ra-2cr-4 Fundament der MoralB. Bauch - EthikDing an sich und Erscheinung    
 
ARTHUR SCHOPENHAUER
(1788-1860)
Zur Ethik
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"Jedoch, es überhebe sich keiner. Wie jeder, auch das größte Genie, in irgendeiner Sphäre der Erkenntnis entschieden borniert ist und dadurch seine Stammverwandtschaft mit dem wesentlich verkehrten und absurden Menschengeschlecht beurkundet; so trägt auch jeder moralisch etwas durchaus Schlechtes in sich und selbst der beste, ja edelste Charakter wird uns bisweilen durch einzelne Züge von Schlechtigkeit überraschen; gleichsam um seine Verwandtschaft mit dem Menschengeschlecht, unter welchem jeder Grad von Nichtswürdigkeit, ja Grausamkeit, vorkommt, anzuerkennen. Denn gerade kraft dieses Schlechten in ihm, dieses bösen Prinzips, hat er ein Mensch werden müssen."

§ 114. Die soeben abgehörte disputation in utramque partem [disput in dem für beide Seiten plädiert wird - wp] ist allerdings geeignet, uns zur Justemilieu-Moral [Moral der richtigen Mitte - wp] des ARISTOTELES hinzutreiben. Eben dieser ist auch noch die folgende Betrachtung günstig.

Jede menschliche Vollkommenheit ist einem Fehler verwandt, in welchen überzugehen sie droht; jedoch auch, umgekehrt, jeder Fehler, einer Vollkommenheit. Daher beruth der Irrtum, in welchen wir, hinsichtlich eines Menschen, geraten, oft darauf, daß wir, im Anfang der Bekanntschaft, seine Fehler mit den ihnen verwandten Vollkommenheiten verwechseln oder auch umgekehrt: da scheint uns dann der Vorsichtige feige, der Sparsame geizig; oder auch der Verschwender liberal, der Grobian gerade und aufrichtig, der Dummdreiste als mit edlem Selbstvertrauen auftretend und dgl. mehr.

§ 115. Immer von Neuem fühlt sich wer unter Menschen lebt zu der Annahme versucht, daß moralische Schlechtigkeit und intellektuelle Unfähigkeit eng zusammenhängen, indem sie direkt  einer  Wurzel entsprossen sind. Daß dem jedoch nicht so sei, habe ich im 2. Band meines Hauptwerkes, Kap. 19, Nr. 8, ausführlich dargetan. Jener Anschein, der bloß daraus entspringt, daß man beide gar so oft beisammen findet, ist gänzlich aus dem sehr häufigen Vorkommen beider zu erklären, in folgedessen ihnen leicht begegnet, unter  einem  Dach wohnen zu müssen. Dabei ist aber nicht zu leugnen, daß sie einander, zu gegenseitigem Vorteil, in die Hände spielen, wodurch denn die so unerfreuliche Erscheinung zustande kommt, welche nur zu viele Menschen darbieten und die Welt geht, wie sie geht. Namentlich ist der Unverstand dem deutlichen Sichtbarwerden der Falschheit, Niederträchtigkeit und Bosheit günstig; während die Klugheit diese besser zu verhüllen versteht. Und wie oft verhindert andrerseits die Perversität des Herzens den Menschen, Wahrheiten einzusehn, denen sein Verstand ganz wohl gewachsen wäre.

Jedoch, es überhebe sich keiner. Wie jeder, auch das größte Genie, in irgendeiner Sphäre der Erkenntnis entschieden borniert ist und dadurch seine Stammverwandtschaft mit dem wesentlich verkehrten und absurden Menschengeschlecht beurkundet; so trägt auch jeder moralisch etwas durchaus Schlechtes in sich und selbst der beste, ja edelste Charakter wird uns bisweilen durch einzelne Züge von Schlechtigkeit überraschen; gleichsam um seine Verwandtschaft mit dem Menschengeschlecht, unter welchem jeder Grad von Nichtswürdigkeit, ja Grausamkeit, vorkommt, anzuerkennen. Denn gerade kraft dieses Schlechten in ihm, dieses bösen Prinzips, hat er ein Mensch werden müssen. Und aus demselben Grund ist überhaupt die Welt das, als was mein treuer Spiegel derselben sie gezeigt hat.

Bei all dem jedoch bleibt, auch zwischen Menschen, der Unterschied unabsehbar groß und mancher würde erschrecken, wenn er den andern sähe, wie er ist. - O, um einen ASMODÄUS [jüdischer Dämon - wp] der Moralität, welcher seinem Günstling nicht bloß Dächer und Mauern, sondern den über alles ausgebreiteten Schleier der Verstellung, Falschheit, Heuchelei, Grimasse, Lüge und Trug durchsichtig machte und ihn sehn ließe, wie wenig wahre Redlichkeit in der Welt zu finden ist und wie so oft, auch wo man es am wenigsten vermutet, hinter allen den tugendsamen Außenwerken, heimlich und im innersten Rezeß [Vergleich - wp], die Unrechtlichkeit am Ruder sitzt. - Daher eben kommen die vierbeinigen Freundschaften so vieler Menschen besserer Art: denn freilich, woran sollte man sich von der endlosen Verstellung, Falschheit und Heimtücke der Menschen erholen, wenn die Hunde nicht wären, in deren ehrliches Gesicht man ohne Mißtrauen schauen kann? - Ist doch unsere zivilisierte Welt nur eine große Maskerade. Man trifft daselbst Ritter, Pfaffen, Soldaten, Doktoren, Advokaten, Priester, Philosophen und was nicht alles an! Aber sie sind nicht was sie vorstellen: sie sind bloße Masken, unter welchen, in der Regel, Geldspekulanten (moneymakers) stecken. Doch nimmt auch wohl einer die Maske des Rechts, die er sich dazu beim Advokaten geborgt hat, vor, bloß um auf einen anderen tüchtig losschlagen zu können: wieder einer hat, zum selben Zweck, die des öffentlichen Wohls und des Patriotismus gewählt; ein Dritter die der Religion, der Glaubensreinigkeit. Zu allerlei Zwecken hat schon mancher die Maske der Philosophie, wohl auch der Philanthropie und dgl. mehr vorgesteckt. Die Weiber haben weniger Auswahl: meistens bedienen sie sich der Maske der Sittsamkeit, Schamhaftigkeit, Häuslichkeit und Bescheidenheit. Sodann gibt es auch allgemeine Masken, ohne besonderen Charakter, gleichsam die Dominos, die man daher überall antrifft: dahin gehören die strenge Rechtlichkeit, die Höflichkeit, die aufrichtige Teilnahme und grinsende Freundlichkeit. Meistens stecken, wie gesagt, lauter Industrielle, Handelsleute und Spekulanten unter diesen sämtlichen Masken. In dieser Hinsicht machen den einzigen ehrlichen Stand die Kaufleute aus; da sie allein sich für das geben, was sie sind: sie gehn also unmaskiert herum; stehn daher auch niedrig im Rang. - Es ist sehr wichtig, schon früh, in der Jugend darüber belehrt zu werden, daß man sich auf der Maskerade befinde. Denn sonst wird man manche Dinge gar nicht begreifen und aufkriegen können, sondern davor stehn ganz verdutzt. Derart sind die Gunst, welch die Niederträchtigkeit findet, die Vernachlässigung, welche das Verdient, selbst das seltenste und größe, von den Leuten seines Faches erleidet, das Verhaßtsein der Wahrheit und der großen Fähigkeiten, die Unwissenheit der Gelehrten in ihrem Fach und daß fast immer die echte Ware verschmäht, die bloß scheinbare gesucht wird. Also werde schon der Jüngling belehrt, daß auf dieser Maskerade die Äpfel von Wachs, die Blumen von Seide, die Fische von Pappe sind und alles, alles Tand und Spaß; und daß von jenen zweien, die er dort so ernstlich miteinander handeln sieht, der eine lauter falsche Ware gibt und der andere sie mit Rechenpfennigen bezahlt.

Aber ernstere Betrachtungen sind anzustellen und schlimmere Dinge zu berichten. Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetzliches Tier. Wir kennen es bloß im Zustand der Bändigung und Zähmung, welcher Zivilisation heißt: daher erschrecken uns die gelegentlichen Ausbrüche seiner Natur. Aber wo und wann einmal Schloß und Kette der gesetzlichen Ordnung abfallen und Anarchie eintritt, da zeigt sich was er ist. - Wer inzwischen auch ohne solche Gelegenheit sich darüber aufklären möchte, der kann die Überzeugung, daß der Mensch an Grausamkeit und Unerbittlichkeit keinem Tiger und keiner Hyäne nachsteht, aus hundert alten und neuen Berichten schöpfen. Ein vollwichtiges Beispiel aus der Gegenwart liefert ihm die Antwort, welche die britische Antisklaverei-Gesellschaft, auf ihre Frage nach der Behandlung der Sklaven in den sklavenhaltenden Staaten der Nordamerikanischen Union, von der Nordamerikanischen Antisklaverei-Gesellschaft erhalten hat. Dieses Buch macht eine der schwersten Anklageakten gegen die Menschheit aus. Keiner wird es ohne Entsetzen, wenige ohne Tränen aus der Hand legen. Denn was der Leser desselben jemals vom unglücklichen Zustand der Sklaven, ja, von menschlicher Härte und Grausamkeit überhaupt, gehört oder sich gedacht oder geträumt haben mag, wird ihm geringfügig erscheinen, wenn er liest, wie jene Teufel in Menschengestalt, jene bigotten, kirchengehenden, streng den Sabbath beobachtenden Schurken, namentlich auch die anglikanischen Pfaffen unter ihnen, ihre unschuldigen schwarzen Brüder behandeln, welche durch Unrecht und Gewalt in ihre Teufelsklauen geraten sind. Dieses Buch, welches aus trockenen, aber authentischen und dokumentierten Berichten besteht, empört alles Menschengefühl in dem Grade, daß man, mit demselben in der Hand, einen Kreuzzug predigen könnte, zur Unterjochung und Züchtigung der sklavenhaltenden Staaten Nordamerikas. Denn sie sind ein Schandfleck der ganzen Menschheit. Ein anderes Beispiel aus der Gegenwart, da die Vergangenheit manchen nicht mehr gültig scheint, enthalten "Tschudis Reisen in Peru", 1846, an der Beschreibung der Behandlung der peruanischen Soldaten durch ihre Offiziere. (1) - Aber wir brauchen die Beispiele nicht in der neuen Welt, dieser Kehrseite des Planeten, zu suchen. Ist es doch im Jahre 1848 zutage gekommen, daß in England, nicht  ein,  sondern, in kurzem Zeitraum, wohl hundertmal, ein Ehegatte den anderen oder beide in Gemeinschaft ihre Kinder, eines nach dem andern, vergiftet oder auch sie durch Hunger und schlechte Pflege langsam zu Tode gemartert haben, bloß um von den Begräbnisvereinen (burial-clubs) die auf den Todesfall ihnen zugesicherten Begräbniskosten zu empfangen; zu welchem Zweck sie ein Kind in mehrere, sogar bis in 20 solcher Vereine zugleich eingekauft haben. Man sehe hierüber die Times von 20., 22. und 23. September 1848, welche Zeitung, bloß deswegen, auf Aufhebung der Begräbnisvereine dringt. Dieselbe Anklage wiederholt sie auf das Heftigste am 12. Dezember 1853.

Freilich gehören Berichte dieser Art zu den schwärzesten Blättern in den Kriminalakten des Menschengeschlechts. Aber die Quelle dessen und diesem Ähnlichen ist doch das innere und angeborene Wesen des Menschen, dieses Gottes  kat exochen  [schlechthin - wp] der Pantheisten. Da nistet in jedem zunächst ein kolossaler Egoismus, der die Schranke des Rechts mit größter Leichtigkeit überspringt; wie dies das tägliche Leben im Kleinen und die Geschichte, auf jeder Seite, im Großen lehrt. Liegt denn nicht schon in der anerkannten Notwendigkeit des so ängstlich bewachten europäischen Gleichgewichts das Bekenntnis, daß der Mensch ein Raubtier ist, welches, sobald es einen Schwächeren neben sich erspäht hat, unfehlbar über ihn herfällt? und erhalten wir nicht täglich die Bestätigung desselben im Kleinen? - Zum grenzenlosen Egoismus unserer Natur gesellt sich aber noch ein mehr oder weniger in jeder Menschenbrust vorhandener Vorrat von Haß, Zorn, Neid, Geifer und Bosheit, angesammelt, wie das Gift in der Blase des Schlangenzahns und nur auf Gelegenheit wartend, sich Luft zu machen, um dann wie ein entfesselter Dämon zu toben und zu wüten. Will kein großer Anlaß dazu sich einfinden, so wird er am Ende den kleinsten benutzen, indem er ihn durch seine Phantasie vergrößert und wird es dann so weit treiben, wie er irgend kann und darf. Das sehn wir im täglichen Leben, woselbst solche Eruptionen unter dem Namen "seine Galle über etwas ausschütten" bekannt sind. Auch will man wirklich bemerkt haben, daß, wenn sie nur auf keinen Widerstand gestoßen sind, das Subjekt sich entschieden wohler danach befindet. Daß der Zorn nicht ohne Genuß sei, sagt schon ARISTOTELES, wozu er noch eine Stelle aus dem HOMER anführt, der den Zorn für süßer als Honig erklärt. Aber nicht nur dem Zorn, sondern auch dem Haß, der sich zu ihm wie die chronische zur akuten Krankheit verhält, gibt man sich so recht hin:
    Der Haß gewährt gewiß den süßern Trank:
    wir lieben flüchtig, aber hassen lang.
GOBINEAU hat den Menschen das klassische Tier genannt, welches die Leute übel nehmen, weil sie sich getroffen fühlen: er hat aber Recht: denn der Mensch ist das einzige Tier, welches anderen Schmerz verursacht, ohne weiteren Zweck, als eben diesen. Die anderen Tiere tun es nie anders, als um ihren Hunger zu befriedigen oder im Zorn des Kampfes. Wenn dem Tiger nachgesagt wird, er töte mehr, als er auffresse: so würgt er alles doch nur in der Absicht, es zu fressen und es liegt bloß daran, daß, die Augen größer sind, als der Magen. Kein Tier quält jemals, bloß um zu quälen; das tut nur der Mesch und das macht den  teuflischen  Charakter aus, der weit ärger ist, als der bloß tierische. Von der Sache im Großen ist schon geredet: aber auch im Kleinen wird sie deutlich; wo denn jeder sie zu beobachten täglich Gelegenheit hat. Zum Beispiel wenn zwei junge Hunde miteinander spielen, so friedlich und lieblich anzusehen, - und ein Kind von 3 - 4 Jahren kommt dazu; so wird es sogleich mit seiner Peitsche oder Stock, heftig drein schlagen, fast unausbleiblich und dadurch zeigen, daß es schon jetzt ein klassisches Tier ist. Sogar die so häufig zwecklose Neckerei und der Schabernack entspringt aus dieser Quelle. Zum Beispiel hat man etwa über irgendeine Störung oder sonstige kleine Unannehmlichkeit sein Mißbehagen geäußert; so wird es nicht an Leuten fehlen, die sie gerade deshalb zuwege bringen. Das ist so gewiß, daß man sich hüten soll, sein Mißfallen an kleinen Übelständen zu äußern; sogar auch umgekehrt sein Wohlgefallen an irgendeiner Kleinigkeit. Denn im letzteren Fall werden sie es machen wie jener Gefängniswärter, der, als er entdeckte, daß sein Gefangener das mühsame Kunststück vollbracht hatte, eine Spinne zahm zu machen und an ihr seine Freude hatte, sie sogleich zertrat. Darum fürchten alle Tiere instinktmäßig den Anblick, ja, die Spur des Menschen, - des klassischen Tieres. Der Instinkt trügt hier nicht: denn allein der Mensch macht Jagd auf das Wild, welches ihm weder nützt, noch schadet.

Wirklich also liegt im Herzen eines jeden ein wildes Tier, das nur auf Gelegenheit wartet, um zu toben und zu rasen, indem es andern weh tut und, wenn sie gar ihm den Weg versperren, sie vernichten möchte: es ist eben das, woraus alle Kampf- und Kriegslust entspringt; und eben das, welches zu bändigen und einigermaßen in Schranken zu halten die Erkenntnis, sein beigegebener Wächter, stets vollauf zu tun hat. Immerhin mag man es das radikale Böse nennen, als womit wenigstens denen, welchen ein Wort die Stelle einer Erklärung vertritt, gedient sein wird. Ich aber sage: es is der Wille zum Leben, der, durch das stete Leiden des Daseins mehr und mehr erbittert, seine eigene Qual durch das Verursachen der fremden zu erleichtern sucht. Aber auf diesem Weg entwickelt er sich allmählich zur eigentlichen Bosheit und Grausamkeit. Auch kan man hierzu die Bemerkung machen, daß wie, nach KANT die Materie nur durch den Antagonismus der Expansions- und Kontraktionskraft besteht; so die menschliche Gesellschaft nur durch den des Hasses oder Zorns und der Furcht. Denn die Gehässigkeit unserer Natur würde vielleicht jeden einmal zum Mörder machen, wenn ihr nicht eine gehörige Dosis Furcht beigegeben wäre, um sie in Schranken zu halten; und wiederum diese allein würde ihn zum Spott und Spiel jedes Buben machen, wenn nicht in ihm der Zorn bereit läge und Wache hielte.

Der schlechteste Zug in der menschlichen Natur bleibt aber die Schadenfreude, da sie der Grausamkeit eng verwandt ist, ja eigentlich von dieser sich nur wie Theorie von Praxis unterscheidet, überhaupt aber da eintritt, wo das Mitleid seine Stelle finden sollte, welches, als ihr Gegenteil, die wahre Quelle aller echten Gerechtigkeit und Menschenliebe ist. In einem anderen Sinne dem Mitleid entgegengesetzt ist der  Neid;  sofern er nämlich durch den entgegengesetzten Anlaß hervorgerufen wird: sein Gegensatz zum Mitleid beruth also zunächst auf dem Anlaß und erst in Folge hiervon zeigt er sich auch in der Empfindung selbst. Daher eben ist der Neid, wenngleich verwerflich, doch noch einer Entschuldigung fähig und überhaupt menschlich; während die Schadenfreude teuflisch und ihr Hohn das Gelächter der Hölle ist. Sie tritt, wie gesagt, gerade da ein, wo Mitleid eintreten sollte; der Neid hingegen doch nur da, wo kein Anlaß zu diesem, vielmehr zum Gegenteil desselben vorhanden ist; und eben als dieses Gegenteil entsteht er in der menschlichen Brust, mithin so weit noch als eine menschliche Gesinnung: ja, ich befürchte, daß keiner ganz frei davon befunden werden wird. Denn daß der Mensch beim Anblick fremden Genusses und Besitzes, den eigenen Mangel bitterer fühle, ist natürlich, ja unvermeidlich: nur sollte das nicht seinen Haß gegen den Beglückteren erregen: gerade hierin aber besteht der eigentliche Neid. Am wenigsten aber sollte dieser eintreten, wo nicht die Gaben des Glücks oder Zufalls oder fremder Gunst, sondern die der Natur der Anlaß sind; weil alles Angeborene auf einem metaphysischen Grund beruth, also eine Berechtigung höherer Art hat und sozusagen, von Gottes Gnaden ist. Aber leider hält der Neid es gerade umgekehrt: er ist bei persönlichen Vorzügen am unversöhnlichsten; daher eben Verstand und gar kein Genie, sich auf der Welt erst Verzeihung erbetteln müssen, wo immer sie nicht in der Lage sind, die Welt stolz und kühn verachten zu dürfen. Wenn nämlich der Neid bloß durch Reichtum, Rang oder Macht erregt worden ist, wird er noch oft durch den Egoismus gedämpft; indem dieser absieht, daß vom Beneideten, vorkommenden Falls, Hilfe, Genuß, Beistand, Schutz, Beförderung usw. zu hoffen steht oder daß man wenigstens im Umgang mit ihm, vom Abglanz seiner Vornehmheit beleuchtet, selbst Ehre genießen kann: auch bleibt hier die Hoffnung übrig, alle jene Güter einst noch selbst zu erlangen. Hingegen für den auf Naturgaben und persönliche Vorzüge, dergleichen bei Weibern die Schönheit, bei Männern der Geist ist, gerichteten Neid gibt es keinen Trost der einen und keine Hoffnung der andern Art; so daß ihm nichts übrig bleibt, als die so Bevorzugten bitter und unversöhnlich zu hassen. Daher ist sein einziger Wunsch, Rache an seinem Gegenstand zu nehmen. Hierbei nun aber befindet er sich in der unglücklichen Lage, daß alle seine Schläge machtlos fallen, sobald an den Tag kommt, daß sie von ihm ausgegangen sind. Daher also versteckt er sich so sorgsam, wie die geheimen Wollustsünden und wird nun ein unerschöpflicher Erfinder von Listen, Schlichen und Kniffen, sich zu verhüllen und zu maskieren, um ungesehn seinen Gegenstand zu verwunden. Da wird er z. B. die Vorzüge, welche sein Herz verzehren, mit unbefangenster Miene ignorieren, sie gar nicht sehn, nicht kennen, nie bemerkt, noch davon gehört haben und wir so im dissimulieren [ - wp] einen Meister abgeben. Er wird, mit großer Feinheit, den, dessen glänzende Eigenschaften an seinem Herzen nagen, scheinbar als unbedeutend gänzlich übersehn, gar nicht gewahr werden und gelegentlich ganz vergessen haben. Dabei aber wird er, vor allen Dingen, bemüht sein, durch heimliche Machinationen, jenen Vorzügen alle Gelegenheit, sich zu zeigen und bekannt zu werden, sorgfältig entziehn. Sodann wird er über sie, aus dem Finstern, Tadel, Hohn, Spott und Verleumdung aussenden, der Kröte gleich, die auf einem Loch ihr Gift hervorspritzt. Nicht weniger wird er unbedeutende Menschen oder auch das Mittelmäßige, ja Schlechte, in derselben Gattung von Leistungen, enthusiastisch loben. Kurz, er wird ein PROTEUS [Tarnkünstler der griech. Mythologie - wp] an Stratagemen [trickreiche Manöver - wp], um zu verletzen, ohne sich zu zeigen. Aber, was hilft es? das geübte Auge erkennt ihn doch. Ihn verrät schon die Scheu und Flucht vor seinem Gegenstand, der daher, je glänzender er ist, desto mehr allein steht, weshalb schöne Mädchen keine Freundinnen haben: ihn verrät sein Haß ohne allen Anlaß, der bei der geringsten, ja oft nur eingebildeten Gelegenheit, zur heftigsten Explosion kommt. Wie ausgebreitet übrigens seine Familie sei, erkennt man am allgemeinen Lob der Bescheidenheit, dieser zu Gunsten der platten Gewöhnlichkeit erfundenen, schlauen Tugend, welche dennoch, eben durch die in ihr an den Tag gelegten Notwendigkeit der Schonung der Armseligkeit, diese gerade ans Licht zieht. - Für unser Selbstgefühl freilich und unseren Stolz kann es nichts Schmeichelhafteres geben, als den Anblick des in seinem Versteck lauernden und seine Machinationen betreibenden Neides; jedoch vergesse man nie, daß, wo Neid ist, Haß ihn begleitet und hüte sich, aus dem Neider einen falschen Freund werden zu lassen. Deshalb eben ist die Entdeckung desselben für unsere Sicherheit von Wichtigkeit. Daher soll man ihn studieren, um ihm auf die Schliche zu kommen; da er, überall zu finden, allezeit inkognito einhergeht, oder auch, der giftigen Kröte gleich, in finsteren Löchern lauert. Hingegen verdient er weder Schonung, noch Mitleid, sondern die Verhaltensregel sei:
    Den Neid wirst nimmer du versöhnen:
    So magst du ihn getrost verhöhnen.
    Dein Glück, dein Ruhm ist ihm ein Leiden:
    Magst drum an seiner Qual dich weiden.
Wenn man nun, wie hier geschehn, die menschliche  Schlechtigkeit  ins Auge gefaßt hat und sich darüber entsetzen möchte; so muß man alsbald den Blick auf den  Jammer  des menschlichen Daseins werfen; und wieder ebenso, wenn man vor diesem erschrocken ist, auf jene: da wird man finden, daß sie einander das Gleichgewicht halten und wird der ewigen Gerechtigkeit inne werden, indem man merkt, daß die Welt selbst das Weltgericht ist und zu begreifen anfängt, warum alles, was lebt, sein Dasein abbüßen muß, erst im Leben und dann im Sterben. So nämlich tritt das malum poenae [das Böse als Strafe - wp] mit dem malum culpae [das verschuldete Übel - wp] in Übereinstimmung. Vom selben Standpunkt aus verliert sich auch die Indignation [Entrüstung - wp] über die intellektuelle  Unfähigkeit  der Allermeisten, die uns im Leben so häufig anwidert. Also miseria humana, nequita humana und stultitia humana [Unglück, Unfähigkeit und Torheit - wp] entsprechen einander vollkommen, in diesem  Samsara  [unheilvoller Kreislauf - wp] der Buddhisten und sind von gleicher Größe. Fassen wir aber einmal, auf besonderen Anlaß, eines von ihnen ins Auge und mustern es speziell; so scheint es alsbald die zwei andern an Größe zu übertreffen: dies ist jedoch Täuschung und bloß Folge ihres kolossalen Umfangs.

Jegliches kündigt dieses  Samsara  an; mehr als alles jedoch die Menschenwelt, als in welcher, moralisch, Schlechtigkeit und Niederträchtigkeit, intellektuell, Unfähigkeit und Dummheit in erschreckendem Maße vorherrschen. Dennoch treten in ihr, wiewohl sehr sporadisch, aber doch stets von neuem uns überraschend, Erscheinungen der Redlichkeit, der Güte, ja des Edelmuts und ebenso auch des großen Verstandes, des denkenden Geistes, ja, des Genies auf. Nie gehn diese ganz aus: sie schimmern uns, wie einzelne glänzende Punkte, aus der großen dunklen Masse entgegen. Wir müssen sie als ein Unterpfand nehmen, daß ein gutes und erlösendes Prinzip in diesem  Samsara  steckt, welches zum Durchbruch kommen und das Ganze erfüllen und befreien kann.

§ 116. Die Leser meiner Ethik wissen, daß bei mir das Fundament der Moral zuletzt auf jener Wahrheit beruth, welche in der Veda und der Vedanta ihren Ausdruck hat an der stehend gewordenen mystischen Formel  tat twam asi  (Das bist du), welche mit Hindeutung auf jedes Lebende, sei es Mensch oder Tier, ausgesprochen wird und dann die  Mahavakya  [Leitsatz - wp], das große Wort, heißt.

In der Tat kann man die ihr gemäß geschehenden Handlungen, z. B. die der Wohltätigkeit, als den Anfang der Mystik betrachten. Jede, in reiner Absicht erzeigte Wohltat gibt kind, das der, welcher sie ausübt, im geraden Widerspruch mit der Erscheinungswelt, in welcher das fremde Individuum von ihm selbst gänzlich gesondert dasteht, sich als identisch mit demselben erkennt. Demnach ist jede ganz uninteressierte Wohltat eine mysteriöse Handlung, ein Mysterium: daher eben hat man, um Rechenschaft davon zu geben, zu allerlei Fiktionen seine Zuflucht nehmen müssen. Nachdem KANT dem Theismus alle anderen Stützen weggezogen hatte, ließ er ihm bloß die, daß er die beste Deutung und Auslegung jener und aller ihr ähnlichen mysteriösen Handlungen abgäbe. Er ließ ihn demnach als eine zwar theoretisch unerweisliche, aber zum praktischen Zweck gültige Annahme bestehn. Daß es ihm aber auch nur hiermit so ganz Ernst gewesen sei, möchte ich bezweifeln. Denn die Moral mittels des Theismus stützen, heißt sie auf Egoismus zurückführen; obgleich die Engländer, wie auch bei uns die untersten Klassen der Gesellschaft, gar nicht die Möglichkeit einer andern Begründung absehn.

Das oben in Anregung gebrachte Wiedererkennen seines eigenen wahren Wesens in einem fremden, sich objektiv darstellenden Individuo tritt besonders schön und deutlich hervor in den Fällen, wo ein bereits rettungslos dem Tod anheimfallender Mensch noch mit ängstlicher Besorgnis und tätigem Eifer auf das Wohl und die Rettung anderer bedacht ist. Dieser Art ist die bekannte Geschichte von einer Magd, welche, nachts auf dem Hof von einem tollen Hund gebissen, sich als rettungslos verloren gebend, nun den Hund packt und in den Stall schleppt, den sie verschließt, damit kein anderer mehr sein Opfer werde. Ebenfalls jener Vorfall in Neapel, den TISCHBEIN in einem seiner Aquarellbilder verewigt hat: vor der, dem Meer schnell zuströmenden Lava fliehend trägt der Sohn den alten Vater auf dem Rücken: aber als nur noch ein schmaler Landstrich beide zerstörende Elemente trennt, heißt der Vater den Sohn ihn niederlegen, um sich selbst durch laufen zu retten; weil sonst beide verloren sind. Der Sohn gehorcht und wirft im Scheiden noch einen Abschiedsblick auf den Vater. Dies stellt das Bild dar. Auch ist ganz dieser Art die historische Tatsache, welche WALTER SCOTT mit seiner Meisterhand darstellt im Heart of Mid-Liothian, Chap. 2, wo nämlich, von zwei zum Tode verurteilten Delinquenten, der, welcher durch sein Ungeschick die Gefangennehmung des andern veranlaßt hatte, diesen, in der Kirche, nach der Sterbepredigt, durch kräftige Überwältigung der Wache, glücklich befreit, ohne dabei irgendeinen Versuch für sich selbst zu unternehmen. Ja, hierher zu zählen, wenngleich es dem okzidentalen Leser anstößig sehn mag, ist auch die auf einem oft wiederholten Kupferstiche dargestellten Scene, wo der, um füsiliert zu werden, bereits knieende Soldat seinen Hund, der zu ihm will, eifrig mit dem Tuch zurückscheucht. - In allen Fällen dieser Art nämlich sehn wir ein seinem unmittelbaren persönlichen Untergang mi voller Gewißheit entgegengehendes Individuum an seine eigene Erhaltung nicht mehr denken, um seine ganze Sorgfalt und Anstrengung auf die eines andern zu richten. Wie könnte doch deutlicher das Bewußtsein sich aussprechen, daß dieser Untergang nur der einer Erscheinung und also selbst Erscheinung ist, hingegen das wahre Wesen des Untergehenden, davon unberührt, im andern fortbesteht, in welchem er es eben jetzt, wie seine Handlung verrät, so deutlich erkennt. Denn, wie könnte, wenn dem nicht so wäre, sondern wir ein in der wirklichen Vernichtung begriffenes Wesen vor uns hätten, dieses noch, durch äußerste Anstrengung seiner letzten Kräfte, einen so innigen Anteil am Wohl und Fortbestand eines andern beweisen? -

Es gibt in der Tat zwei entgegengesetzte Weisen, sich seines eigenen Daseins bewußt zu werden: einmal, in empirischer Anschauung, wie es von außen sich darstellt, als eines verschwindend kleinen, in einer, der Zeit und dem Raum nach, grenzenlosen Welt; als eines unter den tausend Millionen menschlicher Wesen, die auf diesem Erdball herumlaufen, gar kurze Zeit, alle 30 Jahre sich erneuernd; - dann aber, indem man in sein eigenes Inneres sich versenkt und sich bewußt wird, alles in allem und eigentlich das allein wirkliche Wesen zu sein, welches, zur Zugabe, sich in den andern, ihm von außen gegebenen, nochmals, wie im Spiegel, erblickt. Daß nun die erstere Erkenntnisweise bloß die durch das  principium individuationis  ausmachen, beruth. Denn das Ding an sich, der Wille zum Leben, ist in jedem Wesen, auch dem geringsten, ganz und ungeteilt vorhanden, so vollständig, wie in allen, die je waren, sind und sein werden, zusammen genommen. Hierauf eben beruth es, daß jedes Wesen selbst das geringste, zu sich sagt: dum ego salvus sim, pereat mundus. [Hauptsache ich bin in Sicherheit, wenn auch die Welt untergeht. - wp] Und in Wahrheit würde, wenn auch alle anderen Wesen untergingen, in diesem einen, übrig gebliebenen, doch noch das ganze Wesen an sich der Welt ungekränkt und unvermindert dastehn und jenes Untergangs als eines Gaukelspiels lachen. Das ist freilich ein Schluß per impossibile [Annahme eines Unmöglichen zu Demonstrationszwecken - wp], welchem man, als ebenso berechtigt, diesen gegenüberstellen kann, daß wenn irgendein Wesen, auch nur das geringste, gänzlich vernichtet wäre, in und mit ihm die ganze Welt untergegangen sein würde. In diesem Sinne eben sagt der Mystiker ANGELUS SILESIUS:
    "Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben: Werd' ich zunicht; er muß von Not den Geist aufgeben."
Um aber diese Wahrheit oder wenigstens die Möglichkeit, daß unser eigenes Selbst in anderen Wesen existieren könne, deren Bewußtsein ein vom unsrigen getrenntes und verschiedenes ist, auch vom empirischen Standpunkt aus einigermaßen absehn zu können, dürfen wir nur uns der magnetisierten Somnambulen erinnern, deren identisches Ich, nachdem sie erwacht sind, nicht von alldem weiß, was sie den Augenblick vorher selbst gesagt, getan und erlitten haben. Ein so ganz phänomenaler Punkt ist also das individuelle Bewußtsein, daß sogar im selben Ich deren zwei entstehen können, davon das eine nicht vom andern weiß.

Immer jedoch behalten Betrachtungen, wie die vorhergehenden, hier, in unserem judaisierten Okzident, etwas sehr Fremdartiges: aber nicht so im Vaterland des Menschengeschlechts, in jenem Land, wo ein ganz anderer Glaube herrscht, ein Glaube, welchem gemäß, auch noch heute, z. B. nach der Totenbestattung, die Priester, vor allem Volk und mit Begleitung der Instrumente, den Vedahymnus anstimmen, der so beginnt:
    "Der verkörperte Geist, welcher tausend Häupter, tausend Augen, tausend Füße hat, wurzelt in der Menschenbrust und durchdringt zugleich die ganze Erde. Dieses Wesen ist die Welt und alles, was je war und sein wird. Es ist das, was durch die Nahrung wächst und das, was Unsterblichkeit verleiht. Dieses ist seine Größe: und darum ist es der allerherrlichste verkörperte Geist. Die Bestandteile dieser Welt machen  einen  Teil seines Wesens aus und drei Teile sind Unsterblichkeit im Himmel. Diese drei Teile haben sich aus der Welt emporgehoben; aber der eine Teil ist zurückgeblieben und ist das, was (durch die Seelenwanderung) die Früchte guter und böser Taten genießt und nicht genießt." (nach COLEBROOKE, On the religious Ceremonies of the Hindus).
Wenn man nun dergleichen Gesänge mit unseren Gesangbüchern vergleicht, wird man sich nicht mehr wundern, daß die anglikanischen Missionarien am Ganges so erbärmlich schlechte Geschäfte machen und mit ihren Vorträgen über ihren "maker" (2) bei den Brahmanen keinen Eingagn finden. Wer aber das Vergnügen genießen will, zu sehn, wie den absurden und unverschämten Prätentionen jener Herren, schon vor 41 Jahren, ein englischer Offizier kühn und nachdrücklich entegengetreten ist, der lese die "Vindication of the Hindoos" from CLAUDIUS BUCHANAN, London 1808. Der Verfasser setzt darin, mit seltener Freimütigkeit, die Vorzüge der hinduistischen Glaubenslehren vo den europäischen auseinander. die kleine Schrift, welch Deutsch etwa 5 Bogen füllen würde, verdiente noch jetzt übersetzt zu werden; da sie besser und aufrichtiger, als irgendeine mir bekannte, den so wohltätigen praktischen Einfluß des Brahmanismus, sein Wirken im Leben und im Volke, darlegt, - ganz anders, als die aus geistlichen Federn geflossenen Berichte, die, eben als solche, wenig Glauben verdienen; hingegen übereinstimmend mit dem, was ich mündlich von englischen Offizieren, die ihr halbes Leben in Indien zugebracht hatten, vernommen habe. Denn, um zu wissen, wie neidisch und ergrimmt die stets um ihr Pfründe zitternde anglikanische Kirche auf den Brahmanismus ist, muß man z. B. das laute Gebelle kennen, welches, vor einigen Jahren, die Bischöfe im Parlament erhoben, Monate lang fortsetzten und, da die ostindischen Behörden, wie immer bei solchen Gelegenheiten, sich überaus zäh zeigten, stets wieder aufs Neue anstimmten, bloß über einige äußere Ehrenbezeugungen, welche, wie billig, in Indien, von Englischen Behörden, der uralten, ehrwürdigen Landesreligion gezeigt wurden, z. B. daß, wenn die Prozession mit den Götterbildern vorüberzieht, die Wache mit dem Offizier hübsch heraustritt und trommelt; ferner über die Lieferung roten Tuches, den Wagen von Jagernauth zu bedecken und dgl. mehr. Letztere ist wirklich jenen Herren zu Gefallen, nebst dem dabei erhobenen Pilgerzoll, eingestellt worden. Inzwischen läßt das unablässige Geifern jener sich selbst sehr-ehrwürdig nennenden Pfründen- und Allongen-Perückenträger über solche Dinge, nebst der noch ganz mittelalterlichen, heutzutage aber roh und pöbelhaft zu nennenden Weise, in der sie sich über die Urreligion unseres Geschlechts ausdrücken, desgleichen auch das schwere Ärgernis, welches sie daran nahmen, daß Lord ELLENBOROUGH 1845 die Pforte der, im Jahre 1022 von jenem fluchwürdigen MAHMUD dem Sahznewiden zerstörten Pagode von Sumenaut im Triumphzug nach Bengalen zurückbrachte und den Brahmanen übergab, - das alles, sage ich, läßt vermuten, daß ihnen nicht unbekannt ist, wie sehr die meisten der Europäer, welche lange in Indien leben, in ihrem Herzen dem Brahmanismus zugetan werden und über die religiösen, wie die sozialen Vorurteile Europas nur noch die Achsel zucken. "Das fällt alles ab, wie Schuppen, sobald man nur zwei Jahre in Indien gelebt hat," - sagte zu mir einmal ein solcher. Sogar ein Franzose, jener sehr gefällige und gebildete Herr, der vor etwa zehn Jahren die Dewadassi (vulgo Bayaderen) in Europa begleitete, rief, als ich mit ihm auf die Religion des Landes zu sprechen kam, sogleich mit feuriger Begeisterung aus: Monsieur, c'est la vraie religion! [Mein Herr, das ist die wahre Religion! - wp] - Höchst drollig hingegen ist, nebenbei gesagt, die gleassen lächelnde Süffisanz, mit welcher einige servile Deutsche Philosophaster, wie auch manche Buchstaben-Orientalisten, von der Höhe ihres rationalistischen Judentums auf Brahmanismus und Buddhismus herabsehn. Solchen Herrlein möchte ich wahrlich ein Engagement bei der Affenkomödie auf der Frankfurter Messe vorschlagen; wenn anders die Nachkommen des HANUMAN sie unter sich dulden wollen. -

Ich denke, daß, wenn der Kaiser von China oder der König von Siam und andere asiatische Monarchen europäischen Mächten die Erlaubnis, Missionare in ihre Länder zu senden, erteilen, sie ganz und gar befugt wären, es nur unter der Bedingung zu tun, daß sie ebensoviele buddhistische Priester, mit gleichen Rechten, in das betreffende europäische Land schicken dürfen; wozu sie natürlich solche wählen würden, die in der jedesmaligen europäischen Sprache vorher wohlunterrichtet sind. Da würden wir einen interessanten Wettstreit vor Augen haben und sehn, wer am meisten ausrichtet.

Sogar die so phantastische, ja, mitunter barocke indische Götterlehre, wie sie noch heute, so gut wie vor Jahrtausenden, die Religion des Volkes ausmacht, ist, wenn man den Sachen auf den Grund geht, doch nur die verbildlichte, d. h. mit Rücksicht auf die Fassungskraft des Volkes in Bilder eingekleidete und so personifizierte und mythisierte Lehre der Upanischaden, welche nun aus ihr jeder Hindu, nach Maßgabe seiner Kräfte und Bildung herausspürt oder fühlt oder ahnt oder sie durchschauend klar dahinter erblickt, - während der rohe und bornierte englische Reverend, in seiner Monomanie, sie verhöhnt und lästert, - als  Idolatrie  [Götzendienst - wp]: er alein, meint er, wäre vor die rechte Schmiede gekommen. Hingegen war die Absicht des Buddha SCHAKYA MUNI, den Kern aus der Schale abzulösen, die hohe Lehre selbst von allem Bilder- und Götterwesen zu befreien und ihren reinen Gehalt sogar dem Volk zugänglich und faßlich zu machen. Dies ist ihm wundervoll gelungen und daher ist seine Religion die vortrefflichste und durch die größte Anzahl von Gläubigen vertretene auf Erden.

Der christliche Fanatismus, welcher die ganze Welt zu seinem Glauben bekehren will, ist unverantwortlich. - Sir JAMES BROOKE (Rajah of Borneo), welcher einen Teil Borneos kolonisiert hat und einstweilen beherrscht, hat im September 1858 zu Liverpool vor einer Versammlung des Vereins für die Verbreitung des Evangeliums, also des Zentrums der Missionen, eine Rede gehalten, darin er sagt: "Bei den Mohammedanern habt ihr keine Fortschritte gemacht, bei den Hindus habt ihr ganz und gar keine Fortschritte gemacht; sondern seid gerade noch auf dem Punkt, wo ihr am ersten Tag wart, da ihr Indien betreten habt." (Times, 29. September 1858) - Hingegen haben die christlichen Glaubensboten sich in anderer Hinsicht sehr nützlich und preiswürdig erwiesen, indem einige von ihnen uns vortreffliche und gründliche Berichte über den Brahmanismus und Buddhismus und treue, sorgfältige Übersetzungen heiliger Bücher geliefert haben, wie solche ohne das  con amore  [liebevoll - wp] nicht möglich gewesen wären. Diesen Edeln widme ich folgende Reime.
    Als Lehrer geht ihr hin:
    Als Schüler kommt ihr wieder.
    Von dem umschlei'rten Sinn
    Fiel dort die Decke nieder.
Wir müssen daher hoffen, daß einst auch Europa von aller jüdischen Mythologie gereinigt sein wird. Das Jahrhundert ist vielleicht herangerückt, in welchem die aus Asien stammenden Völker Japhetischen Sprachstamms auch die  heiligen Religionen der Heimat  wieder erhalten werden: denn sie sind, nach langer Verirrung, für dieselben wieder reif geworden.
LITERATUR - Arthur Schopenhauer, Zur Ethik, Parerga und Paralipomena II, Sämtliche Werke, Bd. VI (Ausgabe Frauenstädt), Leipzig 1874
    Anmerkungen
    1) Ein Beispiel aus neuester Zeit findet man in MacLEOD, Travels in Eastern Africa (2 Volumes, London 1860), wo die unerhörte, kalt berechnende und wahrhaft teuflische Grausamkeit, mit der die Portugiesen in Mosambique ihre Sklaven behandeln, berichtet wird.
    2) Maker ist das deutsche "Macher" und auch, wie dieses, in compositis häufig, z. B. watchmaker, shoemaker, - Uhrmacher, Schuhmacher, u. a. m. Our Maker "unser Macher" (französisch wäre es "notre faiseur" wiederzugeben) ist nun in englischen Schriften, Predigten und dem gemeinen Leben ein sehr gewöhnlicher und beliebter Ausdruck für "Gott"; welches ich, als für die englische Religionsauffassung höchst charakteristisch, zu bemerken bitte. Wie jedoch dem, in der Lehre des heiligen Veda erzogenen Brahmanen und demi ihm nacheifernden Vaisia, ja, wie dem gesamten, vom Glauben an die Metempsychose [Seelenwanderung - wp] und die Vergeltung durch sie durchdrungenen und bei jedem Vorgang im Leben ihres eingedenken indischen Volkes zumute werden muß, wenn man ihm solche Begriffe aufdrängen will, wird der unterrichtete Leser leicht ermessen. Vom ewigen  Brahm,  welches in allem und jedem da ist, leidet, lebt und auf Erlösung hofft, überzugehn zu jenem  maker  aus nichts ist für die Leute eine schwere Zumutng. Ihnen wird nie beizubringen sein, daß die Welt und der Mensch ein Machwerk aus nichts sei. Mit großem Recht sagt daher der edle Verfasser des im Text sogleich zu lobenden Buches, Seite 15 desselben: "die Bemühungen der Missionen werden fruchtlos bleiben: kein irgend achtungswürdiger Hindu wird jemals ihren Vermahnungen nachgeben." Desgleichen Seite 50, nach Darlegung der brahmanischen Grundlehren: "Zu hoffen, daß sie, durchdringen von diesen Ansichten, in denen sie leben, weben und sind, jemals sie aufgeben werden, um die Christliceh anzunehmen, ist, meiner festen Überzeugung nach, eine eitle Erwartung." Auch Seite 68. "Und wenn, zu solchem Zweck, die ganz Synode der englischen Kirche Hand anlegte, würde es ihr, es wäre denn durch absoluten Zwang, wahrlich nicht gelingen, auch nur einen Menschen aus Tausend in der großen indischen Bevölkerung zu bekehren." Wie richtig seine Vorhersagung gewesen ist, bezeugt noch jetzt, 41 Jahre spät, ein langer Brief in der  Times  vom 6. November 1849, unterzeichnet  Civis,  der, wie sich aus demselben erhellt, von einem Mann herrührt, welcher lange in Indien gelebt hat. Darin heißt es unter anderem: "nie ist mir auch nur ein einziges Beispiel bekannt geworden, "daß in Indien ein Mensch, dessen wir uns rühmen dürften, zum Christengrum bekehrt worden wäre; nicht einen Fall wüßte ich, wo es nicht  einer  gewesen wäre, der dem Glauben, den er annahm, zum Vorwurf und den, den er abschwur, zur Warnung gereichte. Die Proselyten, welche man bis jetzt gemacht hat, so wenige ihrer sind, haben daher bloß gedient, andere von der Nachfolge ihres Beispiels abzuschrecken." Nachdem auf diesen Brief Widerspruch erfolgt war, erscheint, zu Bekräftigung desselben, in der  Times  von 20. November, ein zweiter SEPAHEE unterschireben, darin heißt es: "ich habe über 12 Jahre in der Präsidentur Madras gedient und während dieser langen Zeit nie ein einziges Individuum gesehen, welches sich auch nur nominell vom Hinduismus oder vom Islam, zur protestantischen Religion bekehrt hätte. So weit also stimme ich ganz mit  Civis  überein und glaube, daß solcher, wenn auch nicht von Missionarien, doch von COUSINs der Missionarien herrühr: wenigstens sind es sehr gottselige Gegner. Mag also auch nicht alles, was sie anführen, ohne Grund sein; so mess ich denn doch wohl den oben extrahierten, unbefangenen Gewährsmänner mehr Glauben bei. Denn bei mir findet, in England, der rote Rock mehr Glauben, als der schwarze, und alles, was daselbst zu Gunsten der Kirche, dieser so reichen und bequemenen Versorgungsanstalt der mittellosen jüngeren Söhne der gesamten Aristokratie, gesagt wird, ist mir eo ipso verdächtig.