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FRITZ MAUTHNER
Macht der Sprache
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"Alle Menschen stehen gegenseitig im Verhältnis von Hypnotiseur und Hypnotisierten, alle Menschen lassen sich gegenseitig durch ausgesprochene Worte Zwangsvorstellungen suggerieren."

Weil die Sprache zwischen den Menschen eine soziale Macht darum übt sie eine Macht aus auch über die Gedanken des einzelnen. Was in uns denkt, das ist die Sprache; was in uns dichtet, das ist die Sprache. Die Empfindung, die oft in Worte gebracht worden ist: "Nicht ich denke; es denkt in mir" - die Empfindung des Zwangs, ist einfach richtig. Die Macht der Worte über das einzelne menschliche Gehirn ist erst im langen Verlaufe der sogenannten Entwicklung zu der übergroßen Ausdehnung gediehen, die wir in historischen Zeiten beobachten können. In seinem tierähnlichen Stande hätte der Mensch diese Macht wie eine Krankheit empfunden, wie eine epidemische Krankheit, die in der Menschheit die Anlage zur Sprache zurückließ. Wir sehen diese Macht oft im Traume. Irgend ein Sinneseindruck, das Schlagen einer Uhr z.B., dringt wie ein Mückenstich durch die dichten Schleier der Sinne, er kann nicht wieder heraus, und es ist vielleicht eine andere Form der Erhaltung der Energie, daß der empfangene Eindruck nun im Gehirn von Erinnerung zu Erinnerung springt, immer bestrebt, den Ausgang zu finden, und seine ursprüngliche Kraft so sehr beibehält, daß er in dem Augenblicke den Körper weckt, da er an irgend einer entfernten Stelle die Schleier zurück wieder durchbricht.

Dieser passive Wahnsinn des Traums, der uns die kaum faßbare Schnelligkeit der Assoziationen kennen lehrt, läßt sich nachahmen in dem zeitweiligen und künstlichen Wahnsinn, den die Hypnose erzeugt. Hier löst nicht ein Sinneseindruck die Flucht der Assoziationen aus, sondern ein Wort. Ein Zeichen also, ein Signal; auch der Sinneseindruck im Traum war so ein Signal für das regellose Spiel der Assoziationen. Man bedenke, welche unerhörte Flucht von Vorstellungen durch das Gehirn des Hypnotisierten gehen muß, damit er z.B. auf das Wort Wein Tinte trinke und ein freundliches Gesicht dazu mache.

Es gibt Gruppen von Wahnsinnigen, die ohne ein anregendes Wort von außen ähnlich handeln. Aber alle Menschen stehen gegenseitig im Verhältnis von Hypnotiseur und Hypnotisierten, alle Menschen lassen sich gegenseitig durch ausgesprochene Worte Zwangsvorstellungen suggerieren und es ist mir kein Zweifel, daß nicht nur in erregten Momenten des Völkerlebens, wo die zeitweilige Hypnose als Krieg, Hexenverfolgung u. dgl. offenbar ist, ganze Massen einander zu künstlichem Wahnsinn erregen, sondern daß der ganze geistige Verkehr der Menschen untereinander nichts weiter ist als allgemeine ununterbrochene milliardenhaft durchkreuzte Hypnotisierungsversuche und gelungene Hypnosen, welche von der ererbten Fähigkeit der Assoziationsflucht Gebrauch machen, und wobei der menschlichen Sprache die traurige Rolle zufällt, Erreger und alleiniges Ausdrucksmittel dieses künstlichen Wahnsinns zu sein.

Die Sprache leistet da psychisch, d.h. unwägbar und gratis, wie denn das Unwägbare immer das Wohlfeilste ist, dieselben Dienste, wie physiologisch der Alkohol. Worte berauschen, Worte betäuben, Worte können den ihnen Verfallenen zum Selbstmord führen. Und während der Alkoholisten unter den Menschen doch nur wenige sind, gibt es zahllose Kranke, welche den Reiz nicht mehr entbehren können, Worte in Massen zu sich zu nehmen und von sich zu geben. Man könnte diese Krankheit Logismus nennen, und daß dieses Wort schon so viel wie Vernünftigkeit bedeutet, wäre kein Grund, ein anderes Wort zu wählen. Auch Syllogismus könnte diese Krankheit recht gut heißen, oder noch einfacher Logik.

Ein Verteidiger der Sprache könnte behaupten, daß ihre Macht gelegentlich auch das Gute fördere. Wie die Hypnose eingebildete Krankheiten heilt, d. h. also nicht die Krankheit, sondern die Einbildung. So können Worte durch ihre soziale Macht dem melancholischen Hang zur Schlechtigkeit entgegenwirken.

Für mein persönliches Sprachgefühl hat das Wort "Tugend" oder gar die Mehrzahl die "Tugenden" die Tendenz, eine archaistische Bedeutungsnüance zu bekommen, wie es die der altgewordenen Götternamen ist, wie die personifizierten Göttinnen der Abstraktionen Gerechtigkeit, Weisheit, Industrie u.s.w. auf uns wirken. Diese Empfindung läßt die Moral unversehrt; mit dieser Empfindung unterscheidet man nach wie vor gute und böse Menschen. Man sucht nur nach neuen Worten und muß doch zugestehen, daß die alten Namen der Tugenden in moralischer Richtung wirksam sind, während doch die Worte als Erkenntnismittel unwirksam erscheinen. Es ist nur ein ganz leises Kichern, was der Geist der Sprache dabei wie aus der Ferne erklingen läßt.

Nehmen wir z.B. die Güte als den Typus menschlicher Tugend, so werden wir nur wenige Menschen entdecken, welche als Genies der Güte in diesem Sinne tugendhaft sind. Die meisten guten Menschen sind nur gut, weil der Begriff der Güte einmal besteht, und weil in ihnen eine Neigung wirkt, sich diese Bezeichnung "gut" wie einen Orden zu erwerben. Sie handeln gut, sie verzichten auf böse Handlungen und üben gute, weil sie gut heißen möchten. In praktischer Beziehung ist zwischen ihnen und natürlich guten Menschen nur ein geringer Unterschied. Lebten sie aber in einem Volke, welches den Begriff der Güte noch nicht ausgebildet hätte, so hätten sie nur wenig oder gar nicht den Antrieb, gut zu sein. Die Worte sind also in diesem Falle ein moralförderndes Motiv. Die sprachlosen Tiere kennen dieses Motiv noch nicht, sind darum auch nicht gut und nicht böse.

Sprache eine Macht. Also doch etwas Wirkliches? Denn nur Wirkliches kann wirken. Was aber als Macht wirkt, das ist doch nie und nimmer "die" Sprache, sondern ein Wort. Dies Wort freilich nicht losgelöst von seinen Zusammenhängen. Nun, wie physiologisch doch auch nur immer irgend ein chemischer Vorgang nebst seinen Zusammenhängen, gegenseitigen Abhängigkeiten (Blut und Gehirnnerven) wirken kann. Die gegenseitigen Zusammenhänge mag man "die Seele" nennen, l'introuvable. Die Sprache ist "die Seele" alles Redens - "möcht' man sprechen".

Will man die menschliche Sprache, die nicht wirklich ist und dennoch wirkt und eine Macht ist, mit etwas Ähnlichem vergleichen, so denke man an Zeichnungen, die schwarz auf weiß zu sehen sind, auf dem Papier, und dennoch nur Zeichen sind; physikalisch (als kleine Graphitteilchen) real, wirklich, wirksam nur Zweckvorstellungen, Zeichen, anthropomorphe Gebilde. Tiere nehmen Zeichnung (Täuschungen sind nicht Zeichnung) nicht wahr. Und die Lehre, daß es nie und nimmer möglich sei, durch irgendwelche Behandlung, Bearbeitung oder Tyrannisierung der Worte irgend eine neue Kenntnis aus ihnen herauszuziehen diese Lehre wird weniger seltsam erscheinen, wenn man die Sprache nun besonders mit den Zeichnungen vergleicht, die zur Illustration wissenschaftlicher Bücher dienen. Man würde doch den sofort für blödsinnig erklären, der es sich einfallen ließe, eine Forschungsreise durch Afrika nicht an Ort und Stelle, sondern zu Hause auf einer Landkarte anzutreten. Man würde ihm sagen: "Mit der schärfsten Lupe wirst du auf der Karte nicht mehr finden, als deine Vorgänger gesehen hatten oder zu sehen geglaubt haben." Ebenso würde man den verlachen, der die Forschungen im Gehirngebiet dadurch weiterbringen wollte, daß er Zeichnungen des Gehirns studierte.

Nun ist aber die menschliche Sprache nichts anderes als eine in Lautzeichen niedergelegte, schematische Gesamtbeschreibung alles dessen, was die Vorgänger bis heute gesehen haben. Mag man die Worte nun mit noch so scharfer Logik untersuchen, man wird niemals über ihren Inhalt hinauskommen, der eine Sammlung alten oder eben veraltenden Materials ist.

Die Sprache ist also als Sprache - nicht bloß physikalisch, als Lufterschütterung oder Schwingung - etwas Reales. Ist so real wie eine Zeichnung, wie ein Zeichen. Als Zeichen, als hörbare Signale, müssen wir uns die Anfänge vorstellen.

Und heute noch ist die menschliche Sprache auf ihrer tiefsten Stufe deiktisch. "Geben Sie mir Leberwurst!" Der Stumme zeigt mit den Fingern auf die Leberwurst mit dem gleichen Erfolg. Der Hund schnappt nach der Leberwurst mit noch schnellerem Erfolg. Die Sprache auf ihrer höchsten Stufe ist Kunstmittel. GOETHE setzt Wort an Wort, wie RAFFAEL Farbe an Farbe. Die Sprache im geselligen Verkehr nähert sich wie im Wirtshaus, im Handel, im Krieg und im Liebeskampf der Leberwursteinfachheit. Sie nähert sich in der feinsten Salonkonversation hervorragender, geschätzter Leute dem Kunstwerk. In der Mitte liegt Geschnatter, das gedankenlose Geschnatter, das tausend Millionen Menschen stundenlang vollführen. Abseits vom Geschnatter hat sich einige Wissenschaft die Worte dienstbar gemacht, um sie wie algebraische Zeichen formelhaft zu verwenden. Ein neuer Gedanke kann dabei gar nicht herauskommen, so wenig wie durch millionenhafte Kombinationen und Permutationen der zehn Zifferzeichen der Wert der Welt um ein Atom vermehrt werden kann. Wenn ein Schöpfer unser Sonnensystem geordnet hätte, so hätte er es doch ohne vorherige mathematische Berechnung hinausgeschmissen in den Raum. Und die Natur ist vollends sprachlos. Sprachlos würde auch, wer sie verstünde.

Man kann sich die Wirkung der Propheten so erklären, daß es begeisterte Leute waren, die ihren zurückgebliebenen Zeitgenossen einen neuen Begriff durch die Gewalt ihrer Redekunst suggerierten. Ihnen entsprechen ziemlich genau unsere Dichter, sofern sie sich den konservativen Mächten gegenüberstellen und in holdem Wahnsinn eine gesteigerte Redekunst üben. Wie aber neben den großen und kleinen Propheten die ganz alltäglichen Pfaffen einhergehen, die ihr Brot verdienen, indem sie um Gedanken, die vor einigen tausend Jahren neu waren, ein verspätetes Wortgeplätscher vollführen, so stehen zu den Dichtern die meisten Journalisten, soweit sie sich nicht auf den ehrenhaften Nachrichtendienst beschränken. Nachrichten sind eine beliebte Ware, und der Handel mit ihnen nicht viel besser und nicht schlimmer als ein anderer Handel. Das journalistische Geplauder um diese Nachrichten herum jedoch ist oft nichts als eine Fälschung der Ware. Die Journalisten haben die alten Rhetoren im Worthandel abgelöst.

Namentlich, wenn der Dichter aus Not zum Journalisten wird, fälscht er am gröbsten. Was er nicht niederschreiben würde um der Sache willen, was er sich schämen würde, auch nur auszusprechen, wenn er mit ebenbürtigen oder gleichgesinnten Gesellen hinter dem Bierglas sitzt, das schämt er sich nicht niederzuschreiben für den Pöbel, der sein tägliches, lauwarmes Wortbad zu nehmen liebt. Unsere Zeitungsliteratur wird so zu ihrem größten Teile gedrucktes Geschwätz, und da die meisten Menschen, Pfaffen und Bezirksredner etwa ausgenommen, beim wirklichen Schwätzen wenigstens interesselos sind, so kann man sagen, daß das gedruckte Geschwätz der geistreichen Leute noch unter dem gesprochenen Geschwätz der dummen Leute steht.

Gestern war alle Welt beim Einzug des Karnevals oder des Negerkönigs oder des prinzlichen Brautpaars und heute will alle Welt eine Beschreibung des Einzugs lesen. Abgesehen von den zehntausend Albernen oder Eiteln, welche sich selbst persönlich oder in Gruppen erwähnt sehen möchten, abgesehen ferner von den Gründlichen, welche ihre eigenen beschränkten Festerlebnisse in den Rahmen des Zeitungsberichtes spannen möchten, ist doch der Wunsch ganz allgemein, zu lesen, was man weiß, das heißt doch wohl das Tagesereignis, das man ebenso genau kennt wie der Zeitungsschreiber, mit ihm zu beschwatzen. Der Mensch mit dem unermüdlichen Maul, der Barbier, die Frau Base u.s.w. sind durch die gegenwärtige Höhe der Buchdrucktechnik zu einem lautlosen Schwatzklub geworden. Beim Morgenkaffee sitzt die ganze Bevölkerung im Geiste beisammen und gibt sich bequem diesem alten Schwatzvergnügen hin, das jetzt Zeitungslektüre heißt.

Dieses Vergnügen ist nichts weiter als ein Spiel mit der Sprache, eines der Spiele, wie sie um ihrer geistigen Armut willen Kranken und Greisen empfohlen werden. Besonders scheint mir dieser Massengebrauch der Sprache als Schwatzvergnügen (sowohl mündlich als beim Lesen) viel Ähnlichkeit zu haben mit dem Dominospiel, wo doch auch die ganze Geistesarbeit darin besteht, an das Wertzeichen des Gegners sein Steinchen von gleichem Wert anzusetzen, solange man es aushält. Ganz wie in einer sogenannten Konversation.

Dabei ist zu beachten, daß fast jeder Dominospieler noch ein Nebenspiel betreibt, daß er nämlich die Steine zu einer Zeichnung von künstlerischer Freiheit aneinander legt. Dieses Doppelspiel gibt es auch beim Schwatzen und Zeitungsschreiben; es gibt neben der Ordnung nach dem Sinn noch eine Wortordnung zum Spaße, was dann Witz oder Stil heißen mag. Auch die wissenschaftlichen Bücher sind selten ganz frei von diesen beiden spielerischen Erscheinungen des Schwatzvergnügens. Man nennt da die heimliche Ordnung der Dominosteine: das System.

Die Menschen haben sich das Denken angewöhnt, nicht nur weil es nützlich, sondern weil es ein Vergnügen ist. Erhaltung des Individuums und Fortpflanzung der Art beruht auf einem ähnlichen unentwirrbaren Zwiespalt von Ursache und Wirkung. Macht uns das Essen Vergnügen, damit wir zu unserer Erhaltung essen oder weil wir zu unserer Erhaltung essen? Wer das wüßte, wüßte alles.

Mir macht das Denken offenbar Vergnügen, sonst würde ich mir nicht einsam den Kopf zerbrechen. Und mir macht das Sprechen offenbar Vergnügen, sonst würde ich nicht schwatzen. Dieselbe Empfindung kann man aber schon beim Kinde beobachten, das die ersten Worte sprechen gelernt hat. Hat es den Wortklang getroffen, so hat es Freude am Sprechen. Noch mehr erfreut ist es aber, wenn ihm selbst ein richtiges "Urteil" gelungen ist, wenn es beim Anblick eines Hundes. von selbst Wauwau sagen kann.

Im Reden des Eingeübten, des Selbstverständlichen besteht das Schwatzvergnügen. Ein wohlerzogener Mensch fragt und antwortet (auch als Schriftsteller) nie anders, als der zweite wohlerzogene Mensch es erwartet. Erwartet wird das Eingeübte, das Selbstverständliche, das Banale. Zwei wohlerzogene Selbstmörder, die einander auf dem letzten Gange begegneten, würden noch sagen: "Wie geht's? " und "danke, gut". Es ist eigentlich solches Reden nicht mehr als ein Grüßen, Tagzeit bieten. So kommt in den Unterhaltungen der Wohlerzogenheit am Ende noch weniger heraus als bei den Unterhaltungen der Dummheit.

Die Aufnahme einer neuen Vorstellung ins Gehirn muß eine gewisse Anstrengung sein, ein gewisser minimaler Schmerz. Die gewaltsame Bahnung eines neuen Nervenwegs ist vielleicht die Entjungferung einer Ganglienzelle. Wenn das Mikroskop imstande wäre, im Gehirn eines kleinen Kindes die Aufschließung von tausend Ganglienzellen und die Aufreißung, Festigung und Ebnung eines Netzes von Tausenden von Nervenbahnen vergrößernd zu zeigen, es müßte ein fürchterlicher Anblick sein. Kommt nun später ein Sinneseindruck hinzu, der eine geebnete Bahn und eine wohleingerichtete Ganglienzelle vorfindet, so kann ich mir recht gut vorstellen, daß es ein körperliches Behagen gewährt, ihn die Bahn entlang gleiten zu lassen und ihn in die angepaßte Zelle aufzunehmen. Wie ein Straßenbahnwagen, der nach einer Entgleisung schrecklich über das Pflaster rumpelt, knirschend und knarrend, und der dann wieder sanft summend über die Schienen läuft.

Selbstverständlich dienen die Worte dieser bequemen Einrichtung. Welcher Funktion aber entsprechen sie? Sind sie Wechselbegriffe mit den Ganglienzellen des Gehirns? (Falls nämlich die Ganglienzellen wirklich irgendwie psychische Residenzen sind.) Sind sie Signale an den Kreuzungspunkten des Netzes? Oder sind sie am Ende gar nur das plumpe rollende Material, das auf den glatten Bahnen dahin und daher läuft, und das uns Vergnügen bereitet wie eine  Tat  auf der Eisenbahn?

Fassen wir es kurz zusammen: "die" Sprache gibt es gar nicht, auch die Individualsprache ist nichts Wirkliches; Worte zeugen nie Erkenntnis, nur ein Werkzeug der Poesie sind sie; sie geben keine reale Anschauung und sind nicht real. Dennoch können sie eine Macht werden. Vernichtend wie ein Sturmwind, der ein Lufthauch ist wie das Wort. Leicht kann das Wort stärker werden, als eine Tat war; Leben aber fördert das Wort nie.

So mag die wirkliche Erscheinung, das wirkliche Leiden und Handeln von JESUS CHRISTUS auf ein paar hundert oder ein paar tausend Zeugen religiös gewirkt haben; aber erst, als der Menschensohn am Kreuze gestorben war und sein Name ein Wort geworden, da wurde der Name religiöse Macht. Der Name hatte mehr Kraft als der Mann. Der Mann unterwarf sich ein Dutzend arme Fischer und ein paar Frauenzimmer, der Name, das Wort, das Evangelium unterwarf sich ganze Erdteile.

Und wieder, als MOHAMMED auftrat, der von ganz anderem Schlage war, besiegte er mit Epilepsie und Tapferkeit Arabien und ein paar Nachbarprovinzen. Als er sich aber ins Wort verwandelt hatte, in den Koran, nahm er dem christlichen Wort nicht weniger als fast das ganze Mittelmeergestade ab.

Die französische Revolution sieht aus, als ob sie nicht von Worten, sondern von vollblütigen Menschen oder Blutmenschen gemacht worden wäre. Wie dem auch sei, welche Worte auch die Herren eines ROBESPIERRE waren, NAPOLEON war gewiß kein bloßes Wort. Und was erreichte er? Er flutete mit der Armee an die zwanzig Jahre über die französischen Grenzen hinaus, um dann wieder zurückgedrängt zu werden. Nichts blieb übrig als die Worte der Revolution. Die Worte: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit eroberten sich ebenso weite Gebiete wie die des Christentums und sind heute das Schiboleth [Erkennungszeichen - wp] der Erde.

Und so vieldeutig sind auch diese Worte, daß das eine Wort Freiheit bedeutet: in der Türkei die Neigung der Höchstgebildeten, ihre Kleider bei Pariser Schneidern zu bestellen; in Afrika die Arbeit christlicher Geistlicher, die Neger an Kartoffelspiritus zu gewöhnen; in Rußland die Leidenschaft gebildeter junger Leute, den Zaren und hohe Beamte in die Luft zu sprengen; in Preußen die Bemühung der Arbeiterfrauen, für das gleiche Stück Geld auf dem Markte etwas mehr Brot zu erhandeln; in Frankreich und England die Wortgefüge von Rednern, die die Weisheit zu einem Produkt von Menschenmassen machen, etwas wie Gestank und Krankheiten; in Nordamerika den Geschäftsbetrieb der Silberminenbesitzer, die durch ungeheure Bestechungen ungeheure Gewinne erreichen wollen. Wir stecken so tief unter der Herrschaft des Wortes Freiheit, daß wir es gar nicht mehr wahrnehmen, sowie wir die Luft, in der wir atmen, auch nach LAVOISIER und PRIESTLEY für ein Nichts ansehen, während den Fischen wahrscheinlich ihr Wasser ein Nichts ist, die Luft vielmehr, wenn sie hineingeraten, ein greifbares, schreckliches Etwas.

Es kann kein Zweifel darüber sein, daß auch Worte wie Waffen eine Verwundung oder Verletzung hervorbringen können. Denn Worte erwecken Vorstellungen und Vorstellungen können den sogenannten Willen zu Taten bringen, die verwunden oder verletzen. Wenn der Ingenieur auf einen Knopf drückt, der tausend Meter entfernt eine Mine zum Explodieren bringt, so wird die Elektrizität die Zwischenursache zwischen seiner Absicht und der Entzündung des Pulvers; die Maschine ist dann auf Auslösung durch Elektrizität eingestellt. Wenn der Hauptmann seiner wohlgebildeten Truppe Feuer kommandiert, so ist die Maschine auf Auslösung durch ein Wort eingestellt und etwas wie Elektrizität mitbeteiligt. Es kann auch ein Räuberhauptmann sein. Die Schüsse fallen und das Blei reißt Löcher ins Fleisch. Ebensolche Wirkungen können Worte in Form von Lügen, Verleumdungen, Denunziationen, Enthüllungen haben. Worte können Waffen werden oder doch Maschinenteilchen einer komplizierten Waffe.

Man rechnet aber auch zu den Verletzungen durch Worte die Beleidigungen, und das ist so dumm, daß niemals ein Tier mit einfacher Sprache darauf gekommen wäre. In solchen Torheiten luxuriert nur die überfütterte Menschensprache. Beleidigungen sind Schüsse mit Platzpatronen. Es knallt, weil die Luft erschüttert wird, aber es fliegt kein Blei aus dem Rohr. Die Verletzung gehört zu den Einbildungen, freilich in der europäischen Gesellschaft zu den Einbildungen, die selbst wieder nicht ohnmächtig sind, weil sie Zwangskurs haben wie schlechtes Papiergeld. Den Platzpatronen ohne Kugel steht als Ziel das Gespenst der Ehre gegenüber. Und so genau kennen einander diese Masken, daß das Gespenst der Ehre umfällt, sobald es knallt. Das ist eigentlich Feigheit von dem Gespenst, heist aber Mut bei den Fahnenträgern des Gespenstes.

Je mehr Ehre der einzelne verbrieft hat, für desto stärker gilt die Verletzung durch den Knall der Platzpatrone. Ist die Luft vor den Ohren eines Fürsten in die Schwingungen Lump oder Dummkopf gebracht worden, so heist das Geräusch Majestätsbeleidigung. Und es wird mit Recht hart bestraft von allen Menschen, deren Ehre umfällt, wenn es knallt. Die Strafbestimmung müßte lauten: Die Majestät wird beleidigt, wenn der Schatten einer Peitsche sie berührt. Und die Strafe müßte darin bestehen, daß der Erreger des unbeliebten Geräusches einmal durch den Schatten eines Galgens oder eines Zuchthauses geführt würde.

Einen Purzelbaum macht der Begriff der Beleidigung, wenn der Knall vor Gottes Ohren losgeht. Man nennt dies mit Bauernschlauheit nicht Gottesbeleidigung, sondern Gotteslästerung. Der Staat ist denn doch so modern geworden, daß er die Eselei nicht zu vertreten wagt, für die beleidigte Allmacht als Duellant einzutreten. Als ob der liebe Gott altersschwach geworden wäre und selbst die Pistole nicht mehr halten könnte. Es wird also der Schein erweckt, als ob man bei dieser Gruppe von Schimpfworten nicht die angeknallte Person, sondern die durch den Knall unangenehm berührten Zeugen schützen wollte. Das ist aber nicht wahr. Wollte man das Ärgernis bestrafen, so wäre die Erklärung, es gebe keinen Gott, das schwerste Ärgernis. Diese Lehre aber duldet der Staat, teils weil er sich vor seinen besten Geistern schämt, teils. weil die angewandten Naturwissenschaften doch ein schönes Stück Geld einbringen. Wer den lieben Gott beschimpfen will, der muß ihn doch als ein wirkliches Wesen vorstellen; er gehört also zu den Frommen und kann kein groß Ärgernis geben. Nur Gläubige beschimpfen Gott. Der Abruzzenmörder, der die Madonna ohrfeigt, weil sie ihm bei der letzten Unternehmung nicht beigestanden hat, ist ein frommer Mann und kein Gottesbeleidiger. Ein Kirchenstaat wird ihn demnach auch als einen guten Bürger behandeln.

Der Kaiser MARC AUREL war ein Philosoph und kannte darum den Wert der Namen. Er nannte manche Handlungen der Römer Tugenden, viele andere nannte er Laster; die Römer übten beide weiter, zahlten Steuern für die Handlungen, die deshalb Laster hießen, und befanden sich gut dabei. Nur die Kriege hörten unter dem philosophischen Kaiser nicht auf.

Einmal gab es Krieg gegen die Markomannen, die damals in Böhmen saßen und um ihrer Körperkraft willen berühmt waren. "Ich will euch meine Löwen mitgeben," sagte MARC AUREL, und die Soldaten zogen fröhlich mit ihren Löwen in den Kampf. Denn sie wußten durch den Namen allein, daß Löwen grausame Tiere von unbezwingbarer Kraft sind.

Als es zur Schlacht kam, sahen die Markomannen mit Erstaunen die gelben Tiere auf sich zuspringen.

"Was ist das?" fragten sie.

Der Führer der Markomannen war nicht naturwissenschaftlich gebildet, aber auch er war ein Philosoph und kannte die Bedeutung von Namen und Worten.

"Das da? Das sind Hunde, römische Hunde."

Und da die Markomannen es nicht anders wußten, als daß man Hunde totschlägt, wenn sie lästig werden, so schlugen sie die großen römischen gelben Hunde mit ihren Keulen tot.

Hätten die Markomannen aber Bildung besessen und den Begriff vom Löwen gehabt, so hätten sie auch gewußt, wie stark er ist, hätten sich totbeißen lassen und die Schlacht verloren.

Eine sichere Grenzlinie zwischen wirklicher und vermeintlicher Macht der Worte läßt sich nicht ziehen. Der schwarze Medizinmann Afrikas wie der ehrlichste Arzt unserer Universitäten kann durch Worte wirken wie ein Hypnotiseur, durch Zauberworte. Den Übergang von nüchterner Sprachbetrachtung zur Mystik finde ich am schönsten ausgesprochen bei AGRIPPA von NETTESHEIM (Magische Werke 1, Seite 327) AGRIPPA hat sich übrigens über seine kabbalistischen Schriften später selbst lustig gemacht. Er sagt da nach einer ruhigen Darstellung des Sprachvorgangs:
"Die Worte sind das geeignetste Verkehrsmittel zwischen dem, der spricht, und dem, der zuhört; und sie führen nicht allein den Gedanken, sondern auch die Kraft des Sprechenden mit sich, der sie den Zuhörenden mit einer gewissen Energie zusendet, und zwar öfters mit solcher Gewalt, daß sie nicht bloß die Zuhörer verändern, sondern auch andere Körper und leblose Dinge."
Das nächste Kapitel beginnt AGRIPPA schon mit den Worten: "Die Eigennamen sind bei magischen Operationen sehr notwendig, wie fast alle Magier versichern."
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906