ra-2A. BolligerW. LexisB. Erdmann    
 
MORITZ WILHELM DROBISCH
Die moralische Statistik
und die Willensfreiheit

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"Unter einer hinlänglich großen Anzahl von Personen, die zu einer gewissen Gattung von willkürlichen Handlungen befähigt sind, steht die Zahl derjenigen, welche diese Handlungen innerhalb eines bestimmten Zeitraums (z. B. eines Jahres) vollziehen, zur Gesamtzahl der dazu Befähigten in einem konstanten Verhältnis, so daß sich diese Verhältniszahl in den nächstfolgenden gleichen Zeiträumen (mit geringen Abweichungen) gleichbleibt."

"Nur durch ein grobes Mißverständnis kann die mathematische Fiktion des mittleren Menschen überhaupt oder desjenigen eines bestimmten Alters und Geschlechts so ausgelegt werden, als ob an dem, was von dieser mittleren Person gilt,  alle  Individuen dieser Kategorie einen  reellen Anteil  hätten."


1. Einleitendes
[Fortsetzung]

Wir können nun als das allgemeine Ergebnis der vorstehenden Erörterungen folgenden Satz aufstellen: Überall, wo konstante Ursachen mit regellos variierenden akzidentiellen Ursachen wiederholt zusammentreffen, hierdurch aber nur alternativ zweierlei einander ausschließende (entgegengesetzte) Arten von Ereignissen bewirkt werden können, müssen bei einer hinlänglich großen Zahl der Wiederholung dieses Zusammentreffens die Zahlen, in welchen die Ereignisse beider Arten eintreten, sich allmählich einem konstanten Verhältnis nähern.

Diesen Satz wird man aber auch umkehren und schließen dürfen, daß überall, wo in einer langen Reihe regellos wechselnder Ereignisse von zweierlei Art allmählich zwischen den Zahlen der Ereignisse jeder von beiden Arten ein konstantes Verhältnis hervortritt, mit regellos variierenden akzidentiellen Ursachen konstante Ursachen zusammenwirken müssen; denn ohne die Voraussetzung von konstanten Ursachen würde die konstante Folge ganz unerklärlich sein. Derselbe Schluß wird aber auch noch gelten, wenn solche Ereignisse nicht sukzessiv eintreten, sondern unter einer Menge  gleichzeitiger  Ereignisse entgegengesetzter Art, je größer ihre Anzahl, umso mehr ein konstantes Verhältnis zwischen den Zahlen, in welchen beide Arten vorkommen, sich bemerkbar macht. Es wird endlich dieser Schluß verdoppelt zur Anwendung kommen, wenn das konstante Verhältnis, das bei einer großen Anzahl gleichzeitiger Ereignisse hervortritt, sich sukzessiv innerhalb gleicher Zeiträume wiederholt.

Das ist nun der Fall, der in der  moralischen  Statistik tatsächlich vorliegt. Diese nämlich, eine wertvolle wissenschaftliche Erwerbung der Neuzeit, hat die überraschende Entdeckung gemacht, daß in den willkürlichen Handlungen der Menschen, von denen man denken sollte, daß sie sich jeder Regel entziehen und die in der Tat auch im Einzelnen einer solchen nicht unterworfen sind und niemals werden vorausbestimmt werden können, doch, wenn man sie im Großen und Ganzen betrachtet, eine Gesetzmäßigkeit waltet, die sich zunächst in folgendem allgemeinen Satz aussprechen läßt:
    Unter einer hinlänglich großen Anzahl von Personen, die zu einer gewissen Gattung von willkürlichen Handlungen befähigt sind, steht die Zahl derjenigen, welche diese Handlungen innerhalb eines bestimmten Zeitraums (z. B. eines Jahres) vollziehen, zur Gesamtzahl der dazu Befähigten in einem konstanten Verhältnis, so daß sich diese Verhältniszahl in den nächstfolgenden gleichen Zeiträumen (mit geringen Abweichungen) gleichbleibt. 
Es folgt hieraus von selbst
    daß auch die Zahl derer, welche solche Handlungen vollziehen, zur Zahl derer, welche sie unterlassen, in einem konstanten Verhältnis steht. 
Die moralische Statistik hat diese Gesetzmäßigkeit namentlich nachgewiesen an den Heiraten, den Verbrechen und den Selbstmorden. Sie offenbart sich immer erst an einer zahlreichen und hinsichtlich gewisser natürlicher und sozialer Bedingungen gleichartigen Bevölkerung und gibt sich durch ihre Beständigkeit in aufeinander folgenden gleichen Zeiträumen (Jahren) zu erkennen. Denn diese Beständigkeit der moralstatistischen Verhältniszahlen ist zum Teil sogar größer als die Beständigkeit der Quote, welche nach dem Gesetz der Sterblichkeit in jedem Lebensalter alljährlich dem Tod verfällt. Demnach ist also die Regelmäßigkeit in der Wiederkehr gewisser willkürlicher menschlicher Handlungen sogar größer als die, mit welcher die Naturnotwendigkeit des Todes sich alljährlich geltend macht.

Nun sind aber diese konstanten Verhältniszahlen, ebensowenig wie die Sterblichkeitsverhältnisse, weder in allen Ländern, Völkern und Staaten dieselben, noch auch innerhalb einer und derselben Bevölkerungsgruppe für immer von gleichem Wert. Denn abgesehen von den in manchen Jahren auffallend großen Abweichungen, die als Anomalien erscheinen, ändern sich in längeren Perioden allmählich ihre Werte, so daß in späteren Jahrzehnten die Quote der Bevölkerung, die gewisse willkürliche Handlungen begeht, bald größer bald kleiner ist als in einem früheren Jahrzehnt. Das beweist, daß die tatsächlich vorhandene Gesetzmäßigkeit nicht bloß von konstanten allgemein menschlichen, sondern auch von besonderen, teils physischen teils moralischen Ursachen, vorzüglich von sozialen Verhältnissen und Zuständen der Bevölkerungsgruppen abhängt, die denselben wiederum teils bleibend eigentümlich sind, teils sich mit der Zeit ändern.

Die moralische Statistik bleibt ferner innerhalb jeder Bevölkerungsgruppe nicht bei den allgemeinsten Kategorien von Personen und willkürlichen Handlungen stehen; sie untersucht vielmehr weiter, in welchem Maße sich die beiden Geschlechter, und diese wieder je nach ihren verschiedenen Lebensaltern an Heiraten, Verbrechen und Selbstmorden beteiligen. Sie unterscheidet z. B. Heiraten zwischen ledigen Personen von solchen, bei denen ein Teil oder beide Teile zuvor verwittwet waren; sie klassifiziert die Verbrecher und Selbstmörder nach ihren Berufsarten, Lebensverhältnissen, ihrer Religion und Konfession usw.; sie scheidet die Verbrechen gegen das Eigentum von denen gegen Personen, Verbrechen aus Eigennutz von denen aus Bosheit, sie spezifiziert weiter die Verbrechen gegen Personen, als Totschlag, Mord, Unzucht, Vergiftung usw.; sie untersucht, in welchen Jahres- und Tageszeiten Verbrechen und Selbstmord am häufigsten und mit welchen Mitteln sie begangen werden; sie registriert, in welchem Verhältnis die Selbstmorde Folge von geistiger oder körperlicher Krankheit, oder von Lastern, Leidenschaften, unglücklichen Lebensverhältnissen sind. Wie weit sie aber auch in diesen immer mehr sich verfeinernden Einteilungen gehen mag, immer findet sie, sofern ihr nur hinlänglich große Zahlen vergleichbarer Fälle zu Gebote stehen, Verhältniszahlen, die wenigstens innerhalb nicht allzu ausgedehnter Zeiträume nahezu konstant bleiben.

Die moralische Statistik enthüllt auf diese Weise jedenfalls einen Teil der die willkürlichen menschlichen Handlungen bedingenden oder mindestens bei ihrer Ausführung mitwirkenden Ursachen derselben. Hieraus entwickeln sich nun zwei Ansichten über die Natur dieser Handlungen. Die eine hält sich überzeugt, daß alle Willkür sich zuletzt in einen bloßen Schein auflösen muß, daß alle willkürlichen Handlungen der Menschen und auch ihre psychischen Motive, durch den gesetzlichen Naturlauf, dem der Mensch als geistiges wie als körperliches Wesen eingereiht sei, mit Notwendigkeit bestimmt werden und alle Willensfreiheit auf einer bloßen Täuschung beruhe. Die andere Ansicht gesteht zwar der individuellen Willkür einen gewissen Spielraum zu, glaubt ihn aber, den Ergebnissen der moralischen Statistik zufolge, in so enge Grenzen einschließen zu müssen, daß er im Großen und Ganzen der menschlichen Handlungen verschwindet und daß hier nur die mächtigen Wirkungen allgemeiner und konstanter, über der individuellen Willkür stehender Ursachen zur Erscheinung kommen. ADOLF WAGNER hat mit lebhaften Farben ein Bild von dem Eindruck entworfen, den die Resultate der moralischen Statistik durch ihre überraschende Gesetzmäßigkeit auf einen poetisch gestimmten Geist wohl machen könnten. Er sagt (1):
    "Denken wir uns, in jener guten alten Zeit, in welcher man fabelhaften Reisebeschreibungen, wie denen SWIFTs in seinen Erzählungen von GULLIVER, mehr Geschmack abgewann als gegenwärtig, hätte ein Schriftsteller, um seinem Publikum etwas Neues zu bieten, etwa folgende Schilderung eines fremden Volkes und Staates entworfen. In diesem Land wird für ein jedes Jahr im voraus durch das Staatsgesetz bestimmt, wie viele Paare heiraten dürfen, welche Altersklassen untereinander heiraten, wie viele junge Mädchen alte Männer, junge Männer alte Frauen bekommen, bei wie viel Paaren die Altersdifferenz so groß, bei wie vielen sie so groß sein, wie viele Wittwen und Wittwer wieder heiraten, wie viele Ehen durch die Gerichte geschieden werden sollen usw. Alsdann bestimmt das Los unter den einzelnen Geschlechtern, Alters-, Zivilstands-, Berufsklassen die Einzelnen in der gesetzlichen Zahl, welche sich heiraten sollen. Ein anderes Gesetz der Staatsgewalt normiert im voraus die Zahl derjenigen Personen, welche ihrem Leben im nächsten Jahr durch Selbstmord ein Ende zu machen haben und verteilt diese Zahl nach einem vorausbestimmten Verhältnis auf die Geschlechter, die Alters- und Berufsarten usw., verordnet endlich auch gleichzeitig, wie viele dieser, den verschiedenen Klassen angehörenden Personen das Wasser, den Strick, die Pistole, das Messer, das Gift usw. als Mittel zum Selbstmord benutzen sollen. Wiederum bezeichnet dann das Los aufgrund dieser Vorschrift die Individuen, welche sich das Leben zu nehmen haben. Ein drittes Gesetz des Staates setzt in ähnlicher Weise fest, wie viele und welche Verbrechen im nächsten Jahr begangen werden sollen, welche einzelnen Klassen der Bevölkerung diese Verbrechen auszuführen haben, wie viele Verurteilungen und Freisprechungen dafür erlassen werden, wie viele und welche Strafen eintreten und auch hier entscheidet dann das Loos wieder über den Einzelnen aus dieser und jener Klasse, welcher das Verbrechen zu begehen und dafür zu leiden hat. Ebenso bestimmen viele andere Gesetze im voraus die Vornahme anderer böser und guter Handlungen nach Zahl und Art und Verteilung auf die einzelnen Bevölkerungsklassen in der geschilderten Weise. Kurz alle die Handlungen, welche wir frei und nach eigener Bestimmung und eigenem Gutdünken vorzunehmen pflegen, diese werden nach der Beschreibung unseres Reisenden in jenem Staat von Oben aus geboten und angeordnet und ihr Zahlenverhältnis fortgesetzt. Und das Volk dieses Staates fügt sich vollkommen darin ein und führt Jahr aus Jahr ein die Gesetze treu aus. Aber,"
so fährt der Verfasser fort
    "was auf solche Weise niemals künstlich durch Menschenwillen und Menschengewalt durchgeführt werden könnte, das vollzieht sich wunderbarer Weise von selbst infolge der natürlichen Organisation der menschlichen Gesellschaft. Denn jenes fremdartige Bild des abenteuerlichsten Volkes und Staates, ist es nicht genau dasjenige, welches uns unsere Völker und Staaten bieten, nur daß hier ein dem Einzelnen unfühlbares Gesetz der Natur zur Ausführung gelangt?"
Der Schluß dieser Betrachtung lautet:
    "Das Merkwürdigste dabei aber bleibt, daß wir in dieser Weise als dienende Glieder eines großen Mechanismus fungieren, dennoch aber eine ganz unbeschränkte freie Bewegung besitzen, welche diesen Mechanismus nicht in seinem vorgezeichneten Gang stört. Ja, glauben wir doch darüber hinaus sogar noch vollkommen frei und uns selbstbestimmend zu handeln, während wir im Großen und Ganzen nur bestimmt werden, während unsere Handlungen, in der Masse betrachtet, von festen allgemeinen Ursachen beherrscht werden und wie die Prozesse der physischen Weltordnung vor sich gehen."
In dieser Schilderung laufen nun, wie es uns scheint, die zuvor erwähnten zwei Ansichten über die Natur der willkürlichen Handlungen einigermaßen durcheinander. Die Schilderung lautet entschieden  fatalistisch,  wenn sie von einem Gesetz spricht, das gebieterisch Unterwerfung  fordere  und sich mit eiserner  Notwendigkeit vollziehe,  von einem großen Mechanismus, in dem die Menschen nur als  dienende Glieder  fungieren. Sie erklärt nun zwar andererseits dieses Gesetz für eine Folge der natürlichen Organisation der menschlichen Gesellschaft, übergeht aber mit Stillschweigen, daß diese Organisation  nicht das reine Produkt eines Naturmechanismus,  sondern ein sehr wesentlicher Faktor derselben ein  überlegtes  Wollen ist, das sich in Sitten, Gewohnheiten, Gesetzgebung, in den Einrichtungen und der Verwaltung des Staates usf. bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen in sehr verschiedener Weise kund gibt, ein Wollen, an welchem die einzelnen Glieder der Gesellschaft zwar in höchst ungleichem Maße teilhaben, das aber doch die letzte Resultante aller Einzelwillen ist. Solange also noch nicht der Nachweis vorliegt, daß nicht bloß Heiraten, Verbrechen und Selbstmorde, sondern auch alle vernünftigen und zweckmäßigen Einrichtungen im Staat, in der Kirche und Schule, im Gemeinde- und Familienverband, alle Bestrebungen, den Zustand der Gesellschaft zu verbessern, Sittlichkeit und Religiosität zu fördern, den Veranlassungen zu gesetzwidrigen und unmoralischen Handlungen entgegenzuarbeiten, gleichfalls nur das Werk einer Naturnotwendigkeit sind, der auch die Weisesten und Besten, die Wohltäter der Menschheit bloß als blinde Werkzeuge dienen, kann jene fatalistische Ansicht von den Triebfedern der willkürlichen menschlichen Handlungen für nichts mehr als für eine übereilte Behauptung gelten, der es an einer soliden Begründung gänzlich fehlt. Ganz unrichtig ist es aber, wenn die vorstehende Schilderung so spricht, als ob die Individuen, die durch ihre Handlungen das Gesetz vollziehen, durch das Los, also nach blindem Zufall, aus der Gesamtbevölkerung gezogen würden; vielmehr lehrt die moralische Statistik gerade das Gegenteil. Denn sie bestrebt sich, die natürlichen und erworbenen Eigenschaften und äußeren Verhältnisse  derjenigen  Individuen, die gewisse willkürliche Handlungen ausführen, mit möglichster Vollständigkeit anzugeben. Damit aber weist sie nach, daß bei jenen Handlungen und jeder Klasse derselben  nicht die Gesamtbevölkerung,  auch  nicht die Gesamtheit  der Personen eines bestimmten Lebensalters und Geschlechts, sondern nur eine näher bezeichnete  bestimmte Gruppe  von Individuen beteiligt ist. Nur durch ein grobes Mißverständnis kann die mathematische Fiktion des mittleren Menschen überhaupt oder desjenigen eines bestimmten Alters und Geschlechts so ausgelegt werden, als ob an dem, was von dieser mittleren Person gilt,  alle  Individuen dieser Kategorie einen  reellen Anteil  hätten. Gerade in der Individualität der Person, ihrer Stellung innerhalb der Gesellschaft, in besonderen Veranlassungen und sich darbietenden günstigen Gelegenheiten liegen die Ursachen, die den  einen  zu dieser, den  andern  zu jener Handlung antreiben, wobei für einen dritten oder vierten diese Antriebe überhaupt nicht vorhanden sind. Ob nun dabei der Mensch durch seine Individualität und den Drang der Umstände  genötigt  ist, den sich ihm darbietenden Antrieben zu folgen oder ob er einen Willen besitzt, der ebenso die Gelegenheit ergreifen als auch der stärksten Verlockung mit Erfolg Widerstand leisten kann, ist allerdings eine hochwichtige Frage, die einer weiteren Untersuchung vorbehalten bleiben muß und die wir später zu erörtern versuchen werden. An dieser Stelle kommt es aber zunächst nur darauf an, ohne alles Schwanken die Einsicht zu gewinnen,
    daß die konstante Regelmäßigkeit in gewissen willkürlichen Handlungen nicht auf einem Gesetz beruth, das den Handlungen vorausgeht und gebieterisch Vollzug verlangt, sondern das umgekehrt alle Gesetzlichkeit, welche die moralische Statistik nachweist, das "Produkt" von relativ konstanten, daher auch nicht schlechthin unveränderlichen Verhältnissen und zusammenwirkenden Ursachen ist, neben welchen aber noch unzählige andere variable Ursachen bestehen, die sich jeder Subsumtion unter eine Regel entziehen. 




2. Hauptresultate aus der Durchmusterung der moralischen Statistik

1) Alle Gesetzmäßigkeit, welche die moralische Statistik in den willkürlichen menschlichen Handlungen nachweist, rührt nicht von einem fatalistischen Gesetz her, von einem Verhängnis, das blinde Unterwürfigkeit forderte und sich mit unwiderstehlicher Macht vollstreckte, sondern sie ist das  Produkt  von konstanten, aber auch modfizierbaren Ursachen.

2) Die Gesetzmäßigkeit, welche die moralische Statistik nachweist, betrifft nur gewisse Klassen der willkürlichen menschlichen Handlungen und bezieht sich immer nur auf einen kleinen Bruchteil der Bevölkerung eines Landes, der zu diesen Handlungen vorzugsweise befähigt ist. Sowohl der  mittlere Mensch  überhaupt, als im besonderen der des männlichen und des weiblichen Geschlechts und eines bestimmten Lebensalters ist nur eine abstrakte mathematische Fiktion, welche zwar insofern gestattet ist, als sie anzeigt, in welchem Verhältnis die Zahl derjenigen Personen, welche eine gewisse Art von willkürlichen Handlungen begehen, zur Zahl der übrigen Personen derselben Klasse, welche sie nicht begehen, steht; es hat aber dieser abstrakte Begriff durchaus  nicht die  Bedeutung, als ob die  Gesamtheit  der Individuen dieser Klasse an den betreffenden Handlungen einen  reellen Anteil  hätte.

3) Die Befähigung zu den von der moralischen Statistik untersuchten Handlungen ist teils in der menschlichen Natur überhaupt begründet, teils in besonders begünstigenden Anlagen, die wiederum entweder individuell sind oder mit natürlichen Stammeseigentümlichkeiten zusammenhängen, teils in der gesellschaftlichen Stellung und Lebensgeschichte der Individuen.

4) ob und wie diese Befähigung zur Wirksamkeit gelangt, hängt von der Stärke der Veranlassung zum Handeln ab, von der Gelegenheit zur Ausführung und dem größeren oder geringeren Widerstand, den eine besonnene Überlegung und sittliche Bildung den verlockenden Antrieben entgegensetzen.

5) Die Beständigkeit der statistischen Zahlen weist darauf hin, daß in einem größeren sozialen Verband die Veranlassung und Gelegenheiten zu den Handlungen, auf welche sich jene Zahlen beziehen, alljährlich ziemlich gleichmäßig wiederkehren, aber auch, daß die Zahl der Individuen, für welche entweder (wie bei den nicht leichtsinnig geschlossenen Ehen), den Antrieben zum Handeln zu widerstehen, kein Grund vorhanden oder in denen (wie bei den Verbrechen und Selbstmorden) der sittliche Widerstand zu schwach ist, sich im Ganzen ziemlich gleich bleibt.

6) Die Veranlassungen und Gelegenheiten zu solchen Handlungen haben größtenteils ihren Sitz in sozialen Verhältnissen und Zuständen, die sich zwar längere Zeit behaupten, aber nicht schlechthin unveränderlich sind. Sie hängen aber zum Teil auch von der Gunst oder Ungunst ab, mit welcher die Natur unter verschiedenen Himmelsstrichen und zu verschiedenen Zeiten den menschlichen Bedürfnissen entgegenkommt. Die Frequenz der betrachteten Handlungen ist daher nicht schlechthin und allgemein eine konstante, sondern erleidet örtliche und zeitliche Modifikationen.

7) Ganz besonders die intellektuelle und moralische Bildung, die der Verlockung zu unbesonnenen und unerlaubten Handlungen Widerstand leisten kann, hängt von sozialen Zuständen, von der ganzen Gliederung und Organisation der Gesellschaft ab. Diese ist ebenso mannigfaltig wie die Völkerschaften, Volkssitten und Staatseinrichtungen. Aber auch der Organismus der Gesellschaft ist nicht stationär, sondern Veränderungen unterworfen, zufolge deren die sozialen Zustände sich bald verbessern bald verschlechtern und mit ihnen mindern oder mehren sich die unsittlichen Handlungen.

8) Versteht man unter  willkürlichen  Handlungen solche, welche einzig und allein das Werk des  bloßen Wollens  (die Kür, die Wahl des reinen Willens) sein sollen, so  verneint  die moralische Statistik, wenigstens innerhalb des ihr zugänglichen Gebietes, die reelle Existenz solcher Handlungen und erklärt die Willkür für einen bloßen Schein. Denn sie findet überall Veranlassungen, Triebfedern, Beweggründe - Motive zum Handeln.  Wenn  daher nur ein  motivloser  Wille Anspruch darauf hat, als  freier Wille  zu gelten, so  leugnet  die moralische Statistik entschieden, daß es in  diesem  Sinne einen freien Willen gebe.

9) Dagegen läßt sie die Frage ganz offen, ob der menschliche Wille jederzeit  durch vernünftige Gründe bestimmt  werden kann, auch den stärksten Verlockungen zu unbesonnenen oder unerlaubten Handlungen zu widerstehen, ob die  eigene vernünftige Einsicht  des Menschen jederzeit die Macht besitzt, seinem Wollen und Handeln die Richtung vorzuzeichnen. Die  innersten,  psychischen Motive der Handlungen, die sie registriert, entziehen sich fast durchaus ihrer Nachforschung und ob bei der großen Quote all der Personen, die zu solchen Handlungen gleichfalls befähigt sind, sie aber doch unterlassen, die Veranlassungen oder die Gelegenheit fehlen, oder die Erregbarkeit zu gering ist, oder die Stärke vernünftiger Selbstbeherrschung von der Ausführung zurückhält, - das alles läßt sich nicht nur fortwährend an seiner eigenen sittlichen Vervollkommnung arbeiten, sondern auch, mit mehr oder weniger Erfolg, je nach seiner Begabung und gesellschaftlichen Stellung, in engeren oder weiteren Kreisen, in der Familie, im Geschäftsleben, im geselligen Umgang, in der Schule, der Kirche, dem Staat, auf  andere  einen sittlichen Einfluß gewinnen kann; daß durch die Erziehung, durch sittlich-religiöse Belehrung und Erhebung, durch gutes Beispiel, Gemeinsinn, verständige Wohltätigkeit, durch menschenfreundliche Vereine, gewissenhafte Verwaltung der Ämter, weise Gesetze sehr wesentliche Verbesserungen der sozialen Zustände herbeigeführt werden können, und diese also vom Gesamtwillen der Gesellschaft abhängen, zu dem jeder Einzelne seinen Beitrag liefert, - das alles darf wohl für eine so allbekannte und anerkannte Wahrheit gelten, daß jedes weitere Wort darüber unnütz scheint. Und in der Tat kann man sich hierbei beruhigen, wenn man die menschlichen Dinge nur aus dem Standpunkt des praktischen Lebens betrachtet und bei ihrer Beurteilung keinen feineren Maßstab anlegt als den des gemeinen Verstandes (common sense), der zwar gesund ist, aber auch alle tieferen Untersuchungen als Grübeleien zurückweist. Für eine wissenschaftlich philosophische Lesart jedoch läßt das Studium der moralischen Statistik einen Stachel des Zweifels zurück. Denn da sich diese entschieden gegen alles motivlose Wollen erklärt, überall vielmehr Motive des Wollens sucht und findet, so drängt sich uns unabweislich die ernste Frage auf, ob nicht auch da, wo wir aus  inneren  Motiven zu wollen und zu handeln, uns  selbst  zu gewissen Richtungen des Wollens zu bestimmen meinen, wir in einer großen Täuschung befangen sind; ob nicht in höherer Instanz alle Antriebe zum Wollen und Handeln von außen her stammen, ob im steten Verkehr, in welchem wir mit der Außenwelt stehen, unser denkender und wollender Geist doch nur das Gepräge annimmt, das ihm die Dinge, mit denen er verkehrt und die Umstände, unter denen es geschicht, aufdrücken und ob nicht, wenn er einmal ein solches Gepräge angenommen hat, auch die Handlungen, welche wir als absichtliche, selbsterwählte, freie anzusehen gewohnt sind, mit  Notwendigkeit  erfolgen müssen und in dieser Notwendigkeit zuletzt jede Spur von Willensfreiheit sich wie im Sand verliert, um entweder der allgemeinen Gesetzmäßigkeit des Naturlaufs, in dessen großes Getriebe dann das Leben unseres Geistes als ein unscheinbares Rädchen, das nur Bewegungen empfängt, um sie weiter zu geben, eingeflochten ist, Platz zu machen oder einem einzigen wirklich vorhandenen und unbemerkt an den Wandlungen der Dinge wie an und in uns selbst sich vollziehenden Willen, dem Willen des Weltgeistes zu weichen. Diese große Frage, mit deren Beantwortung sich die tiefsten Denker der christlichen Aera der Philosophie vielfach beschäftigt haben, wollen wir jetzt, nachdem die moralische Statistik einen neuen und kräftigen Anstoß zu ihrer Erörterung gegeben hat, im folgenden kritisch zu beleuchten versuchen.
LITERATUR - Moritz Wilhelm Drobisch, Die moralische Statistik und die Willensfreiheit, Leipzig 1867
    Anmerkungen
    1) ADOLF WAGNER, Statistisch-anthropologische Untersuchung der Gesetzmäßigkeit der scheinbar willkürlichen menschlichen Handlungen, Hamburg 1864, Seite 44f