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PAUL NATORP
Die logischen Grundlagen
der exakten Wissenschaften

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"Wirklichkeit bedeutet eine Bestimmtheit, so daß nichts unbestimmt bleibt. Unbestimmtheit ist eben bloße Möglichkeit. In anderer Wendung: die Möglichkeit ist vielfach, sie läßt stets eine Wahl, Wirklichkeit ist schlechthin einzig, sie wird gedacht als auf eine einzige, jede Wahl ausschließende Art bestimmt. Diese Einzigkeit spielt eine große Rolle in Kants Erfahrungslehre; auf ihrer Forderung beruth besonders seine Unterscheidung der Anschauung vom Begriff; Anschauung heißt bei ihm "die Vorstellung, die nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden kann. Zeit und Raum sind in seinem solchen Sinn wesentlich einzige Vorstellungen, darum Anschauungen; es gibt nur eine Zeit, nur einen Raum, so wie es nur eine Erfahrung gibt, in welcher alle Wahrnehmungen als in einem durchgängigen und gesetztmäßigen Zusammenhang vorgestellt werden."

"Die Tatsache im absoluten Sinn ist aber erst das Letzte, was die Erkenntnis zu erreichen hätte, in Wahrheit nie erreicht; ihr ewiges X. Dieses Letzte hat man zum Ersten, dieses X zu bekannten Größe, das ewig Gesuchte, nie Erreichbare zum Gegebenen gemacht. Woher dieser befremdliche Fehlgriff? Weil allerdings die Notwendigkeit dieser Determination der Tatsache, nämlich als Forderung, selbst a priori feststeht, so antizipiert man ohne Bedenken im Begriff der Tatsache als des Gegebenen das, was vielmehr erst das letzte Resultat der Erkenntnis wäre."

IV. Die Modalität

§ 12. Sinn und Begründung der Modalität. Nachdem der kantische Aufbau des Kategoriensystems sich soweit bewährt hat, dürfen wir nicht unterlassen, auch noch die letzte Art von Kategorien, die er aufgestellt hat, mit den zugehörigen Grundsätzen in eine Prüfung zu ziehen. Sie heißen: Möglichkeit, Wirklichkeit (oder Dasein) und Notwendigkeit; die zugehörigen Urteilsarten - die Entsprechung ist in diesem Fall ganz direkt und einwandfrei - heißen das problematische, assertorisch und apodiktische Urteil; die Grundsätze der Modalität aber sind fast nur Definitionen dessen, was Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit im Hinblick auf den Erfahrungsgegenstand bedeuten.

Nun konnten wir bis dahin alles aus der einzigen Grundfunktion der synthetischen Einheit herleiten. Hier scheint dieser Weg der Begründung verschlossen; die einfache Synthesis gab die Quantität und Qualität, die Synthesis der Synthesen die Relation; woher noch etwas Ferneres kommen sollte, sieht man nicht ab. Und dem entspricht, daß KANTs Modalitätsstufen wirklich nicht neue Grundbestimmungen des Gegenstandes liefern, wie doch Kategorien sollten. Liegt es also nicht nahe, zu folgern, daß mit den je drei Stufen der Quantität, Qualität und Relation das System der logischen Grundfunktionen vollendet, für etwas Weiteres weder Bedürfnis noch Grundlage vorhanden ist?

Aber doch gibt es zu denken, daß man in der Logik stets auf diese Begriffe: Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit Gewicht gelegt und gerade eine spezifisch logische Bedeutung in ihnen gesucht hat. Gehören sie dem Gegenstand direkt vielleicht nicht an, dann umso mehr dem Denken, dem Erkennen - immerhin des Gegenstandes. Dies nun betont gerade Kant: die Modalitätsstufen betreffen nicht direkt den Gegenstand, wohl aber sein Verhältnis zur Erkenntnis, ihre Gegenständlichkeit. Nachdem wir uns aber überzeugt haben, wie sehr der Gegenstand überhaupt nur in der Gesetzlichkeit des Denkens, des Erkennens wurzelt, hat es wohl Sinn, dieses Verhältnis auch noch besonders ins Auge zu fassen. Da nun der Prozeß der Erkenntnis der synthetischen Einheit ist, so wird durch die Natur dieses Prozesses auch das gesuchte Verhältnis von Erkenntnis und Gegenstand zu definieren sein.

Das vor allem hat KANT über jeden Zweifel hinausgehoben: es ist nicht ein Merkmal des Gegenstandes, abgesehen von seinem Verhältnis zur Erkenntnis, bloß möglich zu sein oder wirklich oder notwendig. Er könnte, als Gegenstand, allenfalls nur dasein, existieren, während Möglichkeit etwas weniger, Notwendigkeit etwas mehr als nur Dasein zu bedeuten scheint. Dieses Weniger und Mehr findet bloß im Denken, im Erkennen statt; aber doch in dem auf den Gegenstand, auf die Gegenständlichkeit gerichteten Denken und Erkennen. Übrigens auch wenn wir Existenz (Dasein, Wirklichkeit) dem Gegenstand beilegen, ist das gewissermaßen eine Tautologie; daß dem Gegenstand Existenz zukommt, besagt nichts mehr, als daß ihm die volle Gegenständlichkeit zukommt. Dies besonders auszusprechen hat nur dann Sinn, wenn man als Gegensatz im Gedanken den Gegenstand als bloß gedachten hat, dessen volle Gegenständlichkeit zumindest noch fraglich, d. h. nur erst möglich ist. Es ist so, und: Es ist wirklich so, besagt dem Gegenstand nach völlig dasselbe; aber den letzteren Ausdruck wird man wählen, wo eine Veranlassung besteht, das Verhältnis zur Erkenntnis zu betonen: zuvor stand es nicht fest, daß dies der Gegenstand ist, nunmehr steht es fest. Also die Feststellung ist es, worauf es ankommt. Dem Gegenstand ist es nichts Neues, zu existieren, aber uns, der Erkenntnis ist es etwas Neues, daß uns dies feststeht, während es zuvor nicht feststand. Also wird es in der Modalität sich um die gesetzmäßigen Bedingungen handeln, gemäß welchen eine auf den Gegenstand bezügliche Aussage auszusprechen ist mit dem Geltungswert des bloß Möglichen (der Hypothese), oder der feststehenden Tatsache, oder des nach einem Gesetz Notwendigen. So erfahren die Prädikate des Gegenstandes (wie KANT betont hat) keine Veränderung oder Vermehrung, nur unser Urteil über die Gegenständlichkeit "modelt" sich in diesen drei Stufen; dies rechtfertigt die Bezeichnung dieser Stufen als solcher der Modalität.

So wird die Bedeutung dieser kantischen Kategorien klar; es wird klar, wie sie, trotzdem sie dem Gegenstand keine neuen Bestimmungen beifügen, dennoch vom Gegenstand ausgesagt werden. Nämlich sie bezeichnen die Stufe der Erkenntnis im Hinblick auf ihre Gegenständlichkeit. Der Gegenstand, um den es sich handelt, ist eben der der Erkenntnis; sein Gegenstand-sein unterliegt selbst dem Gesetz der Erkenntnis. So ist gerade die Modalität der scharfe und abschließende Ausdruck der "Idealität" des Gegenstandes für die Erkenntnis.

Es ist sehr bemerkenswert, daß es innerhalb der bloßen Mathematik diesen Unterschied der Modalität nicht gibt. Zwar reden die Matematiker von einer Existenz ihrer Begriffe (etwa des Irrationalen, des Imaginaären), aber diese Existenz unterscheidet sich in nicht von der Möglichkeit und der Notwendigkeit. Was als mathematischer Begriff möglich ist, ist damit für die Mathematik sofort auch existent und sofort auch notwendig. Ist der Begriff erwiesen als in den Methoden der Mathematik begründet, so ist er damit gesichert nicht als bloß möglich, sondern mit dieserm Möglichkeit für die Mathematik auch existierend, und mit dieser Existenz für sie zugleich notwendig. Dagegen in der Naturwissenschaft ist es wahrlich ein Unterschied, ob ein Satz ausgesprochen wird als bloß mögliche Hypothese, oder als erwiesene (wenn auch noch nicht weiter abgeleitete, deduzierte) Tatsache, oder endlich als aus allgemeinen Gesetzen folgende und aus diesen notwendige Tatsache. Man kann daher sagen, daß erst die Modalität den Schritt von der bloßen Mathematik zur (wenn noch so mathematischen) Naturwissenschaft vollzieht. Quantität, Qualität und Relation beschreiben nur die Instrumente, definieren nur das Verfahren des Aufbaus des Gegenstandes, aber stellen noch nicht ihn selbst dar; die Modalität gibt die allgemeinen methodischen Bedingungen an, aufgrund dieser Verfahrensweisen nun den Gegenstand selbst, als den der Naturwissenschaft, aufzustellen: Somit beschreiben gewiß auch sie bloß ein Verfahren; etwas anderes als die reinen Verfahrensweisen des Denkens hat die Logik überhaupt nicht zu entwickeln; aber das Verfahren kommt hier zum Abschluß, indem es das Verfahren wird, direkt den Gegenstand aufzustellen. Als allgemeines, gesetzmäßiges Verfahren übrigens muß die Modalität auch einer mathematischen Darstellung fähig sein, und sie ist es in der Tat. Die Gesetze des Beweisens, die ganz der Modalität angehören, des Beweises der Gewißheit nicht nur und der Notwendigkeit, sondern auch der Wahrscheinlichkeit, d. h. der Grade der Möglichkeit, lassen sich in rein mathematischer Gestalt entwickeln. Die Logistik als Kalkül des Beweisens bestätigt genau diese Auffassung der Modalität. Was wir an ihr auszusetzen haben, ist nur, daß sie "die" Logik zu sein behauptet, während es nur ein Teil der logischen Aufgabe, und nicht der fundamentalste, ist, den sie in anerkennenswerter Strenge und Vollständigkeit bearbeitet. Ja, wir müssen unseren Begriffen gemäß sagen, daß zwar die Aufgabe ihr von der Logik diktiert, ihre ganze Arbeit aber mathematisch ist, übrigens auch innerhalb der Mathematik eine vergleichsweise untergeordnete Provinz darstellt.

Aufgrund dieser Überlegungen läßt sich nun auch die Frage beantworten, woher der Stufengang der Modalität stammt, nämlich wie er sich zum logischen Urprozeß, dem Prozeß der synthetischen Einheit, verhält. Er soll den Stufengang des Prozesses der Erkenntnis darstellen; Gegenstand heißt ja nur: das, was erkannt werden soll, von welchem also ein anderer Begriff sich gar nicht geben läßt als eben der der allgemeinen Aufgabe der Erkenntnis. Ist es nun sicher, daß der Gegenstand der Erkenntnis allgemein (weil die Erkenntnis selbst) sich in keinem anderen Prozeß entwickelt als in dem der synthetischen Einheit, so kann der allgemeine Stufengang der Gegenstandserkenntnis kein anderer sein als der Stufengang des Prozesses der synthetischen Einheit überhaupt, nicht irgendeiner besonderen Richtung desselben, sei es einer der bisherigen oder einer neuen, diesen etwa koordinierten.

Dieser Schluß scheint so naheliegend und zwingend, daß man sich nur wundert, nicht bei KANT selbst die Modalitätsstufen geradezu als die Stufen des synthetischen Prozesses überhaupt ausdrücklich bezeichnet zu finden. Denn daß es nur der Prozeß der Erkenntnis des Gegenstandes ist, der sich in diesen Stufen ausdrückt, ist gerade KANTs entscheidende Entdeckung. Die Erkenntnis des Gegenstandes als Prozeß zu begreifen, das war die große Leistung der transzendentalen Methode KANTs; und eben diese allgemeine Einsicht ist es, die sich abschließend in der Lehre von der Modalität ausdrückt. Es sind also nicht neue Leistungen der synthetischen Einheit, die in den Modalitätsstufen formuliert werden, sondern es ist die Gesamtleistung des synthetischen Prozesses der Gegenstandserkenntnis, wie er sich in der Quantität, der Qualität und der Relation nach seinen Grundrichtungen auseinanderlegte. Und zwar läßt sich unschwer erkennen, daß die drei Stufen der Modalität genau das Gemeinsame des dreistufigen Ganges jedes dieser synthetischen Prozesse zum Ausdruck bringen, nämlich im Hinblick auf den Beitrag jeder Stufe zur Gestaltung des Gegenstandes in der Erkenntnis. Während also die Quantität und Qualität zusammen den einfachen Prozeß der synthetischen Einheit nach seinen beiden Grundrichtungen ausdrücken, die Relation die synthetische Einheit der synthetischen Einheiten und die dadurch ermöglichte Fortführung des Prozesses auf immer höheren Stufen darstellt, beschreibt die Modalität den allgemeineren Stufengang des synthetischen Prozesses unterschiedslos für die einfache Synthesis und die Synthesis der Synthesen, hinsichtlich des Beitrags, den eine jede Stufe dieses Prozesses für das, worauf der ganze Prozeß zielt: für die Erkenntnis des Gegenstandes, liefert.

Auf dieser Grundlage lassen sich die Stufen der Modalität nun mit Sicherheit ableiten und in ihrer Bedeutung erkennen.

§ 13. Der Stufengang der Modalität. Erstens: die Möglichkeit ist nach dieser Auffassung nichts als der logische Ausdruck des Ansatzes, es sei so, den man wagen muß, um nur überhaupt einen Anfang der Erkenntnis zu gewinnen; welcher also damit noch nicht gelten will, sondern in der Durchführung des damit nur eingeleiteten Erkenntnisprozesses erst sich zu erproben hat und, je nachdem er in dieser Probe besteht oder nicht, geltend bleibt (dann aber nicht mehr als bloß möglich), oder einem anderen Platz machen muß. Denn was sein kann, kann auch nicht sein; das heißt, wovon gesetzt werden kann, es ist, kann auch gesetzt werden, es ist nicht, solange nämlich nicht die Entscheidung im einen oder anderen Sinn gefallen ist, mit der dann sofort das Stadium des bloß Möglichen überschritten ist. Die Möglichkeit steht sehr nache der Frage, aber sie geht über diese hinaus, indem sie den Prozeß zur Entscheidung der Frage zumindest einleitet. Was als möglich angesehen wird, wird damit allerdings zur Frage gestellt, aber es wird zugleich schon der erste Schritt zur Beantwortung der Frage getan. Dieser besteht darin, daß man setzt, es sei so; so muß sich dann dieser Ansatz in der Durchführung bewähren, oder aber seine Undurchführbarkeit herausstellen.

Nun zeigt es sich, daß dies wirklich die erste Stufe in jeder der drei Richtungen des Prozesses der synthetischen Einheit war: daß ein Ansatz gemacht wird, der sich erst in der Durchführung zu bewähren hat. So ist in der Quantität die Einheit nichts für sich Bestimmtes; sie hat sich als richtig angesetzte Einheit erst darin zu bewähren, daß sie sich als tauglich erweist, eine Vielheit dadurch zu messen. So ist die qualitative Einheit der Identitäten, solange sie nicht begründet ist in der höheren Identität der Gattung, noch nicht endgültig bestimmt, gleichsam nur ein vorläufiger Stützpunkt für das Denken; sie verlangt erst gesichert zu werden, indem sie sich begründet in dem Kontinuum der Gattung. So ist endlich in der Substanz eine als fest gedachte Grundbestimmung dessen, wovon die Aussage gelten, insbesondere woran sich der Verlauf der Veränderung bestimmen soll, erst gefordert, nicht schon gegeben. Gerade die Festigkeit dieser Ansätze ist nur provisorisch; erst die Durchführung des Verfahrens (im letzten Fall also des Relationsverfahrens, d. h. die Erkenntnis der Gesetzlichkeit der Veränderung selbst) kann den Ansatz entweder rechtfertigen oder berichtigen. Allgemein also: der Ansatz für den Gegenstand wird dahin gemacht, daß er sein soll: quantitativ einer, qualitativ einer, substantiell einer; diese allgemeine Forderung ist als Forderung gerechtfertigt durch den Sinn des synthetischen Verfahrens, durch die Notwendigkeit für es als Verfahren als Prozedere, von irgendeinem vorläufig fest gedachten Punkt auszugehen, mit dem "Satz" eines solchen (Thesis) selbst einzusetzen; aber der besondere Ansatz hat sich in jedem Fall erst zu rechtfertigen, nämlich in der weiteren Durchführung des quantitativen, des qualitativen, des Relationsverfahrens. Im Hinblick auf diese Durchführung wird die "Thesis" zur "Hypothesis".

Die zweite allgemeine Stufe ist nun eben die Durchführung des durch die erste nur eingeleiteten Prozesses: die zum Versuch gesetzte quantitative Einheit hat sich zu erproben in der Durchführung der Mehrheitssetzung (Zählung, insbesondere als Messung); die zum Versuch gesetzte qualitative Einheit im Verfahren der Vergleichung (die auch wohl qualitative Messung genannt werden könnte); die Voraussetzung eines bestimmten Grundbestandes in der Veränderung im Verfolgen des Gesetzeszusammenhangs von Veränderungsreihe zu Veränderungsreihe; einem Messen wiederum anderer Art: die Ordnung in jeder folgenden Reihe geschieht "nach Maßgabe" der voraus aufgestellten Ordnung in einer anderen Reihe.

War nun der allgemeine Ausdruck der ersten Modalitätsstufe die Hypothese, so ist jetzt die Frage, ob das bloß als Hypothese, d. h. als möglich Gesetzte wirklich "stattfindet", ob es eine "Tatsache" ist, ob es existiert, das heißt also: ob sich der Ansatz bewährt, die Aufstellung stehen bleibt im Fortgang des Prozesses der Gegenstandserkenntnis. Der Ausdruck nun für die Erkenntnis des Gegenstandes als stets im Gang befindlichen, nie abgeschlossenen Prozesses ist Erfahrung. Also ist es begründet, den Tatsachenbeweis, den Existenzbeweis gleichzusetzen dem Erfahrungsbeweis. Besonders das Experiment gehört ganz hierher, welches den Erfahrungsbeweis zwar nicht erschöpft, aber in schärfster Zuspitzung darstellt. Das Experiment antwortet stets auf eine im Voraus gestellte Frage, d. h. entscheidet eine voraus hypothetisch gesetzte Möglichkeit. Der Weg des Experiments, das fiat experimentum [Lasset das Experiment beginnen! - wp], das ist daher das deutlichste Zeugnis des allgemeinen Sinns der zweiten Modalitätsstufe.

Worin aber die Entscheidung der Wirklichkeit liegt, ist besonders am Verfahren der Relation klar geworden. Es ist die fortschreitende Determination der das wirkliche Geschehen der Absicht nach darstellenden Gedankenverbindung. Das nur Mögliche ist stets in irgendeiner Hinsicht nicht determiniert, fordert also eben die weitere Determination. Die Ergänzung der Möglichkeit zur Wirklichkeit, das complementum possibilitatis, ist nichts anderes als die Determination des zuvor nicht Determinierten; diese Determination, insbesondere nach dem Verfahren der Relations-Synthese (die aber die Synthesis der Quantität und Qualität als Voraussetzung in sich schließt), ist somit das Ganze des Wirklichkeitsbeweises. In der Natur dieses Verfahrens liegt freilich, daß es abschließend nie sein kann. Aber es definiert doch einen sicheren Fortschritt; es determiniert sich auf jeder folgenden Stufe des Prozesses als etwas, das auf der vorigen nicht determiniert war, es schließt sich damit der Kreis der Möglichkeiten enger und enger, und bald wird die Stufe erreicht, wo eine weitere Determination aus den Datis (d. h. aus dem Problem) nicht mehr vollziehbar, aber nach der gegebenen Problemlage auch nicht gefordert ist. Dann spricht man von "festgestellter" Tatsache. Daß solche Tatsachen aber nie absolut feste sind, sondern in weiteren Zusammenhängen immer wieder fraglich werden können, ist oft bemerkt und wird hernach noch besonders beleuchtet werden.

Die dritte Stufe eines jeden synthetischen Prozesse aber betraf allemal den Abschluß des durch die erste nur eingeleiteten, auf der zweiten Schritt um Schritt weiter verfolgten Verfahrens, sozusagen den Rechnungsabschluß, der aber nur zur sicheren Grundlage dienen soll für neue Prozesse von gleichem allgemeinem Stufengang. Die zweite und dritte Stufe unterscheiden sich also als der Weg, insofern man im Gang ist, ihn zu verfolgen, und der vorläufig erreichte Haltepunkt, auf dem man stillsteht, nicht um darauf stehen zu bleiben, sondern des Gewonnenen sich zu versichern und auf der soweit gesicherten Grundlage dann weiterzuschreiten. So ist die bestimmte Vielheit (der dritten Quantitätsstufe) nur das bis dahin erreichte Ergebnis der Zählung, welches zugleich zum Ausgang dient für eine weitere Zählung; so die in der gattung gegründete Unterscheidung das vorläufige Ergebnis der qualitativen Vergleichung, welches zugleich das Fundament bildet für eine weitergehende Vergleichung und Unterscheidung; und so vertritt die Wechselwirkung den Abschluß der Kausalreichen in einem System, in dessen Ansatz ein bestimmter Kreis von Fragen eine abschließende Beantwortung gefunden hat, und welches dann zum Fundament dient zur Aufsuchung neuer Systemzusammenhänge, und so der Möglichkeit nach unbeschränkt weiter.

Wird also im zweiten und dritten Stadium zusammen das im ersten nur hypothetisch, also nur fragweise Gesetzte zur Entscheidung geführt, so wird in diesen beiden Modalitätsstufen das Verfahren des wissenschaftlichen Beweises wurzeln. Es wird daher aller wissenschaftliche Beweis, nämlich der Wirklichkeit, also Erfahrungsbeweis, in diesen zwei Stufen verlaufen, deren deutliches Unterscheidungsmerkmal sein wird, ddaß der Beweis der ersten Art unabgeschlossen bleibt, der der zweiten Art zu einem Abschluß führt, der nur nicht als absoluter mißverstanden werden darf. Dem entspricht nun die geltende Unterscheidung des induktiven und deduktiven Beweises (wobei die sogenannten vollständige Induktion vielmehr zur Deduktion zu stellen ist). Induktion heißt wörtlich Hinleitung, und Deduktion Herleitung. Der Prozeß, der auf den Sachverhalt, nämlich den Satz der Wirklichkeit hinleitet, ist kein anderer als der Experimentalbeweis der zweiten Modalitätsstufe; der Erfahrungsbeweis eben hinsichtlich des charakteristischen Umstandes, daß er als solcher stets unabgeschlossen, in der Durchführung begriffen, aber noch bis zu keinem endgültigen Abschluß durchgeführt ist. Sein angestrebtes Ziel aber ist der Gewinn eines solchen Abschlusses, nämlich in einem neuen Obersatz, aus dem sich die fragliche Tatsache herleiten, deduktiv "folgen" soll. Also zielt jede Induktion zumindest zuletzt auf eine Deduktion ab. Das Folgen aber aus dem Obersatz (der allgemeineren Erkenntnis) ist der Sinn der wissenschaftlichen "Notwendigkeit". Der deduktive Beweis, die aristotelische "Apodexisis" [Beweiskraft - wp] ist es, wonach KANT das apodiktische Urteil benannt hat, welches sich deckt mit dem Urteil der Notwendigkeit. Die Notwendigkeit der Tatsache bedeutet nichts anderes als ihre Feststellung im Gesetz. Führt also die Induktion durch Tatsachen zum Gesetz, als dem Allgemeinausdruck eines geschlossenen Bereichs von Tatsachen, so leitet die Deduktion, indem sie scheinbar den umgekehrten Weg des Gedankens beschreibt, aus dem erkannten Gesetz die Tatsachen ab und bestimmt sie damit als nicht bloß tatsächlich gewiß, sondern notwendig.

§ 14. Die Wirklichkeit der Tatsache in idealistischer Auffassung. Tatsache und Wahrnehmung. So ergibt sich uns der Aufbau der Modalitätsstufen einfach und durchsichtig genug. Doch fordert noch ein Bedenken Beschwichtigung. Die zweite Stufe der Modalität heißt bei KANT Wirklichkeit; wir aber fanden als haltbaren Sinn dieser zweiten Stufe nur ein Verfahren fortschreitender Determination. Deckt das den Begriff der Wirklichkeit? In diesem wird allerdings eine Determination gedacht, aber nicht eine unbestimmt weitergehende, sondern gerade eine abschließende. Wirklichkeit bedeutet eine Bestimmtheit, so daß nichts unbestimmt bleibt. Unbestimmtheit ist eben bloße Möglichkeit. In anderer Wendung: die Möglichkeit ist vielfach, sie läßt stets eine Wahl, Wirklichkeit ist schlechthin einzig, sie wird gedacht als auf eine einzige, jede Wahl ausschließende Art bestimmt. Diese Einzigkeit spielt eine große Rolle in KANTs Erfahrungslehre; auf ihrer Forderung beruth besonders seine Unterscheidung der Anschauung vom Begriff; Anschauung heißt bei ihm "die Vorstellung, die nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden kann". Zeit und Raum sind in seinem solchen Sinn "wesentlich einzige" Vorstellungen, darum Anschauungen; es gibt nur eine Zeit, nur einen Raum, so wie es nur eine Erfahrung gibt, "in welcher alle Wahrnehmungen als in einem durchgängigen und gesetztmäßigen Zusammenhang vorgestellt werden. Offenbar gilt ihm die Einzigkeit der Zeit und des Raumes für notwendig als Bedingung der Einzigkeit der Erfahrung; wie könnte der Zusammenhang der Erfahrung ein einziger zu sein, ohne daß die einzige Zeit und der einzige Raum ihm zugrunde läge? Unser Begriff einer unendlich fortschreitenden Determination scheint nun gerade diese Forderung der Einzigkeit nicht zu befriedigen. Auch die Notwendigkeit hilft diesem Mangel nicht ab, da alle in den Grenzen möglicher Erfahrung erreichbare Notwendigkeit nur eine bedingte, nie absolute, also wirklich abschließende Notwendigkeit sein kann. So wird die Notwendigkeit selbst wieder eine Hypothese, so daß die Modalität wiederum einen Kreislauf beschreibt, ebenso wie es sich in jeder der drei anderen Richtungen des synthetischen Prozesses ergab. Je für eine gegebene Begrenzung unserer Erfahrung (d. h. des gestellten Problems) mag ein bestimmter Zusammenhang als notwendig (nicht anders möglich, einzig möglich) erkennbar sein; aber sobald der Bereich der Erfahrung (der Problembereich) sich auch nur in Gedanken, hypothetisch erweitert, ergeben sich neue, offene Möglichkeiten, der Schein des geschlossenen Zusammenhanges also hebt sich immer wieder auf. So wenig wie also eine Erweiterung des Erfahrungskreises sich je ausschließen läßt (die vielmehr stets sogar als notwendig gedacht werden muß), so wenig kann eine abschließende Notwendigkeit, also Wirklichkeit im Sinne vollendeter Bestimmtheit (die nichts unbestimmt ließe), je erreicht sein.

Soll man nun für diese Forderung der Einzigkeit, die demnach durch unsere drei Modalitätsstufen nicht befriedigt wird, etwa noch ein weiteres Denkgesetz aufstellen? Aber nach anderen Denkgesetzen, als die für "mögliche Erfahrung" zureichen, war überhaupt nicht die Frage. Im Verfahren der empirischen Erkenntnis, im ewigen Prozeß der Erfahrung kann, ja darf die Forderung der Einzigkeit nie in abschließender Weise erfüllt gedacht werden. Die Forderung selbst besteht darum nicht weniger zurecht, eben als Forderung. Aber damit steht sie auch schon an der Grenze der Logik, die allein das Sein zur Frage hat; welche Grenze überschritten wird oder auch nur in Frage kommt. Eine vollständige Bestimmung ist allerdings gefordert, sofern überhaupt Bestimmtheit gefordert ist. Der Forderung der Bestimmtheit wäre schlechthin erst genügt durch eine Erkenntnis, die selbst schlechthin zu gelten beanspruchen dürfte. Unsere Erkenntnis indessen vermag eben dieser Forderung nicht schlechthin, sondern immer nur bedingterweise zu genügen. Eben darum ist auch ihre Gegenständlichkeit selbst nur eine bedingte, nie absolute Gegenständlichkeit; das "Ding-ansich", der Gegenstand, wie er schlechthin bestimmt wäre, bleibt einer "möglichen Erfahrung", die vielmehr in einem ewigen Prozeß fortschreitender Bestimmung besteht, unzugänglich.

Es ist also, sofern es sich um eine "mögliche Erfahrung" handelt, auf die Forderung der Einzigkeit in einem absoluten Sinn ganz zu verzichten. Sie kann nur das unendlich ferne Ziel bedeuten, dem unsere Erkenntnis in unendlicher Entwicklung, "asymptotisch", sich annähernd gedacht wird. Damit aber vollendet sich die idealistische Konsequenz dieses ganzen gesetzlichen Aufbaus der "Möglichkeit der Erfahrung". Es schwindet jede Hoffnung, absolute Tatsachen in wissenschaftlicher Erkenntnis je zu erreichen; aber auch jedes Bedürfnis, solche erreichen zu müssen. Denn Wirklichkeit ist nie gegeben, sondern ist die ewige Aufgabe, die in wirklicher Erfahrung stets nur relativer Lösungen fähig ist. (1)

Man sagt: Tatsachen beweisen. Was beweisen sie? doch wohl den Inhalt voraus formulierter Sätze, d. h., versuchsweise vollzogner, also hypothetischer Begriffsverknüpfungen. Die "Tatsachen" geben in jedem Fall nur Antwort auf die Fragen, die von der Erkenntnis, ihren eigentümlichen Begriffen gemäß, voraus gestellt sind; sie entscheiden nur über voraus erdachte Möglichkeiten. Und wodurch beweisen Tatsachen? Wiederum nur durch die Verknüpfung, die sie in unseren Gedanken herstellen, indem sich zeigt, daß diese und diese möglichen Verbindungen von Denkelementen sich festhalten und durchführen lassen, gegenteilige nicht. Nicht die Tatsache - als ob sie erst unabhängig feststände - gibt die bestimmte Verknüpfung der Denkbestimmungen, die ihren Inhalt auszudrücken versucht, sondern vielmehr diese Verknüpfung von Denkbestimmungen gibt, ja ist die Tatsache, und nicht fester, als diese Verknüpfung der Denkbestimmungen, steht die Tatsache.

Dieser idealistischen Ansicht gegenüber wird man sich stets auf die Wahrnehmung berufen. Die "Tatsache" meint zuletzt das Datum der Wahrnehmung. Aber nachdem sich die Erfahrung uns aufgelöst hat in den unendlichen Determinationsprozeß des Denkens, wird die Wahrnehmung sich der gleichen Betrachtung fügen müssen, da Wahrnehmung nichts ist als ein nur engerer Ausdruck für Erfahrung. Was unterscheidet Wahrnehmung von bloßer Denkbestimmung? Schlechterdings nichts Inhaltliches; denn was wir auch immer als Inhalt gegebener Wahrnehmung aussagen mögen, ist als Aussageinhalt notwendig eine Denkbestimmung, den Gesetzen synthetischer Einheit in aller und jeder Richtung unterworfen. Es muß sich den Gesetzen der Quantität, Qualität und Relation fügen; irgendein Inhalt, der aus diesem dreifachen Verfahren des Denkens herausfiele, könnte auch durch Wahrnehmung niemals "gegeben" werden. Als unterscheidendes Merkmal des Gegebenen wird regelmäßig genannt: die Determination des Jetzt und Hier. Aber diese Determination unterliegt schlechterdings den Gesetzen der Relation; auch ist sie gar nicht anders möglich als durch die Determination des Zeit- und Rauminhalts, aber ist gänzlich beschlossen in den Gesetzen der Quantität, Qualität und Relation. Man kann nicht umgekehrt sagen, das Hinzutreten der Zeit- und Raumdetermination determiniere den Inhalt. Auch wenn man das unmittelbar Wahrgenommene das letzte Positive oder Gegebene nennt, so hat man nichts gesagt, als daß die Wahrnehmung eben eine vollständige Determination fordert. Diese "Positivität" oder Gegebenheit ist selbst nicht positiv oder gegeben, sondern ewig nur gefordet. Sie ist genau der Ausdruck der Forderung, welche die Kategorie der Existenz vertritt und formuliert. Der Ausdruck des Positiven weist auf die Bejahung einer gestellten Frage, auf die "Feststellung" des im Denken erst gleichsam widerruflich Gesetzten; also in jeder Weise auf die zweite Stufe der Modalität, die ihren Grund und ihre Wurzel nirgendwo ander als im Gesetz des synthetischen Prozesses hat. Es drückt sich darin nur das Erfordernis jener Determination aus, welche die Tatsächlichkeit eben bedeutet. Die Tatsache im absoluten Sinn ist aber erst das Letzte, was die Erkenntnis zu erreichen hätte, in Wahrheit nie erreicht; ihr ewiges X. Dieses Letzte hat man zum Ersten, dieses X zu bekannten Größe, das ewig Gesuchte, nie Erreichbare zum Gegebenen gemacht. Woher dieser befremdliche Fehlgriff? Weil allerdings die Notwendigkeit dieser Determination der Tatsache, nämlich als Forderung, selbst a priori feststeht, so antizipiert man ohne Bedenken im Begriff der Tatsache als des Gegebenen das, was vielmehr erst das letzte Resultat der Erkenntnis wäre.

Die Wissenschaft ist sich dieses Sachverhalts auch mehr und mehr bewußt geworden. Je ernster sie es damit nahm, die Tatsache in ihrer vollen Konkretion, und nichts als die Tatsache, erfassen zu wollen, umso sicherer mußte sie sich überzeugen, daß sie nicht zu fassen ist, daß genau die Tatsächlichkeit stets ein Problem, stets in gewissem Sinn eine Hypothese bleibt, d. h. daß das Urteil darüber, was Tatsache ist, in jedem Augenblick der Berichtigung gewärtig sein muß.

Wird dem nun noch entgegengehalten: Aber die Tatsachen müssen doch ansich bestimmt sein, wenngleich nicht für uns? Darauf ist längst der Sache nach geantwortet; doch mag es gut sein, gerade hier zum Schluß die Antwort zu wiederholen: Erstens, die Erkenntnis muß doch die Bestimmung der Tatsache stets von sich aus erst leisten; ihr ist nichts bestimmt, was sie selbst nicht bestimmt hat; zweitens aber; nur von einer schon erreichten Erkenntnis aus, oder in bloßer gedanklicher Vorausnahme ihres schließlichen Ergebnisses, vielmehr ihres ewig fernen Zieles, läßt sich mit Sinn von dem reden, was ansich bestimmt ist; und drittens: da unsere Erkenntnis stets bedingt und begrenzt bleibt, so würde, was auch immer wir vom Standpunkt unserer Erkenntnis über das Ansichsein des Gegenstandes aussagen möchten, doch immer so bedingt und in seiner Geltung begrenzt bleiben wie unsere Erkenntnis überhaupt.

Nur auf einer solchen Grundlage und in einem solchen Sinn ist "exakte Wissenschaft" möglich. Auch haben wir nunmehr die Voraussetzungen, zwar nicht in absoluter Vollständigkeit, aber wenigstens in einem erschöpfenden Grundriß beisammen, deren wir zum logischen Aufbau dieser exakten Wissenschaft bedürfen; zu diesem Aufbau wenden wir uns jetzt.
LITERATUR - Paul Natorp, Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften, Leipzig und Berlin 1910
    Anmerkungen
    1) Zu den folgenden Ausführungen vgl. meine Sozialpädagogik § 5.