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KUNO FISCHER
Ludwig Feuerbach und
die Philosophie unserer Zeit

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"Hegel und Feuerbach stimmen darin überein, daß man im Denken die Wirklichkeit nicht erreicht, ihr ursprünglicher Quell versiegt unter der Berührung des Denkens, die Steppe des Begriffs reicht nicht heran an die frische, grüne Weide des Lebens."

"Das Denken kann über die formelle Identität mit sich nicht hinaus, es kann nie in das reale Gegenteil seiner selbst, also in die Materie eindringen, ohne sich selbst zu negieren, jedes selbständige Wesen wird selbstlos, sobald es der Gedanke in Besitz nimmt, er ist die tödliche Lava, welche die Oberwelt zur Unterwelt versteinert."

Es ist der Irrtum der ganzen neueren Philosophie seit Cartesius: Das Denken sagt sich von den Sinnen los, es will aus eigener Machtvollkommenheit die Wahrheit erkennen, es fängt voraussetzungslos aus sich selbst an, anstatt sich aus seinem realen Gegenteil zu erzeugen, es ist mithin nicht das universelle, sinnliche, sondern das einseitige supranaturale Denken, es ist keine empirische, sondern eine formelle Tätigkeit, sein Subjekt ist nicht der Mensch, sondern der Philosoph, seine Identität nicht die wirkliche, sondern die bloß gedachte Identität des Subjektiven und Objektiven, nicht die Identität von Denken und Sein, sondern bloß die Identität des Denkens mit sich selbst. Dieses Denken ist das imaginäre, nicht das wirkliche Denken, seine Wahrheit ist ohne sinnliche Realität, das bloße Hirngespinst der Philosophie."


1. Feuerbachs Erscheinung und Entwicklung

Die Bedeutung der befreienden Taten Feuerbachs auf dem Gebiet der Philosophie haben vorurteilsfreie Denker von jeher eingeräumt. Aber erst jetzt scheinen die Wirkungen dieser Taten allgemein zu werden, jetzt nachdem die leidenschaftlichen Stürme kämpfender Gegensätze verrauscht sind und die Geister sich zu einer philosophischen Ruhe gesammelt haben. Das Feuer, in dem man den Städtebrand fürchtete, hat eine wohltätige Wärme erzeugt, der man es gern verzeiht, daß sie hie und da ein krankes Gehirn verbrannte. Das Verhältnis der Welt zu FEUERBACH hat sich damit wesentlich geändert; aus einer Sache der Notwehr ist eine Aufgabe aller denkenden Männer, das freie Problem unserer Zeit geworden. Die Furcht vor dem destruktiven Kritiker war offenbar nicht imstande, die Resultate seiner Forschung zu beurteilen, und wie will man auch einen Geist würdigen, den man nicht einmal genießen kann? Es ist gewiß, daß der freie Sinn für eine fremde Persönlichkeit, die kongeniale Empfindung eines fremden Geistes, den Verstand des Lesers befruchten muß, wenn er zu seinem Gegenstand in einem ganz freien Verhältnis stehen will. Dieses intime Verständnis, diese ästhetische Aufnahme des Gegenstandes in unser eigenes Selbst muß dem öffentlichen Urteil über jede bedeutende philosophische Erscheinung vorangehen, wenn es unwiderstehlich wirken und das Recht der Zeit im Ganzen gegen den Einzelnen zu wahren fähig sein soll. Es ist schwer die Achillesferse zu treffen, wenn man den Achilles nicht erkannt hat. -

Unter den befreienden Philosophen seines Zeitalters hat vielleicht FEUERBACH das meiste Recht, diesen milden Sinn für seine Persönlichkeit an seinem Kritiker in Anspruch zu nehmen. Leidenschaftlich bewegt von dem, was ihm als das Wesen der Dinge erscheint, gibt er Gemüt und Phantasie ganz den Prinzipien hin, denen er huldigt. Er ist in demselben Augenblick der philosophische Forsher, wo er von seinem Gegenstand religiös ergriffen und poetisch bewegt ist. Jeden neuen Gedanken, den er ausspricht, kündigt er durch die Leuchtkugeln der Phantasie an, er verteidigt sein neues Prinzip durch den Zorn gegen das alte, er widerlegt das Alte durch die Begeisterung für das Neue. So ist die Entwicklung seiner Gedanken kontinuierlich, er stellt sie hin, um sie in Gemüt und Phantasie aufzulösen, er durchlebt sie mehr, als er sie entwickelt. Alle Gedanken FEUERBACHs haben das Glück, jung zu sterben, jeder entlassene Gedanke ist für ihn ein ausgelebter, ein Leichnam, von dem er sich abwendet. Ich folgere aus diesen Tatsachen nicht, daß die Entwicklung FEUERBACHs ohne inneren Zusammenhang, ohne leitendes Prinzip wäre, aber die aphoristische Form seiner Darstellung wird sich hieraus erklären. Soviel ist klar, daß man es in FEUERBACH mit einer Persönlichkeit zu tun hat, die mit ihren Prinzipien so innig verwebt ist, daß eine Kritik der letzteren nicht leicht ohne ein Verhältnis zur ersteren bleiben kann. Ich füge kaum hinzu, daß es mir nicht einfällt, FEUERBACH zum Gegenstand eines besonderen Apercus [geistreiche Bemerkungen - wp] zu machen, ich stelle ihn nicht in den Spiegel einer intellektuellen Anschauung, ich stelle ihn nur in den seiner Schriften.

Diese Bemerkungen betreffen die formellen Anforderungen, welche eine Kritik FEUERBACHs zu befriedigen hat. Das vollständige Verständnis dieses Geistes ist jetzt ein philosophisches Problem geworden. Man löst das Problem nur, wenn man zwischen den großen positiven Resultaten der Philosophie FEUERBACHs und ihrer einseitigen Auffassung unterscheidet, die Grenzlinie, welche diesen Unterschied bezeichnet, deutet zugleich den Weg des Kritikers an.

Der Charakter, der die ganze Entwicklung FEUERBACHs beseelt, ist das intensive Streben, die volle, ungeteilte Wirklichkeit in ihrem wahren Wesen zu erfassen. Es ist dasselbe Streben, derselbe ungestüme Drang nach der Wahrheit, die die Welt im Innersten zusammenhält, welcher ihn dem Idealismus in die Arme wirft und ihn dann gegen den Idealismus für den Naturalismus begeistert. Die Quelle seiner Liebe und seines Hasses, seiner Treue und seiner Empörung ist dieselbe ursprüngliche Kraft. Und mit diesem Streben Hand in Hand geht eine glühende Sehnsucht nach lebensvoller Sinnlichkeit, er will die Wahrheit in sinnlicher Gegenwärtigkeit genießen, selbst da wo er sie noch in dem reinen, bedürfnislosen Denken findet. Der Idealismus ist seine erste Liebe. Die unsichtbare Welt offenbart sich ihm mitten in der sichtbaren aber als eine Macht, der gegenüber sich die sinnliche Bestimmtheit nur auflösen kann, das Individuum, als ein endliches, beschränktes Wesen geht in der physischen und geistigen Totalität unter, aber gerade in seinem Untergang, in der Auflösung seiner Selbständigkeit, bewährt es seine Idealität, indem es sich mit der absoluten Wirklichkeit vereinigt. In den Gedanken über  "Tod und Unsterblichkeit"  spricht FEUERBACH diese idealistische Weltanschauung aus. Der Tod ist ihm hier die höchste Idealisierung des Individuums, die Unsterblichkeit die Erinnerung des Individuums in den allgemeinen Geist, das Individuum als solches das schlechthin Beschränkte und Nichtige. Mit theoretischer Todeslust proklamiert FEUERBACH den Tod als die wahre Affirmation [Bejahung - wp] des Menschen durch das unendliche Wesen, gegenüber jenem gewöhnlichen theologischen Dualismus, der das Individuum nicht verewigen, sondern nur verdoppeln kann. Das Jenseits ist entgöttert und die menschliche Wirklichkeit durch einen seelenvollen Pantheismus idealisiert. FEUERBACH stellt das Wesen des Menschen in den Vordergrund, er kann es freilich nur durch die Vernichtung des Individuums interpretieren, aber es ist offenbar, daß er den Menschen aus seiner illusorischen zu seiner wahren Idealität zurückführen will. In den allgemeinen menschlichen Mächten, im  Denken  und in der  Liebe  feiert das Individuum seine Unsterblichkeit. Der sinnliche Tod ist nur die äußere Erscheinung dieses geistigen Todes. ABÄLARDs Unsterblichkeit sind seine Gedanken und seine  Heloise.  FEUERBACH schwelgt wie in indischer Gott in der Anschauung der reinen Substanz, und liebt wie MAHADÖH [indischer Herr der Welt - wp] die  Bajadere,  um in ihrer Umarmung zu  sterben. 

Der Zauber dieses überspannten Pantheismus konnte den Geist FEUERBACHs unmöglich lange fesseln. Es ist das erste Gefühl des Ewigen, das ihn berauscht, der abstrakte Gedanke des Absoluten, der ihn durch seine imponierende Einfachheit überwältigt. Das Bewußtsein über das negative Verhältnis der Idee zur Wirklichkeit führt FEUERBACH über diesen Standpunkt hinaus. Der Kampf gegen den theologischen Dualismus und das exklusive Christentum erneuert sich jetzt auf dem Gebiet der spekulativen Philosophie. Es schließt diese nämlich einen ähnlichen Dualismus in sich, den Dualismus des Gedankens und der positiven Wirklichkeit. Der spekulative Pantheismus kann die volle, lebensfrische Wirklichkeit nicht ertragen, er versenkt sie in die Nacht des Absoluten, wo sie in logischen Gedankenschemen erbleicht. Die Einheit des Gedankens und der Wirklichkeit, welche der Idealismus behauptet, ist eine nur gedachte, keine wirkliche, lebendige Einheit; so steht sich der Idealist von neuem in den Dualismus der alten theologischen Traumwelt verwickelt, es ist ein ewiger Zwiespalt zwischen dem reinen, einsamen Denken und der sinnlichen pulsierenden Wirklichkeit. Nur der trunkene Pantheist kann sich auf einen Augenblick über diesen Zwiespalt täuschen. Die Spekulation und ihr absoluter Idealismus ist aber nicht die radikale Erlösung von der dualistischen Zerrissenheit des Menschen, im Gegenteil sie entfremdet ihn nur umso mehr dem sinnlichen Diesseits, je energischer sie mit der Negation des Individuellen Ernst macht. Diese Negation war eine fromme Täuschung in dem alten antikosmischen Christentum, sie ist ein nur erheuchelter Schein in einem modernen, verweltlichten Christentum, aber sie ist volle, imponierende Wahrheit im spekulativen Pantheismus. FEUERBACH kehrt jetzt seine Waffen mit derselben leidenschaftlichen Erregtheit, mit derselben Begeisterung für die wirkliche Wahrheit gegen die spekulative Theologie, wie er sie vorher gegen die gläubige Theologie gekehrt hatte. Es gilt dem Dualismus unter jeder Gestalt. FEUERBACH bricht mit dem Dualismus, den er immer heftiger anfeindet; er erweckt die Mächte der Natur, welche die Idee in einen Zauberschlaf gebannt hatte, und führt sie gegen den Terrorismus des Gedankens ins Feld. An diesen Punkt, an die Reaktion FEUERBACHs gegen den Idealismus im Namen der klaren, vollen, handgreiflichen Wirklichkeit, knüpfte sich die wesentliche Bedeutung seiner Philosophie. Es ist zunächst der Sturm eines genialen Naturalismus, den FEUERBACH gegen das abstrakte Gedankenwesen der Philosophie heraufbeschwört. Die erdrückende Atmosphäre wird gereinigt, die Geister fangen an freier zu atmen, die Philosophie beginnt ihre undruchdringlichen Schulformen zu durchbrechen. Diese formelle Befreiung der Philosophie gehört zu den positiven Verdiensten FEUERBACHs. Die äußeren Bollwerke der in ihren Schulformen verschanzten Metaphysik halten den Angriff nicht aus; sie werden erstürmt und das Kreuz auf ihren Wällen wird zertrümmert. -

Aber die naturalistische Reaktion FEUERBACHs hat noch eine weitere materielle Bedeutung. Sie drängt nämlich das fundamentale Problem der Philosophie in den Vordergrund: die Frage nach dem Verhältnis der Idee zur Wirklichkeit als solcher. Es ist die Frage, in welcher alle übrigen Fragen der Philosophie ihren Grund und ihre Lösung HEGEL löste diese Frage dialektisch durch die  schöpferische Energie des Begriffs.  Es ist bekannt, wie bald man an diesem Punkt die tödliche Stelle seiner Philosophie entdeckt zu haben glaubte. Man wiederholte dasselbe Problem unter den verschiedensten Formen. Bald war es das Verhältnis des Allgemeinen zum Einzelnen, bald der Übergang der Idee zur Natur, bald das Verhältnis des absoluten Geistes zur Welt oder der Notwendigkeit zur Freiheit, welches man als die Hauptfrage behandelte. Hier begegnen sich freilich von entgegengesetzten Polen aus und in entgegengesetzter Absicht die orthodoxen Gegner HEGELs und FEUERBACH. Beide stimmen darin überein, daß man im Denken die Wirklichkeit nicht erreicht, ihr ursprünglicher Quell versiegt unter der Berührung des Denkens, die Steppe des Begriffs reicht nicht heran an die frische, grüne Weide des Lebens. Aber diese Übereinstimmung führt zu den entgegengesetzten Resultaten. Während die einen direkt in den Himmel fahren, weil sie sich den Kopf an der unzugänglichen Wirklichkeit gestoßen haben, öffnet FEUERBACH seine Sinne und die Wirklichkeit liegt ganz vor ihm. Er stürzt sich vergnügt der Natur in die Arme, um als Mensch von den letzten Qualen der Abstraktion zu genesen. Die Himmelfahrt SCHELLINGs und der Naturalismus FEUERBACHs haben dieselbe Quelle: die Ohnmacht des menschlichen Denkens. Aber während der eine diese Ohnmacht durch eine außerweltliche Freiheit verschlimmert, verbessert der andere die Schranke des denkenden Menschen durch den sinnlichen. Das ganze Interesse, welches der Humanismus an der Lösung jenes Problems nimmt, knüpft sich daher an FEUERBACH. Denn auf seiner Seite liegt die  menschliche  Lösung. Ob er es ganz gelöst hat, ob man das Problem überhaupt auf Kosten des Idealismus lösen kann, ist eine andere Frage, die eine Kritik FEUERBACHs zu der ihrigen und zwar zu ihrer vorzüglichsten Aufgabe zu erheben hat, aber es ist klar, daß FEUERBACH die Lösung durch den Menschen, als im Interesse eines vollen Humanismus versuchte. -

Erst in diesem Licht gewinnt der naturalismus FEUERBACHs seine Bedeutung, er unterscheidet sich stark von der  air de famille  [Familienähnlichkeit - wp] der gewöhnlichen Naturalisten. - Den Menschen ohne weiteres in die Natur und zwar die pure, blanke Natur zurückzuführen, diese Bemühung wäre weder neu, noch könnte sie der heutigen Bildung gegenüber mehr, als ein flüchtiges Ferment sein. Im Zeitalter ROUSSEAUs war diese Rückkehr zur Natur aus einer lügenhaften und entsittlichten Bildung eine erhabene, welterschütternde Tat, sie würde heute nicht ohne einen komischen Beigeschmack bleiben. Wir wollen FEUERBACH nicht ganz von dem Fehler ROUSSEAUs freisprechen, den wahren Menschen im unmittelbaren zu finden, aber der Wille zu ersterem macht selbst den Mißgriff mit dem letzteren zu einem liebenswürdigen Irrtum. Außerdem vergißt man nicht, daß sich eine Reaktion in ihrem Gegensatz rechtfertigt. ROUSSEAUs Naturalismus wird durch die Bourbonen zu einer göttlichen Wahrheit, die reine Natur wird durch den Hof der LUDWIGe ein unentweihter, heiliger Tempel. Und wenn man in unserer Kultur auch nur eine Lüge nachweist, so hat man den Irrtum FEUERBACHs glänzend verteidigt.

Aber die Tendenz unseres Naturalisten ist offenbar noch eine weit tiefere. FEUERBACH  will die Idee in die Natur auflösen,  und alle Beziehungen des Menschen zur Idee: Religion, Kunst, Philosophie durch die Natur interpretieren. Seine letzten Schriften atmen diesen Gedanken, die Natur ist ihm unmittelbar ein ideales Reich, er befriedigt sich in ihr, wie sich der Philosophe in der spekulativen Idee des Absoluten befriedigt, die Materie ist nicht die tote  res et causa,  [Ursache der Realität - wp] sie ist  causa sui  [Grund aus sich selbst - wp], er betrachtet sie nicht mit dem Auge des Mechanikers, er betrachtet sie mit dem Auge des Griechen. Sie ist ihm eine göttliche Wirklickeit, ein polytheistisches Leben. Von hier aus verändert sich FEUERBACHs ganze Weltanschauung. Die Natur ist ihm die bleibende, nicht die transistorische Voraussetzung aller menschlichen Tätigkeit, das Wissen die durch das Denken gebildete Empfindung, die Wissenschaft universale Empirie, der Geist universelle Sinnlichkeit, die Kunst der offenbare Beweis von der Wahrheit des Sinnlichen, der Gegenstand der Religion die phantastische Natur, die wahre Methode nicht dialektisches System, sondern  generische Kritik,  die Identität von Denken und Sein nur der wirkliche, leibhaftige Mensch, der beides in sich vereinigt, die absolute Identität ist die Einheit von  Ich  und  Du,  die  Liebe.  Das ist in wenigen Worten das Grundthema, das FEUERBACH in seinen Schriften variiert. Die Kritik der Religion und der Philosophie, wie er die erstere im  "Wesen des Christentums",  im  "Wesen der Religion und sonst, die letztere in der Kritik der HEGELschen Philosophie, in den  "Thesen zur Reform der Philosophie"  und vor allem in den  "Grundsätzen der Philosophie der Zukunft"  ausführt, beruhen wesentlich auf dieser Anschauung. Es leuchtet ein, wie nach diesen Voraussetzungen das höchste Objekt für FEUERBACH das  menschliche Individuum  ist. Das Individuum ist ihm ursprünglich ein sinnliches Wesen, das sich nur durch das  Attribut  des Geistes, also nicht seinem  Wesen nach  von der Natur unterscheidet. Aber in diesem wesentlichen Unterschied von der Natur, der nach FEUERBACH nur attributiv ist, liegt die Möglichkeit über die Natur hinauszugehen, und so jenen Widerspruch des menschlichen Bewußtseins mit dem menschlichen Wesen zu erzeugen, der das Individuum bis zur totalen Selbstentfremdung forttreibt. Diese mögliche Selbstentfremdung ist in der transzendenten Religion und in der theologischen Philosophie zur Wirklichkeit geworden. Gestehen wir die Prämissen zu, so liegen alle Folgerungen zutage. Die Resultate FEUERBACHs sind dann evident. Ist nämlich jener Widerspruch des natürlichen Individuums mit seinem Wesen, dem geistigen Menschen, von Haus aus ein einseitiger, abstrakter, dem wahren Wesen des Individuums widersprechender, so ist die Negation der Religion und der Philosophie, die beide nur durch ihn erzeugt werden, unvermeidlich, das Individuum muß dann aus seiner Selbstentäußerung wieder zu seinem Wesen, d. h. zur  Sinnlichkeit  zurückkehren und diese verleugnete Macht endlich mit Bewußtsein bejahen. Aber was heißt dies? Nichts anders als das Individuum vollendet sich als diese affirmative Einheit seines ursprünglichen Bewußtseins von dem es ausgeht, und seines Wesens, zu dem es sich selbst erhebt, es ist in der harmonischen Übereinstimmung seines  Denkens  und seiner  Empfindung  wirklicher, wahrer, universaler Mensch. Der Sinn von FEUERBACHs Prinzipien, den freilich hie und da eine einseitige Äußerung wieder zu verdunkeln scheint, kann kein anderer sein, als: diese Übereinstimmung des denkenden und sinnlichen Individuums,  die harmonische Vollendung des ganzen Menschen  ist das wahre Ziel der Theorie und der Praxis (1). Also nicht das nackte Individuum als bloßes Naturwesen, noch der in sich bornierte Egoist sind die Konsequenzen, mit denen man FEUERBACH ad absurdum führt, wie dies einige unklare Köpfe versuchten; das Ideal FEUERBACHs ist das für die Welt offene Individuum, das sich mit dem Sinn und Verstand der Gattung auf die Natur und die anderen Individuen bezieht. So wenig FEUERBACH die ethische Seite seiner Prinzipien ausgebildet hat, und so schwer es sein mag, ein ethisches System aus ihnen abzuleiten, so schlägt doch offenbar in dem Sinn für die Gattung das Herz für die ideellen Mächte, denen der Mensch sich  mit Religion  widmet, die er in sich und in der Welt zu verwirklichen sucht, und in der Anerkennung anderer mit mir identischer Wesen liegt eine große  sittliche Gewalt,  die man den Prinzipien FEUERBACHs unmöglich absprechen kann.

Es ist eine andere Frage, ob FEUERBACH Politiker im engeren Sinne des Wortes ist und sein kann. In seinen Schriften ist er es nicht, und es ist begreiflich, warum die politische Frage für ihn nur eine sekundäre sein kann. Selbst die Möglichkeit zuzugeben, daß seine Prinzipien bestimmte Staatsformen aus sich erzeugen könnten, so würden sie dennoch über jede politische Verfassung hinausgreifen. Denken wir uns jene harmonische Vollendung der Individuen im Sinne FEUERBACHs allseitig verbreitet, so ist ein politischer Zustand, eine bestimmte Verfassung mindestens überflüssig geworden, ebenso überflüssig wie sie es für FICHTE war, der es geradezu für das Ziel des Menschen erklärte, keine Verfassung zu haben. Wenn man dem Individuum aus seiner ursprünglichen Kraft heraus eine  widerspruchsvolle Einheit  mit sich selbst zugesteht und in dieser Einheit das höchste Ziel des Individuums findet, dann offenbar kann die Politik nur noch pädagogisches Mittel, aber nicht Selbstzweck sein. Wie soll dieses Ziel erreicht werden? Die harmonische Einheit des Individuums mit sich ist nach FICHTE und nach FEUERBACH vollzogen, wenn es seinen ursprünglichen Zustand mit Freiheit bejaht, nach dem einen in der Anerkennung des Sittengesetzes, nach dem andern in der Affirmation seines sinnlichen Wesens.

Worin liegt nun die prinzipielle Bedeutung FEUCHERBACHs, worin bestehen seine positiven Resultate? Man verwahre sich gegen diese Fragen wie man will, man kann sie weder als voreilig abweisen, die Geschicke der Philosophie sind zu eng damit verbunden, noch kann man sich gegen ein Phänomen verblenden, das so klar uns so gebieterisch leuchtet. Es ist kein Gegenstand für den eifernden Zorn des Theologen, es leuchtet doch und wenn er es zehnmal verleugnet. Man begegnet dem Freigeist nur, wenn man ihn in seinen eigenen Bahnen aufsucht, sie liegen über der Welt der Vorurteile und der Autoritäten, man befreie sich also von diesem angstvollen Druck, man werfe die finstere Last von sich, welche die Köpfe umnebelt, und man hat wenigstens das Licht und die Lust gewonnen, worin die freien Geister atmen. Unzählige Angriffe, die sich gegen FEUERBACH richteten - man erinnere sich an gewisse Theologen - waren schon aus dem einfachen Grund fruchtlos, weil sie blind waren. Sie verdienen kaum den Namen einer Kritik, weil sie unter dem Niveau liegen, auf dem man mit freiem, ungetrübtem Auge die Geister erkennt. Eure Zauberformeln sind veraltet, die Geister kommen nicht, wenn ihr sie beschwört, und sie verschwinden nicht, wenn ihr sie bannt!


2. Der Panlogismus der Hegelschen Philosophie

Wie verhält sich die freie Philosophie, also die Freiheit überhaupt zu FEUERBACH? Das ist die Frage, auf die eine vernünftige Kritik zu antworten hat. - Die Philosophie HEGELs, die unter allen Gestalten der Philosophie der Idealismus  par excellence  ist und bleiben wird, wurde von ihrem Meister als die Wissenschaft der Freiheit bezeichnet. Es war das erstemal in der Geschichte der denkenden Geister, daß der ganze Reichtum der Welt aus  einem  Gedanken, aus dem Gedanken der  Freiheit  begriffen wurde. Die ganze Welt strahlte in einem anderen Licht, seitdem man in allen ihren Phänomenen die Offenbarungen seines eigenen Wesens und in ihrem Gesetz die ewige Sehnsucht und Bestimmung der Geister erkannt hatte. Dieses neue Weltbewußtsein mußte die Menschen auf das Tiefste ergreifen, der denkende Geist hatte den dichtenden übertroffen, der über die Welt der Herren und Knechte nur trauern, den Tag des Edlen nur weissagen, aber weder die eine vernichten, noch den anderen beweisen konnte. Die  bewiesene Freiheit  war der epochemachende Gedanke des HEGELschen Systems. Die Macht dieses Gedankens wirkte unwiderstehlich; und in der Tat, es schien einen Augenblick, als ob die theoretische Geistesarbeit sich in diesem Individuum erschöpft hätte und für die Zukunft nur noch eine Aufgabe blieb: die Propaganda des Systems. Schon lebte im Mund der vorzüglichsten Anhänger dieses Systems das Geisterreich der Idee, welches als die neue Gemeinde das neue Evangelium über die Welt verbreiten sollte. Diese Hoffnungen waren chimärisch. Man wüßte noch kaum, wie man den Riesenbau dieser Philosophie zu betrachten habe, ob es eine gothische Kirche, oder ein heidnischer Tempel sei, ob das Christentum über das Heidentum oder das Heidentum über das Christentum triumphiert habe. Die Lage der Sache hatte offenbar zwei Seiten, und solange es sich bloß um den Plan des Baumeisters handelte, konnte die Auslegung desselben doppelsinnig sein, beide Parteien beriefen sich mit scheinbar gleichem Recht auf ihren Meister, sie wehrten sich mit seinem Schild, aber dieser Schild zeigte  Janusköpfe.  Die eigentliche Frage lag tiefer, man konnte sie nur durch den Geist des Philosophen, nicht durch seine Autorität entscheiden. Ich will versuchen, das Bild in die Sache zu übersetzen. HEGEL bezeichnete den Weltprozeß in der natürlichen und ethischen Welt als die Erscheinungen des göttlichen Wesens, dieses letzte war ihm die absolute Voraussetzung der Natur und des Menschen, deren wahre Tätigkeit nur die Verwirklichung dessen sein sollte, was jenes absolute Wesen der Möglichkeit nach in sich enthielt. Also war die ganze Weltbewegung als natürlicher und als sittlicher Prozeß im Grunde die Verwirklichung Gottes, also die Welt der wirkliche Gott und der menschliche Geist die wahre Gegenwart des göttlichen. Wenn die Theologie ihre religiösen Vorstellungen aus dieser spekulativen Lehre zu rechtfertigen suchte, so hatte sie gewiß mehr die Namen, welche HEGEL brauchte, als die Sache selbst und ihren wahren Begriff im Auge. Es war klar, daß sich nach diesem Begriff das Absolute ohne Rest in die Weltentwicklung auflösen müßte, jede einseitige und begrenzte Auffassung desselben war damit auf das härteste angegriffen und die ganze Theologie, so weit sie die Vorstellungen des religiösen Bewußtseins zu definieren versuchte, vielmehr in Frage gestellt, als bewiesen. Den Standpunkt des Theismus hatte die HEGELsche Dialektik radikal widerlegt, eine so undialektische Vorstellung wie die des Theismus konnte den Sturm des Gedankens nicht aushalten, sie mußte sich dem unerbittlichen Schicksal fügen, und die Frage konnte nur noch die sein, ob man den außerweltlichen Gott in der Logik oder in der Anthropologie begraben sollte. Doch blieb die HEGELsche Dialektik nicht ohne den Schein eines theologischen Hintergrundes. Sie vermochte es nicht, die Natur und den Menschen als voraussetzungslos, also als absolute, selbständige Mächte zu begreifen. Sie bedurfte, um zur reellen Wirklichkeit zu gelangen, jenes logischen Prius, aus dessen ideeller Entwicklung erst die materielle Welt resultiert. So waren also die Tatsachen der Natur und des Bewußtseins nicht aus sich selbst erklärt, sie mußten als Resultate gelten, welche man nur unter der Voraussetzung eines ewigen Denkens begreifen konnte. Die Wahrheit beider war eine  vermittelte,  abgeleitete Wahrheit, die ganze natürliche und menschliche Wirklichkeit schien, ihrer inneren, ursprünglichen Selbständigkeit beraubt, nur ein  Moment im Absoluten,  nur ein Stadium seiner Selbstvermittlung zu sein. Das HEGELsche System erschien in diesem Licht als ein logischer Pantheismus. Die absolute Idee zeigte sich als die weltdurchdringende aber zugleich negative Macht, in der alles individuelle Leben eine nur momentane Bedeutung hat. Das Individuum empfand den Genuß des Absoluten nur, um ihn mit seinem Tod zu bezahlen, wie jener ägyptische Jüngling den Anlick des Bildes zu Sais. Es ist die Seligkeit des Pantheisten im Absoluten zu sterben. Diese Seligkeit hat FEUERBACH in seinem Gedanken über Tod und Unsterblichkeit empfunden. Der Panlogismus der Philosophie, der ihn damals begeisterte, ist später der Gegenstand seiner heftigsten Angriffe geworden.

Man opferte dem absoluten Denken die individuelle Selbständigkeit, aber das Denken schien die Wirklichkeit selbst zu verzehren. Nicht nur die selbständige Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit überhaupt erschien unmöglich, sobald sie aus einer logischen Voraussetzung mit immanenter Notwendigkeit folgen, und der Geist über die sinnliche Welt hinaus zu einem supranaturalen Gedanken flüchten sollte, um das Wesen der Welt zu erfassen. Kann ich die Welt  nur  aus den Gedanken erklären, dann kann ich sie auch nur  im  Gedanken wirklich erreichen, die ganze sinnliche Welt ruft dann vergebens dem Denker ihr  noli me tangere  [Berühre mich nicht. - wp] zu, sie ist dann nur ein Moment ihres immanenten Gedankens. Der Reichtum des individuellen Lebens stirbt zu Begriffen ab und das Schattenreic der Logik scheint über die ganze Wirklichkeit verbreitet: es gibt keine Oberwelt mehr. In jedem Gedanken wiederholt sich der PROSERPINA; arme PROSERPINA! In den Armen PLUTOs bist Du der Unterwelt auf ewig verfallen und Deine Blumen sind auf ewig verwelkt!


3. Das Recht des Idealismus

Ist der Sinn des Idealismus in der Tat so räuberisch, daß er nach dem Blut des Lebendigen dürstet, dann sind die Klagen gegen ihn gerechtfertigt. Er ist dann kein welterleuchtendes, sondern ein weltverzehrendes Feuer, das man je früher, desto besser löschen muß. FEUERBACHs Empörung gegen den Idealismus findet hier ihre prinzipielle Bedeutung, und sie hätte vollkommen Recht, wenn der Idealismus in der Tat der individuellen Freiheit und dem Reichtum des sinnlichen Lebens so ganz Unrecht täte. Wem der Idealismus nur das starre Antlitz der GORGO und kein bewegtes Menschengesicht zeigt, der erstarre oder greife nach den Waffen des PERSEUS. Du bist grandios, Medusenhaupt, aber dir droht das Schwert des griechischen Helden. - Doch einen Augenblick Geduld, ehe wir den Idealismus zu diesem Streich verurteilen. Man gibt ihm die Schuld, die Natur verödet, die Freiheit unterdrückt, dem Menschen sein Wesen entfremdet, die lebensfrische Sinnlichkeit in die Geister der PROSERPINA verwandelt zu haben. Ich gebe die Möglichkeit dieser Verbrechen zu, aber diese antikosmischen Tendenzen sind nur die Irrtüer, nicht die Wahrheit des Idealismus. Er selbst kann sie unmöglich eingestehen, und wenn er es tut, so sind ihm seine Geständnisse auf der Folter erpreßt worden. Mit welchem Recht nennt er sich denn noch das System der Freiheit, die Wissenschaft des Wirklichen, wenn er beides mit seinem verzehrenden Hauch tötet? Man sagt, der Idealismus reiche nicht heran an die positive Wirklichkeit, er vermöge nicht sie als selbständige Wahrheit, als Subjekt ihrer selbst zu fassen. Ich frage einfach, warum nicht?

Es mag sein, daß die HEGELsche Philosophie einen theologischen Druck auf die Welt und die Fülle ihrer empirischen Gestalten ausübt, daß die Idee mit einer substantiösen Gewalt das Subjekt mehr erdrückt als befreit, daß die Atmosphäre des Denkens hier noch schweratmig auf der lebendigen Wirklichkeit lastet, man befreie uns von diesem herrischen Druck, aber man lasse die Prinzipien nicht büßen, was eine einseitige Ausführung derselben verschuldet hat. Ich nehme den Idealismus für die Freiheit in Anspruch. Ich behaupte mit FEUERBACH, man muß die reale Wirklichkeit, die sichtbare Welt  als Subjekt ihrer selbst  fassen, wenn man mit ihrer Selbständigkeit nicht zugleich ihre positive Wahrheit einbüßen will; ich bin ebenso mit FEUERBACH überzeugt, daß eine  weltlose,  abstrakte Logik nicht imstande ist bis zu diesem Kern vorzudringen. Aber wo liegt dieser Kern? Wo finde ich dich, unendliche Natur? FEUERBACH erwidert:
    " ... in meinen Sinnen, in meiner Empfindung. Nur in meine Empfindung kann ein anderes selbständiges Wesen eintreten, denn nur in der Empfindung werde ich mir des anderen als eines wirklich von mir unterschiedenen Wesens, also als Subjekt seiner selbst bewußt. Das Denken kann über die formelle Identität mit sich nicht hinaus, es kann nie in das reale Gegenteil seiner selbst, also in die Materie eindringen, ohne sich selbst zu negieren, jedes selbständige Wesen wird selbstlos, sobald es der Gedanke in Besitz nimmt, er ist die tödliche Lava, welche die Oberwelt zur Unterwelt versteinert."
Gewiß, das formelle abstrakte Denken hat nicht die Energie, seinen realen Unterschied frei aus sich zu entlassen, aber sollte die Empfindung in der tat den inneren, ursprünglichen Quell eines Wesens erfassen? Geben wir zu, was psychologisch nicht zugegeben werden kann, so können mir die Sinne doch nur ein  einzelnes  Wesen in seiner Selbständigkeit offenbaren. Habe ich in der Empfindung die individuelle Freiheit erfaßt, so bin ich doch nur auf  einen  Punkt im Weltall angewiesen, und wäre es der Kuß, in dem ich die Seele dieses Mädchens empfinde, ich kann die Welt darüber vergessen, aber ich bin doch nur ein  glebae adscriptus  [Leibeigener - wp]. Die Autonomie der ganzen sichtbaren Welt können mir die Sinne nicht offenbaren. FEUERBACH sagt: dies tut die  universelle Sinnlichkeit,  in der sich der Mensch spezifisch von den Wesen der Natur unterscheidet. Also über das  "Hier"  in der sinnlichen Gewißheit, über das  "Du"  in der Liebe wären wir hinaus, der Sinn für das Universum soll mir die Freiheit des Weltalls offenbaren. Im "Dieses" im "Hier", im "Du", das ich  empfinde,  offenbaren sich mir seelenvolle Wesen, ich genieße den Augenblick, der sie mir bringt, mit jugendlicher Lust: "Hier ist CERES, hier ist BACCHUS Gabe und du bringst den AMOR, liebes Kind!" Aber hinter dem Gott der Freude lauert schon die Braut von Korinth [Gedicht von Goethe - wp]. Die Autonomie des Universums, das Sein des Subjekts seiner selbst geht mir in dieser Empfindung nicht auf. Ich muß aus den Sinnen und ihrem Polytheismus zu einer  "universellen Sinnlichkeit"  flüchten. Hüte Dich, Jüngling von Athen, Du bist auf dem Weg nach Korinth!

Ich will das in seiner Allgemeinheit erfassen, was ich im Einzelnen empfunden habe, der Sinn für das Universum soll die Wahrheit meiner Sinne bestätigen, ich will den Polytheismus durch den Monotheismus rechtfertigen. Und diese universale Freiheit, die immanente Selbstbestimmung der Welt, das Sein als Subjekt seiner selbst, wie kann es sich mir offenbaren? Als Empfindung gewiß nicht, als Vorstellung nur in der religiösen Phantasie, die in frommer Selbsttäuschung den Himmel bevölkert. Die Beziehung zum Universum, der Sinn für dasselbe wird in mir eine andere universelle Tätigkeit,  das Denken  entbinden. FEUERBACH gesteht diese Tätigkeit auch ohne weiteres dem Menschen zu,
    "nur soll das Denken sich mit seiner einfachen, natürlichen Stellung begnügen, es soll den Menschen nicht zum einseitigen Philosophen, es soll ihn zum ganzen Menschen machen, es soll seine Sinnlichkeit nicht verleugnen, es soll sie bejahen, es soll sich nicht als die Voraussetzung der Sinne, es soll sich als ihr Resultat ansehen, es ist nicht das Wesen, sondern bloß das Attribut des Menschen."
FEUERBACH fährt fort: Es ist der Irrtum der ganzen neueren Philosophie seit CARTESIUS, diese Wahrheit verkannt zu haben, sie nimmt das Resultat für die Voraussetzung und eine Eigenschaft für das Wesen. Das Denken sagt sich von den Sinnen los, es will aus eigener Machtvollkommenheit die Wahrheit erkennen, es fängt voraussetzungslos aus sich selbst an, anstatt sich aus seinem realen Gegenteil zu erzeugen, es ist mithin nicht das universelle, sinnliche, sondern das einseitige supranaturale Denken, es ist keine empirische, sondern eine formelle Tätigkeit, sein Subjekt ist nicht der Mensch, sondern der Philosoph, seine Identität nicht die wirkliche, sondern die bloß gedachte Identität des Subjektiven und Objektiven, nicht die Identität von Denken und Sein, sondern bloß die Identität des Denkens mit sich selbst. Dieses Denken ist das imaginäre, nicht das wirkliche Denken, seine Wahrheit ist ohne sinnliche Realität, das bloße Hirngespinst der Philosophie. Das heißt: Die Geschichte der ganzen neueren Philosophie ist die Geschichte einer Usurpation [widerrechtliche Aneignung - wp]. Das Denken hat die Herrschaft des Menschen usurpiert, es hat die ganze Wirklichkeit in Gedanken verwandelt, wie einst König MIDAS alles in Gold verwandelte. Die Sinne müssen sich gegen das Denken empören, der Usurpator muß entsetzt und aus einem unrechtmäßigen Herrscher ein rechtmäßiger Untertan werden. Das Denken ist nicht der Befehlshaber, es ist der Beauftragte der Sinne. Diese waren bisher der verachtete  tiers état  [dritte Stand - wp] und FEUERBACH ist zugleich ihr SIÉYES und ihr MIRABEAU geworden. Also das Denken hört auf sich zu rühmen, daß ihm Hören und Sehen vergangen ist, es fange an zu sehen und zu hören, oder es wird die Torheit des MIDAS mit dessen Ohren bezahlen. Die neue Philosophie FEUERBACHs proklamiert die Revolution der Sinne gegen das absolute Königtum des Denkens, es soll aus seinem einsamen monarchischen Idealismus zu seiner einfachen und gesetzmäßigen Stellung zurückkehren, die Sinne nehmen ihm alles seine vorzüglichen Rechte, selbst das Veto gegen die Sinne hört auf, sie lassen ihm nur ein formelles Recht, das Bestätigungsrecht ihrer Dekrete. Das Verhältnis des Denkens zu den Sinnen ist nach FEUERBACH aus einem primitiven zu einem sekundären geworden. Das Denken soll sich nicht aus sich selbst, sondern aus seinem realen Gegenteil, aus der Sinnlichkeit erzeugen, es soll den Inhalt der Sinne dem Bewußtsein zuführen, es soll sich durch die Anschauung rektifizieren [berichtigen - wp] um aus seinem einförmigen und unwahren Kreislauf in die reale Bahn der Ellipse zu treten. Also hat das Denken nach FEUERBACH nur noch die Bedeutung, den Stimmen nachzugehen und ihren Inhalt zu bilden, es ist nur die eine Seite in der gebildeten Empfindung, es ist nicht die Seele, nur das Organ der Empfindung. Das Denken nimmt also seinen Inhalt nicht mehr aus sich, es ist mithin nicht mehr das freie, sich selbst bestimmende, es ist das  abhängige,  durch die Empfindung bestimmte Denken.' Wir befinden uns offenbar in einem Dilemma. Kann das Denken seinen Inhalt nur aus der Empfindung und den Sinnen nehmen und ist seine Tätigkeit keine andere, als die Bejahung dieses Inhaltes, dann hat man vom Denken nichts Neues zu hoffen, man kann nur fürchten, daß es diesen Inhalt korrumpiert, es ist mithin überflüssig. Wenn aber der Denker auch nur in  einem  Gedanken einen anderen von der Empfindung unterschiedenen Inhalt zu seinem Gegenstand hat, dann ist es nicht das abhängige, durch die Empfindung bestimmte, es ist das  freie,  unabhängige, sich selbst bestimmende Denken.'

Wir haben die Wahl, entscheiden wir uns zunächst im Sinne FEUERBACHs! das Denken als die Bejahung der Sinne, und nichts weiter als das, ist eine unmögliche Tätigkeit. Warum soll das Denken noch die Tatsachen der Sinne bejahen? Diese Wiederholung ist ebenso überflüssig, wie langweilig. Das Denken hat dann die Aussagen der Sinne bloß zu Protokoll zu nehmen, ein Galeerendienst wäre mir lieber? Aber noch schwieriger und unbegreiflicher wird der Prozeß, wenn man frägt: Wie kann das Denken die Sinne bejahen? Ist nach FEUERBACH die Sinnlichkeit das reale Gegenteil des Denkens, so ist diese Bejahung unmöglich. Wie ist die einfache Bejahung seines realen Gegenteils zu begreifen? In der Empfindung wohl, aber in der Empfindung bejahe ich mich ebensosehr wie das von mir empfundene Wesen, oder ich verneine beides. Aber im Denken? Wenn das Denken auf diese Frage FEUERBACH mit einem einfachen "Ja" geantwortet hat, so ist die Frage peinlich und das Geständnis die Folge einer Tortur gewesen. Ich muß Frage und Geständnis verwerfen. Aber, erwidert FEUERBACH, das Denken ist das Attribut der Sinnlichkeit, wie sollte das Attribut nicht seine Substanz und seinen Ursprung bejahen? Gewiß, ist das Denken das Attribut der Sinnlichkeit, so ist die Anerkennung derselben nur der Tribut, welchen der Vasall seinem Lehnsherrn schuldet. Aber ist es das Attribut? Ich wiederhole nur das Prinzip FEUERBACHs: ist die Sinnlichkeit das reale Gegenteil des Denkens, so kann das Denken unmöglich das Attribut der Sinnlichkeit sein. Denn offenbar setzt das reale Gegenteil auf der einen, das reale Gegenteil auf der anderen Seite voraus. Es ist dann ein doppelter Widerspruch, wenn FEUERBACH verlangt, das attributive Denken solle sich aus der Sinnlichkeit als seinem realen Gegenteil erzeugen. Ein Attribut kann  sich  nicht  selbst  erzeugen, ohne aus einem Attribut ein selbständiges Wesen zu werden, ebensowenig kann sich das eine aus dem ander als seinem realen Gegenteil entwickeln, wenn es nicht in seinem Gegenteil zugleich seinen  Gegenstand  also sein eigenes Wesen findet. Wir müssen mithin entweder den realen Unterschied zwischen Denken und Sinnlichkeit oder die Abhängigkeit des Denkens von der Sinnlichkeit aufgeben. Der Sinn von FEUERBACHs Prinzipien drängt zur Entscheidung für das Letztere. Es ist nicht das denkende Wesen, das sich versinnlicht, es ist vielmehr  das sinnliche Wesen, welches denkt.  Das Denken ist nur das Prädikat der Sinnlichkeit, es spricht nur aus, was die Sinnlichkeit ist, es liest die Sinne im Zusammenhang. Und ist das Denken nichts weiter, als diese durch die Sinne und ihre Empfindungen bedingte Tätigkeit, so fühle ich mich zu der Frage versucht: warum ist es überhaupt? Das bewegende, ursprüngliche Prinzip der Sinnlichkeit ist es nicht, wenn es nur ihr Prädikat ist, sonst wäre die Sinnlichkeit eine tote Galeere, die von ihren Sklaven gelenkt wird. Und wenn das Denken nur ein aus der Sinnlichkeit resultierender Prozeß ist, so ist jeder Gedanke, der über den Charakter der Empfindung hinausgeht, entweder ein unbegreiflicher Einfall, oder wenn er das Gesetz der Wirklichkeit enthält, der vollgültige Beweis für die Freiheit des Denkens.
LITERATUR Die Akademie - Philosophisches Taschenbuch, Bd. 1, Hg. Arnold Ruge, Leipzig 1848
    Anmerkungen
    1) Und weil diese Harmonie erworben werden muß, so ist Religion oder das Streben nach ihr und Philosophie oder der Prozeß zu ihr nichts andres als diese Gemüts- und Geistesbewegung, in der auch FEUERBACH seine Befriedigung sucht und findet; niemand ist religiöser, niemand mehr Philosoph als er.