ra-2A. BolligerW. LexisB. Erdmann    
 
MORITZ WILHELM DROBISCH
Die moralische Statistik
und die Willensfreiheit

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"Nach der Freiheit des Wollens fragen, bedeutet soviel als fragen: kannst du auch wollen was du willst? welches herauskomme, als ob das Wollen noch von einem anderen hinter ihm liegenden Wollen abhänge. Gesetzt diese Frage würde bejaht, so entstände alsbald die zweite: kannst du auch wollen, was du wollen willst? und so würde es bis ins Unendliche hinaufgeschoben werden, indem wir immer ein Wollen von einem früheren oder tiefer liegenden abhängig dächten."

"Wir halten unser Wollen für  absolut frei,  wenn es von der anziehenden oder abstoßenden Beschaffenheit dessen, was sich als Ziel eines möglichen Wollens darbietet,  unabhängig  erscheint, wenn die Richtung und Stärke des Wollens nicht durch die Beurteilung des Werts oder Unwerts, des Vorteils oder Nachteils des möglicherweise zu Wollenden bestimmt, wenn durch Objekte, die sich als wünschenswerte Güter darstellen, der Wille nicht in Bewegung gesetzt, durch solche, welche wir als Übel erkennen, nicht verhindert wird, der durch sie bezeichneten Richtung zu folgen."


3. Über die menschliche Willensfreiheit

Freiheit in der weitesten Bedeutung des Wortes ist ein Prädikat, das nicht bloß dem menschlichen Willen und den von ihm ausgehenden, daher willkürlich genannten Handlungen beigelegt wird, sondern auch anderen willenlosen, ja selbst leblosen Dingen. Wir sagen: draußen im Freien, auf dem freien Feld, in der freien Luft, unter freiem Himmel; die Mechanik spricht von frei fallenden Körpern und frei beweglichen Punkten, die Physik von freier Wärme und Elektrizität, die Ästhetik von freiem Phantasieren und freier Schönheit usf. In allen diesen Verbindungen zeigt das Prädikat "frei" nur an das Nichtvorhandensein irgendwelcher Beschränkung, Begrenzung, Gebundenheit, Hemmung, irgendeines Zwangs hinsichtlich der Beschaffenheit oder des Zustandes dessen, dem es beigelegt wird. Der Begriff der Freiheit ist in diesem Sinne ein bloß negativer und Wert kommt dieser Freiheit nur da zu, wo Beschränkung und Zwang als eine Störung der Eigentümlichkeit dessen, dem sie auferlegt sind, anzusehen ist. Sofern nun der Mensch strebt, seine Gedanken durch Handlungen zu verwirklichen, ist  sein Handeln frei,  wenn jenes Streben nicht durch äußere Hindernisse gehemmt wird. Da nun dieses innerliche Streben sein Wollen heißt, das erst, wenn es den beabsichtigten Erfolg hat, zum Handeln wird, so sagt der Mensch:  ich bin frei, wenn ich tun kann, was ich will.  Gewerbs-, Verkehrs- und Handelsfreiheit, Lehr-, Lern-, Rede- und Pressefreiheit sind Freiheiten dieser Art. Dem Gedachten und Gewollten gemäß ohne Hemmung und Schranke handeln zu können, erscheint hier als die Eigentümlichkeit des Menschen, auf die er Wert legt, als ein Gut, jede Einschränkung dieser Ungebundenheit als ein Übel. Nun  kann  zwar der Mensch bei weitem  nicht  alles, was er will. Durch die Natur überhaupt, insbesondere seine körperliche Organisation sind ihm Schranken gesetzt und er kann sich eine noch größere Freiheit des Handelns denken als die, welche ihm zu Gebote steht. Aber es gelingt seinem Erfindungsgeist immer besser, durch künstliche Hilfsmittel die Tragweite seiner Sinne, die Wirksamkeit seiner Hand ins Unbegrenzte zu steigern, sich einen immer großartigeren Wirkungskreis zu erobern, die Stoffe und Kräfte der Natur seinen Zwecken dienstbar zu machen, die Hemmungen, welche räumliche und zeitliche Entfernungen seinen Kraftäußerungen entgegensetzen, zu besiegen und so die natürlichen Schranken seiner Freiheit zu handeln immer weiter hinauszurücken.

Aber diese Freiheit ist nur eine  äußere.  Sie bedeutet nicht mehr, als daß, wo sie vorhanden, der Mensch nicht gehindert ist, in der Außenwelt Veränderungen hervorzubringen, die mit dem, wonach er innerlich strebt, übereinstimmen. Wäre nun dieses Streben des Wünschens, Verlangens, Begehrens, Wollens immer sich selbst gleich, wie etwa die geradlinige und gleichförmige Bewegung eines Punktes, so käme keine anderweitige Freiheit in Frage. Man könnte dann bei folgenden Sätzen SPINOZAs (1) Beruhigung fassen: "Jedes Ding strebt, soweit es in sich ist, in seinem Sein zu verharren." und: "Das Bestreben, womit jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt, - ist nichts als das wirkliche Wesen des Dinges selbst." Der gleichmäßige ungehemmte Abfluß dieses inneren Strebens wäre dann eben die Wesenheit (essentia), die eigentümliche Natur des Geistes. Und wie das sogenannte Trägheitsgesetz es als ein selbstverständliches Axiom ansieht, daß nicht nur die Ruhe, sondern auch die geradlinige und gleichförmige Bewegung eines Körpers oder materiellen Punktes, als eine sich immer selbst gleiche Veränderung, solange fortdauert, als nicht äußere Ursachen das Ruhende in Bewegung setzen, das Bewegte nötigen, seine Richtung und Geschwindigkeit zu ändern oder gar die Bewegung mit Ruhe zu vertauschen, für diese Fortdauer der Ruhe oder gleichförmigen und geradlinigen Bewegung aber keine besondere Ursache gefordert wird, - so könnte man auch einen unverändert fortdauernden Zustand des Geistes, wie ein solches sich selbst gleichbleibendes Streben sein würde, als ein inneres Geschehen betrachten, das einer Ursache nicht bedürftig wäre und in dem sich nur das eigentümliche Wesen des Geistes offenbarte.

Aber so einförmig ist unser inneres Streben nicht. Die Richtungen unseres Begehrens und Wollens ändern sich unaufhörlich und die Energen, mit denen wir begehren und wollen, wechseln nicht minder in den größten Abstufungen. Wir können wollen und nicht wollen, dieses oder jenes wollen und wir wollen in der Tat bald dieses bald jenes. Unser inneres Streben hat nicht eine geradlinige, auch nicht eine krummlinige Bewegung, sondern eine Bewegung in einer vielfach gebrochenen Linie zum Bild, deren Teile bald mit Hast, bald mit zögernder Langsamkeit beschrieben werden. Wie nun aber die Mechanik für jede Abweichung des Bewegten von seiner ursprünglichen Richtung, für jede Ab- und Zunahme seiner Geschwindigkeit Ursachen fordert, so müssen auch für jeden Wechsel in der Richtung und Stärke unseres inneren Strebens Ursachen vorausgesetzt werden.

Die Mechanik läßt in der Körperwelt nur  äußere  Ursachen zu. Der ruhende materielle Punkt setzt sich nicht selbst in Bewegung, der bewegte ändert nich selbst seine Richtung und Geschwindigkeit, sondern dies geschieht durch Kräfte, die von anderen Punkten ausgehen. Daß nun unsere Seele unaufhörlich von außen her zu innerer Tätigkeit erregt wird, bezeugen die Empfindungen und daß diese Erregungen als Vorstellungen fortdauern, die Erinnerungen. Ob aber auch unser Wollen von außen her seine Richtungen und Stärkegrade empfängt, das ist die weitere Frage, die, wenn sie bejahend beantwortet werden muß, alle Freiheit des Willens in das Reich der Jllusionen verweist, mit denen sich die menschliche Selbstüberhebung nur zu oft schmeichelt.

Kann nun aber das Wollen mit Hinsicht auf seine Veränderlichkeit nicht als ein ursachloses inneres Geschehen betrachtet und soll gleichwohl die Freiheit des Willens gerettet werden, so bleibt nichts übrig, als die Annahme, daß alle Veränderungen in der Richtung und Stärke des Wollens, sowie aller Wechsel zwischen Wollen und Nichtwollen  innere Ursachen  haben. Dieser Gedanke erhält zunächst die Fassung, daß  der Wille sich selbst  zum Wollen bestimme und die Freiheit des Willens, wie KANT sich ausdrückt, in der Fähigkeit oder dem Vermögen des Willens bestehe, sich selbst zu bestimmen und mit absoluter Spontaneität eine Reihe von Erscheinungen (Veränderungen)  anzufangen.  Indessen ist schon LOCKE (2) nicht entgangen, daß dies nichts anderes bedeutet als  das Wollen wollen.  Mit voller Evidenz und Schärfe hat aber erst HERBART gezeigt, daß der Begriff der Selbstbestimmung auf eine unendliche Reihe ohne einen ersten Anfang führt, daher ganz und gar nicht das erklärt, was er doch begreiflich machen soll. Irgendein bestimmtes Wollen folgt nämlich entweder auf ein Nichtwollen oder auf ein Anderswollen, ist also im ersten Fall ein Übergang aus der Untätigkeit in Tätigkeit, im anderen ein Überspringen von einer Richtung seiner Tätigkeit in eine andere, oft sogar entgegengesetzte. Ist nun aber die Ursache dieser Veränderung im Zustand des Willens wieder der Wille selbst, so muß er, bevor er  diese  Veränderung hervorbrachte, untätig gewesen, mit derselben aber aus der Untätigkeit in Tätigkeit übergegangen sein. Dies ist aber wieder eine Veränderung im Zustand des Willens, die, wenn nun einmal der Wille sich selbst bestimmen soll, abermals auf eine vorangegangene Umwandlung von Untätigkeit in Tätigkeit als ihre Ursache zurückweist usw. ohne Ende. Auf dasselbe Resultat kommt SCHOPENHAUER. nach der Freiheit des Wollens fragen, sagt er (3), bedeute soviel als fragen: kannst du auch wollen was du willst? welches herauskomme, als ob das Wollen noch von einem anderen hinter ihm liegenden Wollen abhänge. Gesetzt diese Frage würde bejaht, so entstände alsbald die zweite: kannst du auch wollen, was du wollen willst? und so würde es bis ins Unendliche hinaufgeschoben werden, indem wir immer ein Wollen von einem früheren oder tiefer liegenden abhängig dächten und vergeblich strebten, auf diesem Weg zuletzt eines zu erreichen, welches wir als von gar nichts abhängig denken und annehmen müßten. Wollten wir aber ein solches annehmen, so könnten wir ebensogut das erste als das beliebig letzte dazu nehmen, wodurch dann aber die Frage auf die ganze einfache: kannst du wollen? zurückgeführt würde. Ob aber die bloße Bejahung dieser Frage die Freiheit des Wollens entscheidet, ist was man wissen wollte und bleibt unerledigt."

Es gibt jedoch eine Tatsache des Bewußtseins, die, je nachdem man sie auslegt, entweder die Annahme der Selbstbestimmung des Willens zu rechtfertigen, oder, trotz aller Einwendungen, die gänzliche Ursachslosigkeit im Wechsel der Richtungen des Wollens zu verbürgen scheint. Es ist die  Willkür  (liberum arbitrium), wenn darunter, nach dem ursprünglichen Sinn des Worts, die  Wahl des Willens  zwischen verschiedenen oder sogar entgegengesetzten, sich ihm darbietenden Arten zu wollen oder auch zwischen Wollen und Nichtwollen überhaupt, verstanden wird. Wir halten unser Wollen für  absolut frei,  wenn es von der anziehenden oder abstoßenden Beschaffenheit dessen, was sich als Ziel eines möglichen Wollens darbietet,  unabhängig  erscheint, wenn die Richtung und Stärke des Wollens nicht durch die Beurteilung des Werts oder Unwerts, des Vorteils oder Nachteils des möglicherweise zu Wollenden bestimmt, wenn durch Objekte, die sich als wünschenswerte Güter darstellen, der Wille nicht in Bewegung gesetzt, durch solche, welche wir als Übel erkennen, nicht verhindert wird, der durch sie bezeichneten Richtung zu folgen. Entweder bestimmt nun in der Tat hier der Wille sich selbst, unabhängig von der derselben Person innewohnenden Erkenntnis des Gegensatzes zwischen dem Angenehmen und Unangenehmen, Nützlichen und Schädlichen, Guten und Bösen oder es wird jeder Gedanke an einen bestimmenden Grund, an eine Nötigung, sei sie auch Selbstnötigung, aufgegeben und die absolute Freiheit des Willens in das Nichtvorhandensein jeder Bedingtheit desselben, in die  gänzliche Aussschließung irgendwelcher Notwendigkeit  gesetzt. Dies ist der Freiheitsbegriff des  Indeterminismus,  der die Freiheit der Notwendigkeit entgegenstellt und sie, wegen des gleichzeitigen Verhalten, das hier dem Willen in Absicht auf die Beschaffenheit des zu Wollenden zugeschrieben wird, als  libertas indifferentia  bezeichnet. Da nun das Gegenteil des Notwendigen, als dessen, was weder nicht sein noch anders sein kann, als es ist, das  Zufällige  ist, dasjenige, was auch nicht oder anders sein kann als es ist, so fällt der Begriff dieser absoluten Freiheit ganz mit dem der  reinen Zufälligkeit  des so oder anders Wollens zusammen. Daß nun, wenn alle freien Willensakte rein zufällige Ereignisse in unserem Geistesleben wären (das doch sonst nicht minder als die Natur an gewisse, wenn auch ihm eigentümliche Gesetze gebunden ist und in allen übrigen Erscheinungen den Kausalzusammenhang nirgends verleugnet), dies nur wie eine seltsame und unbegreifliche Anomalie dastehen würde, ist umso einleuchtender, als andererseits mit dieser Annahme auch alle Zurechnung und Verantwortlichkeit, Verdienst und Schuld aufgehoben wären, also zu ihrer Beschönigung auch nicht einmal das moralische Interesse herbeigezogen werden könnte.

Sehen wir indessen der Willkür näher ins Gesicht, so finden wir, daß jener aus ihr abstrahierte Begriff der absoluten Willensfreiheit keineswegs berechtigt ist, sich auf sie, gleich als auf eine Tatsache zu berufen. Die Willkür sagt nicht: ich kann wollen was ich will; sondern: ich kann wollen was  mir beliebt.  In diesem Belieben gibt sich aber unzweifelhaft eine Abhängigkeit des Wollens von anderem kund, was nicht mehr Wollen ist. Die Willkür schüttelt zwar jede Gebundenheit an eine feste Regel oder Gesetz ab, jede Abhängigkeit von vernünftigen Gründen, von überwiegendem Wert oder Unwert der Objekte der Wahl; aber sie folgt entweder den Eingebungen der subjektiven Lust und Laune des Augenblicks und ist dann vom zufälligen Zusammentreffen bedingender Umstände abhängig oder sie wählt selbst das, was ihr weder objektiven Wert zu besitzen scheint, noch subjektiv materiell angenehm ist, - bloß um zu zeigen, daß ihr Wille an nichts gebunden sei. Aber gerade dann wird der Wille durch diesen Beweggrung bestimmt. Die willkürlichen Entschließungen eines eigensinnigen Despoten sind allerdings zum Teil das Werk  des Zufalls,  der im nicht voraus zu berechnenden Zusammentreffen von Umständen besteht, die ihn in gute oder üble Laune versetzen; zum Teil können sie aber auch die Folge eines Grundsatzes sein, nämlich dieses: stets so zu wollen, daß sein Entschluß sich jeder Vorherbestimmung entzieht. Er wird sich deshalb sogar hüten, immer das Gegenteil von dem zu wollen, was ihm geraten oder von ihm gefürchtet wird; denn er würde sich dann eine feste Regel auflegen. Indem er aber jenen Grundsatz befolgt, um seine absolute Willensfreiheit zu zeigen, macht er sein Wollen doch von einer Regel abhängig und es ist nur die Lust an der vermeintlichen Ungebundenheit seines Willens, die ihm diese Regel wider seinen Willen aufdrängt.

Das Resultat dieser Erörterungen ist nun allerdings: es gibt keinen sich selbst genugsamen, von allen außer ihm liegenden Bedingungen unabhängigen und abgelösten,  es gibt keinen absolut freien Willen.  Denn die absolute Willkür ist eine abstrakte Fiktion, keine Tatsache. Mag es auch zuzugestehen sein, daß wir uns häufig über ihre Motive keine genaue Rechenschaft zu geben vermögen, so beweist dies doch nicht, daß sie gar nicht vorhanden sind. Sie kommen uns dann zwar nicht zu klarem Bewußtsein, aber daß solche verborgene Motive aus dem dunklen Grund der Seele wirken können, verraten die Übergänge aus den unbewußten Zuständen in bewußte Vorstellungen, die als Stimmungen und gegenstandslose Gefühle nur wie in einem Dämmerlicht erscheinen. Von der Selbstbestimmung oder Selbstnötigung des Wilens sahen wir aber, daß sie undenkbar ist.

Gleichwohl könnte doch aber diese Undenkbarkeit auch anders, nämlich so gedeutet werden, daß sie nur die  Unbegreiflichkeit  der Selbstbestimmung für unser denkendes Erkennen anzeige, daß wir hier an einer  Grenze unseres Erkennens  stehen. Das Nächste was zu dieser Auslegung berechtigen könnte, würde sein, daß jene Selbstbestimmung wäre, was sie nicht ist, eine sichere Tatsache des Bewußtseins. Indessen könnte auch noch auf einem anderen Weg jene Auslegung als eine unvermeidliche sich uns aufdrängen: dann nämlich, wenn es zeigen ließe, daß die Selbstbestimmung des Willens  eine notwendige Voraussetzung  unmittelbar gegebener Tatsachen des Bewußtseins sei.

Kein Geringerer als KANT hat diesen Weg wirklich betreten. Er erkennt zwar an, daß die Freiheit des Willens, die Fähigkeit desselben sich selbst zu bestimmen, weder die unmittelbare Gewißheit eines Axioms noch die mittelbare eines erweislichen Lehrsatzes für sich in Anspruch nehmen könne, er erklärt sie aber für eine  moralisch notwendige Annahme,  für ein  Postulat  der praktischen Vernunft, für einen Begriff, an dessen Realität zu  glauben,  ein moralisch praktisches Interesse erfordert.

KANTs Gedankengang ist in Kürze folgender. Tatsache des Bewußtsein ist das Moralgesetz, das uns in Form eines allgemeinen gültigen Gebots, des "kategorischen Imperativs" (4) uns vorschreibt, was wir tun  sollen,  d. h.  wie  der unseren absichtlichen Handlungen zugrunde liegende Wille beschaffen sein muß, um für  gut  gelten zu können. Die Übereinstimmung des Verhaltens unseres Willens mit dem Gesetz ist jedoch nur dann Moralität, wenn das Motiv des Wollens einzig und allein  Achtung  vor dem Gesetz ist, worauf dieses vermöge der Würde, die ihm in seiner Allgemeingültigkeit zukommt, Anspruch hat. Das Moralgesetz ist aber kein Naturgesetz; denn wäre es ein solches, so würde es entweder durch Zwand oder durch unwiderstehlichen Reiz unseren Willen mit Notwendigkeit bestimmen und dieser ihm stets gehorchen  müssen,  wobei er ihm doch bloß folgen  soll.  Es darf uns das Moralgesetz daher nicht von außen auferlegt sein, sondern es muß von unserem eigenen Willen ausgehen; die moralische Gesetzgebung darf nicht Heteronomie, sie muß vielmehr  Autonomie  sein. Da nun, nach KANT, alles was den Charakter der Allgemeinheit und Notwendigkeit hat, aus der Vernunft stammt, so muß das Moralgesetz, welches diesen Charakter an sich trägt, ein solches sein, das die reine praktische Vernunft, der vernünftige Wille, sich selbst gibt, und, weil es vom Willen ausgeht, die Form eines Gebots haben. Die Fähigkeit des Willens aber, unabhängig von jeder äußeren Nötigung, von aller Naturnotwendigkeit, sich selbst ein Gesetz zu geben und sich nach diesem selbst zu bestimmen, ist  Freiheit Sie ist eine  moralisch notwendige Voraussetzung,  weil ohne sie Moralität unmöglich wäre.  Diese  Freiheit ist aber nicht ein gesetzloses Wirken des Willens, wie es in der reinen Willkür gedacht wird; vielmehr ist eben das Moralgesetz der Ausdruck desjenigen  Gesetzes,  nach dem sich der sittlich vernünftige Wille betätigt und im Begriff dieser  sittlichen  Freiheit erhält der ursprünglich bloß negative Begriff der Freiheit eine nähere Bestimmung von positivem Gehalt. (5)

Es würde dieser Deduktion der sittlichen Freiheit als einer Selbstbestimmung des Willens nicht bedürfen, wenn dieselbe eine unmittelbar gewisse Tatsache des Bewußtseins, wenn sie ein in die Erscheinung fallender Vorgang wäre. Dafür gibt sie aber KANT selbst nicht aus; vielmehr ist sie ihm ein jenseits jeder inneren Erfahrung liegender, nur  intelligibler  Willensakt, der sich der Selbstbeobachtung gänzlich entzieht und wie alles, was bei ihm Vernunfttätigkeit heißt, außerhalb des Zeitverlaufs und vor aller Erfahrung zu denken ist. Daher erhält dann auch diese Freiheit den Namen der  transzendentalen  Freiheit. Der Mensch nämlich ist nach KANT ein Doppelwesen, das mit der einen Hälfte der sinnlichen Welt, mit der anderen einer intelligiblen Welt angehört. Als Sinneswesen steht er im Reich der Erscheinungen, die teils der äußere Sinn als Dinge und Veränderungen im Raum, teils der innere Sinn als nur zeitliche Vorgänge und Zustände in uns selbst auffaßt. Als Vernunftwesen aber ist er ein Glied der nur intelligiblen Welt der Dinge ansich, deren Beschaffenheit und Zusammenhang uns gleichwohl völlig unerkennbar bleibt. In der Sinnenwelt ist nun nach KANT nicht die leiseste Spur von Freiheit anzutreffen. Alles erfolgt hier nach der Notwendigkeit des Kausalgesetzes. Da nun aber die Freiheit eine moralisch notwendige Voraussetzung ist, so bleibt für sie nur in der intelligiblen Welt der Dinge an sich ein Platz übrig.

In diesem Asyl hält nun KANT die Freiheit für hinlänglich gesichert gegen jeden Angriff und trägt daher kein Bedenken,  innerhalb der Welt der Erscheinungen  dem Determinismus die vollsten Zugeständnisse zu machen. So sagt er in der Kritik der reinen Vernunft (6): "Alle Handlungen in der Erscheinung sind aus seinem (des Menschen) empirischen Charakter und den mitwirkenden anderen Ursachen nach der Ordnung der Natur bestimmt und wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkür bis auf den Grund erforschen könnten, so würde es keine einzige menschliche Handlung geben, die wir nicht mit Gewißheit vorhersagen könnten, so würde es keine einzige menschliche Handlung geben, die wir nicht mit Gewißheit vorhersagen und aus ihren vorhergehenden Bedingungen als notwendig erkennen könnten. In Ansehung dieses empirischen Charakters gibt es also keine Freiheit und nach diesem können wir doch allein den Menschen betrachten, wenn wir lediglich  beobachten  und, wie es in der Anthropologie geschieht, von seinen Handlungen die bewegenden Ursachen physiologisch erforschen wollen." Doch fährt KANT fort: "Wenn wir aber eben dieselben Handlungen in Beziehung auf die Vernunft erwägen und zwar nicht die spekulative, um jene ihrem Ursprung nach zu  erklären,  sondern ganz allein, sofern Vernunft die Ursache ist, sie selbst zu  erzeugen,  mit einem Wort, vergleichen wir sie mit dieser in  praktischer  Absicht, so finden wir eine andere Regel und Ordnung, als die Naturordnung ist. Denn da  sollte  vielleicht alls das  nicht geschehen  sein, was doch nach dem Naturlauf  geschehen ist  und nach seinen empirischen Gründen unausbleiblich  geschehen  mußte." In ganz ähnlicher Weise sagt KANT in der Kritik der praktischen Vernunft (7): "Man kann also einräumen, daß, wenn es für uns möglich wäre, in eines Menschen Denkungsart, so wie sie sich durch innere sowohl als äußere Handlungen zeigt, so tiefe Einsicht zu haben, daß jede, auch die mindeste Triebfeder uns dazu bekannt würde, desgleichen alle auf diese wirkenden äußeren Veranlassungen, man eines Menschen Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- und Sonnenfinsternis ausrechnen könnte und dennoch dabei behaupten, daß der Mensch frei sei. Wenn wir nämlich noch eines anderen Blicks (der uns aber freilich gar nicht verliehen ist, sondern stattdessen wir nur den Vernunftbegriff haben); nämlich einer intellektuellen Anschauung desselben Subjekts fähig wären, so würden wir doch inne werden, daß diese ganze Kette von Erscheinungen in Ansehung dessen, was nur immer das moralische Gesetz angehen kann, von der Spontaneität des Subjekts, als Dings ansich selbst, abhängt, von deren Bestimmung sich gar keine physische Erklärung geben läßt. In Ermangelung dieser Anschauung versichert uns das moralische Gesetz diesen Unterschied der Beziehung unserer Handlungen, als Erscheinungen, auf das Sinnenwesen unseres Subjekts, von derjenigen, dadurch dieses Sinnenwesen selbst auf das intelligible Substrat in uns bezogen wird."

Bei der Beurteilung dieser Lehre kommt es hauptsächlich darauf an, zu prüfen, ob die Annahme jener unbegreiflichen transzendentalen Freiheit wirklich moralisch notwendig ist. Wir stimmen KANT vollkommen darin bei, daß das  Sollen welches sich in der Pflicht einen Ausdruck gibt, kein Müssen, kein äußerer Zwang, das Sittengesetz daher auch kein Naturgesetz ist, ja, daß seine Gültigkeit nicht einmal darauf zurückgeführt werden darf, daß es die Offenbarung des absoluten Willen Gottes sei und  darum  Gehorsam fordere. Denn  sittlich  wollen und handeln heißt das Gute ums seiner selbst willen wählen und tun, nicht, um dem Willen eines anderen Genüge zu leisten. Nur wenn die Religiosität sich nicht bloß auf die Furcht vor dem Allmächtigen gründet, sondern in Gott den Heiligen, Allgütigen und Gerechten verehrt, fällt die Liebe zu Gott und der Gehorsam gegen seine Gebote mit der Liebe zum Guten um seiner selbst willen zusammen. Faßt man nun das Sollen als ein Gesetz, als ein Gebot auf, so setzt dasselbe, um als sittliches gelten zu können, allerdings voraus, daß es von unserem  eigenen  Willen ausgeht, nicht von einem fremden, und daß also die sittliche Gesetzgebung  autonomisch  ist. Jedoch der bloße nackte Wille ist nicht zum Gesetzgeber geeignet. Der Wille, an und für sich gedacht, verhält sich gegen den Gehalt des Gewollten gleichgültig. Das Gute und das Schlechte, das Kluge und das Törichte kann mit gleicher Stärke gewollt werden; das Wesen des Willens an und für sich besteht einzig und allein in der Energie seines Strebens, die durch die Richtung, nach welcher sie sich betätigt, weder vermehrt noch vermindert wird. Er kann ebenso gut den Leidenschaften dienen, wie der Vernunft, dem Egoismus sich zur Verfügung stellen, wie die sittliche Selbstbeherrschung ermöglichen. Der bloße Wille kann daher nur dem, was sein soll, was wert ist zu geschehen, die  Form eines Gebotes  geben, seinen  Inhalt  kann nur die  sittliche Einsicht  diktieren und die geforderte Autonomie kann demnach nur darin bestehen, erkenne, und  unser eigener Wille  diesem Erkannten Gesetzeskraft erteile und es sich als Gebot selbst zur Nachachtung aufstelle. In der Tat meint wohl auch KANT eigentlich diese Vereinigung von sittlicher Einsicht und Willen, wenn er die praktische Vernunft als Gesetzgeberin anerkannt wissen will. Das Gesetz muß es  wert  sein befolgt zu werden, nur sein Wert gibt ihm die Berechtigung Gehorsam zu fordern und ohne diesen Wert kann es nicht auf die Achtung Anspruch machen, die KANT als das einzig gültige Motiv des sittlichen Handelns zulässt. Der Wert aber will  erkannt  sein und das vermag nicht der Wille, sondern dazu bedarf es der Fähigkeit zu urteilen, die dem Willen nicht zukommt. Nicht also einen sich selbst bestimmenden, sondern einen von der sittlichen Einsicht durchdrungenen und geleiteten Willen fordert die Autonomie, die KANT mit Recht für die Moral beansprucht.  Nicht,  daß der  reine Wille sich selbst bestimmt  und in diesem Sinn absolut frei sei, ist moralisch notwendig, vielmehr im Gegenteil, daß er durch die sittliche Einsicht  bestimmt werden könne,  also nicht schlechthin unabhängig,  nicht absolut frei sei.  Gleichwohl wird man diese Unterordung des Willens unter die Einsicht immer noch Freiheit, nämlich  sittliche Freiheit  nennen können. Denn sie macht den Willen von anderen als sittlichen Motiven unabhängig und ist eine  Selbstbestimmung,  zwar nicht des Willens, wohl aber des  Menschen als Person da es eben  seine eigene  sittliche Einsicht ist, die hier sein Wollen bestimmt. Und  wenn  der Mensch nicht bloß in sittlicher Hinsicht, sondern überhaupt die Fähigkeit besitzt, durch seine Einsicht (die sich nicht bloß auf das Gute, sondern auch auf das Wahre, Schöne, Zweckmäßige und Nützliche bezieht) sein Wollen und durch dieses sein Handeln zu bestimmen, so wird man dies seine  persönliche Freiheit  nennen dürfen. Man hat sich nicht zu scheuen, einzuräumen, daß dieser Freiheitsbegriff auch als  Determinismus  bezeichnet werden kann; aber es ist  innerer  Determinismus, nicht äußerer, der freilich jede persönliche Selbstbestimmung ausschließt.

So wenig jedoch KANT durch den Nachweis der moralischen Notwendigkeit der Freiheit des Willens die  reelle Existenz  derselben erwiesen zu haben glaubt, ebenso wenig können wir behaupten, daß wenn im Vorstehenden nicht die Freiheit, sondern die  Bestimmbarkeit  des Willens durch die sittliche Einsicht sich als moralisch notwendig gezeigt hat, damit mehr gewonnen sei als ein  Postulat,  welches als  Bedingung der Möglichkeit,  als  conditio sine qua non  [Grundvoraussetzung - wp] des  sittlichen Wollens,  jene Bestimmbarkeit des Willens vorauszusetzen fordert. Eine andere Frage ist es also, ob die sittliche Einsicht und die Einsicht überhaupt auch in der  Wirklichkeit  den Willen  bestimmt  oder wenigstens unter gewissen Bedingungen bestimmen  kann  und ob dieses Verhältnis begreiflicher ist als die Selbstbestimmung des Willens.

Stellen wir uns zunächst nur auf den Boden der gemeinen Erfahrung, so finden wir, daß der Mensch diese Bestimmbarkeit des Willens durch seine Einsicht in der Tat sich mindestens  zutraut.  Sobald er in das Alter tritt, wo er auf  persönliche Selbständigkeit  Anspruch macht, weist er die Regierung durch einen fremden Willen zurück und behauptet, sich selbst zu regieren zu können. Er sagt: ich bin kein Kind mehr und habe meinen Verstand; ich  weiß,  was mir nützlich und schädlich, was erlaubt und unerlaubt, was recht und unrecht, was gut und böse ist und werde fortan nach meinem eigenen Willen und Ermessen handeln. Er erklärt sich also nicht nur für befähigt zu  beurteilen,  was er zu tun und zu lassen hat, sondern auch für befähigt, sich nach dieser Beurteilung zu  richten.  Damit übernimmt er aber die  Verantwortlichkeit  für seine Handlungen und hat sich nicht zu beschweren, daß ihm nun die unsittlichen  zugerechnet  werden. Gleichwohl hat diese Zurechnung ihre Abstufungen. Sie trifft im vollen Maß die absichtlichen, die wissentlich gewollten Handlungen, aber sie muß auch dabei noch dem Grad der vorhandenen sittlichen Einsicht Rechnung tragen, die zwar in manchen Individuen klar und vollständig, in vielen anderen dagegen verworren und mangelhaft ist. Die Zurechnung wird nicht aufgehoben durch die Entschuldigung des Täters, verführt worden zu sein; denn der Verführte ist kein willenloses Werkzeug des Verführers, sondern er hat sich eben verführen lassen. Aber die geht zugleich auf den Verführer, als den ersten Urheber der Tat zurück. Nur Zustände, über die kein Wille mehr Macht hat, wie Geistesstörung oder körperliche Krankheit, machen den Erwachsenen völlig unzurechnungsfähig, nicht aber ein habituell gewordener Affekt, dessen Gefahr dem dazu leicht Erregbaren wohl bekannt war und daher zur Überwachung aufforderte, ebensowenig Leidenschaft, die nicht ohne Widerspruch der warnenden inneren Stimme Macht gewinnen konnte. Mit der Übernahme der Verantwortlichkeit für sein Tun und Lassen entsagt der auf persönliche Selbständigkeit Anspruch Machende ein für allemal der Ausflucht des Nichtwissen und Nichtkönnens und nur darauf kommt es bei der Zurechnung an, in welchem Maß sein Wissen und Wollen sich an einer getanen oder unterlassenen Handlung beteiligt hat. (8)

Aber traut sich der Mensch nicht zuviel zu, indem er diese Verantwortlichkeit auf sich nimmt? Mag er immerhin eine genügende sittliche Einsicht von dem, was er tun und nicht tun  soll,  haben; aber wird diese jederzeit vermögen, seinem Willen eine entsprechende Richtung zu geben? Zwar zeigt das Wissen da, wo es nicht um die Wahl eines Zweckes, sondern um die für einen bereits gewählten Zweck zu ergreifenden Mittel zu tun ist, einen den Ausschlag gebenden Einfluß; denn niemand wird im Handeln zwischen zweckmäßigen und zweckwidrigen Mitteln, wenn er sie einmal als solche erkannt hat, einen Augenblick schwanken. Allein es ist dabei wohl zu beachten, daß hier die Einsicht nur unmittelbar in Betracht kommt, indem das Wollen des Zwecks das Wollen der ihm entsprechenden Mittel bedingt. Darum gibt es auch eine Selbstbeherrschung, die, von unlauteren oder gar verwerflichen Zwecken ausgehend, nichts weniger als sittlich und doch nicht schwächer als die stärkste sittliche ist. Der Heuchler, der Betrüger, der Meister in der Kunst sich zu verstellen, der, obwohl von einer brennenden Leidenschaft innerlich beherrscht, doch schlau und kaltblütig den Zeitpunkt abzuwarten weiß, in dem er auf Befriedigung seiner Leidenschaft sicher rechnen zu können glaubt, - sie alle besitzen eine Fähigkeit, ihr äußeres Verhalten, ihr Reden und Tun in einem Grad zu beherrschen, der an Stärke der Selbstbeherrschung des edelsten und festesten sittlichen Charakters nichts nachgibt.

Prüfen wir nun, ob diese Überzeugung des Menschen von seiner geistigpersönlichen Selbständigkeit in der Wahrheit begründet oder vielleicht nur ein leerer Wahn ist, steht vor allem die Tatsache fest: der Mensch hat die Fähigkeit,  bevor  er handelt, zu  überlegen  und zur  erwägen,  d. h. zu  beurteilen,  ob das, wozu er sich angetrieben fühlt, erlaubt oder unerlaubt, recht oder unrecht, löblich oder schändlich, zu billigen oder zu mißbilligen, daher wert ist getan oder unterlassen zu werden. Im Gebrauch dieser Fähigkeit zeigt sich schon eine Selbstbeherrschung. Denn wer vor der Tat überlegt, vermag seine Begierden, Leidenschaften und selbstsüchtigen Wünsche wenigstens zeitweilig zurückzuhalten. Die Überlegung ist  unparteiisch,  wenn sowohl den verlockenden Begierden als der sittlichen Einsicht (der Vernunft) verstattet ist, ihre Stimmen vernehmen zu lassen und ihre Ansprüche geltend zu machen. In die  Entscheidung  darf sich aber der Wille und jegliches Begehren überhaupt nicht einmischen, sondern sie muß ganz und gar der  Vergleichung der Werte  überlassen bleiben, die den Ansprüchen der streitenden Parteien überlassen bleiben, die den Ansprüchen der streitenden Parteien zuzuerkennen sind. Die  Richtigkeit  der Entscheidung hängt dabei allerdings vom Maß der vorhandenen sittlichen Urteilsfähigkeit ab; aber ein verhältnismäßig geringer Grad derselben reicht hin, um wenigstens das  Bessere  als das Vorzüglichere zu erkennen. Denn wer auch das Gute nach seinem wahren und unvergänglichen inneren Wert aufzufassen und zu würdigen nicht vermag, sondern es nur hinsichtlich der Folgen mit der vorübergehenden Lust der Begierde in Vergleichung stellt, muß finden, daß es schon um des dauernden inneren Friedens willen, den es in der Seele zurückläßt, dem nur augenblicklichen Genuß, welchem bald Reue nachfolgt, weit vorzuziehen ist und daß auch in der menschlichen Gesellschaft dem Rechtschaffenen und Gewissenhaften Achtung und Vertrauen nicht entgehen kann, indessen den Unredlichen und Gewissenlosen Mißtrauen und Verachtung trifft. Demnach muß nun, wenn die Überlegung  reif  und  unparteiisch,  d. h. eine solche ist, bei welcher die Entscheidung über das Vorzuziehende und zu Verwerfende einzig und allein der Wertbeurteilung überlassen bleibt, diese stets zugunsten mindestens des vergleichungsweise  Besseren  ausfallen.

Man kann diese Befähigung des Menschen, vor der Tat zu überlegen und zu erwägen, die  Freiheit seiner Intelligenz  nennen. Denn diese zeigt sich hier unabhängig sowohl von seinem eigenen Begehren und Wollen als von allen äußeren Einflüssen. Alles vergleichende, prüfende und urteilende Denken überhaupt - mag es einen praktischen Zweck haben oder sich nur theoretisch auf die Unterscheidung des Wahren vom Falschen beziehen - ist  ein sich selbst überlassenes Geschehen in uns, nicht etwas durch uns Gemachtes.  Es folgt seinen eigenen Gesetzen, die ihm weder unser Wille vorschreibt noch die äußere Natur auferlegt. Vielmehr ist es, was die Natur betrifft, umgekehrt, nur das Denken über die durch die sinnliche Wahrnehmung gegebenen Erscheinungen, wodurch wir zur Erkenntnis von Naturgesetzen gelangen, in denen sich unsere Denkgesetze abspiegeln, durch die uns die Natur erst verständlich wird. Was aber wahr und gut ist und als solches einen unvergänglichen Wert hat, können wir weder von der Natur lernen noch nach unserer Willkür feststellen, sondern  nur in uns finden. 

Wen nun aber diese unparteiische Überlegung und die daraus gefolgerete Freiheit der Intelligenz des Menschen nicht sowohl eine gemeine Tatsache als vielmehr eine verhältnismäßig seltene Erscheinung dünkt, dem wollen wir nicht unbedingt widersprechen. Nur eine  Befähigung  dazu haben wir behauptet, die aber, wie jede andere, um zu einer  Fertigkeit  zu werden, der Ausbildung und Übung bedarf; und daß nicht nur diese von Lebensverhältnissen, unter denen der Mensch aufwächst, vielfach abhängt, sondern auch schon die Anlage dazu nicht gleich verteilt ist, sind wir weit entfernt in Abrede zu stellen. Es ist daher auch nach unserer Meinung diese Freiheit der Intelligenz, die sich am reinsten in der Wissenschaft kundgibt, kein ursprünglicher Besitz des Menschen, sondern muß erst von ihm errungen werden. Aber in einem gewissen Grad erwirbt doch jeder, der nicht blödsinnig ist, die Fertigkeit, bevor er handelt, zu überlegen und zwar in Bezug auf das, was ihm Genuß und augenblicklichen Vorteil bringt, bei einem sonst beschränkten geistigen Gesichtskreis, oft in einem überraschend hohen Grad. Schwächer und unreifer ist freilich in sehr vielen Fällen  die  Überlegung, die auch die späteren Folgen einer Tat in Betrachtung zieht und am seltensten diejenige, welche sich mit völliger Selbstentäußerung auf den Standpunkt eines unparteiischen Zuschauers stellt. Es gibt eben sehr verschiedene Stufen der moralischen und intellektuellen Bildung. Aber es wird sich sogleich weiter zeigen, daß wir selbst aus dem Zugeständnis einer dem Menschen erreichbaren Freiheit seiner Intelligenz keine übereilten Folgerungen hinsichtlich seiner Willensfreiheit zu ziehen versuchen werden.

Durch diese zugestandene Freiheit der Intelligenz des Menschen ist nämlich noch lange nicht dargetan, daß sein Wollen unter allen Umständen  durch  die aus reifer Überlegung gewonnene Erkenntnis des Besseren bestimmt werden  könne,  oder wohl gar  müsse.  Denn - so sagt man - die  Wahl bleibt noch immer frei,  der Wille wird durch die Einsicht des Besseren  nicht mit Notwendigkeit  bestimmt, er kann sich  für  oder  wider  das Resultat der Überlegung wollend entscheiden. Und in der Tat drückt das schon von LOCKE angeführte OVIDsche Wort:  video meliora proboque - deteriora sequor  [Ich sehe das Bessere und heiße es gut. Dem Schlechteren folge ich nach. - wp], eine nur zu bekannte Erfahrung aus, die bald auf die Schwäche, bald auf den Trotz des menschlichen Willens zu deuten scheint. Man stellt sich hierbei wohl, nach der bekannten Rede des PRODIKUS, die Vernunft, die Begierde und den Willen wie drei allegorisch Personen vor, von denen die Vernunft durch überzeugende Gründe, die Begierde durch einschmeichelnde Reden den Willen für ihre Richtung zu gewinnen sucht, dieser sich aber völlig frei der einen oder der anderen zuwenden kann. Rein zufällig kann nun aber der Ausschlag des Willens unmöglich sein, denn es gibt keinen reinen Zufall. Ebensowenig gibt es eine reine Willkür als grundlose Selbstbestimmung des Willens. Die Richtung, welche der Wille mit der Wahl einschlägt, muß also doch Motive haben. man sollte jedoch denken, daß, wenn die reife Überlegung zur Erkenntnis der Vorzüglicheren geführt hat, dieses allein zum wirksamen Motiv des Wollens werden und unausbleiblich seine Richtung bestimmen müßte, was doch keineswegs immer der Fall ist. Dann also muß es noch andere Motive geben, welche die Wirksamkeit des Resultats der Überlegung auf den Willen paralysieren und es fragt sich nun weiter, ob es denkbar ist, daß  diese  Motive anders als mit Notwendigkeit die Richtung des Willens bestimmen. - Alles dieses drängt nun zu einer genaueren Erörterung des Verhältnisses zwischen dem Willen und seinen Motiven.

LEIBNIZ, dem die Lehre von der Willensfreiheit viel feine und lichtvolle Bemerkungen verdankt, und der dem Indeterminismus wie dem  äußeren  Determinismus entgegentritt, weist darauf hin, daß die Motive nicht von außen her auf den Geist wirken, sondern  in ihm  liegen und seine  Dispositionen zum Handeln  sind und daß der Geist im Handeln niemals die schwächeren Motive den stärkeren vorziehe, vielmehr handelnde stets den stärkeren Antrieben folgt. Gleichwohl ist es durchaus nicht LEIBNIZ' Meinung, daß der Geist oder der Wille durch die Motive  genötigt,  sondern nur, daß er  geneigt  gemacht werde, ihnen zu folgen. Er wiederholt die Phrase  que les motifs inclinent sans nécessiter  [Motive machen geneigt, ohne nötig zu sein. - wp] an vielen Stellen mit besonderer Vorliebe und legt offenbar auf diese Distinktion vorzüglichen Wert. Er will durch sie, wie es scheint, zwischen absoluter Notwendigkeit und absoluter Zufälligkeit des Wollens vermitteln, indem er behauptet, daß die Willensakte durch die Motive zwar vollkommen bestimmt sind und mit untrüglicher Gewißheit erfolgen, nicht aber mit absoluter Notwendigkeit. Damit legt er nun aber den Motiven nur den Wert von  Reizen  bei, gegen die sich der Wille nachgiebig, aber auch widerstandsfähig verhalten kann. Über die Bedingungen, unter denen das eine oder das andere geschehen wird, spricht er sich nicht weiter aus; und doch muß man solche voraussetzen, wenn der Erfolg oder die Erfolglosigkeit der Wirkung der Motive auf den Willen "bestimmte, gewiß und untrüglich" sein soll. Kann man aber überdies wohl einen Reiz auf den Willen, der erfolglos bleibt, noch ein Motiv nennen? Und wie verträgt sich diese Ansicht von der Bedeutung der Motive mit dem zuvor angeführten Satz, daß der Geist im Handeln stets den stärksten in ihm liegenden Motiven folge?

Das Bedenkliche, was allerdings in dieser Distinktion zwischen Inklinieren und Necessitieren liegt, bestimmt SCHOPENHAUER, dieselbe ohne weiteres als eine Halbheit zu verwerfen und nur eine nötigende Wirksamkeit der Motive auf den Willen anzuerkennen. Er sagt (9): "Sobald wir einer gegebenen Kraft Kausalität zugestanden haben, also erkannt haben, daß sie wirkt, so bedarf es bei etwaigem Widerstand nur der Verstärkung der Kraft nach Maßgabe des Widerstandes und sie wird ihre Wirkung vollenden. Wer mit 10 Dukaten nicht zu bestechen ist, aber wankt, wird es mit 100 sein." Woher jedoch dem Willen die Widerstandsfähigkeit gegen schwache Motive kommt, erörter auch er nicht.
LITERATUR - Moritz Wilhelm Drobisch, Die moralische Statistik und die Willensfreiheit, Leipzig 1867
    Anmerkungen
    1) SPINOZA, Ethica, III, Lehrsatz 6 und 7
    2) JOHN LOCKE, Essay concerning human understanding II, Kap. 21, § 25 - ein Kapitel, das viele treffende Bemerkungen über die Willensfreiheit enthält.
    3) ARTHUR SCHOPENHAUER, Die beiden Grundprobleme der Ethik, 2. Auflage, Seite 6
    4) Er lautet bekanntlich: Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.
    5) KANT sagt (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, zu Anfang des dritten Abschnitts, Werke IV, Seite 73 (Ausgabe HARTENSTEIN): "Was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein als Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein? Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz, bezeichnet nur das Prinzip, nach keiner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als ein allgemeines Gesetz zum Gegenstand haben kann. Das ist aber gerade die Formel des kategorischen Imperativs und das Prinzip der Sittlichkeit; also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei."
    6) Im 9ten Abschnitt der Antinomie der reinen Vernunft, Werke II, Seite 428
    7) Im Abschnitt von den Triebfedern der praktischen Vernunft, Werke IV, Seite 216
    8) HERBART sagt (Allgemeine praktische Philosophie, Seite 113; Werke VIII, Seite 88): "Die Zurechnung überhaupt rechnet die Tat zum Willen und den Willen zur Person des Wollenden; sie ist also einerlei mit der Würdigung, mit der Schätzung des Grades, in welchem eine Tat der Absicht oder Achtlosigkeit anheimfällt der Beurteilung nach der Idee der Billigkeit. Demgemäß wird der zufällige Erfolg gar nicht zugerechnet und die augenblickliche Anwandlung weniger als die Äußerungen des Charakters: wie überhaupt das Minder und Mehr des Wollens auch minder und mehr Stoff gibt zur Beurteilung nach jeder praktischen Idee. - Entspränge nun ein böser Vorsatz in einer vorübergehenden Stimmung, worin die Person sich hinterher selbst nicht wiedererkannte, so würde die Tat dieses Vorsatzes nicht ganz der Person zugerechnet werden können, deren Charakter einem solchen Vorsatz zuwider wäre. Aber die mangelnde Stärke der Achtsamkeit auf sich selbst wird zur Verschuldung, wenn zuvor das Gesetz bekannt gewesen war, es solle sich niemand dergleichen Handlungen erlauben. Dadurch also, daß man zuvor die Achtsamkeit rechtlich in Anspruch genommen hatte, wird es möglich, Verbrechen hart zu strafen, die außerdem gelinder beurteilt und geahndet werden müßten."
    9) ARTHUR SCHOPENHAUER, Die beiden Grundprobleme der Ethik, 2. Auflage, Seite 15