Willens) sein sollen, so verneint die moralische Statistik, wenigstens innerhalb des ihr zugänglichen Gebietes, die reelle Existenz solcher Handlungen und erklärt die Willkür für einen bloßen Schein. Denn sie findet überall Veranlassungen, Triebfedern, Beweggründe - Motive zum Handeln. Wenn daher nur ein motivloser Wille Anspruch darauf hat, als freier Wille zu gelten, so leugnet die moralische Statistik entschieden, daß es in diesem Sinne einen freien Willen gebe. 9) Dagegen läßt sie die Frage ganz offen, ob der menschliche Wille jederzeit durch vernünftige Gründe bestimmt werden kann, auch den stärksten Verlockungen zu unbesonnenen oder unerlaubten Handlungen zu widerstehen, ob die eigene vernünftige Einsicht des Menschen jederzeit die Macht besitzt, seinem Wollen und Handeln die Richtung vorzuzeichnen. Die innersten, psychischen Motive der Handlungen, die sie registriert, entziehen sich fast durchaus ihrer Nachforschung und ob bei der großen Quote all der Personen, die zu solchen Handlungen gleichfalls befähigt sind, sie aber doch unterlassen, die Veranlassungen oder die Gelegenheit fehlen, oder die Erregbarkeit zu gering ist, oder die Stärke vernünftiger Selbstbeherrschung von der Ausführung zurückhält, - das alles läßt sich nicht nur fortwährend an seiner eigenen sittlichen Vervollkommnung arbeiten, sondern auch, mit mehr oder weniger Erfolg, je nach seiner Begabung und gesellschaftlichen Stellung, in engeren oder weiteren Kreisen, in der Familie, im Geschäftsleben, im geselligen Umgang, in der Schule, der Kirche, dem Staat, auf andere einen sittlichen Einfluß gewinnen kann; daß durch die Erziehung, durch sittlich-religiöse Belehrung und Erhebung, durch gutes Beispiel, Gemeinsinn, verständige Wohltätigkeit, durch menschenfreundliche Vereine, gewissenhafte Verwaltung der Ämter, weise Gesetze sehr wesentliche Verbesserungen der sozialen Zustände herbeigeführt werden können, und diese also vom Gesamtwillen der Gesellschaft abhängen, zu dem jeder Einzelne seinen Beitrag liefert, - das alles darf wohl für eine so allbekannte und anerkannte Wahrheit gelten, daß jedes weitere Wort darüber unnütz scheint. Und in der Tat kann man sich hierbei beruhigen, wenn man die menschlichen Dinge nur aus dem Standpunkt des praktischen Lebens betrachtet und bei ihrer Beurteilung keinen feineren Maßstab anlegt als den des gemeinen Verstandes (common sense), der zwar gesund ist, aber auch alle tieferen Untersuchungen als Grübeleien zurückweist. Für eine wissenschaftlich philosophische Lesart jedoch läßt das Studium der moralischen Statistik einen Stachel des Zweifels zurück. Denn da sich diese entschieden gegen alles motivlose Wollen erklärt, überall vielmehr Motive des Wollens sucht und findet, so drängt sich uns unabweislich die ernste Frage auf, ob nicht auch da, wo wir aus inneren Motiven zu wollen und zu handeln, uns selbst zu gewissen Richtungen des Wollens zu bestimmen meinen, wir in einer großen Täuschung befangen sind; ob nicht in höherer Instanz alle Antriebe zum Wollen und Handeln von außen her stammen, ob im steten Verkehr, in welchem wir mit der Außenwelt stehen, unser denkender und wollender Geist doch nur das Gepräge annimmt, das ihm die Dinge, mit denen er verkehrt und die Umstände, unter denen es geschicht, aufdrücken und ob nicht, wenn er einmal ein solches Gepräge angenommen hat, auch die Handlungen, welche wir als absichtliche, selbsterwählte, freie anzusehen gewohnt sind, mit Notwendigkeit erfolgen müssen und in dieser Notwendigkeit zuletzt jede Spur von Willensfreiheit sich wie im Sand verliert, um entweder der allgemeinen Gesetzmäßigkeit des Naturlaufs, in dessen großes Getriebe dann das Leben unseres Geistes als ein unscheinbares Rädchen, das nur Bewegungen empfängt, um sie weiter zu geben, eingeflochten ist, Platz zu machen oder einem einzigen wirklich vorhandenen und unbemerkt an den Wandlungen der Dinge wie an und in uns selbst sich vollziehenden Willen, dem Willen des Weltgeistes zu weichen. Diese große Frage, mit deren Beantwortung sich die tiefsten Denker der christlichen Aera der Philosophie vielfach beschäftigt haben, wollen wir jetzt, nachdem die moralische Statistik einen neuen und kräftigen Anstoß zu ihrer Erörterung gegeben hat, im folgenden kritisch zu beleuchten versuchen. ![]()
1) ADOLF WAGNER, Statistisch-anthropologische Untersuchung der Gesetzmäßigkeit der scheinbar willkürlichen menschlichen Handlungen, Hamburg 1864, Seite 44f |