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PAUL NATORP
Die logischen Grundlagen
der exakten Wissenschaften

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"Der Hauptgrund (für das Fehlgehen der Philosophen) dürfte zu erkennen sein im dogmatischen Festhalten am überlieferten Schema der klassischen, d. h.  aristotelischen  Logik: man müsse definieren und beweisen; definieren bis zurück zu gewissen letzten, nicht mehr zu definierenden Begriffen, beweisen bis zurück zu letzten, nicht mehr zu beweisenden Sätzen. Wodurch sind uns denn diese gewiß? Hier findet schon Aristoteles sich in offenbarer Verlegenheit. Bald gelten ihm die letzten Begriffe und Sätze als durch sich selbst evident oder durch ein Vermögen reiner Vernunft gegeben, bald als durch allgemeinste Erfahrung im Gebrauch bewährt und dadurch hinreichend gesichert. Daneben findet sich, versteckt und wenig beachtet, an einer Stelle vielleicht eine Ahnung des Richtigen. Da aber jene beiden Begründungsweisen offenbar unbefriedigend sind und eine dritte nicht klar erkannt war, so meinte man endlich für die letzten Ausgangspunkte auf irgendwelche Art von Evidenz oder Beweis, auf irgendeine fernere Sicherung ihres Erkenntniswertes überhaupt verzichten zu müssen; man glaubt genug zu tun, wenn man die letzten Begriffe und Sätze, d. h. Symbole und Regeln für deren Zusammenstellung, nur einfach angab, sie aber so zu fassen bemüht war, daß sie nach einem womöglich unfehlbaren Mechanismus genau die Konsequenzen hervorgehen lassen, um derentwillen sie aufgestellt wurden."

"Nicht zweifeln läßt sich mit Sinn an dem, was schon vorausgesetzt sein muß, damit überhaupt der Zweifel und also die Frage Sinn habe. Man kann nicht weiter zurückfragen hinter das, was selbst Voraussetzung jedes sinnvollen Fragens ist. Man kann nicht mit Sinn fragen: Warum überhaupt ein Warum? Warum überhaupt Frage? oder: Welchen Sinn hat überhaupt ein Sinn?"

Vorwort

Die notwendige Wechselwirkung zwischen Philosophie und positiven Wissenschaften verbirgt sich in solchen Zeiten, in denen die Arbeit beider in festen Geleisen, gleichsam geradlinig oder in kaum merklicher Richtungsänderung fortschreitet; sie tritt deutlich zutage an den entscheidenden Wendepunkten.

Wir stehen jetzt mitten in einer Periode mächtiger Umwälzungen beider, der Wissenschaften und der Philosophie; und so sind in letzter Zeit die Berührungen zwischen beiden, die Jahrzehnte hindurch keine beträchtliche Änderung erkennen ließen, zusehends enger und lebendiger geworden. Zwar hat es die Philosophie gewiß auch in der hinter uns liegenden Periode nicht verabsäumt, vor allem mit den "exakten" Wissenschaften Fühlung zu nehmen und auch mit ihren neuen Errungenschaften sich in Einvernehmen zu setzen. Allein es ist zu besorgen, daß dabei weder dem eigenen Interesse volles Genügen geschehen, noch die Probleme der exakten Wissenschaften selbst bei der Wurzel gefaßt worden sind. Denn nach aller Mühe, welche an die Prinzipienlehre der Mathematik und mathematischen Naturwissenschaft auch von bedeutenden Philosophen gewendet worden ist, steht man rat- und hilflos den tiefgreifenden Revolutionen gegenüber, die über diese Wissenschaften in jüngster Zeit ergangen sind. Durch diese Revolutionen ist der theoretischen Philosophie ihre alte Aufgabe in neuer Wucht und Schwere gestellt. Mit bloßer Übernahme der neuen Errungenschaften (soweit von gesicherten Errungenschaften überhaupt schon geredet werden darf) und deren Einordnung unter alte Schablonen kann es nicht getan sein; sondern gerade die Grundlagen der theoretischen Philosophie, also der Logik (als "transzendentaler" Logik in KANTs Sinn) bedürfen einer Umarbeitung von nicht geringerer Tiefe, als gerade die fundamentalsten der theoretischen Wissenschaften sie in unseren Tagen erfahren haben oder zu erfahren im Begriff sind. Die Gefahr ist heute weit geringer, daß die Philosophie etwa nochmals, wie in HEGELs Zeiten, in das Arbeitsgebiet der positiven Wissenschaften unbefugt hinübergreifen sollte, als daß man die spezifische Natur der philosophischen Aufgabe verkennt, und auf Grundfragen der Philosophie antworten zu können meint mit Sätzen positiver Wissenschaft oder oberflächlichen Reflexionen, die an exakte Grundlagen in oft erstaunlich unexakter Logik angeknüpft werden. Der heute üppig wuchernden "Naturphilosophie" solchen Stils kann durch nichts anderes wirksam begegnet werden als durch eine echte Philosophie nicht der Natur, sondern Naturwissenschaft auf mathematischer Grundlage, die der positiven Forschung nicht mehr als die Fragen entnimmt, die Antworten selbständig erarbeitet.

Freilich fordert ein solcher Versuch - wie er in diesem Buch gewagt wird - zugleich eine so umfassende Vertrautheit mit den exakten Wissenschaften, wie sie für einen einzelnen gegenwärtig kaum mehr erreichbar ist. Wer von uns dürfte sich heute rühmen, die ungeheuren Weiten, in die diese Wissenschaften sich gedehnt haben, auch nur rezeptiv zu umspannen; zumal wenn er nicht dieser einzigen Seite der philosophischen Aufgabe seine ganze Kraft widmen kann, sondern, nach der unerbittlichen Forderung der absoluten Problemeinheit der Philosophie, gleichzeitig auch den Grundlagen der biologischen und der soziologisch-historischen Wissenschaften sein Studium zuzuwenden verpflichtet ist? In dieser Beziehung wird jeder, der heute an die Aufgaben der systematischen Philosophie sich heranwagt, auf Nachsicht rechnen müssen. Er wird bemüht sein, von den schaffenden Forschern zu lernen und wieder zu lernen, auch wenn es ein Umlernen ist, das sie von ihm fordern. Voraus verurteilt aber ist ein jeder Versuch, der nicht auf solchen letzten  philosophischen  Fundamenten fußt, die sicher sein dürfen durch keine der, sei es schon vollbrachten oder im Gang befindlichen wissenschaftlichen Revolutionen erschüttert zu werden.

Wenn der gegenwärtige Versuch mit der Zuversicht auftreten darf, dieser höchsten und zugleich doch unerläßlichsten Forderung zu genügen, so dankt er dies dem historischen Boden, auf dem er erwachsen ist: dem Boden einer philosophischen  Arbeitsgemeinschaft,  der es am wesentlichsten Stück: eben am unentbehrlichsten Fundament einer  einheitlichen Problemstellung und Methode  nicht gebricht. Der "Marburger Schule" ist eine solche Festigkeit des Fundaments gesichert durch die in unerbittlicher Strenge von Anfang bis zuletzt auf dieses wesentliche Ziel gerichtete Arbeit ihres Führers: HERMANN COHEN. Der Kundige wird beim Lesen dieses Buches die tiefe Wirkung seines gewiß nicht abschließenden, aber an entwicklungsfähigen Keimen fast überreichen Grundwerkes: der "Logik der reinen Erkenntnis", auf Schritt und Tritt auch da verspüren, wo der Name nicht genannt ist. Nicht minder wesentliche Förderung aber ist sich der Verfasser bewußt der langjährigen Zusammenarbeit mit den jüngeren Gliedern der Schule zu verdanken, von denen als Forscher selbständigen Ranges mehrere schon hervorgetreten sind, andere in kurzem hervortreten werden. Von den letzteren ist ein, DIMITRY GAWRONSKY - den mit seinem reichen mathematischen und physikalischen Wissen und Können zur Seite zu haben dem Verfasser besonders wertvoll war - deshalb hier zu nennen, weil in einem bald erscheinenden Werk desselben eine Reihe der Fragen, die in diesem Buch behandelt sind, gleichfalls zur Sprache kommen werden. Es ist, auch im rein sachlichen Interesse, nicht überflüssig, zu bemerken, daß wir beide, von gemeinsamen methodischen Grundvoraussetzungen ausgehend und an denselben Problemen arbeitend, wesentlich unabhängig voneinander zu nahe übereinstimmenden Ergebnissen gelangt sind. Es gilt dies besonders auch vom anstößigsten Punkt: der Anerkennung des Begriffs des aktuell Unendlichkleinen und dessen Anwendung auf die Probleme nicht bloß des Irrationalen (worin wir beide nur die Richtung von CANTOR und VERONESE innehalten), sondern auch des Infinitesimalen. Die letztere Frage konnte in diesem Buch deshalb im Verhältnis zu ihrer Bedeutung kurz behandelt werden, weil eine sehr eingehende Untersuchung darüber in GAWRONSKYs Werk demnächst zu finden sein wird.

Auch der äußeren Fertigstellung des Buches ist die Mithilfe der jungen Freunde zugute gekommen. Einige  Druckfehler  sind gleichwohl stehen geblieben; sinnstörend wohl nur einer: Seite 123, Zeile 5 ist statt "Vereinigung" "Verneinung" zu lesen.

So ist das Buch in jedem Sinn auf die  Fortarbeit  an den Problemen angelegt. Es erhebt nicht den Anspruch, Abschließendes zu geben, was nach der Natur der Aufgabe zur Zeit überhaupt nicht möglich ist. Es würde vielmehr nur der eigenen Absicht dieses Versuches entsprechen, wenn er, was die Stellungnahme zu einzelnen Problemen der exakten Wissenschaften betrifft, durch die  planmäßige Zusammenarbeit von Philosophie und exakter Forschung,  zu der er auffordert und die er an seinem Teil fördern möchte, in einigem vielleicht schon bald überholt würde. Denn wir erkennen die unzerstörliche Lebenskraft der theoretischen Philosophie gerade in der  unbeschränkten Entwicklungsfähigkeit der logischen Prinzipien,  deren klare Herausstellung und sichere Begründung dieser Versuch sich zur vornehmsten Aufgabe gestellt hat.


Erstes Kapitel
Das Problem einer Logik der exakten Wissenschaften

§ 1.  Mathematik und Logik  Das Problem einer logischen Grundlegung zur exakten Wissenschaft soll in diesem Kapitel nur erst als solches entwickelt und zur erreichbaren Bestimmtheit gebracht, es soll noch nichts, was zu seiner Lösung gehört, entscheidend aufgestellt werden. Einer solchen Vorbereitung bedarf es, weil schon die Aufgabe selbst, so wie sie hier verstanden wird, nicht allgemein als solche anerkannt ist.

Mathematik und jede exakte Wissenschaft, das will sagen, jede Wissenschaft, welche oder soweit sie am Charakter des Mathematischen teilhat, strebt, logisch zu verfahren, d. h. von keinen anderen als streng definierten Begriffen Gebrauch zu machen und das für sie Beweisbare zu beweisen. Aber nicht schon das macht sie zu einer der Logik unmittelbar zugehörigen Wissenschaft oder die Logik zu ihrem alleinigen Fundament. In diesem allgemeinen Sinn logisch verfahren möchte überhaupt jede Wissenschaft, wenn auch die Grade der erreichbaren logischen Strenge sehr verschieden sind; aber darum sind nicht alle Wissenschaften der Logik unmittelbar zugehörig oder ihrem wesentlichen Fundament nach logische. Das Unterscheidende liegt darin: ob die Grundbegriffe einer Wissenschaft selbst durch die Logik dargeboten, ob sie selbst zugleich Begriffe der Logik sind und ob ihre ersten Grundsätze in den Gesetzen der Logik enthalten oder aus ihnen ableitbar, nicht bloß in irgendeinem losen, allgemeinen Sinn logisch, d. h. widerspruchsfrei und zusammenhängend sind. In dieser bestimmteren Bedeutung wird der logische Charakter behauptet von der Mathematik und allem, was in sonstigen Wissenschaften mathematisch ist, während er jedenfalls nicht in der gleichen strikten Bedeutung irgendeiner nicht mathematischen Wissenschaft zukommt.

Diese Auffassung von der wesentlich logischen Natur des Mathematischen vertrat unter den alten PLATO und die ihm gefolgt sind. Unter den Philosophen der neueren Zeit stehen DESCARTES und LEIBNIZ ihr besonders nahe. KANT weicht von dieser Linie scheinbar ab, wenn er in der "reinen Anschauung" einen nicht-logischen Faktor einführt, der an der Begründung der Mathematik beteiligt sei. Aber als "reine" Anschauung nähert sie sich doch wieder sehr dem Logischen und faßt sich mit diesem in enger Einheit zusammen, ja sie scheint sich auf der Höhe des Kantischen Systems ganz wieder ins Logische aufzuheben, indem die "Synthesis", die anfangs den unterscheidenden Charakter der "Anschauung" bezeichnen sollte, gerade zur Urfunktion des Denkens wird. Die nachfolgende, von KANT ausgegangene Philosophie, auch die gegenwärtige, nichts weniger als "orthodoxe" neukantische Richtung hat am Dualismus von reiner Anschauung und reinem Denken mehr und mehr Anstoß genommen und endlich entschlossen mit ihm gebrochen. Vielleicht schon etwas zu entschlossen; denn daß in KANTs Begriff der Anschauung sich ein keinesfalls zu vernachlässigendes Problem barg, davon werden wir uns bald überzeugen. Aber vorerst war es durch das eigene Prinzip der Kantischen Tranzendentalphilosophie gefordert, daß man, was bei KANT zum wenigsten mißverständlich in die zwei Faktoren: reine Anschauung und reines Denken zerlegt wird, in strenger Einheit wieder zusammennahm und als ein Einziges, für das man den Namen des "reinen Denkens" unbedenklich festhalten kann, zu verstehen suchte.

Unter den Mathematikern etwa seit KANTs Zeit findet man denselben Zwiespalt der Ansichten: eine ältere, deutlich von KANT beeinflußte Richtung, die aber nur noch weniger Anhänger zu zählen scheint, hält an einem Sonderanteil der Anschauung neben dem reinen Denken bei der Begründung der Mathematik, wenn nicht der ganzen, dann doch der Geometrie, noch immer fest; gerade die vorwärts strebenden aber, an der Spitze FREGE, DEDEKIND, CANTOR und schon früher GRASSMANN, im Ausland, um nur die jüngsten und eifrigsten zu nennen, RUSSELL und COUTURAT, verwarf diesen Dualismus ganz und arbeiten mit Anstrengung daran, den Bau der Mathematik rein auf logischem Fundament zu errichten. Einig sind beide Parteien über den reinen Apriori-Charakter der Mathematik; die empiristische, psychologistische und nominalistische Ansicht, wie sie etwa HELMHOLTZ und KRONECKER in den Aufsätzen für ZELLER (1887) noch vertraten, ist von jener Seite (hier verdient besonders FREGE Beachtung) in wuchtiger Beweisführung zurückgewiesen worden. Mit der rein logischen Begründung ist der Apriori-Charakter ohne weiteres gegeben, denn das reine Denken selbst auf Erfahrung gründen wollen hieße über den Sinn der Frage nicht im klaren sein.

Auch das gegenwärtige Buch unternimmt eine rein logische Begründung und behauptet damit den Apriori-Charakter der Mathematik, aber in einem anderen Sinne als die Vorgenannten. Es lehnt sich an die letzten Voraussetzungen von KANTs Erkenntniskritik an, ohne dessen Unterscheidung von reiner Anschauung und reinem Denken im gleichen Sinne festzuhalten. Diese einzige Abweichung bedingt aber überhaupt eine durchgreifende Änderung der Disposition der erkenntniskritischen Grundbegriffe. Um die Art, wie hiernach die logische Begründung der Mathematik verstanden wird, zur Deutlichkeit zu bringen, scheint es geeignet, ein Bedenken gleich hier in Erwägung zu ziehen, das sich der Behauptung des rein logischen Ursprungs und Charakters der Mathematik sofort entgegendrängen muß und dessen Erörterung uns in die Tiefe des Problems wie mit einem Schritt hineinführen wird.

§ 2.  Irrtum des Formalismus.  Soll sich die Mathematik rein auf logischen Grundlagen aufbauen, ist zugleich ihr Verfahren durchaus und nur logisch: gibt es dann überhaupt noch eine Grenze oder irgendeinen sachlichen Unterschied zwischen Logik und Mathematik? Soll etwa Mathematik geradezu Logik, Logik Mathematik  sein? 

Eine extreme Richtung, durch RUSSELL und COUTURAT hauptsächlich vertreten, zögert nicht, diese Frage fast ohne Einschränkung zu bejahen. "Reine" Mathematik wenigstens arbeitet ausschließlich mit den Mitteln und nach den Methoden des reinen Denkens; "angewandte" ist genau in dem, was sie von der reinen unterscheidet, nicht mehr Mathematik. Die genannten Forscher, wie auch schon FREGE, möchten hierbei die Arithmetik sogar ausschließlich auf die alte, jedoch mannigfach erweiterte und berichtigte Formallogik stützen. HILBERT (1) findet sehr mit Recht, daß diese jedenfalls einiges Arithmetische schon voraussetzt und man also mit dieser Begründung in einen Zirkel gerät. Aber es ist weit mehr zu sagen: Die alte formale Logik ist, in der Gestalt der symbolischen Logik oder Logistik, überhaupt in einen Zweig der Mathematik verwandelt, von welchem zu deren sonstigen Disziplinen sozusagen ein stetiger Übergang angenommen wird. (2) Ist also die Mathematik nicht  eine,  sondern  die  Logik geworden, eine Logik ganz in der Art und dem allgemeinen Sinn der alten formalen Logik, nur mit sehr viel weiterem Umfang? und ist eben damit die Logik völlig zur Mathematik geworden, nicht zu einer, sondern zur ganzen? - COUTURAT (Die philosophischen Prinzipien der Mathematik, 1908, Seite 230), der vielleicht am weitesten nach dieser Seite geht, äußert sich darüber immerhin zögernd. Auf der einen Seite sieht er in der Mathematik einen Teil der Logik: sie sei ganz logisch der Form nach, aber beschreibe in ihrem Inhalt nur einen Teil des Umfangs der Logik; auf der anderen Seite will er die Logik rein rechnerisch gestalten, macht sie also unleugbar zu einem Zweig der Mathematik. Wäre es dann nicht folgerichtig, die Verschiedenheit von Logik und Mathematik überhaupt zu verneinen? Denn wenn zugleich  A  in  B  und  B  in  A  ganz enthalten ist, so sind nach einem bekannten Satz der rechnerischen Logik beide notwendig identisch.

Die entscheidende Voraussetzung, die zu dieser vielleicht nicht erwarteten noch gewollten Konsequenz trieb, war die: daß die Logik selbst eine deduzierende Wissenschaft sei. Da nämlich für diesen Standpunkt nicht bloß die Mathematik eine deduzierende Wissenschaft, sondern alle reine Deduktion Mathematik ist, so ist es in der Tat unentrinnbar, daß unter der genannten Voraussetzung die Logik ganz zur Mathematik und die Mathematik ganz zur Logik wird.

Hier liegt nun, wie wir meinen, der Fehler und der Grund des Fehlens offen zutage. Logik soll selbst eine deduktive Wissenschaft sein; nun aber gehört zur Aufgabe der Logik auf jeden Fall die Aufstellung der Gesetze des deduktiven Verfahrens und die Rechtfertigung der von ihm beanspruchten notwendigen und allgemeinen Geltung. Kann aber die Aufstellung und Rechtfertigung eines logischen Verfahrens durch dieses Verfahren selbst geleistet werden? Das ist in sich widersinnig, da das Verfahren der Deduktion als aufgestellt und gerechtfertigt schon vorausgesetzt werden müßte, um die verlangte Aufstellung und Rechtfertigung in gültiger Weise leisten zu können. Der Kreisgang der Begründung ist offenkundig; wenn also die Logik, als deduktive Wissenschaft von der Deduktion, den Kreisgang der Begründung etwa als logischen Verstoß ergeben sollte, so würde sie damit sich selbst das Urteil sprechen.

Die Unmöglichkeit der Sache wird nur ersichtlicher, wenn man weiter prüft, wie hierbei das Verfahren der Deduktion selbst vorgestellt wird. Man setzt an die Spitze Definitionen, die ausdrücklich nur Vereinbarungen über den Gebrauch gewisser Symbole, nicht Urteile, die notwendigerweise wahr oder falsch wären, bedeuten. Man formuliert dann Grundsätze in Hinsicht dieser Symbole, d. h. gibt Vorschriften über die Zulässigkeit gewisser mannigfach wechselnder Zusammenstellungen derselben; Vorschriften, die, schon weil sie nur die Zusammenstellung von Symbolen unerklärten Sinnes betreffen, ebenfalls nicht Urteile sein können, welche notwendig wahr oder falsch wären. Auch für diese Zusammenstellungen wird in der Tat kein weiterer Sinn angegeben oder vermißt; sie unterliegen einzig der Beschränkung, daß sie sich nicht selbst aufheben dürfen. Fortan rechnet man, d. h. stellt jene Symbole nach den gegebenen Vorschriften anders und anders zusammen. Ein Verständnis dieses ganzen Tuns wird in keiner Weise geboten, ist auch gar nicht erforderlich, vielleicht eher störend; die Rechnung verläuft genauso und bleibt ganz so zwingend, wenn man nichts dabei versteht, außer den Regeln gemäß verfahren wird. Man könnte sich die aufgestellten Grundbegriffe durch Rechenmarken ersetzt denken und könnte einen Automaten ersinnen, in den man die Marken nach der durch die Grundsätze bestimmten Ordnung oben hineinsteckte und der dann das Resultat, nämlich dieselben Rechenmarken oder gewisse von diesen nur in einer anderen Ordnung, unten herausfallen ließe. So könnte man im buchstäblichen Sinne Schlüsse "ziehen".

Sei dies nun Wissenschaft oder Spiel, belehrend oder bloß unterhaltend oder beides oder keins von beiden, für uns genügt zu erklären, daß wir die Aufgabe der Logik so nicht verstehen. Nämlich uns kommt es in der Logik zuerst und zuletzt auf Sinn, auf Verstehen an, während wir frank und frei bekennen, bei jenem ganzen Tun nicht viel oder wenig, sondern nichts zu verstehen. Denn weder, daß das Verfahren den aufgestellten Regeln entspricht, noch daß das Ergebnis manchmal (nicht immer) mit etwas, das wir anderweitig zu verstehen glauben, zusammentrifft, gibt uns ein Verständnis des Sinns dieses ganzen Tuns. Soll es überhaupt einen haben?

§ 3.  Grund des Irrtums. Synthetische und analytische Richtung des Denken.  Da jene Philosophen aber doch von einer sinnvollen, vielleicht sogar richtigen Absicht ausgegangen sein werden, so verlohnt es sich wohl, den Gründen ihres Fehlgehens nachzudenken. Der Hauptgrund dürfte zu erkennen sein im dogmatischen Festhalten am überlieferten Schema der klassischen, d. h.  aristotelischen  Logik: man müsse definieren und beweisen; definieren bis zurück zu gewissen letzten, nicht mehr zu definierenden Begriffen, beweisen bis zurück zu letzten, nicht mehr zu beweisenden Sätzen. Wodurch sind uns denn diese gewiß? Hier findet schon ARISTOTELES sich in offenbarer Verlegenheit. Bald gelten ihm die letzten Begriffe und Sätze als durch sich selbst evident oder durch ein Vermögen reiner Vernunft gegeben, bald als durch allgemeinste Erfahrung im Gebrauch bewährt und dadurch hinreichend gesichert. Daneben findet sich, versteckt und wenig beachtet, an einer Stelle (3) vielleicht eine Ahnung des Richtigen. Da aber jene beiden Begründungsweisen offenbar unbefriedigend sind und eine dritte nicht klar erkannt war, so meinte man endlich für die letzten Ausgangspunkte auf irgendwelche Art von Evidenz oder Beweis, auf irgendeine fernere Sicherung ihres Erkenntniswertes überhaupt verzichten zu müssen; man glaubt genug zu tun, wenn man die letzten Begriffe und Sätze, d. h. Symbole und Regeln für deren Zusammenstellung, nur einfach angab, sie aber so zu fassen bemüht war, daß sie nach einem womöglich unfehlbaren Mechanismus genau die Konsequenzen hervorgehen lassen, um derentwillen sie aufgestellt wurden. Ausdrücklich sollen (nach COUTURAT, Die philosophischen Prinzipien der Mathematik, 1908, Seite 39) die Grundbegriffe und Grundsätze als solche (d. h. undefinierbar und unbeweisbar) allein gelten allemal in bezug auf ein bestimmtes System von Definitionen und eine bestimmte Beweisfolge; nie schlechthin. Man kann, ja soll "vom formalen Standpunkt" die Grundbegriffe als reine Symbole ansehen, "deren Sinn unbestimmt und gleichgültig ist, und die bloß der Bedingung unterworfen sind, den Grundsätzen zu genügen", d. h. nur nach den in diesen ausgedrückten Vorschriftten zusammengestellt werden zu dürfen. Eben das ist es, was wir nicht mitmachen können. Uns bedeutet "Logos" genau den Sinn des Ausgesagten. Symbole unbestimmten und gleichgültigen Sinnes, mögen sie sonst welchen Wert immer haben, sind für uns alles, was man sonst will, nur nichts Logisches.

Der Grund des Fehlers liegt, wie gesagt, in jenem  aristotelischen  Vorurteil. Es führt, wenn man die Konsequenz behaupten und den Zirkel der Begründung vermeiden will, in der Tat unentrinnbar zum sinnleeren Formalismus. Jenes Vorurteil aber hing eng zusammen mit dem Grundirrtum des naiven Realismus: daß die Dinge auf dem Weg der Wahrnehmung, als einer Art Abspiegelung der Gegenstände in unserer Vorstellung, gegeben und die ganze Leistung der Erkenntnis nur eine analytische Verarbeitung, die so zu einem Verfahren mit Dingen, vertreten durch ihre ebenso dinglichen Symbole, wurde, gab der Apparat der aristotelischen Syllogistik und gibt die umfassendere und - keiner leugnet es - genauer arbeitende Maschinerie der modernen Logistik geeignete Mittel. Aber so wird bei allem eben nichts verstanden; dieser ganze Mechanismus könnte sich genauso abspielen ohne jedes Verständnis.

Nun hat die analytische Funktion des Denkens, um die alle jene Logiker ausschließlich bemüht scheinen, allerdings ihr gutes logisches Recht und ihre sachliche Bedeutung. Allein wir halten an der Überzeugung fest, der KANT den fast sinnfälligen Ausdruck gegeben hat: "Wo der  Verstand  zuvor nichts verbunden hat, da kann er auch nichts auflösen." Also, folgert er, sei vielmehr Synthesis für das logische Verständnis des Erkennens notwendig das Erste, die Analysis von Bedeutung nur als deren reine Umkehrung. Die voraus gegebenen Dinge, soweit von solchen zu reden überhaupt Sinn hat, sind vielmehr voraus vollzogene, aber entfernt nicht immer rein und daher nicht immer richtig vollzogene Synthesen eines primitiven Verstandes. Zu deren Prüfung und Berichtigung sind die Regeln der Analysis brauchbar; ihr ursprünglicher Aufbau unterliegt den eigenen Gesetzen der Synthesis, die auch denen der Analysis schon zugrunde liegen und überhaupt nur logischen Sinn geben. Daraus begreift sich, daß sich auf dem Weg der Analysis zu richtigen Resultaten allerdings gelangen läßt. Dagegen muß jeder Versuch, die letzteren aus sich zu verstehen und zu rechtfertigen, ebenso gewiß mißlingen, und das verleitet dann zu der seltsamen Annahme eines mechanischen Verfahrens, wobei es auf Verständnis oder Rechtfertigung überhaupt nicht ankomme; eine Annahme, auf die ohne bittere Not gewiß kein Logiker oder Mathematiker verfallen wäre.

Es mußte mißlingen, die Analysis durch die Analysis selbst zu rechtfertigen. Dagegen ist die Absicht nicht widersinnig, die Synthesis zum Verständnis zu bringen und sicherzustellen auf dem Weg der Synthesis selbst. Man muß den Weg der Erkenntnis von vorn an gehen, so erkennt man ihn zugleich; während man mit der Analysis am Ende zu beginnen versucht, das doch für das Verständnis nichts ist, wenn nicht der ganze Gang vom Anfang bis zum gedachten Ende, d. h. aber, der Ganz der Synthesis zuvor beschrieben worden ist.

Gleichwohl bleibt es in einem Sinne richtig, daß man in der Logik nicht sofort am Anfang der Erkenntnis steht, sondern eben, um über den gesetzmäßigen Gang der Synthesis selbst zur Klarheit zu kommen, auf diesen Anfang erst durch Analysis zurückzugehen hat. "Im Anfang war die Tat": das gilt auch von der Tat der Erkenntnis, welche Wissenschaft heißt. Gesetzmäßiges, synthetisches Denken muß längst am Werk und zu förderlichen Ergebnissen in gewissem Umfang schon gelangt sein, bevor auch nur die Frage auftreten kann nach den Gesetzen dieses synthetischen Denkens, wodurch Wissenschaft überhaupt möglich ward. Nur am schon vorliegenden "Faktum" der Wissenschaft kann Logik die Gesetze des Wissenschaffens selbst aufweisen, denn nur an ihm kann sie die Gesetze, von denen sie spricht, in ihrer Wirksamkeit beobachten und ihre Realität, d. h. ihre Leistungskraft, einen Sachsinn zu begründen, gleichsam auf der Tat betreffen. Hierbei tut die Analyse einen guten Dienst und heißen wir alle ihre Hilfsmittel, so abstrus sie scheinen mögen, willkommen; aber zu keinem anderen Zweck als: die zugrunde liegenden Synthesen aufzudecken. Denn das Denken schafft zwar (in den Wissenschaften) nach sicheren Gesetzen der Synthesis, aber in weitem Umfang ohne dieser Gesetze sich zugleich bewußt zu sein. Sein Interesse sind unmittelbar nicht sie, sondern das, was an Erkenntnisgehalt durch ihre Kraft zutage gefördert wird. Es ist je auf seinen besonderen Gegenstand gerichtet; es ist ein ganz neues Stadium der Reflexion, nicht nach dem jedesmaligen Gegenstand, sondern nach den Gesetzen zu fragen, wonach dieser und überhaupt irgendein Gegenstand der Wissenschaft sich zum Gegenstand erst gestaltet. Diese neue Art der Reflexion ist, die wir Logik nennen. So ist keine Gefahr mehr, daß die Logik mit der je auf ihren Gegenstand direkt gerichteten Wissenschaft (z. B. Mathematik) etwa ganz in eins zusammenfließt, trotzdem alle Arbeit der Wissenschaft und zwar aller Wissenschaft, logisch, d. h. durch die Gesetze der Logik und keine anderen zuletzt bestimmt ist.

Doch diese Beschreibung der Aufgabe der Logik der Wissenschaft und ihres Verhältnisses zur Wissenschaft selbst, insbesondere der Mathematik, ist noch bei weitem nicht radikal genug. Wir bedienten uns dabei der Entgegensetzung von Synthesis und Analysis, wie sie im philosophischen Sprachgebrauch allerdings geläufig ist und wie sie in fast sinnfälliger Weise von KANT beschrieben wird. Aber diese Entgegensetzung bedarf selbst noch der weiteren Aufhellung. Das zu lösende Problem ist damit in seiner ganzen Schwere kaum erst angedeutet, keineswegs schon endgültig formuliert, geschweige aufgelöst.

§ 4.  Genetische Ansicht der Erkenntnis. Faktum und Rechtsgrund. Der Prozeß; die Methode; der Logos selbst.  Also was ist Synthesis? Zunächst nur ein Ausdruck der Abwehr einer bloß analytischen Begründung der Erkenntnis. Der Fehler der Analysis ist, daß sie die Erkenntnis bestenfalls in Tautologie verwandelt. Also scheint Synthesis vielmehr Heterologie [Abweichung von der Norm - wp] bedeuten müssen: Nicht "A ist A" sondern "A ist B". Das Verschiedene gerade müsse identisch gesetzt werden können, das Identische different, sonst sei kein Fortschreiten möglich; Erkenntnis aber sei Fortschritt, nicht Stillstand oder gar Rückgang; sofern beides Sinn habe, dürfe es nur etwas bedeuten wollen in Zurückbeziehung auf die Kontinuität des Fortgangs und diene nur, diesen zum deutlichen Bewußtsein seiner selbst und zur Versicherung seiner Gesetze zu bringen. Hier liegt in der Tat der Kern des Problems: an die Stelle der  ontischen  muß die  genetische  Ansicht der Erkenntnis treten. (4) Das ist der geklärte Sinn der Behauptung ihrer synthetischen, nicht ursprünglich analytischen Begründung. Aber auch dieser genetische Sinn des Erkennens bedarf wiederum der Erklärung.

Das  Faktum  sei vorauszusetzen, nach dem  Rechtsgrund  zu fragen; das war der für die Problemstellung seiner "transzendentalen" Logik leitende Gedanke KANTs. Aber das gibt zu Zweifeln Anlaß. Was ist das Faktum der Wissenshaft? Soll sie fertig, soll ihr Werk bis zu einem bestimmten Punkt "getan", wohl gar abgeschlossen sein? Als Wissenschaft könnte sie doch nur fertig sein, wenn ihre Sätze bewiesen, also von jedem, der überhaupt die Fähigkeit dazu hat, als richtig anzuerkennen sind. Wieso bedürfte sie dann noch einer ferneren, nicht in ihr selbst liegenden, von außen erst hinzukommenden Rechenschaft? Das leuchtet nicht ein.

Nahe verwandt und vielleicht durchsichtiger ist die Meinung PLATOs vom Verhältnis der Logik zur Wissenschaft. Nach ihm geht die direkt auf den Gegenstand gerichtete, z. B. mathematische Wissenschaft von gewissen  Voraussetzungen  (Hypothesen) aus, die sie, ohne selbst weiter von ihnen Rechenschaft zu geben, gleichsam versuchsweise zugrunde legt. Von diesen geht sie in sicherem Verfahren abwärts zu den Folgerungen und beweist also ihre Sätze, in dem bestimmten, aber auch nur in dem Sinne, daß sie den ursprünglichen Voraussetzungen entsprechen und somit richtig sind, sofern die Voraussetzungen es sind. Die Rechenschaft von den Voraussetzungen selbst fällt einer anderen, fundamentaleren Wissenschaft zu; sie heißt bei PLATO Dialektik; aus ihr ist die Logik erwachsen.

Nach dieser Vorstellung wird das sichere Fußen auf dem Faktum der Wissenschaft nach einer Seite verständlich. Faktisch gesichert, keinem Zweifel ferner unterworfen ist, daß unter den und den Voraussetzungen die und die Folgerungen gelten müssen. So bleibt die Wissenschaft in ihrem Bereich autonom. Aber zugleich bleibt dieser Bereich streng begrenzt. Die Gültigkeit ihrer letzten Voraussetzungen steht innerhalb der direkt auf den Gegenstand gerichteten Wissenschaft überhaupt nicht zur Frage. Alle ihre Sätze sind nur konditional gemeint. So versteht es sich, daß die Begründung der letzten Voraussetzungen selbst als eigentümliche Aufgabe für eine andere Wissenschaft, für eine Wissenschaft überhaupt anderer Art oder Stufe übrig bleibt.

Allein so bezögen sich die Behauptung des Faktums und die Forderung der Rechenschaft genau genommen nicht auf dasselbe. So ist das Verhältnis bei KANT nicht gedacht, sondern es soll dasselbe sein, was durch die Wissenschaft als Faktum gegeben, unter dem höheren Gesichtspunkt der Philosophie aber (hier der Logik) Problem sei: "Erfahrung"  als Wissenschaft  ist das Faktum, nach dessen "Möglichkeit" in der transzendentalen Logik gefragt wird.

Daß diese Auffassung den Kern der Sache wirklich trifft, wird klar durch eine Erwägung, die auf der Höhe seiner Philosophie auch PLATO erreicht, die ihre volle Bedeutung aber erst in der modernen Neugestaltung der exakten Wissenschaften entfaltet hat und die gerade entscheidend wurde für KANTs Umwandlung der alten Logik in die transzendentale.

Es war PLATOs tiefste Entdeckung: daß die Erkenntnis der Wissenschaft in einem  unendlichen Prozeß  der "Begrenzung des Unbegrenzten" bestehe; daß es in ihr also keine absoluten Anfangs- noch Endpunkte gebe, sondern (wie im  Parmenides  einmal ganz scharf bestimmt wird) diesseits jedes (relativen) Anfangs ein früherer Anfang, jenseits jedes (relativen) Abschlusses ein fernerer Abschluß, und auch innerhalb jedes Zentrums, in dem der Gedanke sich feststellen möchte, ein wiederum zentraleres zu suchen und sicher auch zu finden sei. So kann von keinem "Faktum" mehr im Sinne fertigen Wissens die Rede sein; jede Erkenntnis vielmehr, die eine Lücke des bisherigen Wissens schließt, wird neue, größere Probleme hervortreiben; je es wird, nach dem Gleichnis SPENCERs, wie bei einer Kugel, deren Radius ins Unendliche wächst, mit dem Umfang des gewonnen Wissens (dargestellt durch das Wachstum des Inhalts) zugleich der Umfang der weiter zu lösenden Fragen (dargestellt durch die Grenze gegen den umgebenden Raum, also die Oberfläche der Kugel) sich vergrößern. "Verstehen" heißt fortan nicht: mit dem Gedanken zum Stillstand kommen, sondern im Gegenteil: jeden scheinbaren Stillstand wieder in Bewegung aufheben. "Da steht mir der Verstand still," sagt die populäre Sprache um auszudrücken, daß man nichts mehr versteht; sogar sie hat also ein Bewußtsein davon, daß Verstand Bewegung, Stillstand Nichtverstehen bedeutet. Der Fortgang, die  Methode  ist alles; im lateinischen Wort: der  Prozeß.  (5) Also darf das "Faktum" der Wissenschaft nur als "Fieri" [etwas Gemachtes - wp] verstanden werden. Auf das, was getan wird, nicht was getan ist, kommt es an. Das Fieri allein ist das Faktum: alles Sein, das die Wissenschaft "festzustellen" sucht, muß sich in den Strom des Werdens wieder lösen. Von diesem Werden aber, zuletzt nur von ihm, darf gesagt werden: es  ist. 

Gerade dadurch nun wird jenes Argumentieren aus Voraussetzungen, in welchem PLATO den stets bedingten Charakter der direkt auf den Gegenstand gerichteten Wissenschaft präzisiert, von einer neuen Seite und in einem sehr vertieften Sinne verständlich. Nicht um beliebige, um irgend willkürliche Voraussetzungen kann es sich handeln, sondern nur um genau die Voraussetzungen, welche erforderlich sind, um das  X  - den nicht bestimmten, aber zu bestimmenden Gegenstand - der Erfahrung in einem unendlichen Prozeß, also nie in schlechthin abschließender Weise, Schritt um Schritt zur Bestimmung zu bringen. Um im Unendlichen dieser Aufgabe: der Gegenstandsbestimmung in der Erfahrung, überhaupt irgendwie Fuß zu fassen, um zu irgendeiner Begrenzung dieses Unbegrenzten zu gelangen, "setzt" man notwendig irgendetwas zum einstweiligen Anfang und geht von da weiter, so weit als eben von diesem Anfang an sich sicher gehen läßt, stets aber mit dem Vorbehalt, hinter diesen Anfang zurückzugehen, sobald Anlaß und Möglichkeit sich dazu bietet; eben damit aber auch über jeden scheinbaren Abschluß, bei dem das Denken sonst zum Stillstand kommen würde, wieder hinauszudringen. Denn jeder radikalere Anfang führt auch zu weiteren und tieferen Entwicklungen. So mag es innerhalb der Wissenschaften einen Rückgang ins Unendliche von Voraussetzungen zu stets fundamentaleren Voraussetzungen immer gleich bedingter Geltung geben und bleibt doch und gerade nun jene von PLATO geforderte Erhöhung des Standpunktes der Betrachtung über diesen ganzen Gang vom Bedingten zum Bedingenden, vom bloß voraussetzlich Geltenden zu immer fundamentaleren Voraussetzungen gefordert, damit man schließlich zum nicht mehr bloß voraussetzlich Gültigen, zum  platonischen  "Anhypotheton" gelange. Was anderes könnte dies sein, als das Gesetz dieses ganzen Prozesses, das Gesetz, welches die  Richtung dieses ganzen Ganges  der Erkenntnis ins Unendlich vorausbestimmt, in PLATOs Sprache das Gesetz des "Logos" selbst, das Urgesetz "des Logischen", oder das Gesetz des reinen Denkens? Es ist identisch mit dem Gesetz der Methode, welche PLATO durch das Beiwort der dialektischen in der Tat deutlich genug als Prozeß kennzeichnet. Denn die Dialektik PLATOs ist nur die in der Tiefe erfaßte sokratische Kunst der Unterredung, d. h. der Entwicklung eines Gedankens von der Frage nicht zur abschließenden Antwort, sondern zu nur immer radikaleren Fragen; die Eröffnung des Weges des Fragens, zu unbegrenzter Vertiefung des  Problems.  So wird es verständlich, inwiefern dasselbe, was für die Wissenschaft sicheres Faktum ist - nämlich nicht die einzelne Position, sondern das Ganze ihres Ganges - unter der höheren Betrachtung der Logik Problem wird, ohne übrigens damit von der Sicherheit, die im inneren Bereich der Wissenschaft ihm zukam, irgendetwas einzubüßen.

§ 5.  Der Gegenstand als unendliche Aufgabe. Der Zusammenhang.  Gegen diese ganze "genetische" Ansicht der Erkenntnis hat freilich der Dogmatismus auch in seinen durchdachtesten Formen sich allzeit gesträubt. ARISTOTELES spricht es in aller Unbefangenheit oftmals aus: solle etwas uns begründet sein, so dürfe die Begründung nicht ins Unendliche gehen; also müsse irgendein Letztes sein, für das eine Begründung nicht weiter zu fordern sei. - Ganz recht: wir können, mit endlichen Kräften des Verstehens, nur einen endlichen Weg vollendet haben. Aber folgt daraus, daß der Weg selbst notwendigerweise endlich ist? Übrigens trifft auch das nicht zu, daß der Weg des Erkennens, wenn unendlich, damit unserer Erkenntnis, als endlicher, in jedem Sinn verschlossen bleiben müßte. Sondern es kann geben und gibt wirklich eine Art der Erkenntnis des Gesetzes des unendlichen Prozesses der Erkenntnis, der Unendlichkeit ihrer Aufgabe selbst und der ins Unendliche einen und identischen Bahn ihres Fortgangs. Nur daß diese unendliche Aufgabe je abschließend gelöst, daß die unendliche Bahn je durchmessen wäre, ist und bleibt ausgeschlossen.

Nun sitzt dieser, in ARISTOTELES sich so naiv aussprechende Absolutismus freilich dem Menschen überhaupt tief im Blut. Erkennen mächte man doch das, was "ist". Dieses Sein wandelt die genetische Ansich der Erkenntnis in ewiges Werden. Aber das Werden, meint man, sei bloß subjektiv: uns wird es, ansich aber ist es. - Wäre es immerhin so, so hülfe dieses Ansichsein eben uns, unserer Erkenntnis nichts; wir hätten es nicht, könnten es nie haben, es bliebe das ewig Gesuchte. Also gälte für uns nach wie vor nur der Fortgang ins Unendliche. Doch braucht man sich auf diese subjektivistische oder doch subjektivistisch scheinende Ansicht überhaupt nicht zurückdrängen zu lassen. Vielmehr das Werden - ist, der Gang - besteht, die Entwicklung ins Unendliche findet statt, so objektiv wie nichts anderes. Subjektiv, bloß für uns gültig, sind im Gegenteil alle willkürlichen Anschlüsse, die uns Stillstand vortäuschen, wo in der Wahrheit der Sache ewiger Fortgang ist. Mathematik ist gewiß eine so objektive, von jeder Willkür bloß subjektiver Voraussetzung freie Wissenschaft wie irgendeine; ihr Objekt ist, nach PLATO, das Immerseiende. Und doch entwickelt sie - vielmehr es entwickelt sich - ohne Ende weiter dieses ihr immerseiendes Objekt. Das Unendliche selbst, in Gestalt des Überunendlichen, ist für sie, und das "Unendlich hoch Unendlich" und der ganze, selbst unendliche Fortgang durch die Reihe der Unendlichen. Das alles  besteht  kraft der sicher gegründeten Begriffe der Mathematik, die eben nur Begriffe von den reinen Methoden, vom gesetzmäßigen Gang des Denkens selbst sind und diesen Ganz zur höchsten erreichbaren Klarheit bringen wollen. Dieser Gang ist kein Zeitgang, also gewiß kein psychologischer oder bloß historischer. Zeit ist selbst nur einer seiner Ausdrücke und nicht der fundamentalste. Sondern in dem Sinne wie das Eins zugrunde liegt und das Zwei daraus hervorgeht; wie das Unendliche durch die Reihe der Endlichen aufwärts und dann der Überendlichen sich entwickelt, so ist die Entwicklung, der Prozeß oder Gang des reinen Denkens überhaupt zu verstehen. Man kann sich leicht überzeugen: das Eins vermag so wenig aus sich zu stehen wie das Zwei und Drei und Unendlich. Es ist der Anfang; aber es wäre nicht Anfang, wenn nicht auch das wäre, das von ihm anfängt: die Reihe; so wie das Endliche in seinem Begriff selbst, als Ende-setzen, schon hinüberweist auf das, worin es Enden setzt: das Unendliche. Aber darum gibt es doch dieses Vorausgehen und Folgen, gibt es die Notwendigkeit dieser Anfangs- und Folgesetzung. Es kann eben die Reihe nur im Fortgang vom Früheren zum Späteren, das Unendliche nur als Entwicklung durch (allemal vergleichsweise) endliche Stufen gedacht werden, nicht nur individual-psychologisch für den einzelnen Erkennenden, oder historisch, d. h. gruppenpsychologisch, für die Kette der Geschlechter, durch die hindurch die menschliche Wissenschaft sich fortschreitend höher hinaus entwickelt; sondern ansich im logischen Bestand der Wissenschaft, und wenn man sie sich vollendet denken dürfte, besteht dieser Fortgang, und bleibt es also immer richtig, daß geradezu der Gegenstand nicht ist, sondern wird.

So kann also von keinem "gegebenen" Gegenstand mehr die Rede sein; also auch nicht von Erkenntnis als bloßer Analyse dieses Gegebenen. Gerade der Gegenstand vielmehr ist  Aufgabe,  ist  Problem  ins Unendliche. Und also ist Erkenntnis, als auf den Gegenstand gerichtet, notwendig Synthesis in KANTs Sinne, d. h. Erweiterung, beständiger Fortgang. Die Behauptung, daß die Erkenntnis der Wissenschaft, zuerst also die mathematische, in bloßer Analyse bestehe, würde nicht nur das Absurde bedeuten, daß man in der Mathematik nie etwas dazu lernte, sonderns ins Unendliche sich nur deutlicher auseinanderlegte, was man zuvor schon gewußt hat; dieser Einwand könnte etwa bloß psychologisch oder historisch scheinen; aber es würde bedeuten, daß Mathematik, und so jede Wissenschaft, in einer geschlossenen Summe fertiger Wahrheiten bestände, die eines Tages bis zu Ende erkannt sein könnte. Natürlich hat man das nicht sagen wollen; man hatte sicherlich eine Erweiterung, auch eine unendliche Erweiterung im Sinn (so sehr deutlich FREGE). Man meinte nur, auch die Analyse könne erweiternd sein (so COUTURAT). Aber das ist dann nur eine unnötige, sachlich nicht begründete Änderung der logischen Sprache. Jedenfalls ist das nicht die Analyse, von der KANT spricht und gegen die er seine Synthesis stellt. Es ist weder der Sinn der Analytik des ARISTOTELES, die durchaus eine in sich abschließbare, in begrenztem Beweisgang erschöpfbare Erkenntnis voraussetzt, noch ist es der Dinn der Wolffianer, gegen die zunächst KANT die Forderung der synthetischen Erkenntnis aufrichtete; man lese etwa die ausgezeichnet klare Abhandlung, mit der MOSES MENDELSSOHN 1763 in Wettbewerb mit KANT trat und nach dem Urteil der Preisrichter (nicht nach dem der Geschichte) ihn schlug. Danach ist die Wirkung der Analyse nach dem Satz des Widerspruchs analog der einer vergrößernden Linse, welche die Teile des gesehenen Objekts nur weiter auseinanderrücke, aber durchaus nichts Neues an ihm hervorbringe. Man sieht: der Gegenstand soll gegeben sein, Erkenntnis nichts weiter leisten, als dieses Gegebene "deutlich zu machen": Das ist die ganze Leistung des analytischen Denkprozesses im Grunde auch nach ARISTOTELES. Wer das Denken für erweiternd hält, erweitern wohl gar ins Unendliche, der hat vielmehr im Sinne, was KANT Synthesis, nicht was er Analysis nennt.

Analytische Erkenntnis ist nach KANT die, welche allein auf dem "Satz des Widerspruchs" beruth. Der Widerspruch kann aber unmöglich ein Prinzip der Fortschreitung sein, sondern allenfalls nur ein Prinzip der Auslese, wodurch sinnwidrig versuchte Fortschreitungen ausgeschaltet werden. Dessen bedürfte es gar nicht, wenn die Fortschreitung streng ihrem Gesetz gemäß geschähe. Der Widerspruch schafft also nichts, erhält auch nicht das Geschaffene. Auch vernichtet er nicht logisch Geschaffenes, sondern entlarvt nur den falschen Schein einer logischen Schöpfung, wo wirklich keine vollbracht ist; einen Schein, der beim logischen Schaffen als unlogisches Tun vielfach nebenher geht und sich mit einschleicht. Der Satz des Widerspruchs ist also wirklich, wie KANT es aufgestellt hat, allenfalls ein Prinzip der Verdeutlichung, nicht aber der Erweiterung der Erkenntnis. Sein ganzer Sinn und Gehalt steht überhaupt nicht auf sich selbst, sondern ruht zuletzt auf dem Gesetz der ursprünglichen Synthesis, dessen Fundamentalausdruck eher die Identität sein möchte. Zwar haftet auch an dieser der Schein der Tautologie; aber nur so lange als man versteht: das dem bereits gesetzten  A  hinterdrein kommende  B  werde erkannt als - nichts Neues, sondern wieder dasselbe. Aber die identisch gesetzten  A  und  B  (oder wenn man lieber will,  A1  und  A2)  sind dabei doch zugleich als für das Denken irgendwie verschieden vorausgesetzt. Die Identität muß ja erst erkannt werden; als Identität des Verschiedenen aber ist sie ohne Zweifel "Einheit des Mannigfaltigen", also synthetische Einheit. So hat KANT die "Rekognition" (desselben als desselben, also eben die Identitätssetzung) geradezu als die fundamentalste Funktion  der Synthesis  aufgestellt. Dieser kantische Akt der "Wiedererkenntnis" erinnert merkwürdig an PLATOs Anamnesis. An beiden hängt der Schein, als ob das Wiederzuerkennende im Grunde schon voraus habe gekannt sein müssen (warum also nicht auch  er kannt?), während beide doch gerade die ursprüngliche Anerkenntnis zum Ausdruck bringen wollen, vor der das Gesetzte überhaupt nicht "ist". Bei KANT aber spricht sich doch dies eben darin aus, daß er die Rekognition als den Urakt der Synthesis erklärt, die selbst der Urakt der Erkenntnis ist und den Gegenstand erst schafft. In der Tat: gerade die logische Identität wird im Denken erstmals gesetzt, für es erst geschaffen, da sie ja Identität des zugleich zu Unterscheidenden, und gerade der Verschiedenheit gegenüber und entgegen im Denken, als Denken aufzurichten und zu behaupten ist. Ebenso aber ist die Verschiedenheit dem Denken nicht voraus gegeben, sondern gleichfalls, und zwar in strenger Korrelation zur Identität, als Denkinhalt, als Denken erst zu setzen; denn Denken heißt ebensowohl Unterscheiden wie Identifizieren. Als eine Verschiedenheit bestimmten Sinnes ist sie ja auch selbst wiederum Identität; es ist ein und dasselbe, in Hinsicht dessen  B  und  A  sich gegeneinander unterscheiden, auf das sie eben damit gleicherweise, also identisch bezogen sein oder vielmehr in Bezug treten müssen, um sich zu unterscheiden. Der Grund der Verschiedenheit, der Differenzierung, des Gegeneinander, das zugleich ein Füreinander ist, muß in dem zugrunde liegenden Einen, Selbigen, erkannt werden; so in der Einheit des Denkweges der Grund der Verschiedenheit und zugleich strengen Korrelativität der analytischen und synthetischen Richtung dieses Weges; der Entgegensetzung und Zusammengehörigkeit von Bejahung und Verneinung, also der Identität und Verschiedenheit überhaupt. Das Ursprünglich ist somit nicht Bejahung noch Verneinung, nicht Identität noch Verschiedenheit (geschweige Widerspruch), nicht Synthesis noch Analysis, sondern  Zusammenhang;  nicht durch hinterherkommendes Sichvertragen und Vereinbaren, sondern durch wurzelhafte, durch  Ursprungseinheit.  Das lag in KANTs Synthesis allerdings zugrunde; die Synthesis sollte den Ursprung der Erkenntnis bedeuten; aber zum wenigsten ist "Synthesis" dafür nicht der bezeichnendste Ausdruck, das Ursprünglichere und überhaupt Ursprüngliche die "synthetische Einheit" (Einheit der Synthesis, das heißt was ihr Einheit  gibt)  unterscheidet, die als "Funktion", als "Handlung" ihm also erst das Letztbestimmende, Schöpferische des Denkens eigentlich darstellt. Damit kommt er der Fassung des fundamentalen Prinzips des Logischen bereits ganz nahe, für die HERMANN COHEN  den Ausdruck des "Ursprungs" geprägt hat. 

§ 6.  Das Prinzip des Ursprungs.  Nahe genug liegt es ja nun, diese Ursprungseinheit also überhaupt an die Spitze zu stellen, sie dem ganzen Aufbau der Logik zugrunde zu legen. Was anderes könnte man in der Tat der Erkenntnis zugrunde, oder, wie KANT vorzieht zu sagen: "zum Grunde" legen als - den Grund selbst, im vertieften Sinn des Ursprungs?

Gewiß, man muß ihn zum Grunde  legen,  sofern es eben der Grund  ist.  Nur diesen Grund, wir haben ihn nicht voraus in irgendwie fertiger Gestalt, es gilt vielmehr ihn erst zu entdecken, das heißt gerade im ernsten Sinne ihn zum Grund erst zu legen, als Grund erst zu setzen. Die Logik kann nach ihm, eben sofern es der Ursprung alles Logischen sein soll, nur zurück fragen.  Also kann und muß man ihn gewiß an den Anfang der Logik stellen, aber nur im Sinne der Frage, der universalen Aufgabe der Logik, nicht als hätte man an ihm voraus ein lösendes Prinzip. Die logische Frage ist die Frage des Ursprungs; aber aus diesem Quell wie mit untergehaltenem Becher (da er doch ewig fließe) schöpfen können wir nicht. Denn, stets inmitten nicht des Faktums, sondern des Fieri [Gemachtes - wp] der Erkenntnis, stehen wir eben nicht beim Ursprung, sondern haben erst den Weg zu ihm hinauf zu erfragen. Nur daß, da dieser starke Strom der Erkenntnis fließt, auch ein Quell sein müsse, aus dem er fließt, und zu diesem Quell auch hinaufzusteigen möglich sein müsse, das darf man getrost an den Anfang stellen.

Doch dürfen wir uns selbst hierbei noch nicht beruhigen. Das Gleichnis des Quells weist schon auf die Schwierigkeit: mit welchem Recht fordert man  einen  Quell? Zieht nicht ein Strom seine Wässer aus tausend Quellen, aus einem Quellgebiet, sehr viel weiter als welches er selbst einnimmt? Welche Verwirrungen hat nicht in der Philosophie die Suche nach "dem" Prinzip geschaffen, welches, der Zahl nach eines, das All der Dinge oder wenigstens der Erkenntnis aus sich sollte hervorfließen lassen! So ein Metaphysiker verfährt im Grunde nicht klüger als jener Knabe, der mit der Hand die Donauquelle zuhielt und dachte: nun wird die ganze Donau austrocknen. So dürfen wir also den Ursprung nicht verstehen, als eine einzige Stelle, wo das All gleichsam seinen Mund öffne, um uns sein Geheimnis zu verraten. Gerade die Forderung der Einzahl des Prinzips würde den Ursprung zum bloßen Anfang verflachen. Und seine Annahme bliebe gerade dann willkürlich. Denn anfangen läßt sich, wo man nur will; kraft des ursprünglichen Zusammenhanges aller schöpferischen Faktoren des Denkens würde man gleich zwingend von jedem richtig getroffenen Punkt zu den anderen kontinuierlich übergehen können. Aber eben deshalb ist der eine so wenig wie der andere Anfang der alleinige und ganze Ursprung. Die Einheit des Erkenntnisgrundes kann nicht den dürftigen Sinn einer logischen Eins haben, von der aus und mit der dann weiter zu zählen wäre; sondern diese Einheit kann nur die jenes allbefassenden  Zusammenhanges  sein, durch die jedes herausgehobene einzelne Element des Denkens die anderen alle zwingend herbeiführt und scheinbar aus sich heraus setzt. Dann aber ist umso klarer, daß man mit dieser Einheit nicht, als ob sie gegeben sei, beginnen kann, sondern beginnen läßt sich mit ihr nur in dem Sinne, daß das Ganze der logischen Aufgabe damit voraus bezeichnet sei. Das ist immerhin nicht wenig, denn die Aufgabenstellung bleibt leitend für den ganzen Aufbau des logischen Systems. Aber der Gedanke, die Forderung des Systems, die Frage nach ihm ist selbst nicht das System, auch nicht sein erstes Glied, sondern liegt ihm ganz voraus; sie gehört also nicht eigentlich selbst schon ins System.

Selbst die bestimmtere Bezeichnung dieser Aufgabe hat nicht geringe Schwierigkeit. Es zeigt sich beinahe unmöglich, von der Aufgabe Bestimmtes zu sagen, ohne daß man, nicht nur etwas von dem, sondern im Grunde alles vorwegnimmt, was die Logik als Ganzes erst zu entwickeln hat. So wird im Wort "System" der "Zustammenstand" der Faktoren geradezu schon als perfekt hingestellt, und doch ist gerade dies erst die letzte, ja überhaupt nicht abschließend lösbare, weil unendliche Aufgabe. Als solche sollte es eher "Systase" heißen: daß nichts isoliert bleiben, alles mit allem sich in Einheit und Zusammenhang fügen, zu ihr (eben in der Erkenntnis) "zusammentreten", daß sich ein durchgängiger Wechselbezug im Rückgang zum gemeinsamen Ursprung erst knüpfen müsse. Gerade dann aber müßte man offenbar wiederum, sobald der Sinn dieser Forderung des Zusammenhangs näher bestimmt werden soll, sozusagen alles das, was die Logik erst zu entwickeln hat, voraus- und zusammennehmen; so wie wir soeben zur Forderung des Ursprungs erst gelangten von der Identität und Verschiedenheit aus. Denkt man sich die Totalität der Aufgabe oder der Bahn der Gedankenbewegung, so setzt man als mindestens jene Doppelrichtung des Erkenntnisweges voraus, die man von jeher durch den Gegensatz der Richtungen zur Peripherie und zum Zentrum versinnlicht hat; die Richtung der Vereinheitlichung und der Vermannigfaltigung, der Synthese und der Analyse, damit zugleich das Gegenverhältnis von Erkenntnis und Gegenstand, des  A  und  X  der Gleichung der Erkenntnis. Darin liegen zunächst die Verhältnisse verborgen, und kaum verborgen, die KANT unter dem Titel der "Modalität" zusammenfaßt; es würde sich aber leicht zeigen lassen, daß darin zugleich die "Relation", und in dieser wieder die Bestimmtheiten der "Quantität" und "Qualität" vorausgesetzt sind; kurz es ist, so scheint es, alles Logische in den so gedachten Ursprung schon hineinversteckt und nur darum hinterher wieder herauszuholen.

In COHENs Bemühen, der Logik den sicheren Ausgangspunkt im Begriff oder vielmehr Urteil des Ursprungs zu geben, versteckt sich nicht etwa diese Schwierigkeit, sondern tritt sie in lehrreicher Offenheit zutage. Von Nichts müßte man ausgehen, weil eben nichts, bevor es im Denken erzeugt ist, vorausgesetzt werden darf. Aber aus Nichts käme auch nichts. Also muß dieses "sogenannte" Nichts doch ein Etwas sein; das Ursprungs-Etwas wird es genannt. Aber damit scheint, dem Wort nach, die Forderung wieder zurückgenommen zu werden, daß man nicht ein Etwas schon zugrunde legen dürfe, jedes Etwas vielmehr erst zu begründen sei. In anderer Weise läßt sich die Schwierigkeit so aussprechen: soll der Ursprung Etwas -  das  Etwas, oder welches auch immer im besonderen - aus sich hervorgehen lassen, so muß dies voraus schon irgendwie in ihm gelegen haben; aber damit scheint dann eben das, was mit dem Ursprung ausgedrückt werden sollte: die reine Erzeugung des gedanklichen Inhalts, wieder verloren zu gehen. Wir sehen, es ist dieselbe Schwierigkeit, die in PLATOs Anamnesis, in KANTs Rekognition zum Ausdruck kam. Das Nichts, das die reine Erzeugung des Erkenntnisinhalts vorauszusetzen scheint, ist in der Tat auch nach COHEN nur "relatives Nichts", es ist vielmehr der Hinweis auf das gegenüberstehende Andere und zwar Radikalere zu jedem gesetzten oder zu setzenden Einen; der Ursprung reduziert sich gänzlich auf die Möglichkeit des Übergangs, des logischen Fortgangs bzw. auch Rückganges, und damit auf die durchgängige Kontinuität des Zusammenhangs, als Zusammenhang der Begründung, wie denn am Ende auch als der faßlichste Sinn des COHENschen Ursprungs die Denkkontinuität sich herausstellt. Sie wird geradezu als das "den Ursprung Bedingende" bezeichnet (Seite 76). Der Zusammenhang, die Doppelrichtung des Denkens auf Vereinigung des zugleich Geschiedenen, Differenzierung des zugleich Geeinten, in der Differenz doch als Einheit sich Erhaltenden, das ist es wohl, was zuletzt zugrunde liegt. Es ist im Grunde nur ein anderer Ausdruck jenes Urgesetzes des Denkens, welches voraus schon (in der Einleitung der COHENschen Logik, Seite 52) als das der "Erhaltung der Vereinigung in der Sonderung, der Sonderung in der Vereinigung" bestimmt worden war. Unsere allgemeine Erinnerung gegen jede Aufstellung eines Prinzips (in der Einzahl) wird dadurch, wie wir sehen, nur bekräftigt. Vom Ursprung, vom Urquell des Logischen, ließe sich eben gar nichts aussagen ohne vorgreifenden Bezug auf das, was daraus fließen oder entspringen, vom Grund oder Prinzip nichts ohne Bezug auf das, was darauf und darin gegründet werden soll. Mit der Sonderung und der Vereinigung und deren wechselseitiger Erhaltung ist ja offenkundig genug sozusagen alles vorweggenommen: Identität und Verneinung, Einheit und Mehrheit, Quantität und Qualität, nicht minder Relation, Beharrung und Veränderung, Bewegung, vollends (wie schon oben bemerkt) die Modalität, auch die Idee als unendliche Aufgabe, kurz, was man nur will.

§ 7.  Die Korrelation der logischen Grundmomente.  Aber es ist eben die  Einheit  von dem allen, die Einheit durch  Korrelation.  Diese ist in der Tat, als das Prinzip der Prinzipien, in bestimmter Überordnung gegen die ganze Reihe der einzelnen, zueinander korrelativen Grundmomente des Logischen zu denken; freilich, wie wir erwarten mußten, ohne jede Möglichkeit einer Absonderung auch nur in dem Sinne, wie diese Momente selbst sich trotz ihrer Korrelativität dennoch begrifflich voneinander müssen sondern lassen.

Die Relation und zwar Korrelation ist zugleich der geklärte Sinn der "synthetischen Einheit" KANTs. Der Denkbezug und zwar der Wechselbezug ist es, der das sonst Auseinanderbleibende im Denken zueinander tut, eben damit aber zugleich auseinanderhält, da es ohne Eines und Anderes kein Zueinander gäbe. So allein ist Erkenntnis als Erweiterung, als Fortgang, und zwar unendlicher, und nicht Stillstand, als Hinausgehen über jedes Gegebene, das heißt im Denken (auf abgrenzende Weise) zuvor schon Gesetzte, "möglich", d. h. verständlich. Die Analyse, Abstraktion wird dann zur Herauslösung aus dem korrelativen Zusammenhang, der damit aber nicht etwa zunichte gemacht, sondern nur zum Zweck der Schritt um Schritt vorgehenden Betrachtung der Einzelmomente beiseite gesetzt wird, schließlich nur, damit immer neue Zusammenhänge auch innerhalb jedes Einzelgliedes des für diesmal außer Betracht gelassenen zutage treten. So erklärt sich die Meinung, daß gerade die Analyse erweiternd sei. MENDELSSOHNs Gleichnis ließe sich auch so deuten: das Mikroskop gerade erweitert und gibt Neues zu erkennen. So ist also wirklich alles Zusammenhang, also Synthese, und verbleibt doch und eben damit der Analyse ihr nicht minder umfassendes Recht, aber nur als einem Moment der Synthese selbst, die in Wahrheit die Analyse vollständig mitumfaßt. Denn der Zusammenhang bedeutet ebensogut die Wahrung der logischen Sonderrechte jeder Einzelposition gegenüber der Verbindung in höheren logischen Einheiten, wie umgekehrt. Vereinigung und Sonderung selbst sind zueinander streng korrelativ; die Sonderung aber weist auf die Einheit, als die des Ursprungs, vielmehr zurück. Der Ursprung der Vermannigfaltigung wird in der Einheit gesehen; der Ursprung ist nichts als die geforderte letzte Einheit, nämlich Zusammenhangseinheit. Also verbleibt der Analyse ganz die von Anfang an ihr von uns zugewiesene Aufgabe: die zugrundeliegende Synthese aufzudecken, sie zu "beschreiben", in dem gediegenen Sinne, wie man sagt "einen Kreis beschreiben", d. h. die logischen Konstituentien einzeln aufzuweisen, um in ihrer Vereinigung das ganze Gebilde vielmehr aufzubauen, zu  konstruieren. 

So meinen wir das, was mit der Zentralstellung des Prinzips des Ursprungs bezweckt wird, voll zu Geltung zu bringen. Seine Stelle vertrat in meinen früheren Entwürfen zur Logik (Seite 125, 127, 133) der schlichte Kantische Terminus der "synthetischen Einheit". Inwiefern in diesem der volle Sinn des COHENschen Ursprungs liegt, wurde gezeigt. Nur von einem "Urteil" des Ursprungs, als einem der logischen Grundurteile, in auch nur scheinbarer Koordination mit elf anderen, möchte eben darum nicht zu reden sein. Dann müßte das Urteil überhaupt im Grunde schon vorausgestellt sein. Aber das Urteil wird nach der hier vertretenen Auffassung vielmehr erst fertig durch die Vereinigung sämtlicher Grundkonstituentien des Logischen, deren jedes für sich eben darum nicht ein Urteil, sondern nur ein Konstituens des Urteils heißen soll. Zwar läßt sich folgeweise jedes von diesen auch in Form eines Urteils aussprechen, aber nur hinterher; primär ist von Faktoren, oder besser noch (mit KANT) von Funktionen (Einzelleistungen) des Urteils zu reden. Doch das ist nicht der schwerste Anstoß, der am "Urteil des Ursprungs" zu nehmen ist. Vertritt der Ursprung die ursprüngliche Korrelation aller Denkelemente, so vertritt er ja eben damit auch den Zusammentritt aller Konstituentien nicht zu einem, sondern zu dem Urteil, d. h. der Ursprung ist eigentlich selbst das Urteil des Urteils. Es ist auch nicht wesentlich die Koordination mit den übrigen logischen Grundurteilen, was wir anfechten, denn diese ist für COHEN selbst in der Tat nur scheinbar; seine ganze Anordnung der Grundelemente des Denkens will vielmehr als "konzentrische" verstanden sein, so daß die Anfangsstellung des Ursprungsurteils vielmehr zur Zentralstellung wird. Aber auch diese scheint immerhin noch eine Art der Aussonderung sein zu sollen, die nicht als begründet zu erkennen vermag. Nicht auf den Punkt des Zentrums kann es ankommen, sondern allein auf den Bezug zum Zentrum, vielmehr auf die Wechselbeziehung zwischen Zentrum und Periperie, oder wiederum genauer: die Wechselbeziehung der zentralen und peripherischen Richtung des Erkennens. Diese enthält aber vielmehr schon das Ganze der Gesetze des Kreises, der den Inbegriff des Logischen darstellt. Das ist dann schon nicht mehr ein, sondern das Konstituens. So möchte ich mir COHENs Grundgedanken, sei es nun deuten oder berichtigen, oder, um den unvorgreiflichsten Ausdruck zu wählen: mir zugänglich machen; das aber erfordert freilich, daß ich das Äußere seiner Disposition verlasse, denn in eine Reihe mit irgendwelchen besonderen Konstituentien will sich dieses Prinzip nun nicht mehr stellen lassen. Es ist in der Sache dasselbe, wenn wir von der Methode, vom Prozeß, vom Logischen selbst, als der voraussetzungsfreien Voraussetzung redeten, oder endlich, was sich wiederum mit jeder dieser Fassungen im Grunde deckt, von der notwendigen Korrelation der logischen Grundmomente; welches vielnamige Eine also nicht, als erstes der REihe, an die Spitze der logischen Konstituentien, sondern, als die geforderte durchgängige Einheit des Logischen überhaupt, dieser ganzen Reihe voranzutreten hat.

§ 8.  Rückblick. Der Gegenstand als Allgemeinausdruck des Problems der Erkenntnis.  Wir blicken noch einmal auf den bis hierher durchlaufenen Weg zurück, um volle Klarheit darüber zu gewinnen, wie wir zu allen diesen Aufstellungen gekommen sind, die eigentlich sämtlich nur die Forderungen oder verschiedene Ausdrücke  der  Forderung des Logischen überhaupt bedeuten wollen.

Zur Forderung einer zentralen Einheit, die zugleich den Grund und Quell unendlicher peripherischer Erweiterung und Differenzierung enthalte - zur Entgegensetzung von Hypothesen und Anhypotheton, Ideen und Idee der Idee - der unendlichen Stufenfolge der Erkenntnisentwicklung und der ihr notwendigen Richtungseinheit - zur Kontinuität und Korrelativität, und was sich sonst hier bereits anmeldete und vorläuft, unter allem Vorbehalt genauerer Bestimmung und Sicherung, zugelassen wurde: zu diesem allen führte uns auf der einen Seite eine hier nicht genauer beschriebene, aber tatsächlich in der Entwicklung der Wissenschaften sozusagen unter allgemeinem Konsens vollzogene Induktion nicht sowohl aus dem Faktum, als vielmehr aus dem Fieri der Wissenschaften; eine Induktion, die doch, abgesehen davon, daß sie nie vollendet sein kann, schon darum für sich nichts begründen kann, weil sie selbst wahrlich nicht weniger als all jene Voraussetzungen der Begründung bedarf und voraussichtlich zu dieser Begründung sie alle nötig haben wird; auf der anderen Seite einzelne Vorausnahmen ebenfalls historisch und insofern faktisch vorliegender logischer Theoreme: für welche Vorausnahmen ich keinen besseren Grund anzuführen weiß, als daß sie in langer Beschäftigung den intensiv an den Problemen Arbeitenden sich mehr und mehr bewährt haben; was natürlich auch nicht als absoluter Beweis kann gelten wollen. Die Ungenauigkeit und also Unzulänglichkeit einer solchen Begründung liegt also unverhüllt zutage, soll zutage liegen. Aber sie ist im Anfang überhaupt nicht zu vermeiden, und sie braucht uns so lange nicht zu drücken, als wir erst bei der Hinleitung zur logischen Untersuchung, beim Aufweis des logischen Problems stehen, also noch nichts Einzelnes mit dem Anspruch definitiver Geltung auftritt. Nur weniger hoch und allgemein, weniger zentral und damit radikal wird das Problem nicht fassen dürfen, wen nicht den Vorwurf tragen will, an der gewaltigen, in Wissenschaft und Philosophie alter wie neuer und neuester Zeit in dieser Richtung geleisteten Arbeit kenntnis- und prüfungslos vorbeigegangen zu sein. Allgemein muß man sich darüber klar sein, daß, wo man zum letzten Ursprung der Erkenntnis kommt, eine andere Art der Begründung nicht gefordert werden kann, als daß er sich tauglich erweist, den Aufbau der Erkenntnis in seiner Gesetzmäßigkeit verständlich zu machen; das aber kann allein die Ausführung lehren.

Dieser Schwierigkeit der letzten Begründung ist, man mag die Probleme herumwenden, so viel man will, auf keine Weise auszuweichen. Will man sich auf die Evidenz berufen, so scheint leider nichts so wenig evident zu sein wie die letzten Prinzipien, da um nichts so viel Streit ist. Will man beweisen, so überzeugten wir uns schon zu Anfang, wie jeder Versuch eines deduktiven Beweises in einen unvermeidlichen Zirkel führt; ein induktiver Beweis aber würde nicht nur als logisches Verfahren an demselben Fehler kranken: die letzten Prinzipien, die er beweisen möchte, vielmehr voraussetzen zu müssen; sondern er könnte überdies, wenn er noch so sehr auf den ganzen bisherigen Verlauf der Forschung sich berufen dürfte, doch nie sicher sein, nicht durch deren weiteren Gang widerlegt zu werden.

Vielleicht denkt man einen apagogischen [negativer Beweis aus der Falschheit des Gegensatzes - wp] in der Art führen zu können, daß man zeigt: ein jeder Versuch, gewisse Voraussetzungen selbst aus weiter zurückliegenden logisch entweder als wahr oder als falsch zu beweisen, würde die Voraussetzung ihrer Wahrheit schon einschließen; welcher Voraussetzung also auf keine Weise ausgewichen werdne könne. Selbst dabei würde man zwar den Zwng zu ihrer Anerkennung vielleicht eingestehen müssen, aber diesem Zwang innerlich doch, wenn auch vergebens, widerstreben, wenn sich nicht dieselben Voraussetzungen zugleich im faktischen Gebrauch des Denkens fortdauernd bewähren und fruchtbar erweisen; eine Art der Bewahrheitung, die zwar nur soweit Gewißheit gibt, als sie allemal reicht, aber doch an all der Sicherheit teilnimmt, die den Sätzen der Wissenschaften auf deren eigenem Gebiet erreichbar ist.

Immer erscheint ein solches Vorgehen künstlich und indirekt. In einer mehr direkten Form aber erricht man dasselbe, indem man vom Begriff der  Frage,  des  Problems  den sicheren Zugang zur Gewißheit der Grunderkenntnisse zu gewinnen sucht. Das lag z. B. in DESCARTES' Ausgang vom Zweifel. Nicht zweifeln läßt sich mit Sinn an dem, was schon vorausgesetzt sein muß, damit überhaupt der Zweifel und also die Frage Sinn habe. Man kann nicht weiter zurückfragen hinter das, was selbst Voraussetzung jedes sinnvollen Fragens ist. Man kann nicht mit Sinn fragen: Warum überhaupt ein Warum? Warum überhaupt Frage? oder: Welchen Sinn hat überhaupt ein Sinn?

Diese Erwägung ist unanfechtbar richtig; aber doch würde man sich täuschen, wenn man glauben würde, auf diese Weise der Vorwegnahme des zu Begründenden überhaupt zu entgehen. Eben die Frage schließt im Grunde alles schon in sich. Sie stellt uns mitten hinein in den Prozeß der Erkenntnis. Die Frage besteht auf der je erreichten Stufe des Prozesses; sie schließt in sich: rückwärts ein Wissen, ohne das zur Frage selbst die erforderlichen Voraussetzungen fehlen würden; vorwärts ein Nichtwissen; in der Mitte das Wissen des Nichtwissens, in dem besonders deutlich die Forderung und damit Vorwegnahme des Wissens liegt und welches die ganze Eigenheit des Fragens eben ausmacht. Es ist nichts anderes als der logische Zusammenhang, der in der Frage vermißt, gefordert, also an sich und überhaupt vorausgesetzt wird; ja nicht bloß überhaupt, sondern auch in Beziehung auf das bestimmt gestellte Problem. Er soll allemal genau die Lücke schließen, die sein Fehlen uns bemerklich machte.

Dieses merkwürdige Grundphänomen: daß Frage  ist,  und was noch merkwürdiger: daß sie stets die Antwort antizipiert, ist bekannter unter einem anderen Namen, der scheinbar vielmehr das, wonach in der Erkenntnis die Frage ist, bezeichnet, in Wahrheit aber doch nur ihre Frage selbst bestimmt zum Ausdruck bringt: unter dem fortwährend von uns schon verwendeten Namen des  Gegenstandes.  Selbst das Wort "Objekt", wörtlich "Gegenwurf" oder in schon freierer Wiedergabe: "Vorwurf", ist fast die bloße Übersetzung des griechischen "Problema". Daß der Gegenstand außerhalb der Erkenntnis zu liegen scheint, doch aber ihr angeeignet werden soll, erklärt sich genau im Sinne der Antizipation. Er kann, wenn er Gegenstand für die Erkenntnis, ihr Problem sein soll, nicht schlechthin außer ihrem Bereich gesucht werden. Damit lösen sich die bekannten Einwürfe der Skepsis; soll der Gegenstand sozusagen das  x  der Gleichung der Erkenntnis sein, so muß er, obwohl als das Gesuchte, doch gänzlich aus ihrem eigenen Gesichtspunkt bestimmt sein. So wie das  x, y  usw. der Gleichung nur Sinn hat für die Gleichung und in ihr, aufgrund des Sinnes der Gleichung selbst, stets in Beziehung zu den bekannten Größen, d. h. den Konstanten, nämlich den Sinn der Variabeln als der "Wurzeln" der Gleichung (Werte, welche sie "erfüllen"), so und nur so wird das große  X  der Erkenntnis, der Gegenstand, verständlich. Nach ihm könnte gar nicht die Frage sein, anders als vom Standapunkt der Erkenntnis selbst, gemäß den Urbeziehungen, die überhaupt eine Erkenntnis "möglich machen": als das Unbestimmte zwar, aber im Sinne des zu Bestimmenden, im Bereich der Bestimmungsmöglichkeit überhaupt also Liegenden, wenn auch innerhalb dieses Bereiches nicht weiter fixiert, ja auch nicht absolut zu fixieren, sondern in letzter Hinsicht stets variabel zu halten: damit der Fortgang der Erkenntnis nie abgebrochen sei. Liegt also in der Frage, im Problem der Gegenstand als das  X  der Erkenntnis, so liegt darin alles: die Grundbeziehungsarten, die überhaupt eine Erkenntnis ermöglichen, sind darin vorausgenommen, sind im "Vorwurf" der Erkenntnis schon vorgezeichnet, "entworfen". Das Objekt der Erkenntnis wird Projekt, der Gegenwurf Vorwurf. Vorausgesetzt ist also eben der Prozeß, der Gang der Erkenntnis im ganzen, seiner Richtung nach: die Methode. Und weil nun diese, als Richtung, notwendig ins Unendliche fortbesteht, so darf auch der Gegenstand nie als erschöpfend erkannt, als endgültig bestimmt gedacht werden, sondern wieviel auch an ihm schon mag bestimmt worden sein, doch immer weiter bestimmbar und zu bestimmen. Als Aufgabe der Erkenntnis, die nicht Stillstand, sondern ewigen Fortgang bedeutet, wird der Gegenstand zur unendlichen Aufgabe, und jede endliche Bestimmung des Gegenstandes zum bloßen Einschnitt in das Kontinuum des Fortgangs. aber die unendliche Aufgabe ist unendliche  Projektion. 

Eben damit entdeckt sich der Gegenstand als das genaue Korrelat des "Ursprungs". Was jener als Forderung an die Erkenntnis ausspricht, will dieser aussprechen, nicht als die Möglichkeit nur, sondern die Sicherheit der Erfüllung der Forderung, in dem Sinne nämlich, in dem diese Erfüllung überhaupt nur gedacht werden darf: als ewiger Fortgang, nicht endgültiger Abschluß. Beide Ausdrücke bringen also nur nach zwei verschiedenen, aber sich genau entsprechenden Gedankenrichtungen denselben Radikalismus der Logik zum Ausdruck. Die Wurzel  (radix)  ist der Ursprung, und die Wurzel der Gleichung der Erkenntnis ist der Gegenstand. Der Schritt von der Wissenschaft zur Logik drückt sich in beiden Richtungen gleichartig aus: von den Gegenständen ist zurückzufragen zu dem Gegenstand, wie von den Prinzipien, die je eine bestimmte Frage oder einen bestimmten Inbegriff von Fragen lösen mögen, zu dem Prinzip, dem Prinzip der Prinzipien, das heißt dem Ursprung. das ist der immer gleiche und selbige Hinausschritt von den Erkenntnissen zu der Erkenntnis, von den vielen Denksetzungen zur Setzung des Denkens überhaupt, womit genau die Aufgabe der Logik bezeichnet ist: als der Lehre vom Logos selbst, nicht aber von allem Logischen, denn das reicht so weit wie überhaupt die Wissenschaft.
LITERATUR - Paul Natorp, Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften, Leipzig und Berlin 1910
    Anmerkungen
    1) HILBERT, Die Grundlagen der Geometrie, 1908, Seite 66
    2) Bezeichnend dafür besonders WHITEHEAD (A Treatise on Universal Algebra, 1898), worüber Bericht des Verfassers (Zu den logischen Grundlagen der neueren Mathematik, Archiv für systematische Philosophie, Bd. VII, 1901, Seite 177f, 372f) und RUSSELL (The Principles of Mathematics I, 1903)
    3) Siehe des Verfassers "Platos Ideenlehre", Seite 373
    4) Vgl. zu den folgenden Ausführungen des Verfassers Schrift: Platos Ideenlehre, Seite 366f
    5) Daß der Prozeßcharakter des Erkennens der echte Sinn der "Synthesis a priori" sei: darin möchte das eigentliche Motiv der Ansicht von POINCARÉ zu erkennen sein, wenn dieser besonders im "rekurrierenden Verfahren" des Ausdruck des synthetischen Apriori sieht. Wissenschaft und Hypothese, Seite 13f. (Darum versagt sowohl die analytische wie die empirische Begründung vor dem Unendlichen.)