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FRITZ MAUTHNER
Logik des Weltkatalogs
II-07

"Eine wissenschaftliche Klassifikation der Wirklichkeitswelt ist bis heute nicht gelungen und kann nach dem Wesen der Sprache niemals gelingen. Aber eine oberflächliche, populäre Klassifikation, ein vorläufiges System von Fächern und Kasten ist in jeder Sprache vorhanden."

Als nun die Sprachvergleichung nach ihrem ersten etymologischen Raubbau langsam zu der Bemerkung vorschritt, daß man in verschiedenen Sprachen verschieden denke, wagte sie sich zwar nicht an das heilige Gebäude der Logik und hat es bis zu dieser Stunde nicht gewagt, aber sie mußte die innere Organisation einer Sprache, da die allgemeine logische Stütze fallen gelassen werden mußte, individualisieren. Der gesunde Menschenverstand hätte lehren müssen, daß es von nun an so viele Logiken gebe, wie es Sprachen mit verschiedenem Bau gibt. Für eine solche Kühnheit scheint aber die Zeit noch nicht reif gewesen zu sein. HUMBOLDT begnügte sich damit, dieses begleitende Gefühl für die Notwendigkeit der Muttersprachformen, also für die spezielle Logik der Einzelsprache, mit unklarer Einsicht in diesen Zusammenhang die innere Sprachform zu nennen.

Wir sind also so weit, unser Sprachgefühl als die besondere Logik der einzelnen Sprache zu erkennen. Wir haben damit jedoch nicht einen Schritt nach vorwärts gemacht, sondern vielmehr einen Schritt nach rückwärts. Wir haben für das Wort  Gefühl,  welches undefinierbar wenigstens unserer Empfindung entsprach, das Wort Logik gesetzt, welches wir doch ironisch von dem bisherigen Wortsinne ablösen mußten. Denn in dem Augenblicke, wo wir die Logik als die  allgemeine  Gesetzmäßigkeit des menschlichen Denkens oder der Sprache preisgeben, wo wir jedem Volke seine eigenen Denkgesetze zusprechen, haben wir kein Recht mehr, das alte Wort zu verwenden. Es ist gegen die Logik, gegen das Sprachgefühl, von dem Wort Logik eine Mehrzahl zu bilden.

Was ist nun die innere Sprachform oder unser Sprachgefühl, wenn es durch die spezielle Logik der einzelnen Sprache nicht ernsthaft erklärt werden kann? Ich habe vorhin als Beispiele für unser Sprachgefühl Bildungssilben des Substantivs und des Verbums und die Form der Möglichkeitssätze gegeben. Aber wir glauben ein viel intensiveres und ausgedehnteres Sprachgefühl zu besitzen. Das Sprachgefühl schwindet uns eigentlich nur bei Worten, die uns nicht geläufig sind, bei selteneren Fremdwörtern, bei gänzlich isolierten Worten, genau so wie es uns beim Radebrechen fremder Sprachen fehlt. Der Gipfel des Sprachgefühls ist eben der Glaube an die Unübertrefflichkeit, ja ich möchte sagen der Glaube an die Selbstverständlichkeit der Muttersprache, die sich am stärksten bei Kindern und phantasiereichen ungebildeten Leuten äußert. Der Gipfel des Sprachgefühls liegt in jenem Ausrufe des Tirolers: "Was ist die italienische Sprache für eine dumme Sprache! Sie nennen ein Pferd  cavallo.  Wir sagen Pferd, und es  ist  auch ein Pferd." Nicht ganz so stark und naiv, aber ähnlich fühlen wir alle in unserem Sprachgefühl. An anderer Stelle zeige ich, wie oft uns dieses selbe Sprachgefühl dazu verführt, Worte unserer eigenen Sprache für Onomatopöien (Lautmalereien) zu halten. Wir sind geneigt, "bellen" für eine Klangnachahmung zu halten, trotzdem es vielleicht ursprünglich mit dem Sanskritwort für reden (bhas) zusammenhängt. Wir sind geneigt, in "blitzen" das Augenblicksbild eines Blitzes zu sehen, trotzdem es althochdeutsch  bleechazzen  hieß. Wäre aber unser Sprachgefühl keck genug, es würde hier und in tausend ähnlichen Fällen ausrufen: "Es heißt nicht nur bellen, blitzen, es  ist  auch ein Bellen, Blitzen."

In ähnlicher Weise erscheinen uns die gebräuchlichsten Worte unserer Muttersprache natürlich und gewissermaßen innerlich notwendig und ebenso ihre Formen. Besonders auch alle Worte für weite Kategorien. Eine wissenschaftliche Klassifikation der Wirklichkeitswelt ist bis heute nicht gelungen und kann nach dem Wesen der Sprache niemals gelingen. Aber eine oberflächliche, populäre Klassifikation, ein vorläufiges System von Fächern und Kasten ist in jeder Sprache vorhanden, und wir sind geneigt, diesen Kategorien logische Notwendigkeit zuzuschreiben, sowie wir die Laute als eine sprachliche Notwendigkeit empfinden. Das Wort Pflanze ist erst aus dem Lateinischen zu den Germanen gekommen; das Wort Tier war ursprünglich ein Adjektiv mit der Bedeutung "wild", so daß in alter Zeit das Tier vom Vieh, dem Haustier, der nutzbaren Herde, unterschieden wurde. (Engl. "deer"; man denke an unser "Tiergarten".) Beide Worte sind sonach in ihrer gegenwärtigen Bedeutung in der deutschen Sprache noch verhältnismäßig jung. Dennoch haben wir bereits ein Sprachgefühl für sie, und der ungelehrte Mann fülllt sich gedrängt, im Tierreich und im Pflanzenreich notwendige Kategorien der Natur zu erblicken. Auch sträubt sich die Sprache gegen die Bezeichnung eines Zwischenreichs, wie denn eine jede neue Einsicht, Beobachtung oder Entdeckung die gewohnte Sprache sprengt und damit das Gefühl verletzt, welches die Sprache zusammenhält. Die Sprache ist die konservativste Macht. Darin liegt vielleicht der Hauptgrund für die Erscheinung, daß sonst ganz gute und ehrliche Menschen sich so vor jeder neuen Wahrheit entsetzen. Jede neue Wahrheit ändert die Sprache, und die Sprache will sich nicht ändern lassen.  Usus tyrannus. 

Wir sehen also, daß im Sprachgefühl ein doppelter Glaube enthalten ist: der Glaube an die Notwendigkeit der Laute und der Glaube an die logische Notwendigkeit der Begriffe. Wir wollen uns aber um die Zweiteilung nicht weiter bekümmern. Worauf es allein ankommt, das ist die Beziehung eines Wortes zu den Sinneseindrücken, an welche es am Ende aller Enden erinnert. Was wir logische Beziehungen nennen, das sind doch nur Zwischenglieder in dieser Erinnerung, welche selbst wieder durch die Entwicklung der Sprache entstanden sind. Dies muß ganz besonders festgehalten werden. Es ist eine zufällige Form unserer Sprache und der ihr nächst "verwandten", daß wir für die Merkmale der Objekte, für ihre sogenannten Eigenschaften, einen besonderen Redeteil gebildet haben, das Adjektiv. Es gibt Sprachen, in denen diese Merkmale, die wir für logisch notwendig halten, anders ausgedrückt werden. Ebenso ist das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat, das uns als die Grundlage alles Denkens erscheint, doch nur ein Produkt der Sprache und dann wieder ein Teil unseres Sprachgefühls.

Und damit wären wir wohl dort angelangt, wo wir die Antwort auf unsere Frage finden müssen. Eine große öffentliche Bibliothek wird bei uns gewöhnlich nach den Autoren und zwar nach dem deutschen Alphabet geordnet; sie könnte ebensogut nach dem Runenalphabet geordnet werden und mit F anfangen; sie könnte in der Ordnung irgend eines Alphabets nach den behandelten Gegenständen geordnet werden. Und so auf hunderterlei Art. Und sie wäre immer dieselbe Bibliothek, und sie wäre immer gleich benutzbar, wenn dem Publikum nur das Einteilungssehema geläufig wäre. Genau ebenso scheint es mir um die Ordnung des Wissens in einem menschlichen Kopfe zu stehen, nur freilich daß das Einteilungsschema der menschlichen Wahrnehmungen, die Sprache nämlich, mehr leistet als der Katalog für eine Bibliothek. Der Vorgang ist jedoch derselbe. Wenn wir als Kinder unsere Muttersprache erlernen, nehmen wir ein Repositorium für alle erdenklichen Notizen in uns auf, die wir zeitlebens machen werden, wir übemehmen von unseren Vorfahren ihren fragmentarischen, vorläufigen, populären Weltkatalog, um die Fächer nachher mit unseren Erfahrungen auszufüllen. Dieser fragmentarische und wissenschaftlich völlig ungenügende Weltkatalog ist alles, was wir an Intelligenz besitzen; er ist unser ganzes bißchen menschliche Vernunft. Er ist ganz unzureichend für die immer wieder versuchte Erkenntnis der Wirklichkeitswelt, er ist aber an sich betrachtet ein ungeheures Werk, die gemeinsame Arbeit von Milliarden, die vor uns und darum für uns gelebt haben.

Der unvergleichliche Wert dieser Leistung (der Wert für uns, nicht der Wert im Verhältnis zu der Aufgabe) besteht in der Ordnung und Übersichtlichkeit, die uns gestattet, unzählige Sinneseindrücke mit einer Lautgruppe zusammenzufassen, und so immer weiter bis an die Grenze der Abstraktion. Ein einzelner oder auch nur eine kleine Gruppe von Menschen hätte dieses Werk nicht schaffen können. Eine künstliche Sprache, wie sie oft versucht worden ist, könnte unmöglich alle Billionen Sinneseindrücke unterbringen; das vermochte nur die unbewußte Arbeit von Milliarden zu tun. Aber eine künstliche Sprache kann uns auch keine innere Sprachform geben, kein Sprachgefühl. Das vermag einzig und allein die Vererbung und das Volksmäßige. in der Sprache. Nur weil wir alle Kategorien und Formen der Sprache schon als Kinder in uns aufnehmen, also zu einer Zeit, wo wir vielfach nur die leeren Fächer an ihnen besitzen, weil wir also diese Formen und Kategorien unseren Eltern abnehmen, wie den Glauben an den lieben Gott, weil wir dann später alle unsere Volksgenossen ohne Ausnahme ihre sämtlichen Sinneseindrücke und Abstraktionen in die gleichen und gleich bezeichneten Fächer unterbringen sehen, nur darum wächst mit uns von Jugend auf und mit unserem Volke das Gefühl, alle diese Formen und Kategorien seien notwendig. Die Dinge heißen nicht nur so, sie  sind  auch so.

Diese ungeheure allgemeine Überlegenheit jedes Spracherbes über die Erfahrungswelt des Einzelmenschen darf uns über den Wert der Sprache nicht täuschen. Unersetzlich und unübertrefflich ist die menschliche Sprache für die Ordnung aller Sinneseindrücke; auch der dümmste Mensch erhält durch sie etwas von den Erfahrungen der Menschheit überliefert. Der Dutzendmensch erhält durch die Sprache zum Erbteil alle Erfahrungen der Vorzeit, soweit er sie für sein Gewerbe braucht.

Um zum Schluß zu kommen: was wir von Kind auf in unserer Muttersprache lernen, dieser oberflächlich orientierende Weltkatalog und dazu das Gefühl für die sprachliche und logische Notwendigkeit dieses uns geläufigen Weltkatalogs ist der ganz gewöhnliche, uns allen so wohlbekannte  Sprachgebrauch.  Wie die Sitten oder Gewohnheiten unseres Volkes zu unseren Sitten und Gewohnheiten werden, und wie dann diese Sitten oder Gewohnheiten schließlich unter dem Namen Moral eine höhere Weihe zu bekommen scheinen, die dem natürlichen Gefühl des nicht entarteten Herdenmenschen vollkommen entspricht, ebenso erzeugt die Sprachgewohnheit unseres Volkes, indem sie unsere Sprachgewohnheit wird, in uns das Gefühl: das ist so notwendig, das soll so sein, das ist so richtig, das ist Sitte. Der Sprachgebrauch wird zum Sprachgefühl, zur Sprachmoral.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906