cr-4Gustav GerberFriedrich Max Müller    
 
GEORG RUNZE
(1852-1922)
Die Bedeutung der Sprache
für das wissenschaftliche Erkennen

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Erkenntnistheoretische Überlegungen
Bedeutung der Sprache
      "Gerade die Sprache dürfen wir das eigentlich wissenschaffende Organ nennen."

Den graduellen Gegensatz zwischen der beobachtenden, empfänglichen Funktion und dem spontan schaffenden Wollen können wir physiologisch begründen durch Zurückführung auf den spezifischen Gegensatz der Sensibilität und der Irritabilität, auf Grund des Unterschiedes zwischen den Empfindungsnerven, welche zentripetal und den motorischen Bewegungsnerven, welche zentrifugal funktionieren.

Für jede der beiden Funktionen des Zentralnervensystems gibt es eine Verwirklichungsform, in welcher die Leistungsfähigkeit des Seelenlebens seinen spezifischen Höhepunkt erreicht: für die Sensibilität ist es das anschauliche Sehen, das farbenreiche Bild im Auge nebst seinen reflektorischen Kombinationen im Erinnerungsbilde; für die motorische Tätigkeit ist es der durch unmittelbare Selbstäußerung des Willens hervorgebrachte Ton, zunächst als Interjektion, als Aufschrei, sodann als musikalische, rhythmische Deklamation, schließlich mittels feinster Gliederung der Bewegungsorgane, in den Sprachwerkzeugen, welche wiederum durch den Nervus Hypoglossus unter Mitwirkung des Schlundzungennervs, der motorischen Fasern des Vagus sowie des, die Mimik vermittelnden, Facialis erregt werden, - als Sprache.

Die Sprache ist nichts anderes als die denkende Vernunft als Wille. Der rein kopierenden Empirie ist der Wille und die Sprache an sich fremd, hingegen in der echten Wissenschaft (als schaffender Kunst des Gedankens) ist die Mitwirkung der Sprache wesentlicher Faktor; sie ist das unmittelbare Willensprodukt, welches der Wille hervorbringt, um sich als Vorstellung zu äußern, d.h. um wissenschaffend zu wirken. Und nicht bloß eine Schöpfung des Willens ist der theoretische Gedanke samt seinem Leibe, dem gesprochenen Wort: sondern Denken und Sprechen werden insofern, als sie Produkt des Willens sind, auch in den Dienst des Willens gezogen.

Alles theoretische Erkennen vollzieht sich mittels der Sprache und wie der Wille mittels der Sprache das Erkennen produziert hat, so wirkt diese Erkenntnis mittels der Sprache umgestaltend auf die Willensrichtung zurück. Durch die ausgesprochene Kunsttheorie wird die schaffende Hand des Künstlers in eine neue Richtungslinie genötigt, durch das ausgesprochene System eines Philosophen (wie HERBARTs z.B.) wird die didaktische Mitteilung des Pädagogen zur Begründung einer neuen Form der Jungendbildung, der nationalen Zivilisation, der Humanität angeregt.

An der kulturbildenden, willensbildenden Macht der gewordenen Theoreme läßt sich die innere Verwandtschaft ermessen, welche zwischen der werdenden Theorie und des Willensmotiven bestand: und die konkrete Vermittlung zwischen beiden ist die Sprache. Man kann zwar auch von der (tonlosen) Technik behaupten, daß sie kulturelle Änderungen hervorbringt, zuvörderst in der Gestaltung der untermenschlichen tellurischen Existenzen. Auch sie, als schaffendes Können, besteht in einem Hineinsetzen des menschlichen Willens in die objektive Welt. Allein die Macht der Geisteswissenschaft ist ungleich tiefgreifender, eben weil sie auf der Sprache beruht.

Die Sprache ist zunächst Organ, denn aus Mitteilungsbedürfnis entstanden, hat sie hauptsächlich den Menschheitstypus im Unterschiede vom Affentier herausgebildet; sie ist dann aber vornehmlich  Symbol,  denn sie dient als Kennzeichen der Vernünftigkeit des Menschen; sie ist das plastische Element, welches in Nord und Süd mehr denn Nahrung, Luft, Lebensweise und Klima den Unterschied in der physiognomischen Formenbildung des "Gebildeten" von der des Unzivilisierten bedingt.

Nach dem Gesagten darf nun als folgerichtige Schlußbehauptung ausgesprochen werden, daß wie alles Kulturleben in der Sprache wurzelt, in ihr sich abspiegelt, aus ihr seine Lebenskraft zieht, so auch die Wissenschaft. Die Sprache ist das Lebenselement aller Wissenschaft, sie bildet den Hauptschlüssel auch für die Grundwissenschaft, welche das Lebensrätsel, das Daseinsproblem als solches, zum Vorwurf hat; ja dieses Problem kann nur in und mit der Sprache entstanden sein und wird stetig neu entstehen und wachsen mit dem Werden und Wachstum der Sprache: aber es wird auch jeweilig in und mit der Sprache gelöst werden.


Sprache und Philosophie

Die Erforschung der Möglichkeit und der Weise des Erkennens, die Erkenntnistheorie, ist die wesentlichste Aufgabe aller Philosophie und damit die Grundwissenschaft schlechthin. Sie muß alle anderen Wissenschaften, insbesondere die Kunst der allseitigen Selbstbeobachtung, somit auch die psychologische Analyse der mathematischen Erkenntnisformen, potenziell in sich begreifen: sie muß den Zweck alles Erkennens in das gemeinschaftliche Band aller Wissenschaften, in den Willen, zusammenfassen.

Und gerade die Erkenntnistheorie, wofern sie sich selbst verstehen will, wird je länger je mehr mit dem Wesen der Sprache rechnen müssen. Es darf mindestens die Frage aufgeworfen werden, ob nicht die Erforschung des Ursprungs und der Entwickelung der Sprache den Hauptbestandteil einer gründlichen Erkenntnistheorie bilden müsste, indem diese schon in ihren Problemformulierungen von dem Bildungstrieb der Sprache abhängig ist. Wie aller sprachliche Ausdruck  Bild  ist, so auch die Form, welcher die Probleme ausgesprochen werden. Schon die Art, wie Probleme formuliert werden, ist stets vom sprachlichen Bilde beherrscht, nicht minder als die Lösung des Problems an das Bild gebunden bleibt; schon das Streben nach richtiger Problemformulierung findet nur in einer korrekt gewählten Bildersprache seine relative Befriedigung.

Demgemäß muß jedes erkenntnistheoretische Problem daraufhin geprüft werden, wie vieles darin (abgesehen von der ununmgänglichen Legierung mit an sich fremdartiger empirischer Detailkunde) - blosser sprachbildnerischer Beisatz, wie vieles hinwiederum eigentlich sprachschöpferischer Willenskern sei, - d.h. (sofern der Sinn für Forschung ein Hauptelement des Bildungstriebes ist), welches Quantum innerhalb des Erkenntnis schaffenden Bildungstriebes Bildung, wieviel darin Trieb sei. Anders ausgedrückt: es fragt sich, ob außer dem symbolischen Anschauungsbilde einerseits und dem realen Willensmotiv, welches andrerseits zur Erkenntnis trieb, - noch irgend etwas anderes, eine  qualitas occulta,  ein metalogisches Spezifikum, vorauszusetzen sei; kurz, ob die Erkenntnis irgend etwas anderes, ein spezifisch theoretisches Etwas, sei, außer:
  • dem Wollen und seinen Zwecken, und
  • dem imaginierten Bilde, welches im Wortsymbol ausgesprochen wird.
Unsere Antwort lautet: Nein, diese zwei Elemente alles Denkens bilden auch auf der höchsten Stufe der Erkenntnis die einzigen Faktoren des Wissens. Der Sprachgebrauch ermächtigt durchaus zu der Behauptung: das Wesen alles Erkennens, sein ursprüngliches und bleibendes Wesen ist der Wille, das Ringen nach geistiger Freiheit und Klarheit, das Streben, in die verworrenen Bewußtseinsvorgänge, Symmetrie, Ordnung, d.h. nicht etwas Neues, sondern die in uns seienden Formen, die mathematische Anlage unseres Wesens, hineinzutragen, oder: die sonst gebundene Spannkraft des unbewußten Wollens, der instinktiven Triebe, zu lebendigen Freiheit der klar bewußten Lebenstätigkeit zu entbinden.

Man könnte zwar an dieser Terminologie das Bestreben tadeln und für gefährlich erklären, die Begriffe, mit welchen wir sonst die intellektuelle Funktion im Gegensatz zum Willen zu charakterisieren pflegen, hier absichtlich mit den Willensmotiven zu vermischen. Man könnte im Gegenteil die Pflicht einschärfen und dahin zu wirken suchen, daß das "spezifisch theoretische" Element der "Vorstellung", "Anschauung", "Idee", des Begriffes, des  eidos,  des Intellekts, der Einsicht, der Klarheit, der Erkenntnis usf. mehr in seiner Unterschiedenheit vom Willen zur Geltung kommen.

Aber alle derartige Ausdrücke für das Theoretische sind ja nur verschiedene bildliche Modifikationen jenes nämlichen Grundtriebes, dessen nähere Bestimmung eben noch als Problem zur Diskussion steht. Selbst derjenige, welcher - im Interesse der Sicherstellung - des uninteressierten, von Willensmotiven losgelösten Theoretisierens - den Vorschlag der Unterscheidung befürwortet, äußert doch eben damit sein "Bestreben", sein "Trachten", seinen Sinn für das "Zweckmäßige", - er sucht vorzuschlagen und einzuschärfen, was ihm zweckmäßig erscheint: lauter Ausdrücke, welche auf ein Willensstreben hindeuten.

Provisorisch ist es also durchaus berechtigt, das Willensmoment innerhalb des Erkennens hervorzuheben; es könnte ja andernfalls möglicherweise der Hauptpunkt übersehen werden. Zunächst bedeuten alle Worte nur soviel, wie die Sprache in sie hineingelegt wissen wollte. Und insonderheit in der Mehrzahl der oben genannten Termini für die Vorstellungstätigkeit zeigt sich eine Einseitigkeit, welche viel verfänglicher ist, als die Betonung des Willens im Denken.

Es ist die Bevorzugung des einen Sinnes, von dem fast alle das Intellektualleben angehenden Ausdrücke in allen Sprachen entlehnt werden: des Gesichtssinnes. Abstrahieren wir von dieser willkürlichen Beschränkung der erkennenden Funktion, so bleibt als das gemeinschaftliche Merkmal der Erkenntnistätigkeit das überall vorhandene, ursprünglich mehr unbewußte, dunkle, unbeholfene, allmählich geübtere "Bestreben", den mannigfaltigen, ungeordneten Empfindungsvielfalt in momentanes Gleichgewicht und Ebenmaß zu bringen und Ordnung zu schaffen, um einen minder deutlichen Eindruck zu einem schärfer ausgeprägten, fester umgrenzten und so fixierbaren zu gestalten, also: sich fortzubewegen von einem dunklen, unbehaglichen, verworren -entwickelten Zustand des Vorstellenwollens zur Klarheit und Freiheit, zur Entfaltung des Vorstellens, wie überhaupt zur Lebensharmonie.

Daher so viele Ausdrücke für das Intellektualleben, die von den motorischen Tätigkeiten z.B. des Tastens, Greifens, Nehmens entlehnt sind: Begreifen, Vernehmen, Verstehen, Auffassen. - Wollten wir nun in Kürze sagen: das Erkennen ist ein hervorragender Ausdruck des Willens zum Leben, - so wäre auch das nicht genügend. Denn dieser Satz gäbe zwar eine richtige aber nur unbestimmte Zusammenfassung der vorhin erwähnten farbenreicheren und bestimmteren, aber eben deshalb zugleich dem Irrtum zugänglicheren Massenbilder: - z.B. des Gleichgewichts, der Symmetrie, der Ordnung, der Klarheit und der Dunkelheit usf. -

Was folgt daraus? Auch unser Erkennen des Erkennens bewegt sich in Folge der Bildersprache in dem Dilemma, entweder mehr durch Farblosigkeit unwirklich oder mehr durch Bilderfülle ungenau zu sein. Nur Sache der philosophischen Geschicklichkeit, der erkennenwollenden Kraft ist es, trotz der Gebundenheit an dieses Dilemma dennoch mittels der Untersuchung zum Ziel zu gelangen - sogar im Gebiete des "reinen" Denkens. Nur müssen wir hier mehr als in anderen Wissenschaften uns der Bildlichkeit und Wandelbarkeit der Sprache bewußt bleiben.

Während nämlich andere Disziplinen sich begnügen, den psychologischen Klärungsprozess einfach zu betätigen und die sprachlichen Klärungsmittel zu nehmen, wo man sie findet, so ist es Aufgabe der Erkenntnistheorie, nachzuweisen, daß die veranschaulichenden Mittel dieses Prozesses zugleich Schöpfungen des nach Klarheit ringenden Willens selber sind, daß der Wille sich seine Handhaben aus eigenen Kraftfonds schafft, seinen Bedarf aus eigenen Mitteln deckt, daß seine Kommunikationswege gleichsam fließende Wasserstraßen sind, stetig vervollständigt, verzweigt, verbunden, gegliedert durch neue Kanäle und sein Baumaterial üppig grünende Vegetation ist.

Ja, schließlich dürfte erhellen, daß selbst die elementarsten Kategorien, mit denen der Wille operiert, schon genetisch den Stempel des Willkürcharakters an sich tragen, und daß insoweit, als der Wille seiner Natur nach individuell ist, eine Verständigung keineswegs unter allen Umständen möglich sein muß. Nur zwischen Verständigungswilligen, welche die Sprache in gewissen Ideengängen homogen gebrauchen und gebraucht wissen wollen, ist allerdings Verständigung möglich.

Die philosophische Erkenntnistheorie ist eben nicht bloß die konzentriertest Selbstorientierung, sondern zugleich, in gewissem Sinne, eine Kulmination der praktischen Lebenskunst; sie ist die geübte Fertigkeit, jede logische Unlust zu bannen durch die Kunst dialektischer Begriffsausgleichung mittels des eingehendsten Verständnisses für die Sprache. Insofern dient auch sie, wie jede praktische Wissenschaft, der Herstellung individueller Lebensharmonie. Im Zusammenhange anderer Gedankenverbindungen könnte man die Philosophie mannigfach anders definieren: als Zweifelkunst, Unterredungskunst, als Prinzipienwissenschaft, als Anschauung  sub specie aeternitatis  (im Licht der Ewigkeit), als  teleologia rationis humanae  (zweckgerichteter Verstand des Menschen), als Kunst, richtig zu leben oder als Kunst richtig zu sterben.

In unserem Gedankengange, welcher von anerkannten Grundlagen aus methodisch zur Aufhellung einer wichtigen, wenig beachteten Seite der Philosophie fortzuschreiten versucht, ist die philosophische Erkenntnistheorie wesentlich die methodische Darstellung des Ursprungs und Werdens aller Erkenntnis aus und mit der Sprache und verlangt deshalb ein konzentrierteres Verständnis für die sprachlichen Ausdrucksformen jedes Verständnisstrebens.


Zusammenfassung und theoretische
Tragweite des Ergebnisses


Der gesamte Inhalt der Philosophie, soweit er nicht den empirischen Spezialwissenschaften entlehnt wird, kann auf das Dasein und Werden der sprachlichen Tauschware zurückgeführt, die Philosophie selbst als die bezügliche Kunsttheorie charakterisiert werden, d.h. als Theorie von der Kunst, mit den wechselnden Kursen sprachlicher Tauschmünze im Gebiet des reinen Denkens Handel zu treiben.

Das Philosophieren ist also Redekunst, nicht im Sinne der antiken Sophisten, in der Absicht, individuelle Zwecke, hervorgehend aus dem Bestreben, die logische Unlust zu bannen, Klarheit und Ordnung zu schaffen und deshalb für die Unterscheidung und Zusammenfassung möglichst vieler Einzelbeobachtungen faßliche Gesichtspunkte zu finden oder, in Ermangelung derselben, mittels geeigneter Wortkombinationen und Sprachbildungen neue Kategorien und Begriffe zu schaffen.

Ist das Philosophieren in diesem Sinne "Redekunst", so ist es das höchste theoretische Produkt des Willens, welches aber deshalb unvollständig und wandelbar bleibt, weil es in den bildlichen Formen der Sprache sich bewegt. Wie der sprachschaffende Wille niemals ohne einen Zusatz individuellen Strebens wirksam ist, so die vom Willen geschaffene Bildform der Sprache nie ohne den willkürlichen Beisatz, welcher darauf beruht, daß die beiden Seiten jeder Gleichung und Vergleichung neben dem Gemeinsamen auch ein Verschiedenes enthalten.

In der Verschiedenheit zwischen Bild und Sache, zwischen Symbol und Wirklichkeit, liegt eben wie der Vorzug so der Nachteil sprachlicher Ausdrucksweise gegenüber der stumm kopierenden Empirik. Selbst die identische Gleichung A = A, sobald sie als ausgesprochenes Urteil hingestellt wird, enthält in dieser gleichsetzenden Aktivität ein Moment des handelnden Willens, nämlich die Forderung der Aufmerksamkeit: "Fixiere deinen Gegenstand in zwei getrennten Zeitmomenten hintereinander!"

Die Sprache kann eben nicht in derselben Weise wie die für das sehende Auge bemalte Fläche das Nebeneinander zweier getrennter Momente darstellen. Darum mag man jenes logische Prinzip, den Satz des Widerspruchs, formulieren, wie man wolle: angreifbar wird dasselbe immer insoweit bleiben, wie es überhaupt formuliert in Lauten gesprochen ward; immer wird dem Satz: "Widerspruch gibt es nicht" (LEIBNIZ, DÜHRING, von KIRCHMANN) entgegengesetzt werden können: "Nur im Widerspruche weilt die Wahrheit" (HEGEL). A ist nämlich nicht = A, sofern man nicht nur (nach HERAKLIT) nicht zweimal, sondern nicht einmal  einmal  durch denselben Fluß gehen kann.

Und wie die streng logische, so unterliegt auch jede naturwissenschaftliche Voraussetzung derjenigen Symbolik, welche aus dem Nacheinander sprachlicher Ausdrucksweise resultiert. So sehr wir ein ewiges festes "Vernunftgesetz" voraussetzen, so sehr wir insbesondere innerhalb der empirischen Entwicklung der Sprache dem Walten eines derartigen, unumstößlichen Gesetzes nachspüren, so gewiss ist es für uns nur insofern Gesetz, als es zugleich durch die, mittels der Sprache erkennende Tathandlung des Menschengeistes stets von Neuem gesetzt wird.

Auch nach KANT ist der Grund unseres Glaubens an das Naturgesetz unser Wille, die Welt nicht als ein unzusammenhängendes Chaos anzusehen. Aus dieser Bedingtheit alles philosophischen Urteilens durch die Sprache und der Sprache durch den Willen darf man inzwischen keineswegs schließen, daß die sprachliche Ausdrucksweise schlechtweg einen "unwissenschaftlichen" inadäquaten Charakter tragen müsse und gegenüber der empirisch nachbildenden Kopie nur im Nachteil sei. Vielmehr ist es ja eben wiederum von unserer Sprachterminologie abhängig, ob wir den Namen "Wissenschaftlichkeit" für die Methode der (affenartigen) Nachahmung, oder ob wir sie lieber auf die idealen Erzeugnisse des kulturschaffenden Willens anwenden wollen.

Gerade die Sprache dürfen wir das eigentlich  wissenschaffende  Organ nennen. Und selbst der Willkürcharakter, welcher diesem Organ anhaftet, trägt den Stempel der Wahrheit, sofern der der Natur des menschlichen Geistes gemäß ist. Der Begriff der Wahrheit ist an sich ebenso vieldeutig und fließend wie alle andern in das Wort gefaßten Begriffe. Die objektive Nachzeichnung der phänomenalen Scheinwirklichkeit ist ja nur eine elementare Voraussetzung für die Erkenntnis der "Wahrheit", deren wesentliche Prinzipien, Normen und Regulative vielmehr in der inneren Organisation unseres geistigen Vermögens gegründet sind.

Mit dieser demütigenden Einsicht dürfen wir dem Stolz des modernen Empirismus entgegentreten, und wir müssen schon deshalb den Versuchen "rein empirischer" Objektivität mißtrauen, weil zahlreiche Beispiele, wie AUGUSTE COMTE, HERBERT SPENCER, LUDWIG FEUERBACH, EUGEN DÜHRING, ERNST HÄCKEL, beweisen, daß gerade der angebliche ("reine") Empirismus dem Eindringen einer unbegründeten ("unreinen") Willkürspekulation Tür und Tor öffnet. Es fragt sich, ob nicht die Methode FICHTEs und HEGELs für die Wissen-schaffende Philosophie ertragreicher und der idealen Natur des kulturschaffenden Menschheitswillens entsprechender, also wahrer, sei als die Methode des Positivismus, welcher teilweise zur Auslöschung philosophischen Strebens und wissenschaffenden Forschens sollizitiert [auffordert -wp].

Auch jene Begründer des Idealismus sind zwar von wissenschaftlicher Verschuldung nicht ganz frei zu sprechen. Die (unbewußte) Übung der Phrase bleibt immerhin ein unentschuldbarer Makel, ein untilgbarer Vorwurf. Aber durch die bewußte Handhabung der Bildersprache in der Philosophie, durch die absichtliche, unverhohlene Ausnutzung aller sprachlichen Hilfsmittel im Dienste des Verständigungsstrebens durch die stets wiederholten Hinweise auf die Mehrdeutigkeit und Elastizität der Sprache und auf die Unausrottbarkeit des Willensstrebens, welches schon innerhalb der empirischen Analysis mittels der Sprache hindrängt zur systembauenden Synthesis: durch dieses bewußte Mitwirken einerseits des sprachschaffenden Willens und andererseits des Wissens um die Natur der Sprache, kurz: durch die philosophische Methode, sich auf Schritt und Tritt der Wechselwirkung zwischen dem selbsttätig schaffenden Willen und der Gebundenheit des Intellekts an die schon geschaffenen Sprachformen bewußt zu sein - würden auch die synthetischen Funktionen des Philosophierens dem Fluche der Phrase vollständig entzogen werden.

Und andrerseits - erst durch dieses Experimentieren in sprachschöpferischer, rednerischer Synthesis, wie sie sogar der nüchternste Empiriker - obzwar unbewußt und ohne es eingestehen zu wollen - tatsächlich ausübt, kann auch für die abbildende, referierende Empirie derjenige Grad vollständiger Übereinstimmung zwischen Objekt und Darstellung angebahnt werden, welcher das Ziel der empirischen Analyse sein muß.

Gerade dem unbewußt von der Phantasie beherrschten unzivilisierten Denken ist eine genaue Wiedergabe gegebener Vorgänge oder Zustände unmöglich. Es ist die sprachliche experimentierende Forschung, welche auf Grund schärferer Beobachtung mittels immer neuer hypothetischer Unterscheidungsversuche die fortgesetzten Differentiale herzustellen weiß zwischen dem gegeben Wirklichkeitsphänomen und der bis dato erreichten künstlichen Reproduktion.

Erst durch dieses, sprachlich vermittelte Differentialsystem kann das Verständnis für Einheit und Unterschied bis zu dem Grade ausgebildet werden, daß neben der krasseren Wirklichkeitsausbildung auch die (ebenfalls empirische) Nachzeichnung der feineren Nuancen des (inneren und äußeren) Weltbildes möglich wird: es müßte denn sein, daß man in nihilistischer, kulturmörderischer Anwandlung auf die Reproduktion jener feineren Züge überhaupt verzichten wollte.

Hauptsächlich aber bleibt es die Erkenntnistheorie, deren Probleme und Methode aus dem läuternden Schmelztiegel der sprachpsychologischen Begründung vertieft und vereinfacht hervorgehen würden, um dann für alle Wissenschaften fruchtbar gemacht zu werden. Soweit - abgesehen von der empirischen Bereicherung des Wissens - irgen ein theoretisches Lösungsbedürfnis in klar verständlicher Form geltend gemacht werden kann, müssen "alle Rätsel des tiefer sinnenden Geistes (HEGEL) durch die Erkenntnistheorie gelöst werden können.

Um solches Bedürfnis aus seinen korrekten Ausdruck zu bringen, dazu bedarf auch die Erkenntnistheorie
  • der Sprachwissenschaft, von der Lautphysiologie und der Lehre vom Ursprung der Sprache bis zur Lehre von der Begriffsbildung auf Grund der Sprachvergleichung. Aber mächtiger als das gewordene Wort, wie es die Sprachwissenschaft zum Gegenstande hat, ist
  • der Wille selbst, der die Sprache produziert und auch seinerseits aus dem gewordenen Worte seine Hauptanregung schöpft zu neuer, schaffender Sprachbildung.
Das gewordene Wort, sobald es aus dem sprachbildenden Mutterschoss des Willens entlassen ist, wirkt als lebendiger Körper des Gedankens auf den Willen zurück. Es nötigt, nicht nur direkt unter Vermittlung des Gehöreindrucks, zu neuen Kombinationen und zur Komposition neuer Anschauungsbilder, als Ergänzungen des noch unvollständigen Empfindungsausdrucks, sondern auch indirekt, indem es aus den Mißverständnissen, die der dialektischen Abwandlung der Aussprache entstammen, oder aus dem Klange eines unkenntlich gewordenen Urwortes, dessen Ursprüngliches Etymon (Wurzelwort) dem Volksbewußtsein verloren gegangen ist, selbständige Motive zu neuen Empfindungen hervorbringt, die dann ihrerseits zur sprachlichen Ausprägung anregen.

Wie mannigfach dieses Werden und Wachsen der Wörter namentlich im Gebiet der Religion, der Sitte und des Rechts sich äußert, darüber gibt eine zahlreiche sprachwissenschaftliche Literatur schon jetzt hinreichende Aufklärung. Nur die Konsequenzen für seine Praxis zu ziehen, ist Sache des Theologen, des Juristen, des Pädagogen.
venceremos amigos
LITERATUR - Georg Runze, Philosophische Vorträge der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin, Neue Folge, 2. Heft, Berlin 1886