p-4tb-1Über Gestaltqualitäten    
 
HANS CORNELIUS
Über Verschmelzung und Analyse
[ 2 / 2 ]

"Statt daß also die einfarbigen Flächen, wie die einfachsten, so auch die der Zeit nach ersten Elemente der optischen Anschauung wären, aus welchen sich unsere Vorstellungen der Gegenstände erst zusammensetzen, sehen wir vielmehr, daß umgekehrt der  Gesamteindruck  der jeweiligen Anschauungsbilder das Primäre ist, woraus der Begriff jener Elemente durch eine Art unwillkürlicher Abstraktion allererst hervorgeht."

"Die meisten Menschen werden den Anblick eines Baumes nach den ihnen geläufigen Begriffen des Stammes, der Äste und ihrer Richtung, der Blätter und ihrer Form zergliedern; der Maler dagegen wird sein Hauptaugenmerk auf die ihm geläufigen Teile richten: auf die Form und Färbung der verschiedenen, sich voneinander abhebenden helleren und dunkleren Parien, die großen zusammenhängenden Formen mit ihren Selbst- und Schlagschatten usw."

"So ist es doch sehr begreiflich, daß jeder, der von den einzelnen Elementen des Gesamteindruckes als einem Gegebenen ausgeht, sich veranlaßt sieht, nach dem  neuen Bestandteil  zu fragen, welcher zu diesen Teilen hinzutreten muß, um den Komplex als ein Neues zu charakterisieren. Ob man ein solches Abstraktum noch als Vorstellungsinhalt bezeichnen und sonach dem positiven Teil von Ehrenfels' Position zustimmen will, ist eine rein terminologische Frage, deren Entscheidung das Wesen der Sache unberührt läßt. Nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, der allgemein abstrakte Vorstellungsinhalte gelten läßt, wäre sie ohne Zweifel zu bejahen."

"Es zeigt sich uns die Tatsache, daß die Wahrnehmung der sukzessiven Änderungen nicht fortwährend stattfindet, sondern daß stets eine größere oder kleinere Spanne letztvergangener Zustände im Gedächtnis als  Einheit  vorgestellt wird, indem die Änderungen während dieser Spanne  unbemerkt  geblieben sind. Will man nach einem Grund für diese Tatsache fragen, so kann man einen solchen auch darin finden, daß die Beurteilung (Auffassung) jedes Inhaltes eine endliche Zeit beansprucht, die unendlich vielen wechselnden Inhalte also unmöglich alle bemerkt werden können. Vergrößerte Aufmerksamkeit auf die Änderungen des Bewußtseinszustandes vermag jene Spanne zu verengern. Doch scheint die Möglichkeit dieser Verengereung bald eine Grenze zu finden."


III. Analyse und Verschmelzung im Gesichtsfeld

1. Daß die Erscheinungen, welche wir als Verschmelzungsphänomene bezeichnen, nicht bloß wie im Tongebiet zwischen gleichlokalisierten, sondern sich auch zwischen räumlich getrennten Empfindungen finden, hat STUMPF bereits ausdrücklich erwähnt. So führt er bei Begründung der Mehrheitslehre (1) in seiner Tonpsychologie die Tatsache an, daß die Masse der Empfindungen, die wir durch die Temperatur der Umgebung, die Berührung der Kleider usw. gleichzeitig in jedem Augenblick empfangen, nur in Ausnahmefällen und bruchstückweise analysiert wird; später erwähnt er ausdrücklich (2) die Verschmelzung von Empfindungen verschiedener Sinnesgebiete untereinander.

Wir wollen von diesen Verschmelzungsphänomenen räumlich getrennter Empfindungen speziell diejenigen im  optischen  Gebiet näher betrachten. Es wird sich dabei zeigen, daß diese Erscheinungen mit den im vorigen Kapitel besprochenen des akustischen Gebietes die größte Analogie darbieten; zugleich wird diese Analogie auf die letzeren ein helleres Licht werfen und, wie ich hoffe, dazu beitragen, die ausgesprochenen Ansichten über die Funktion der Aufmerksamkeit bei der Analyse zu bestätigen.

Auf den ersten Blick scheint allerdings ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen beiden Gebieten gerade in Bezug auf das Bemerken gleichzeitiger Empfindungen zu bestehen. Während im Tongebiet die meisten Menschen das Vorhandensein einer Mehrheit gleichzeitiger Empfindungen, wenn überhaupt, so doch nur mit Aufwand einiger Mühe zu konstatieren vermögen, ist das Dasein einer Mehrheit gleichzeitiger Gesichtsempfindungen eine für jedermann selbstverständliche Tatsache. Der Grund für diesen Unterschied der beiden Gebiete ist wohl hauptsächlich im früher bereits erwähnten Umstand zu suchen, daß im Gegensatz zum Gehör der Gesichtssinn stets eine unbegrenzte Menge gleichzeitiger Empfindungen aufnimmt: wenn ich einen einzelnen Ton höre, so ist mit diesem Ton keine  weitere  Gehörsempfindung notwendig verbunden; dagegen ist jede einzelne Empfindung im Gesichtsfeld untrennbar mit ihrer  Umgebung  verbunden. Ich kann keinen Stern sehen, ohne gleichzeitig den umgebenden dunklen Himmelsteil zu erblicken. Es ist also hier durch die Auffassung einer einzelnen Empfindung sofort die Auffassung einer Mehrheit von Teilempfindungen involviert.

Allein diese unmittelbare Wahrnehmung der Mehrheit gleichzeitiger Empfindungen im Gesichtsfeld erstreckt sich stets nur auf einen geringen Teil der tatsächlich vorhandenen Mehrheit von Empfindungen; die Bestandteile des Anschauungsbildes, welche auf den ersten Blick voneinander unterschieden werden, sind keineswegs die letzten Bestandteile desselben, sondern geben sich bei näherer Betrachtung gleichfalls als Empfindungsmehrheiten zu erkennen. Es zeigen sich also auch hier  Verschmelzungsphänomene,  indem tatsächlich vorhandene Empfindungsmehrheiten anfangs als einheitliche Inhalte erscheinen. Eben diese Verschmelzungsphänomene und die Analyse derselben wollen wir zunächst zum Gegenstand unserer Betrachtung machen; die Resultate dieser Betrachtung werden uns veranlassen, auf die zuerst erwähnte  spontane  Analyse zurückzukommen und zu entscheiden, in wieweit unsere Fähigkeit zu dieser Art der unmittelbaren Mehrheitsauffassung ursprünglich oder erworben ist.

2. Wenn wir ein beliebiges Objekt aus unserer Umgebung betrachten, etwa ein Blatt Papier, den Tisch oder das Stück Landschaft, welches uns durch das Fenster ausgeschnitten erscheint, so finden wir an jedem dieser Objekte bei aufmerksamer Betrachtung eine anscheinend unbegrenzte Menge von Einzelheiten, welche wir beim ersten Anblick kaum ahnten, die aber zusammenfassend zu überblicken uns nicht gelingen will. Die feinen Fasern des Papiers mit ihren Lichtern und Schatten, die Maserung des Holzes auf der Tischplatte, die Zweige und Blätter der Bäume und die Gräser der Wiese - all das vermögen wir nur bei besonders gesteigerter Aufmerksamkeit in kleinen Partien wahrzunehmen; auch jene verhältnismäßig sehr kleine Fläche, welche wir bei einer festbestimmten Stellung des Auges mit voller Schärfe erblicken, enthält stets eine Fülle von Einzelheiten, die wir keineswegs auf den ersten Blick, sondern erst nach einer - je nach unserer Übung und Bekanntschaft mit den Gegenständen längeren oder kürzeren - Zeit aufmerksamer Beobachtung zu erkennen. Wie unvollkommen unsere Kenntnis des Gesichtsfeldes für gewöhnlich bleibt, ersehen wir am deutlichsten, wenn wir versuchen, die angeschauten Gegenstände zeichnend nachzubilden. Anfänger im Zeichnen nach der Natur pflegen diese Erfahrung in doppelter Richtung zu machen. Zuerst sind sie verwirrt durch die Fülle der Details, welche sich in ihrem Gesichtsfeld vorfinden, wenn es sich etwa darum handelt, einen Baum, ein Gewand nachzuzeichnen; sie vermögen das Gesehene nicht alsbald in all seinen Teilen aufzufassen, weil die Verhältnisse verwickelt und die Ansprüche zu groß sind, welche die Analyse an das Gedächtnis des Beschauers stellt. Ist aber diese erste Schwierigkeit einigermaßen überwunden, so geraten sie in eine neue Verlegenheit dadurch, daß es ihnen nicht gelingen will, die feineren Details herauszufinden, welche einer scheinbar einfachen Fläche, wie etwa der Wange eines hellbelichteten jugendlichen Antlitzes, dennoch Abwechslung und Interesse verleihen und deren naturwahre Wiedergabe in Bildnissen von Meisterhan dem Kunstkenner so große Befriedigung gewährt. Erst mit der Zeit erlangt der Zeichner Übung im Beobachten dieser feineren Formen:  er lernt sehen  und entdeckt erst jetzt, wie roh seine Anschauung anfangs gewesen war. Aber soweit auch seine Übung fortschreiten mag, niemals wird es ihm möglich, auf den ersten Anblick die sämtlichen großen und kleinen Formen und Farbflächen des Modells zu erkennen, sondern dieses Erkennen bleibt in jedem einzelnen Fall das Resultat mühevoller Arbeit.

Ist schon für den geübten Künstler ein eingehendes Analysieren der Anschauung mit Arbeit und Schwierigkeiten verbunden, so wird der Laie überhaupt selten imstande sein, über die allerersten Elemente dieser Analyse hinauszukommen. Er wird vielleicht an einem Baum die Gestalt der Blätter beachten, allenfalls die Form des Ganzen auffassen und zusehen, ob die Krone mehr in die Höhe oder in die Breite gewachsen, der Stamm gerade oder schief gestellt, einfach oder verästelt ist; er wird bei einem menschlichen Gesicht die Farbe der Augen, des Haares, der Lippen, etwa auch die Form der Nase, der Stirn, des Kinns bemerken, vielleicht wird ihm noch, wenn er schärfer beobachtet, ein lieblicher oder häßlicher Zug um den Mund oder eine Falte zwischen den Brauen auffallen. Aber das auch nur in seltenen Fällen, wenn seine Aufmerksamkeit aus irgendeinem Grund auf den angeschauten Gegenstand mehr als sonst hingelenkt ist; für gewöhnlich dagegen werden ihm die Bäume, an denen ihn sein Weg vorbeiführt, die Menschen, denen er begegnet, kein derartiges Interesse erwecken: er wird sie sehen, ohne ihre unterscheidenden Merkmale zu beachten, so daß er am Ende seines Weges nicht mehr von ihnen weiß, als eben nur, daß er an Bäumen und Menschen vorübergegangen ist.

3. Trotz dieser mangelhaften oder völlig mangelnden Analyse der Anschauung wird ein  Gesamteindruck  des angeschauten Objekts unmittelbar in das Bewußtsein aufgenommen. Schon die Fähigkeit, das Gesamtbild zu analysieren, setzt ja eine Gesamtempfindung desselben notwendig voraus; wie anders sollten wir die noch nicht analysierten Partien des Gesichtsfeldes denn erblicken, wenn nicht in Form solcher Gesamtempfindungen? Auch manche besondere Tatsachen können uns von der Existenz der letzteren überzeugen. So bewahren wir ja z. B. den Gesamteindruck mancher höchst komplizierter Anschauungsbilder im Gedächtnis, ohne das Geringste von den Einzelheiten derselben zu wissen; wir erkennen Menschen nach einmaligem Sehen wieder, ohne auch nur den Anfang einer Analyse nach der Weise des bildenden Künstlers am Gesicht oder der Gestalt derselben gemacht zu haben. (3) Nur durch die Existenz derartiger Gesamtempfindungen erklärt sich auch die Tatsache, daß wir Änderungen im Gesichtsfeld sofort bemerken, auch wenn wir den Teil, der von der Änderung betroffen ist, vorher nicht für sich wahrgenommen hatten; der  Gesamteindruck  ändert sich und diese Änderung ist es, die wir zunächst bemerken - erst sekundär, indem wir nach einer Ursache für diese Änderung unwillkürlich suchen, wird unsere Aufmerksamkeit auf die Stelle gelenkt, an welcher die Änderung vor sich ging.

Diese unsere Fähigkeit, unanalysierte Anschauungsbilder nach ihrem Gesamteindruck aufzufassen, ist offenbar die  primäre  gegenüber der auf Analyse gegründeten deutlicheren Erkenntnis. Denn wie anders sollte die Analyse sich vollziehen, wenn nicht durch besondere Auffassung von Eindrücken, die, wenn sie gleich Teile der augenblicklichen Gesamtanschauung sind, doch ihrerseits wiederum Gesamteindrücke und weiterer Analyse fähig sind? Wenn ich an einem Baum den Stamm, die Äste, Zweige und Blätter unterscheide, so bietet doch jeder dieser Teile seinerseits ein höchst zusammengesetztes Bild, welches uns dem größeren Ganzen gegenüber wohl als ein  Einfacheres,  keineswegs aber als ein  Einfaches  erscheint. Bei welchen Teilen der Gesamtanschauung die Analyse Halt macht, wird bald der Willkür überlassen, bald durch äußere Umstände bedingt sein; sicherlich aber geht die Analyse nur in den seltensten Fällen auf diejenigen Elemente zurück, die wir jeweils als die einfachsten betrachten können. Wo sie aber auf solche zurückgeht, ist deutlicher zu sehen, daß ein relativ später, zusammengesetzter psychischer Prozeß vorliegt. Als die einfachsten Elemente, auf welche die Analyse des Gesichtsfeldes zurückgehen kann, sind wohl einfarbige Flächenstücke irgendwelcher Gestalt anzusehen. Fragen wir aber, woher wir überhaupt den Begriff einfarbiger Flächen erworben haben, so finden wir, daß wir denselben keineswegs aus der Anschauung der außerordentlich kleinen Flächenteile abgezogen haben, welche in Wirklichkeit als einfarbig gelten können, sondern vielmehr von größeren, faktisch nichts weniger als einfarbigen Flächen,  in  welchen wir nur die geringen Abweichungen vom dominierenden Farbenton nicht bemerken. Das Kind erhält seine Anschauung der verschiedenen Farben nicht von mikroskopischen Partikelchen, sondern von gefärbten Flächen, die einen relativ großen Teil des Sehfeldes einnehmen: grün von den Bäumen und Wiesen, weiß vom Schnee oder von weißem Papier, andere Farben vielleicht von seinem Kleid, seinem Spielzeug, seinem Bilderbuch - durchgängig also von Objekten, an welchen die analysierende Tätigkeit noch eine bunte Mannigfaltigkeit verschiedener Nuancen, Lichter und Schatten entdeckt. Statt daß also die einfarbigen Flächen, wie die einfachsten, so auch die der Zeit nach ersten Elemente der optischen Anschauung wären, aus welchen sich unsere Vorstellungen der Gegenstände erst zusammensetzen, sehen wir vielmehr, daß umgekehrt der  Gesamteindruck  der jeweiligen Anschauungsbilder das Primäre ist, woraus der Begriff jener Elemente durch eine Art unwillkürlicher Abstraktion allererst hervorgeht.

4. Die Existenz unanalysierter Gesamtempfindungen im Gesichtsfeld, sowie die Tatsache, daß diese Gesamtempfindungen das prmär Gegebene sind, woraus erst mit der Zeit die Einzelempfindungen durch Analyse gesondert werden, dürfte durch die vorhergenden Erörterungen hinlänglich gesichert sein. Schon hierin erkennen wir die Analogie der optischen Phänomene mit denen des Gehörsinns. Diese Analogie wird im folgenden noch deutlicher hervortreten.

Betrachten wir zunächst den  Verlauf der Analyse  solcher Gesamtempfindungen, so finden wir, daß auch hier beim Wandern der Aufmerksamkeit von einer Teilempfindung zur andern die  Empfindung  geändert wird. Der natürliche und regelmäßig eingeschlagene Weg zur Analyse optischer Gesamtempfindungen besteht darin, daß wir sukzessive die innerhalb der betreffenden Partie des Gesichtsfeldes wirkenden Reize auf die Stelle des deutlichsten Sehens wirken lassen. Daß hierbei die Empfindung selbst Änderungen erleidet, bedarf keines Nachweises. Allein man wird mit Recht einwenden, daß eine, wenn auch minder vollkommene Analyse sich auch bei  ruhendem  Auge vollziehen kann. Hierauf könnte entgegnet werden, daß die scheinbare Ruhe des Auges beim Fixieren eines Punktes niemals vollkommen ist, indem die geringen Schwankungen der Einstellung nur nicht wahrgenommen werden, wirklich aber als Ursache der Analyse vorhanden sind. Aber mit dieser Entgegnung wäre wenig gewonnen; denn es bliebe doch die Tatsache bestehen, daß die Aufmerksamkeit sich auch auf die seitlichen Teile des Gesichtsfeldes richten kann, ohne daß durch eine gleichzeitige Wendung des Auges diese Teile in die Stellung des deutlichen Sehens gebracht werden: wir können, wenn auch nur bis zu einem geringen Grad von Deutlichkeit, die Seitenteile des Gesichtsfeldes  als solche  analysieren. Diese Analyse bei ruhendem Auge ist offenbar sogar die einzige, welche streng mit der Klanganalyse verglichen werden kann, falls wir das gesamte Gesichtsfeld in Betracht ziehen. Denn bei der oben erwähnten, durch Bewegung des Auges bewerkstelligten Analyse kommen  andere Reize  zur Wirkung, als die in der ursprünglichen Gesamtempfindung enthaltenen, wenn auch diese ursprünglichen Reize das Hauptinteresse in Anspruch nehmen.

Aber auch bei der Analyse, welche wir ohne Änderung der Achsenrichtung des Auges vollziehen können, sind es sukzessive Änderungen der Empfindung, die unsere Erkenntnis der Empfindungsmehrheit begründen, sobald die Analyse überhaupt über die auf den ersten Blick bemerkte Mehrheit hinausgeht. Zunächst findet sich hier ein weiteres physiologisches Moment, welches ohne Veränderung der Reize dennoch eine solche der Empfindungen zustande kommen läßt: die  Akkomodation  [Fähigkeit der Augen, unterschiedlich entfernte Gegenstände scharf abzubilden / wp]. Wenn wir in den deutlich gesehenen Teilen des Gesichtsfeldes bei fixierter Augenstellung die zunächst aufgefaßten Teilflächen immer eingehender zu analysieren suchen, können wir stets bemerken, daß mit der zunehmenden Deutlichkeit des eng begrenzten Flächenstückchens, welchem sichunsere Aufmerksamkeit zuwendet, zugleich die Deutlichkeit der Umgebung abnimmt - eine Erscheinung, deren Abhängigkeit von Akkomodationsänderungen mir keines Beweises zu bedürfen scheint. Nebenher laufen noch andere physiologische Änderungen, welche ebenfalls die Empfindung alterieren und wohl der Hauptsache nach in chemischen Vorgängen auf der Netzhaut ihren Grund haben; auch diese spielen offenbar beim Wechsel der Aufmerksamkeit von einer zur anderen Stelle des Gesichtsfeldes eine nicht unbedeutende Rolle. Nun sind zwar weder die Akkomodationsänderungen noch die letzterwähnten Prozesse und ihre Wirksamkeit bei der Analyse genau bekannt; auch wird die Erforschung dieser Verhältnisse, wenn überhaupt möglich, jedenfalls mit ungewöhnlichen Schwierigkeiten verknüpft sein. Aber die genaue Kenntnis dieser Erscheinungen ist für den vorliegenden Zweck auch keineswegs erforderlich. Uns dient die Anführung jener physiologischen Gründe für die Empfindungsänderungen bei unverändertem Reiz nur dazu, die Erkenntnis des Verlaufs der optischen Analyse überhaupt zu vermitteln; wer die Empfindungsänderungen, die mit diesen Prozessen verknüpft sind, als solche erkannt hat, wird auch die sonst vielleicht minder leicht zu erkennenden Änderungen der Gesamtempfindung, welche sich beim Wandern der Aufmerksamkeit des ruhenden Gesichtsfeldes stets einstellen, unschwer als solche beurteilen, gleichviel, ob ihm die Zurückführung derselben auf einen der genannten Gründe im einzelnen Fall gelingt oder nicht. Das früher aus den allgemeinen Betrachtungen über die Tätigkeit der Aufmerksamkeit erhaltene Resultat, daß mit dem Wechsel der Aufmerksamkeit stets eine Änderung der Gesamtempfindung verbunden ist, findet auf diese Weise auch im optischen Gebiet durch direkte Erfahrung seine Bestätigung.

Soweit wir bis jetzt den Verlauf der Analyse im Gesichtsfeld betrachtet haben, zeigt derselbe mit der Klanganalyse volle Analogie. Durch Wandern der Aufmerksamkeit von einem Teil zum andern wird die Empfindung geändert: eben diese Empfindungsveränderung läßt uns die Zusammensetzung der ursprünglichen Gesamtempfindung beurteilen und dieses Urteil, bzw. die gemachte Erfahrung, auf welcher dasselbe beruth, ist das einzige Resultat der Analyse, wenn wir schließlich unsere Aufmerksamkeit dem ursprünglichen Eindruck im Ganzen wieder zuwenden. Noch deutlicher vielleicht, als im Tongebiet tritt hier die Tatsache hervor, daß durch dieses Wandern der Aufmerksamkeit nicht eigentlich die Einzelempfindungen gesondert wahrgenommen werden, sondern  veränderte Gesamtempfindungen,  in welchen nur jeweils eine der ursprünglichen Teilempfindungen besonders hervorsticht.

5. Wie der Verlauf der Analyse, so entsprechen auch die übrigen Phänomene, welche auf Verschmelzung und Analyse Bezug haben, hier fast völlig denen des akustischen Gebietes. Ich beschränke mich auf die Anführung einiger Beispiele. Wie im Tongebiet, sol leitet uns auch im optischen Gebiet die Gewohnheit oft zur einheitlichen Auffassung bestimmter Komplexe. Ich erinnere nur an die schon früher erwähnte Gesamtempfindung beim Anblick eines Gesichtes oder an die Tatsache, daß wir die mit Zwischenräumen hellerer Farbe abwechselnden dunklen Strichlagen, durch welche in den graphischen Künsten die Schatten wiedergegeben werden, stets als einheitliche dunkle Flächen auffassen. Wie ferner im Zusammenklang der einzelne Ton, so erscheint auch im Gesichtsfeld jede einzelne farbige Partie in ihrer Wirkung, ich möchte sagen in ihrem Gefühlseindruck, beeinflußt durch die Umgebung, so daß es also auch hier der Aufmerksamkeit nicht gelingt, die einzelne Teilempfindung aus dem Verschmelzungsverhältnis völlig loszulösen, in welchem sie zu den übrigen Teilempfindungen steht. Diese Wirkung der Umgebung spielt in der Malerei eine äußerst wichtige Rolle. Auch die Ursache mancher optischer Täuschungen dürfte darin zu suchen sein, daß wir die Teilempfindung, um deren Beurteilung es sich handelt, nicht aus der Vereinigung mit den übrigen Teilempfindungen befreien können und daher unwillkürlich das Urteil über die Gesamtempfindung auf die einzelne Teilempfindung übertragen.

Von besonderem Interesse ist auch hier wieder der Einfluß der Übung auf die Analyse. Wie uns die Übung in der Klanganalyse das Wandern der Aufmerksamkeit von einem Ton zum andern so sehr erleichtert, daß viele kaum mehr einer Anstrengung zur Analyse bedürfen und jeden Zusammenklang direkt als aus diesen und jenen Tönen zusammengesetzt auffassen, so erleichtert sie uns auch die optische Analyse so sehr, daß mancher, ohne durch besondere Beispiele überzeugt zu sein, kaum die Existenz unanalysierter Gesamtempfindungen im Gesichtsfeld zugeben würde. Daß aber die Fähigkeit zur Analyse im Gesichtsfeld allgemein weit vollkommener ausgebildet ist, als im Tongebiet, kann nicht befremden. Wenn es im Tongebiet nur einer verhältnismäßig geringen Minorität gegeben ist, jeden Zusammenklang direkt als Mehrheit aufzufassen, so ist daran zweifellos der Umstand schuld, daß die meisten Menschen nur selten Gelegenheit und Anlaß zur Klanganalyse finden. Im Gesichtsfeld dagegen ist nicht nur fortwährend Gelegenheit zum Analysieren geboten, sondern es geben auch die zwingendsten Gründe des praktischen Lebens zur Übung der optischen Analyse fortwährend Veranlassung. So erklärt es sich, daß hier die Übung allgemein unvergleichlich größer ist, als dort. Die spontane unmittelbare Analyse der Gesichtsempfindungen, die, wie eingangs erwähnt, bis zu einem gewissen Grad jederzeit stattfindet, erklärt sich demnach zwanglos als Folge der unausgesetzten  Übung  im Analysieren, zu welcher wir von Geburt an fortwährend Veranlassung finden: was anfangs nur mit Willen und unter Aufwand an Energie sich vollzog, wird zuletzt zu unwillkürlicher Reflexwirkung. Wenngleich sich niemand von uns der Zeit und des Zustandes erinnert, da er im Gesichtsfeld eine Mehrheit gleichzeitiger Empfindugnen zuerst unterscheiden lernte, so dürfen wir demnach doch wohl schließen, daß ein solcher Zustand den Beginn unserer Sehtätigkeit bildete, daß sonach unsere Fähigkeit zur spontanen Analyse nicht angeboren, sondern erworben ist. (4) Übrigens spielt bei der spontanen Auffassung von Empfindungsmehrheiten im Gesichtsfeld neben der direkten durch das Wandern der Aufmerksamkeit bedingten Analyse auch die indirekte Analyse eine große Rolle: Gesamtempfindungen, welche wir durch frühere Analyse als zusammengesetzt erkannt haben, werden bei öfterer Wiederkehr sofort aufgrund der früheren Analyse als Mehrheiten beurteilt: wenn wir auf den ersten Blick sagen, unser Anschauungsbild bestehe aus einem Nebeneinander verschiedener Empfindungen,  so drücken wir damit nichts anderes aus, als daß dieses Anschauungsbild solche Merkmale trägt, die uns nach früheren Erfahrungen schließen lassen, daß wir beim Wandern der Aufmerksamkeit eine Mehrheit von Teilempfindungen in demselben antreffen. 

6. Man hätte vielleicht eher erwartet, daß die Analogie zwischen den beiden betrachteten Sinnesgebieten sich in anderer Weise zeigen würde. Wie die Töne miteinander verschmolzen als Klänge zu Bewußtsein gelangen, so konnte von vornherein vermutet werden, daß sich auch bei den  Farbenqualitäten  ein analoges Phänomen finden werde; und die Existenz der sogenannten Mischfarben mochte noch besonders auf ein derartiges Verhalten hinweisen. Aber diese Vermutung ist eine evident irrige. Bei den sogenannten Mischfarben kann von Analyse in unserem Sinne ebenso wenig die Rede sein, wie bei einfachen Farben - wenn mit diesem Gegensatz überhaupt eine reelle Vorstellung verbunden werden kann. Die "Mischfarbe" zeigt wohl  Ähnlichkeiten  mit verschiedenen anderen Farben, aber sie ist darum noch nicht eine Mehrheit von Empfindungen; es gelingt niemals durch Konzentration der Aufmerksamkeit auf einen der vermeintlichen Bestandteile den anderen zurückzudrängen, eine der "Grundfarben" in der Mischfarbe gesondert wahrzunehmen. Vielmehr ist jede Farbe für die Empfindung ebenso streng einfach, wie es die Einheitslehre im Sinne STUMPFs - allerdings irrtümlich - für den Zusammenklang forderte. In welcher Weise sich trotz dieser Einfachheit der Farben ihre  Ähnlichkeiten  erklären lassen, ist eine Frage für sich; es mag sein, daß hier gewisse Assoziationen eine größere Rolle spielen, als gemeinhin vermutet wird. Sollte aber keine solche oder anderweitige genügende Antwort auf diese Frage gegeben werden können, so würde daraus keinerlei Einwand gegen die Einfachheit der Farbenempfindungen abzuleiten sein, sondern nur eine Bestätigung der Ansicht, daß die Ähnlichkeit der Empfindungen ein psychologisch einfaches, nicht weiter zu definierendes Verhältnis ist.

Wir sehen also, daß nicht die gewöhnlich als Qualitäten der Sinnesempfindungen bezeichneten Momente einander in den betrachteten Gebieten entsprechen. Es scheint überhaupt nicht tunlich, zwischen den einzelnen Phänomenen so grundverschiedener Empfindungsklassen Analogien aufzustellen. Was den Phänomenen beider Gebiete gemeinsam ist, sind, wie wir gesehen haben, die allgemeinen Gesetze der Verschmelzung und Analyse. Doch sind auch diese selbstredend nach der Natur der betreffenden Sinnesgebiete und besonders nach den verschiedenen physiologischen Einrichtungen, welche die Tätigkeit der Aufmerksamkeit bedingen, in jedem Gebiet gewissen Modifikationen unterworfen.

Die größte Analogie der optischen Analyse mit der akustischen könnte man vielleicht in dem Fall finden, in welchem ein gefärbtes Glas zwischen das Auge und einen entfernteren Gegenstand gehalten wird. Je nachdem ich auf das Glas oder den ferneren Gegenstand akkomodiere [scharf sehe - wp], erhalte ich trotz unveränderten Reizes verschiedene Empfindungen; aber weder im einen, noch im anderen Falle kann ich den Einfluß des minder beachteten Objektes eliminieren - ganz ebenso, wie ich im Zusammenklang  c, f  z.B. wohl auf einen der Töne meine Aufmerksamkeit besonders richten kann, ihn aber dennoch stets in der Färbung wahrnehme, welche durch den anderen gleichzeitig erklingenden Ton bestimmt ist.


IV. Verschmelzung und Analyse sukzessiver Empfindungen.

1. Ähnliche Phänomene, wie sie im vorigen Kapitel an  räumlich  getrennten Empfindungen nachgewiesen wurden, finden sich auch an  zeitlich  getrennten,  sukzessiven  Empfindungen. Hier wie dort ist das Bemerken der Mehrheit der Empfindungen kein selbstverständlicher Prozeß; nur selten, bei besonderer Konzentration der Aufmerksamkeit werden die sukzessiven Empfindungen eines kürzeren Zeitraumes einzeln wahrgenommen. Wenn dieselben trotzdem unseren Bewußtseinszustand beeinflussen, so können sie das demnach nicht anders, als in Form eine  unanalysierten Empfindungsganzen  und wir werden daher folgerichtig auch hier von Verschmelzung der Empfindungen zu sprechen haben.

2. Beispiele von Verschmelzung sukzessiver Empfindungen treffen wir in allen Sinnesgebieten an. Zunächst finden wir im akustischen Gebiet als Beispiele der gesuchten Art fast sämtliche  Geräusche.  Das Rollen eines Wagens, das Rauschen eines Wasserfalls, das Plätschern des Regens, das Heulen des Sturmes in die sukzessiven Einzelempfindungen aufzulösen, wird selten jemand versuchen; auch würde das Gelingen des Versuches wohl meist fraglich bleiben. Trotzdem erkennt jeder von uns diese Geräusche sofort wieder: ein Zeichen, daß ein  Gesamteindruck  derselben unmittelbar ins Bewußtsein aufgenommen wird, auch ohne daß wir die Einzelempfindungen bemerken, aus denen dieser Gesamteindruck resultiert.

Die Analogie dieser Fälle mit der Verschmelzung und Analyse gleichzeitiger Tonempfindungen zeigt sich besonders auch darin, daß der besondere Charakter der genannten Geräusche mehr und mehr verschwindet, je deutlicher wir die sukzessiven Einzelempfindungen beobachten. Richte ich meine Aufmerksamkeit mit Nachdruck auf die sukzessiven Einzelempfindungen, aus welchen sich das Rollen eines Wagens zusammensetzt, so verliere ich völlig die Empfindung des Rollens - ein Versuch, der sich namentlich bei entfernten Geräuschen leicht anstellen läßt, weil hier das Bemerken der Einzelempfindungen meist nicht so schwer ist. Der Parallelismus dieses Phänomens mit der Zerstörung der Klangfarbe durch Analyse liegt auf der Hand.

Es kann hier, wo es sich nur um die allgemeine Konstatierung des Phänomens handelt, nicht unsere Aufgabe sein, dasselbe in seine Einzelheiten zu verfolgen. Es genüge, auf einige Konsequenzen und deren Übereinstimmung mit den Tatsachen hinzuweisen. So wird sich z. B. die Existenz verschiedener Geräusche von gleichem Charakter ebenso leicht erklären, wie diejenige verschieden hoher Klänge von gleicher Klangfarbe: die bestehende Ähnlichkeit ist Ähnlichkeit durch gleiche  Relationen  der Teilempfindungen. (5) Desgleichen die Tatsache, daß wir oft aus Geräuschen willkürlich Melodien herauszuhören imstande sind; auch diese ist ganz analog der entsprechenden Fähigkeit, aus einem  Akkord  Melodien herauszuhören, indem wir in willkürlicher Reihenfolge die Töne desselben mit dem Ohr "fixieren". Im Geräusch fixieren wir aus den oft sehr verschiedenartigen sukzessiven Klängen diejenigen Töne, welche der gewünschten Melodie entsprechen: hier haben wir im Gegensatz zum Fall des Zusammenklanges größere Freiheit in der Wahl der Töne, sind aber dafür meist im Rhythmus beschränkter. Aber wie dort als Begleitung der Melodie der Zusammenklang, so klingt hier neben derselben das Geräusch, die Gesamtempfindung fort - wenn schon in gewisser Weise alteriert, weil von der Aufmerksamkeit zurückgedrängt.

Die hier besprochenen Tatsachen scheinen mir zur Ergänzung der von STUMPF gegebenen Theorie der Geräusche von wesentlicher Bedeutung zu sein.

Die Geräusche sind übrigens keineswegs die einzigen Beispiele für unanalysierte Gesamteindrücke im akustischen Gebiet, wenn auch gerade an ihnen die Analogie mit den früheren Fällen am deutlichsten hervortritt. Auch Tonfolgen, die schon bei geringer Aufmerksamkeit von Musikalischen sofort analysiert werden, treten bei mangelhafter Analyse in einer Form ins Bewußtsein, die mit der eben besprochenen bei Geräuschen die größte Ähnlichkeit hat. Wie häufig begegnet es uns, daß sich eine flüchtig gehörte Melodie unserem Gedächtnis nur in Form eines allgemeinen, in seinen Einzelheiten verschwommenen Bildes einprägt, doch so, daß wir sie nicht nur bei wiederholtem Hören sofort wiedererkennen, sondern auch etwaig Abweichungen vom Original alsbald bemerken. Daß diese Art der Melodie-Auffassung sogar die häufigere und frühere ist gegenüber jener durch genaue Analyse vermittelten, ergibt sich deutlich aus den Bemerkungen, welche und MACH über die Lehrmethode P. CORNELIUS mitteilt. (6)

Gerade an Melodien zeigt sich besonders deutlich  eine  Analogie der Analyse sukzessiver Empfindungen mit den früher betrachteten Fällen der Analyse: daß es nämlich, trotzdem die Bestandteile einzeln bemerkt werden, nicht gelingt, sie aus ihrem Verschmelzungsverhältnis mit den vorhergegangenen Tönen völlig loszulösen - sie anders denn als Teile des Gesamteindrucks aufzufassen. Stets bedingt der verflossene Teil der Melodie den Eindruck des neu auftretenden Tones, wie schon im einfachsten Fall nur zweier Töne deutlich wird:  c  nach  f  "klingt anders" als  c  nach  g. (7) Wie früher die gleichzeitigen unbemerkten Teilempfindungen, so dienen hier die Nachwirkungen der vergangenen Empfindungen dem jeweils bemerkten Ton zum Hintergrund.

3. Nicht minder häufig und wichtig als im akustischen Gebiet sind die Erscheinungen der sukzessiven Verschmelzung in den Gebieten des Gesichts- und Tastsinne. Vor allem gehören die sämtlichen  Bewegungsempfinden  dieser Sinne hierher. Denn zunächst ist klar, daß in den Bewegungsempfindungen einheitliche Gesamteindrücke vorliegen, da wir ja nur in den seltensten Fällen die sukzessiven Komponenten, deren Folge eben als Bewegung empfundne wird, einzeln aufzufassen imstande sind. Ferner aber zeigen eben die möglichen Fälle der Analyse, daß in der Tat auch hier nichts anderes vorliegt, als eine einheitlich aufgefaßte Folge von Einzelempfindungen. Besonders deutlich läßt sich die Analyse bei manchen Tastempfindungen bewerkstelligen: indem man nicht zu schnell mit der Fingerspitze über eine rauhe oder eine mit Wachs polierte, in geringem Grad klebrige Fläche hinfährt, bemerkt man bei einiger Aufmerksamkeit leicht die einzelnen Empfindungen, aus deren Aufeinanderfolge das Gefühl der Rauhigkeit zusammengesetzt ist. Auch hier verschwindet das besondere (gefühlsartige) Empfindungsmoment, welches dem Gesamteindruck anhaftet, um so mehr, je deutlicher die Analyse wird, entsprechend den oben über Geräusch und Klangfarbe gemachten Bemerkungen. Auch im optischen Gebiet darf die Zusammensetzung der Bewegungsempfindungen aus einzelnen Empfindungen, welche keinen Bewegungscharakter haben, durch das Stroboskop wohl als erwiesen gelten. (8)

Die Analogie, welche zwischen der Verschmelzung der sukzessiven Empfindungen und jener der gleichzeitigen besteht, läßt manche Eigentümlichkeiten der Bewegungsempfindungen begreiflich erscheinen. Vor allem die merkwürdige Tatsache, daß  bewegte  Objekte noch wahrgenommen werden, wenn die Intensitätsdifferenz ihres Reizes und der umgebenden unterhalb der Schwelle bleibt, so lange sie sich in  ruhendem  Zustand befinden. Diese Tatsache erscheint im Licht der genannten Analogie um nichts befremdlicher, als daß wir einen Zusammenklang schwacher, einzeln nicht mehr wahrnehmbarer Töne noch wahrnehmen können: die Gesamtempfindung unterliegt eben anderen Beurteilungsbedingungen, als die Teilempfindungen. Ferner die sonst wohl für unbegreiflich gehaltene Tatsache, daß wir Bewegungen wahrnehmen können, ohne die einzelnen Stellungen des bewegten Objektes und den Anfangs- und Endpunkt seiner Bewegung erkennen zu können; während wir jetzt vielmehr sehen, daß gerade dieses Nichtbemerken der einzelnen Stellungen eine charakteristische Eigentümlichkeit der Bewegungsempfindungen als solcher ist. Überhaupt sind alle Unterschiede, welche durch die neuere Auffassung der Bewegungsempfindungen als einer besonderen Klasse von Sensationen (9) gegenüber der älteren Anschauung hervortreten,  solche  Unterschiede, die durch die Verschmelzung sukzessiver Empfindungen gegenüber einzeln wahrgenommenen Teilempfindungen zum Vorschein kommmen.

Die Bewegungsempfindungen im engeren Sinn sind nicht die einzigen Fälle sukzessiver Verschmelzung in den betrachteten Gebieten; doch kann ich mir eine Aufzählung der sämtlichen hierher gehörigen Phänomene ersparen, da EHRENFELS (10) bei seinen Untersuchungen über Gestaltqualitäten gerade diese Erscheinungen besonders ausführlich bespricht. Daß die dort aufgeführten Fälle, in welchen  zeitliche  Gestaltqualitäten auftreten, sämtlich zugleich als Verschmelzungsphänomene sukzessiver Empfindungen betrachtet werden können, dürfte ohne Beweis klar sein.

Zu erwähnen sind außer den angeführten Fällen aus den einzelnen Sinnesgebieten noch die Phänomene der sukzessiven Verschmelzung in der Gesamtempfindung aller körperlichen Organe. Es geschieht uns nicht selten, daß wir während einer kürzeren oder längeren Zeitspanne die Veränderung unseres körperlichen Zustandes nicht bemerken, so daß uns während dieser Zeit das Empfindungsganze als eine Einheit erscheint und als solche bei nachträglichem Betrachten im Gedächtnis reproduziert wird. Die Analogie dieses Phänomens mit den vorher betrachteten liegt auf der Hand.

4. Wenn wir nach den charakteristischen Merkmalen fragen, welche die hier beschriebenen Verschmelzungsphänomene von jenen bei gleichzeitigen Empfindungen unterscheiden, so liegt es nahe, ein solches Merkmal in dem Umstand zu suchen, daß hier die Empfindungen erst mit der Zeit verschmelzen können, daß also das Verschmelzungsverhältnis nicht ein von vornherein bestehendes, sondern ein erst mit der Zeit entstehendes ist. Allein dieser Unterschied ist in Wirklichkeit von geringem Gewicht. Das Verschmelzungsverhältnis kommt ja nicht erst den Teilempfindungen zu, wie sie nachträglich durch Analyse erkannt werden können, sondern dem Empfindungsganzen als solchem, wie es sich unserer Auffassung zunächst darbietet. Hier wie früher ist dieses das primär Gegebene und seine Komponenten werden erst sekundär durch Analyse erkannt; für unsere Beurteilung ist also hier ganz dasselbe Verhältnis gegeben wie dort.

Eine andere Frage ist die, wie denn überhaupt Verschmelzung sukzessiver Empfindungen zustande kommen kann. Man sollte doch denken, zeitlich nicht zusammenfallende Empfindungen seien  eo ipso  [selbstverständlich - wp] so scharf voneinander getrennt, daß sich eine noch schärfere Trennung gar nicht denken lasse; wie soll nun hier doch noch von Verschmelzung die Rede sein? Wie soll überhaupt verschmelzen, was gar nicht zusammen besteht?

Hierauf ist zunächst zu erwidern, daß, wenn wirklich keine Erklärung für diese Schwierigkeit gegeben werden könnte, wir sie eben als ungelöste Rätsel einfach hinnehmen müßten; denn die Tatsachen, die für die Verschmelzung sukzessiver Empfindungen angeführt wurden, lassen sich nicht hinwegleugnen, noch auch, wie mir scheint, in irgend anderer Weise deuten. Aber die obigen Einwürfe sind auch keineswegs unlösbar. Zunächst können wir dieselben zurückweisen durch die Bemerkung, daß in ihnen der Begriff der Verschmelzung zu eng gefaßt ist. Während wir durch dieses Wort nur die Tatsache ausdrücken wollten, daß Empfindungen nicht einzeln, sondern in Form eines Gesamteindrucks aufgefaßt werden, wird in jenen Einwürfen der Begriff der Verschmelzung offenbar im engeren Sinn gefaßt, in welchem er in den vorhergehenden Kapiteln zur Anwendung kam. Aber auch in diesem engeren Sinn kann bei den vorliegenden Phänomenen von Verschmelzung gesprochen werden. Denn wenngleich die sukzessiven Empfindungen nicht zusammen bestehen, so bestehen doch stets die  Nachwirkungen  jeder Empfindung zusammen mit der folgenden Empfindung: so daß sich wenigsten teilweise die Verschmelzung sukzessiver Empfindungen auf die Verschmelzung gleichzeitiger Nachwirkungen (Gedächtnisbilder) und neu eintretender Empfindungen reduziert. Da jedes dieser Gedächtnisbilder die Wirkung der Zeitdauer in sich trägt, welche seit der zugrunde liegenden Empfindung verflossen ist, so erklärt sich leicht, daß die Zeitfolge der Empfindungen im verschmolzenen Ganzen gleichzeitiger Nachwirkungen wesentlich bestimmend mitwirkt.

Daß aber die Empfindungen, obwohl zeitlich getrennt, doch nicht alle einzeln wahrgenommen werden, ist um nichts merkwürdiger, als daß nicht alle räumlich getrennten Empfindungen des Gesichtsfeldes einzeln wahrgenommen werden. Wie die Aufmerksamkeit im Gesichtsfeld sich von größeren zu kleineren und immer kleineren Teilflächen konzentrieren muß, um die Analyse zu vervollkommnen, so muß sie sich auch zur Analyse der sukzessiven Empfindungen gewissermaßen auf immer kleinere Zeitperioden akkomodieren.

Der wesentlichste Unterschied zwischen den hier betrachteten Phänomenen und denjenigen bei gleichzeitigen Empfindungen scheint mir in der Modifikation zu liegen, welcher die Ausführung der Analyse vermöge der hier bestehenden besonderen Verhältnisse unterworfen ist. Das Fortbestehen der Reize, welches früher zur Analyse stets vorausgesetzt werden konnte, ist hier durch die Natur der Sache ausgeschlossen. Die Analyse müßte daher entweder im Gedächtnis stattfinden oder aber es muß periodisch die gleiche oder wenigsten annähernd gleiche Empfindungsfolge wiederkehren, damit wir die Analyse, die bei der zuerst aufgefaßten Gesamtempfindung mangelte, bei erneutem Eindruck ausführen können.

Diese letztgenannte Form ist es, welche die Analyse sukzessiver Empfindungen in der Regel annimmt. Von der Analyse im Gedächtnis dagegen dürfen wir wohl behaupten, daß sie, wo sie vorkommt, nichts anderes ist, als  mittelbare  Analyse aufgrund früherer Erfahrungen. Ein im Gedächtnis vorhandener Gesamteindruck scheint mir keinerlei Anhaltspunkte zu bieten, auf welche eine Beurteilung seiner Komponenten sich gründen könnte; nur wenn wir schon aus früherr direkter Analyse über die Zusammensetzung ähnlicher Eindrücke Kenntnis gewonnen haben, werden wir aufgrund dieser Erfahrungen auch das vorliegende Gedächtnisbild als ein in gewisser Weise zusammengesetztes zu beurteilen imstande sein.


V. Ergänzende Betrachtungen

1. Wir wollen an die gewonnenen Resultat einige Ausführungen allgemeinerer Natur anknüpfen, welche unter den speziellen Betrachtungen der vorigen Kapitel keine Stelle finden konnten, zur Vervollständigung der Theorie aber notwendig erscheinen.

Fassen wir zunächst die allgemeinen Ergebnisse unserer bisherigen Betrachtungen zusammen. Dieselben haben uns einerseits gezeigt, daß die direkte Analyse ursprünglich jederzeit auf der Wahrnehmung sukzessiver verschiedener Gesamtempfindungen beruht, welche bei einer Mehrheit gleichzeitiger oder sukzessiver Reize durch die Tätigkeit der Aufmerksamkeit oder durch den Wechsel der Reize erzeugt werden; andererseits haben sie uns zu dem Schluß geführt, daß auch da, wo wir eine Mehrheit gleichzeitiger Empfindungen direkt als solche wahrzunehmen glauben, tatsächlich entweder die Wahrnehmung einer Mehrheit sukzessiver Empfindungszustände vorliegt - indem sich das Wandern der Aufmerksamkeit in Folge andauernder Übung spontan und in kürzester Zeit vollzieht - oder aber unsere Beurteilung der Mehrheit überhaupt nicht auf direkter Analyse beruth, indem wir vielmehr aufgrund früherer Erfahrungen sofort schließen, daß der vorliegende Gesamteindruck beim Wandern der Aufmerksamkeit sich als Mehrheit werde zu erkennen geben. Hieraus folgt weiter, daß die Beurteilung einer Mehrheit  gleichzeitiger  Empfindungen überhaupt in jedem Fall eine direkte ist; denn wenn wir nach vollzogener Analyse die ursprüngliche Gesamtempfindung wieder zum Gegenstand unserer Betrachtung machen, so ist diese an sich nicht verändert, sondern ebenso einheitlich wie zuvor und nur aufgrund der gemachten Erfahrungen beurteilen wir sie dennoch als Mehrheit. Der Begriff der Mehrheit gleichzeitiger Teilempfindungen erscheint demnach - entsprechend unserer früher ausgesprochenen Vermutung - nicht als ursprünglicher, sondern als abgeleiteter Begriff, welcher somit nicht bloß, wie es bei Betrachtung einer Mehrheit gleichzeitiger optischer Eindrücke zuerst scheinen möchte,  deiktischer  [Bedeutung durch Kontext - wp] Bestimmung zugänglich ist, sondern aufgrund des Begriffs einer Mehrheit sukzessiver Empfindungen definiert werden kann und muß.

2. Die soeben angeführte Tatsache, daß nach vollzogener Analyse die ursprüngliche Gesamtempfindung nicht weniger einheitlich ist als zuvor - sei es nun, daß dieselbe bei fortdauerndem Reiz durch Wiederherstellung des anfänglichen physiologischen Zustandes zurückgerufen werden kann oder daß sie nur in Form ihres Eindrucks auf das Gedächtnis vorgestellt wird - und nur unsere Beurteilung derselben verändert ist, läßt sich auch dahin aussprechen, daß das Verschmelzungsverhältnis, in welchem sich die unbemerkten Teilempfindungen befinden, sich nach der Analyse nicht geändert hat. Wir müssen demgemäß die früher gegebene Definition der Verschmelzung als des Korrelats der Analyse durch die Bemerkung einschränken, daß nur  während des Verlaufs  der Analyse das ursprüngliche Verschmelzungsverhältnis zerstört wird, nach vollzogener Analyse aber nicht alteriert erscheint, falls der ursprüngliche Gesamteindruck wieder zum Gegenstand der Aufmerksamkeit gemacht wird. Dieses Verhalten entspricht der Tatsache, daß sich während der Analyse die Gesamtempfindung ändert. Indem die Teilempfindungen, welche den gleichen unveränderten Reizen entsprechen, eine andere Gesamtempfindung bilden als zuvor, verändert sich ihr Verschmelzungsverhältnis: anstelle derjenigen Teilempfindung, welche zunächst die Richtung der Aufmerksamkeit bestimmte, treten beim Wandern der Aufmerksamkeit sukzessive die anderen Teilempfindungen als dominierende Bestandteile des jeweiligen Empfindungsganzen auf, keine von ihnen aber völlig gelöst aus der Verschmelzung mit den übrigen Teilempfindungen, sondern nur je in einem  andern  Verhältnis zu den letzteren. Auch die direkte Analyse zerstört somit nicht die Verschmelzung der Empfindungen überhaupt, sondern nur die  ursprüngliche  Verschmelzung derselben, indem sie anstelle derselben sukzessive andere Verschmelzungen treten läßt.

In gleicher Weise kann selbst bei der Analyse von Komplexen  sukzessiver  Empfindungen die Verschmelzung nur geändert, nicht aber völlig aufgehoben werden. Wenn ich eine Folge von Empfindungen zunächst als Einheit auffaßte, bei Wiederholung der gleichen Reizfolge aber analysiere, so ist damit zwar diejenige Einheit aufgehoben, welche mich die Empfindungen ursprünglich nicht einzeln bemerken ließ, keineswegs aber diejenige Einheit, vermöge deren jede dieser sukzessiven Teilempfindungen eben  als Teil  der betreffenden Empfindungsfolge erscheint: nämlich die Verschmelzung mit den Nachwirkungen der vorhergegangenen Empfindungen. Diese aufzuheben gelingt ebensowenig, als es bei einem Komplex gleichzeitiger Empfindungen gelingt, die minder beachteten Teilempfindungen aus der Empfindung auszulöschen, die speziell betrachtete Teilempfindung völlig zu isolieren.

3. Wie der Begriff der unbemerkten Teilempfindungen zu verstehen sei, welche im Empfindungsganzen, obwohl nicht einzeln wahrgenommen, dennoch als vorhanden betrachtet werden müssen, wurde bereits gelegentlich der Betrachtung der Verschmelzung im Tongebiet erläutert. Entsprechend den dort für das spezielle Gebiet gegebenen Definitionen werden wir als unbemerkte Teilempfindung allgemein die Wirkung eines Reizes zu bezeichnen haben, insofern dieselbe einerseits zum Empfindungsganzen beiträgt, andrerseits bei veränderter Aufmerksamkeit einzeln bemerkt werden kann. Es möchte zweckmäßig erscheinen, den Begriff bemerkter Eindrücke und Teilempfindungen von jenem der unbemerkten, erst durch Analyse aufzufindenden, durch einen besonderen Namen zu scheiden. Wie leicht zu sehen, fallen die unbemerkten Teile als solche nicht unter den BRENTANOschen Begriff der Vorstellung, da von ihnen offenbar nicht der Satz gilt, daß mit ihrem Vorhandensein im Bewußtsein zugleich das Urteil gegeben ist, welches dieses Vorhandensein behauptet; dieses Urteil tritt vielmehr erst dann ein, wenn die Empfindungen  bemerkt  werden. Demnach liegt es nahe, unter dem Begriff der  Vorstellung  die  bemerkten  Eindrücke zusammen zu fassen - gleichviel ob dieselben in Wahrnehmungs- oder Phantasievorstellung gegeben sind. Diese Definition der Vorstellung deckt sich nicht nur dem Wesen nach mit einer unlängst von anderer Seite vorgeschlagenen (11), sondern scheint mir auch zur Erkenntnis der wahren Bedeutung dieser letzteren wesentlich beizutragen.

Daß die unbemerkten Empfindungen nicht als  unbewußte  zu bezeichnen sind, wurde ebenfalls bereits früher bemerkt: sie sind nicht nur von wesentlichem Einfluß auf den Bewußtseinszustand, sondern sie sind auch, wenn schon nicht einzeln, so doch in Form der durch sie bedingten Gesamtempfindung, Objekte eines vorstellenden Aktes, also eines Bewußtseins im Sinne BRENTANOs.

Noch mehr: wir können nicht nur die Existenz unbemerkter, sondern selbst  unbemerkbarer  Empfindungsteile konstatieren, die dennoch im eben bezeichneten Sinn als bewußt bezeichnet werden müssen. Dieselben sind, wie die bemerkbaren Teile, wesentliche Komponenten der Gesamtempfindung und von jenen nur graduell unterschieden. Auf das Vorkommen derselben hat STUMPF bereits aufmerksam gemacht. (12) Wenn ich hier auf diesen Punkt zurückkomme, so veranlassen mich dazu besonders zwei Umstände in STUMPFs Darlegungen. Einerseits könnte in dem Zusammenhang, in welchem STUMPF die Möglichkeit unbemerkbarer Empfindungen bespricht, leicht der Anschein entstehen, als ob dieser Begriff aus den dort vorangehenden Erörterungen über  unbemerkbare  Empfindungsdifferenzen' sich ergäbe - Erörterungen, die von mehreren Seiten Widerspruch hervorgerufen haben. Es ist demgegenüber zu betonen, daß ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Teilen von STUMPFs Psycholoie nur insoweit besteht, als durch die Forderung unbemerkbarer Empfindungsdifferenzen allerdings diejenige unbemerkbarer Empfindungen selbst notwendig involviert wird; umgekehrt aber bedingen letztere nicht auch die ersteren. Wer die Existenz unbemerkbarer Empfindungsdifferenzen z. B. in der Tonhöhe oder Klangfarbe leugnet, wird deshalb sicher noch nicht leugnen, daß es ihm unter Umständen auch bei gespanntester Aufmerksamkeit unmöglich ist, einen schwachen Teilton eines gegebenen Klanges gesondert wahrzunehmen. Andererseits aber scheint mir in STUMPFs bezüglicher Bemerkung nicht hinreichend das Merkmal betont zu sein, durch welches sich eine unbemerkbare Empfindung von einem  Reiz unter der Empfindungsschwelle  unterscheidet. In der Tat konnten erst die Betrachtungen über Verschmelzung und Analyse eine strenge Unterscheidung dieser Fälle ergeben. Ein Reiz unter der Empfindungsschwelle liefert zur Gesamtempfindung keinerlei Beitrag; eine unbemerkbare Empfindung hingegen kann nur wegen der besonderen Nebenumstände nicht einzeln wahrgenommen werden, ist aber einer der wesentlichen Faktoren der Gesamtempfindung, wie sich durch die Änderung der letzteren bei Wegfall derjenigen Reize ergibt, welche die unbemerkbaren Teilempfindungen erzeugen. Erst da,  wo diese Änderung selbst unbemerkbar  bliebe, würden wir auf die Theorie unbemerkbarer Empfindungsdifferenzen geführt werden. Auf diese und die Kontroversen über dieselbe einzugehen liegt nicht im Plan dieser Untersuchung.

In manchen Fällen sind die Teile eines Empfindungsganzen, welches durch eine bestimmte Mehrheit von Reizen erzeugt wird, für das eine Individuum nur unbemerkte, für das andere aber unbemerkbare Empfindungen. Wer Klänge überhaupt nicht zu analysieren vermag - und es gibt sehr viele Menschen, welchen das niemals gelingt - für den sind die Obertöne unbemerkbare Empfindungen, wenn er auch die dadurch bedingten Unterschiede der Klangfarben sehr wohl bemerkt. Fälle dieser Art geben uns eine gewisse Berechtigung, auch solche Verschiedenheiten der Empfindungsqualitäten, welche zunächst nicht weiter zurückführbar erscheinen, aufgrund der Annahme unbemerkbarer Teilempfindungen zu erklären. So ließe sich eine solche Hypothese zur Erklärung der Ähnlichkeiten der Farben sehr wohl heranziehen. Auch zur Erklärung verschiedener Sinnesqualitäten aus gemeinschaftlichen Grundphänomenen in der von EHRENFELS angedeuteten Weise (13) wäre die Einführung der unbermerkbaren Teilempfindungen nicht zu umgehen.

4. Unsere bisherigen Betrachtungen halten der Hauptsache nach nur die  willkürliche  Analyse vorgelegter Gesamtempfindungen zum Gegenstand, während wir auf die unwillkürliche Analyse nur insofern einzugehen Veranlassung hatten, als wie die Entwicklung derselben aus den willkürlichen festzustellen suchten. Zur Ergänzung der Theorie der Analyse müssen wir nunmehr noch in Kürze die Bedingungen besprechen, welche für gewöhnlich ohne besonders darauf gerichtetes Wollen unsere Mehrheitswahrnehmung zustande kommen lassen.

Die mittelbare Analyse, also die Beurteilung eines durch frühere direkte Analyse bereits als zusammengesetzt erkannten Eindruckes, scheint von unserem Willen nicht wesentlich beeinflußt zu werden. Ist eine Erkenntnis dieser Art durch frühere Erfahrung erlangt, so wird die Erinnerung an dieselbe bei Erneuerung des betreffenden Eindruckes je nach Umständen bald eintreten, bald ausbleiben; ihren Eintritt willkürlich hervorzurufen scheint nicht möglich, da dieser Wille den Gedanken, welchen er bedingen soll, seinerseits bereits voraussetzt. Hingegen ist der Verlauf der direkten Analyse durch unsere Willkür insofern mitbedingt, als diese die Tätigkeit der Aufmerksamkeit beherrscht; es wird sich daher zunächst fragen, ob diese Tätigkeit auch ohne Mitwirkung eines Willensaktes sich vollziehen kann.

Wie wir bei der willkürlichen Analyse eine willkürliche Anstrengung der Aufmerksamkeit konstatierten, so pflegt man auch da, wo sich ohne Mitwirkung unseres Willens ein Gegenstand unserer Wahrnehmung aufdrängt, von  unwillkürlicher Aufmerksamkeit  zu sprechen, welche also nicht eine positive Leistung von unserer Seite erfordert, sondern durch die Objekte in uns erregt wird. Im einen Fall sagen wir, daß wir unsere Aufmerksamkeit auf den Gegenstand lenken, im andern Fall, daß der Gegenstand unsere Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Der gemeinsame Name, welcher unseren psychischen Zuständen in beiden Fällen erteilt wird, möchte wohl auf eine Verwandtschaft derselben schließen lassen: es scheint, als ob ein besonderer Zustand der Spannung, ein Gefühl des Interesses für die Gegenstände unserer Wahrnehmung uns als Ursache für das Bemerken derselben im einen und im andern Fall entgegentrete. Indessen zeigt sich bei näherer Betrachtung zunächst, daß mit dem Namen der unwillkürlichen Aufmerksamkeit zwei verschiedene Fälle bezeichnet werden. Entweder wird nämlich das Objekt (die Teilempfindung), welches unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, nur  bemerkt,  aber nicht weiter analysiert; oder aber es knüpft sich an dieses spontane Bemerken der Versuch zur weiteren Analyse aufgrund nunmehr eingetretener  willkürlicher  Aufmerksamkeit. Offenbar tritt nun aber nur im zweiten Fall wirklich jenes oben bezeichnete Gefühl der Spannung auf und zwar erst sekundär, nachdem der Gegenstand unserer Aufmerksamkeit bereits bemerkt ist. Die vermutete Verwandtschaft der als willkürliche und unwillkürliche Aufmerksamkeit bezeichneten psychischen Zustände findet sich somit erstens keineswegs in allen Fällen und hat zweitens da, wi sie sich findet, eben nur darin ihren Grund, daß an das unwillkürliche Bemerken, welches allgemein nach dem vulgären Sprachgebrauch als Erfolg unwillkürlicher Aufmerksamkeit hingestellt wird, weiterhin die Tätigkeit der  willkürlichen  Aufmerksamkeit sich anschließt: das Gefühl der Spannung, welches zunächst der willkürlichen und unwillkürlichen Aufmerksamkeit gemeinsam schien, zeigt sich in Wirklichkeit nur als Merkmal der willkürlichen Aufmerksamkeit. Zugleich zeigt diese Betrachtung, daß jenes Gefühl nichts anderes sein kann, als eben  das auf das Bemerken gerichtete Wollen,  indem ein weiteres psychologisches Merkmal, welches den Fällen der willkürlichen Aufmerksamkeit gemeinsam wäre und jenen Spannungszustand näher charakterisierte, nicht zu entdecken ist. Löst sich aber demnach der Begriff der willkürlichen Aufmerksamkeit in ein bloßes  Bemerkenwollen  (14) auf, so bleibt für den Begriff der unwillkürlichen Aufmerksamkeit keinerlei positive Bestimmung mehr übrig: es sind nur zwei verschiedene sprachliche Ausdrücke für dieselbe Sache, wenn ich einmal sage, daß ein Teilinhalt meiner Gesamtempfindung meine Aufmerksamkeit unwillkürlich auf sich gezogen hat, das andere Mal einfach angebe, daß ich diesen Teilinhalt als solchen bemerkt habe. Erst wenn durch den ersteren Ausdruck mit angedeutet werden sollte, daß sich an das erste Aufsichlenken der Aufmerksamkeit eine weitere willkürliche Analyse anknüpft, hätte derselbe eine engere Bedeutung als die eines bloßen Bemerkens. Diese Mitbezeichnung ist aber keineswegs allgemein beabsichtigt, wo von unwillkürlicher Aufmerksamkeit die Rede ist.

Kann somit von einer Tätigkeit der Aufmerksamkeit bei der rein unwillkürlichen Analyse überhaupt nicht gesprochen werden, so kann es sich für unsere Frage nur noch darum handeln, ob und wie weit die besonderen physiologischen Prozesse, welche bei der willkürlichen Analyse durch die Tätigkeit der Aufmerksamkeit hervorgerufen werden, auch bei der unwillkürlichen Analyse eine Rolle spielen.

Die Analyse sukzessiver Empfindungen, soweit sie sich bei nicht zu schnellem Wechsel der Reize spontan vollzieht, scheint außer den direkt durch die Reize hervorgerufenen physiologischen Änderungen keinerlei besondere Tätigkeit der Organe zu erfordern. Hier wird also der Unterschied zwischen der unwillkürlichen und der willkürlichen Analyse wesentlich darin bestehen, daß im einen Fall die Reize selbst die Änderungen bewirken, zu deren Erzeugung im anderen Fall die Tätigkeit der Aufmerksamkeit mitwirkt. Was hingegen die Analyse gleichzeitiger Empfindungen angeht, so haben uns bereits frühere Beispiele gezeigt, daß jene Prozesse, welche ursprünglich durch die Aufmerksamkeit hervorgerufen werden, durch fortgesetzte Übung zu  unwillkürlichen Reflexwirkungen  werden können. Wo spontane Analyse gleichzeitiger Empfindungskomplexe bei streng gleichbleibenden Reizen vorkommt, wird sie in der Tat stets auf diese Wirkung der Übung zurückzuführen sein. In den meisten Fällen aber dürfte die bereits mehrfach erwähnte  indirekte  Beurteilung unserer spontanen Erkenntnis gleichzeitiger Empfindungsmehrheiten zugrunde liegen.

Allgemein können wir demnach die Vorgänge, auf welchen die Analyse beruth,  ohne  Rücksicht auf die Mitwirkung unseres Willens etwa folgendermaßen beschreiben:

Die Gesamtheit unserer Empfindungen befindet sich teils infolge physischer Prozesse in der Außenwelt, teils infolge physiologischer Vorgänge innerhalb unseres Körpers in einem Zustand fortwährender Veränderung. Wir bemerken im wachen Zustand diese Änderungen zwar nicht immerwährend alle, aber doch von Zeit zu Zeit die durch ihr Zusammenwirken entstehende Gesamtänderung. In dieser Gesamtänderung dominieren je nach den physischen und physiologischen Verhältnissen gewisse Komponenten; wir pflegen zu sagen, daß wir diese Komponenten besonders bemerken. Mit diesem Ausdruck ist aber streng genommen nichts anderes gesagt, als daß eben diese Komponenten unter der Mehrheit der augenblicklichen Empfindungen die wichtigsten sind, welche der Aufmerksamkeit ihre Richtung und der Gesamtempfindung ihren besonderen Charakter bestimmen. Sie sind deshalb noch keineswegs streng einzeln wahrgenommen; vielmehr gelingt es niemals, sie aus der Menge der gleichzeitigen Empfindungen und Nachwirkungen vergangener Empfindungen abzutrennen. Aufgrund früherer Analysen, welche uns schließen lassen, daß sich die vorliegende Gesamtempfindung beim Wandern der Aufmerksamkeit als zusammengesetzt erweisen werden, wie auch aufgrund äußerer Erfahrungen, welche uns die unabhängigen Komponenten unserer Empfindung kennen lehren, sprechen wir trotzdem von den einzelnen Teilen unseres Empfindungsganzen in derselben Weise, als ob es uns möglich wäre, dieselben völlig zu isolieren.

5. Außer den Bedingungen, welche unsere Aufmerksamkeit auf gewisse Teile unserer Gesamtempfindung hinlenken, hängt die Analyse auch noch von denjenigen Faktoren ab, welche uns bestimmen, die Analyse nur bis zu einem gewissen Punkt fortzusetzen, gewisse Komplexe, welche tatsächlich weiterer Analyse fähig wären, als  Einheiten  aufzufassen. In erster Linie scheint hier die  Gewohnheit  maßgebend, welche uns überall vorgebildete Begriffe als Einteilungsprinzipien unserer Anschauung zugrunde legen läßt. So werden, um auf ein früheres Beispiel zurückzugreifen, die meisten Menschen den Anblick eines Baumes nach den ihnen geläufigen Begriffen des Stammes, der Äste und ihrer Richtung, der Blätter und ihrer Form zergliedern; der Maler dagegen wird sein Hauptaugenmerk auf die ihm geläufigen Teile richten: auf die Form und Färbung der verschiedenen, sich voneinander abhebenden helleren und dunkleren Parien, die großen zusammenhängenden Formen mit ihren Selbst- und Schlagschatten usw. Wie sehr ein solcher Einfluß vorgebildeter Begriffe all unser Anschauen beherrscht, zeigen täglich eine Menge Beispiele aus den verschiedensten Gebieten. So die ersten Versuche von Kindern, gesehene Gegenstände zu zeichnen, wobei ohne Rücksicht auf wirkliche Anschauung die Zeichen für die vom Kind bereits begrifflich unterschiedenen Teile des Angeschauten nebeneinander gestellt werden; nicht minder die Wiedergabe von Landschaften und Menschen in den Kindheitsperioden der Kunst, welche ohne Rücksicht auf Perspektive feststehende Schablonen zur Darstellung verwenden, als am bloßen Hinweis auf den  Begriff  des Darzustellenden sich genügen lassen. Weitere Beispiele liefert das Falschlesen und Falschhören, das Übersehen von Druckfehlern, das "Hineinsehen" bekannter Gestalten in Wolkenbildungen usw. Von welchem Einfluß diese unsere Gewohnheit auf die Entwicklung unserer Begriffe selbst ist, hat SIGWART (15) eingehend dargelegt.

Indessen ist dieser Faktor selbstredend kein primärer, sondern selbst von anderen abhängig, da ja jede Gewohnheit erst  entstehen  muß. Das Erlernen unserer Muttersprache bringt allerdings schon eine solche Gewohnheit zur Anwendung bestimmter Begriffe mit sich. Allein auch die Bildung dieser Begriffe in der Sprache muß auf einfacheren Faktoren beruhen; und wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir diese Faktoren selbst in ebenso äußerlichen und zufälligen Erscheinungen suchen, wie es für den Einzelnen die durch die Sprache dargebotenen konstanten Bildungen sind. Komplexe, die in unserer Empfindung als einheitliche Bestandteile beim Wechsel der übrigen Komponenten verharren und sich wieder und wieder bemerkbar machen, werden selbstverständlich leichter als Einheiten aufgefaßt, als solche Komplexe, deren Zustandekommen mehr zufällig und deren Charakter demgemäß ein schwankenderer ist. Wie aus solchen konstant wiederkehrenden Komplexen die sprachlich fixierten Begriffe entstanden sind, so bilden ebensolche Komplexe, auch wenn sie keinen sprachlichen Ausdruck gefunden haben, stets die Einheiten, auf welche unsere Analyse zurückgeht, so lange nicht wissenschaftliche oder künstlerische Bestrebungen uns veranlassen, jene Komplexe noch in ihre weiteren Bestandteile aufzulösen.

6. Die Resultate unserer Betrachtungen über die Analyse und Verschmelzung im Empfindungsgebiet stehen, wie man leicht erkennt und Eingangs bereits bemerkt wurde, in naher Beziehung zu denen der Untersuchungen von EHRENFELS (16) und MEINONG (17) über die Gestaltqualitäten oder fundierten Inhalte. Die Verwandtschaft unseres Problems mit dem von EHRENFELS behandelten ist unverkennbar. EHRENFELS' Untersuchung geht allgemein auf die Entstehung eines neuen Inhaltes durch das Zusammenwirken einer Mehrheit einfacherer Inhalte; wenn unser Ausgangspunkt insofern ein verschiedener ist, als wir umgekehrt das Erkennen der Mehrheit einfacherer Inhalte in einem gegebenen komplexen Inhalt zum Gegenstand der Betrachtung machten, so ist doch deutlich, daß sich gerade die wesentliche Frage der EHRENFELSschen Untersuchung, soweit diese sich auf physische Phänomene (18) bezieht: wodurch sich die Empfindungskomplexe von der bloßen Summe der Teilinhalte unterscheiden? auch auf dem hier eingeschlagenen Weg erledigen mußte. Unser Ausgangspunkt aber scheint mir der natürlichere, da ja in Wirklichkeit die komplexen Inhalte das primär Gegebene sind, worin wir die Bestandteile erst sekundär erkennen. In der Tat gelangen wir von unserer Fragestellung aus nicht nur direkt zur Lösung des EHRENFELSschen Grundproblems, sondern es erscheinen auf unserem Weg auch manche Punkte in hellerem Licht, welche EHRENFELS' Untersuchung nicht zu voller Klarheit bringt. Während diese hauptsächlich durch den negativen Teil der Behauptung überzeugt (19) - daß nämlich die in Rede stehenden Vorstellungsgebilde nicht als bloße Summen ihrer Elemente betrachtet werden dürfen - ergeben unsere Betrachtungen dazu die positive Ergänzung, indem sie deutlich zeigen, worauf der Unterschied der Gesamtempfindung gegenüber den Teilempfindungen beruth.

Die erste Frage, durch welche EHRENFELS sein Problem charakterisiert (20): ob und inwiefern die Melodie von  n  Tönen von  einem  Individuum aufgefaßt  mehr  sei, d. h. einen anderen Inhalt repräsentieren, als dieselben  n  Töner von  n  verschiedenen Individuen aufgefaßt - ist durch unsere bisherigen Betrachtungen implizit vollständig beantwortet. Nur da kann ja natürlicherweise von  Verschmelzung  der Empfindungen die Rede sein, wo dieselben von einem und demselben Bewußtsein aufgenommen werden; daß aber und inwiefern das Verschmelzungsprodukt ein qualitativ Neues darstellt gegenüber den einzeln aufgefaßten Teilempfindungen, ist durch die vorangehenden Betrachtungen wohl zur Genüge gezeigt: das Neue ist eben der  Gesamteindruck,  dessen Vorhandensein in den einzelnen Gebieten wir im vorigen festzustellen suchten.

Man darf hiergegen natürlich nicht einwenden, daß auch da, wo wir die Mehrheit der Einzelempfindungen von vornherein bemerken, dennoch von Gestaltqualitäten die Rede sein kann und muß und daß also die letzteren nicht mit den Verschmelzungsphänomenen identifiziert werden könnten; denn ob zwar der Vordersatz völlig richtig ist, so ist doch der Nachsatz keineswegs gerechtfertigt. Die Verschmelzung bleibt ja, wie wir sahen, auch nach der Analyse bestehen, wenn wir die Gesamtempfindung im Auge behalten; nur in der Gesamtempfindung aber ist dasjenige enthalten,w as den Komplex von den Elementen unterscheidet. So ist z. B. wie früher betont, in der Folge zweier Töne, obschon dieselben von jedermann sofort als Mehrheit erkannt werden, dennoch in der Gesamtempfindung stets eine Verschmelzung, nämlich die des zweiten Tones mit dem Gedächtnisbild des vorhergehenden enthalten. Jeder Versuch, hier eine Gestaltqualität zu konstatieren, ohne die Töne als Teile des durch diese Verschmelzung bedingten Empfindungsganzen zu betrachten, würde fehlschlagen, da ja gerade das Charakteristikum der Gestaltqualität zugleich mit jener Auffassung des Komplexes als ein Ganzes wegfallen würde.

7. Diese Betrachtung gibt uns zugleich eine präzisere Antwort auf die weitere Frage EHRENFELS', ob die Gestaltqualitäten jederzeit mir ihrer Grundlage zugleich gegeben sind oder erst durch eine besondere auf sie gerichtete psychische Tätigkeit erzeugt werden. (21) EHRENFELS entscheidet sich für die erstere Antwort und es ist offenbar, daß auch unsere Ausführungen uns nach dieser Seite hindrängen. Aber wenn EHRENFELS die Position allgemein so formuliert, daß überall, wo sich im Bewußtsein ein Komplex zusammenfindet, der die Grundlage für eine Gestaltqualität abgeben kann, diese auch  eo ipso  [selbstverständlich - wp] mitgegeben ist, so müssen wir nach den Resultaten früherer Betrachtungen eine gewisse Beschränkung hinzufügen: daß nämlich die Gestaltqualität nur bei demjenigen Zustand der Aufmerksamkeit vorhanden ist, bei welchem das Empfindungsganze als solches wirklich vorliegt (22) - daß also die Existenz der Gestaltqualität insofern von einer psychischen Tätigkeit, der Anstrengung der Aufmerksamkeit abhängt, als die letztere die Gesamtempfindung zu ändern vermag, was, wie ich gezeigt zu haben glaube, eine sehr allgemeine Wirkung derselben ist. Wenn man "Farben aber kein Bild, Bäume, aber keinen Wald sieht", so ist es eben das  Einzelne,  dem sich die Aufmerksamkeit zuwendet, wobei die ursprüngliche Gesamtempfindung mit der an sie gebundenen Gestaltqualität verschwindet; wie an der Zerstörung der Klangfarbe durch Analyse vielleicht am allerdeutlichsten wird. "Indem sich die Analyse den fundierenden Inhalten zuwendet, entschlüpft ihr gleichsam" der fundierte Inhalt (23) und wir sehen jetzt deutlich, worin dieses Verhalten seinen Grund hat.

Unschwer erkennt man auch, in welchem Zusammenhang der Gegenstand der letzten Bemerkungen mit den Begriffen der Relation und Komplexion steht. Wo wir einen  Gesamteindruck  vor uns haben, der als Mehrheit von Teilen erkannt ist, da reden wir von Komplexion; von den Relationen aber, wenn wir die  Teile  dieses Ganzen eben als Teile ins Auge fassen. Je mehr Nachdruck auf der Analyse liegt, je weniger naheliegend also die einheitliche Auffassung des Gesamteindruckes ist, umso eher wird man im Allgemeinen auf die Relationen sein Augenmerk richten, im entgegengesetzten Fall aber auf die Komplexion. (24)

8. Von unserem Standpunk aus würde es wohl als das Naturgemäße erscheinen, unter dem fundierten Inhalt im Gegensatz zum fundierenden einfach das Empfindungsganze im Gegensatz zu seinen Teilen zu verstehen. Daß diese Definition der fundierten Inhalte nicht mit derjenigen von EHRENFELS' Gestaltqualitäten zusammenfällt, ist ersichtlich: nach unserer Definition wäre der fundierte Inhalt der Vorstellungskomplex einschließlich der Elemente, welche dessen Grundlage bilden; bei EHRENFELS dagegen ist unter Gestaltqualität nur diejenige Bestimmung des Gesamteindrucks verstanden, welche, ob zwar wesentlich an das Vorhandensein der Elemente gebunden, doch erst zu ihrer Summe hinzutretend den Komplex als ein Neues charakterisiert. Mit anderen Worten, der fundierte Inhalt nach unserer Definition ist ein konkreter Anschauungsinhalt, die EHRENFELSsche Gestaltqualität dagegen ein Abstraktum. Obwohl in der Fragestellung selbst kein Grund vorlag, der gerade auf diese Abstraktion hinführte - wie man aus der vollkommenen Beantwortung der Frage durch unsere bisherigen Erörterungen ersehen kann - so ist es doch andererseits sehr begreiflich, daß jeder, der von den einzelnen Elementen des Gesamteindruckes als einem Gegebenen ausgeht, sich veranlaßt sieht, nach dem  neuen  Bestandteil' zu fragen, welcher zu diesen Teilen hinzutreten muß, um den Komplex als ein Neues zu charakterisieren. Ob man ein solches Abstraktum noch als Vorstellungsinhalt bezeichnen und sonach dem positiven Teil von EHRENFELS' Position zustimmen will, ist eine rein terminologische Frage, deren Entscheidung das Wesen der Sache unberührt läßt. Nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, der allgemein abstrakte Vorstellungsinhalte gelten läßt, wäre sie ohne Zweifel zu bejahen.

In eben jenem Abstraktum liegt übrigens offenbar nichts anderes vor, als die Gesamtheit der  Relationen  der Teilinhalte, die diesen aufgrund ihrer Vereinigung zum betreffenden Empfindungsganzen zukommen. Dem Einwand MEINONGs, (25), daß man "zwischen Relationen, die zwar bestehen, von denen man aber nichts weiß, so wenig Gleichheit und Ähnlichkeit konstatieren kann, als zwischen anderen Inhalten, die man nicht gegenwärtig hat" und daß deshalb die Gestaltqualität, auf deren Gleichheit die Ähnlichkeit zweier nur den Höhe nach verschiedener Melogien beruth, nicht bloß in diesen Relationen bestehen könne, vermag ich nicht beizustimmen. Dieser Einwand verwechselt, wie mir scheint, die  Auffassung  der Ähnlichkeit mit ihrer  Begründung.  Wer die Ähnlichkeit gleicher Melodien von verschiedener Höhe konstatiert, braucht durchaus nicht die gleichen Relationen zu  kennen,  auf welchen sie beruth, so wenig ich Ähnlichkeit durch gleiche Teile er dann  bemerke,  wenn mir die beiderseits gleichen Bestandteile einzeln gegenwärtig sind.

Daß aber die Zurückführung der Gestaltqualitäten auf Relationen nicht eine Entkräftung, sondern eine Bestätigung der EHRENFELSschen Theorie ist, bleibt natürlich unbestritten.


VI. Analyse und Verschmelzung im Bewußtseinsganzen

1. Wir wollen unsere Betrachtungen über die Phänomene der Verschmelzung und Analyse, welche wir im vorigen für das Gebiet sinnlicher Eimpfindungen durchgeführt haben, nunmehr auf das gesamte Gebiet des Bewußtseins ausdehnen. Daß uns auch hier das gleiche Problem wie im Empfindungsgebiet entgegentritt, wurde bereits in der Einleitung erwähnt: wie dort die  Wahrnehmung  einer Mehrheit von Empfindungen, so ist hier allgemein die Wahrnehmung der Mehrheit von Komponenten unseres jeweiligen Bewußtseinsinhaltes nichts weniger als ein selbstverständlicher, unter allen Umständen eintretender Vorgang, vielmehr werden von den zahllosen Phänomenen, welche teils neben, teils nacheinander ins Bewußtsein treten, verhältnismäßig wenige einzeln wahrgenommen - die Mehrzahl derselben geht in einer Art von  Gesamtgefühl  unter und nur besondere Umstände ziehen die Nachwirkungen einzelner von ihnen später wieder ans Tageslicht.

Da wir unsere gegenwärtig verlaufenden psychischen Phänomene nicht zu beobachten vermögen, so kann es sich, ebenso wie im Empfindungsgebiet, auch hier nur um die Analyse der  Objekte  unserer gegenwärtigen psychischen Phänomen handeln. Sachlich bedeutet das keine Beschränkung der Aufgabe, da der gegenwärtige Bewußtseinszustand im nächsten Augenblick bereits als  vergangenes  Objekt eines darauf gerichteten Vorstellens werden kann. Der Unterschied unserer jetzigen Aufgabe von der auf das Empfindungsgebiet bezüglichen besteht demnach darin, daß wir als Komponenten unseres gegenwärtigen Bewußtseinsinhaltes außer den gegenwärtigen physischen Phänomenen auch die Gedächtnisbilder vergangener Phänomene, physischer sowohl als psychischer, in Betracht zu ziehen haben. Allerdings hatten wir im vorigen bereits bei Gelegenheit der Analyse sukzessiver Empfindungen Veranlassung, über die Betrachtung der augenblicklichen Empfindungen hinauszugehen und auch die Nachwirkungen früherer Eindrücke mit zu berücksichtigen. Allein wir hatten damals die letzteren nur so weit zu betrachten, als sie den gegenwärtigen Empfindungen zum Hintergrund dienten und deren Zusammenhang mit den vorhergegangenen Teilen des betrachteten Ganzen vermittelten; dagegen hatten wir die Analyse dieser Nachwirkungen selbst damals noch nicht zum Gegenstand unserer Untersuchung gemacht, da sie als Komponenten des augenblicklichen Empfindungszustandes im engeren Sinn nicht in Betracht kamen. Hier aber, wo es sich nicht mehr um den Empfindungs-, sondern allgemein um den Bewußtseinsinhalt handelt, sind die Nachwirkungen vergangener Phänomene den gegenwärtigen Phänomenen als Komponenten dieses Inhaltes völlig gleichgeordnet: die Analyse des aus diesen beiden Arten von Komponenten zusammengesetzten  Gesamtobjekts  unseres Bewußtseins ist der Analyse von Komplexen gleichzeitier Empfindungen durchaus analog, indem zwar nicht die vergangenen Phänomene, aber doch ihre Nachwirkungen mit den gegenwärtigen Empfindungen  gleichzeitig  zusammentreten.

Dieser Analyse des jeweiligen Bewußtseinsinhaltes können wir analog wie im Empfindungsgebiet die Analyse  sukzessiver  Zustände anreihen. Indessen bietet diese gegenüber der Analyse sukzessiver Empfindungszustände kaum etwas Neues. Hier wie dort zeigt sich uns die Tatsache, daß die Wahrnehmung der sukzessiven Änderungen nicht fortwährend stattfindet, sondern daß stets eine größere oder kleinere Spanne letztvergangener Zustände im Gedächtnis als  Einheit  vorgestellt wird, indem die Änderungen während dieser Spanne  unbemerkt  geblieben sind. Will man nach einem Grund für diese Tatsache fragen, so kann man einen solchen auch darin finden, daß die Beurteilung (Auffassung) jedes Inhaltes eine endliche Zeit beansprucht, die unendlich vielen wechselnden Inhalte also unmöglich alle bemerkt werden können. Vergrößerte Aufmerksamkeit auf die Änderungen des Bewußtseinszustandes vermag jene Spanne zu verengern. Doch scheint die Möglichkeit dieser Verengereung bald eine Grenze zu finden. Beispiele, bei welchen die Änderung des Bewußtseinszustandes lediglich durch Änderung sinnlichern Empfindungen hervorgebracht wird, lassen eine solche Grenze deutlich erkennen: bei der Analyse von Geräuschen z. B. stoßen wir sehr bald auf Teile, innerhalb deren wir keine Änderung mehr wahrnzunehmen vermögen; dennoch ist die faktische Änderung des Bewußtseinszustandes während jedes dieser Teile mit Sicherheit daraus zu erschließen, daß jeder Augenblick der Fortdauer der Empfindung den Bewußtseinszustand verändern muß, da eben diese Dauer jederzeit als wesentliche Komponente in den Bewußtseinszustand mit eingeht.

Daß wir übrigens hier, wie im Empfindungsgebiet, die Tatsache der Unterscheidung sukzessiver Gesamtzustände als eine fundamentale, nicht weiter zurückführbare zu betrachten haben, bedarf nach unseren früheren Bemerkungen wohl nicht der Erwähnung. Auf eben diese Unterscheidung gründet sich, wie wir alsbald sehen werden, die Analyse der gleichzeitigen Komponenten unseres jeweiligen Bewußtseinsinhaltes, zu deren Betrachtung wir nunmehr übergehen wollen.

2. Daß unser Bewußtseinsinhalt jederzeit von einer großen Zahl von Komponenten abhängt, bedarf keines Beweises. Die gegenwärtigen Empfindungen bilden zusammen mit den Nachwirkungen vergangener Phänomene ein äußerst zusammengesetztes Ganzes, in welchem wir zwar die einzelnen Faktoren als solche niemals sämtlich bemerken, welches aber in seiner Färbung, seinem Gefühlston, durch jeden derselben mehr oder weniger beeinflußt wird. Daß diese letztere Behauptung richtig ist, soweit sie sich auf die gegenwärtigen Empfindungen bezieht, haben die Betrachtungend er früheren Kapitel gezeigt; daß aber dasselbe auch für die Nachwirkungen früherer Erlebnisse gilt, zeigt sich nicht nur im großen Einfluß sowohl jüngstvergangener als auch weiter zurückliegender Ereignisse auf unsere Gemütsverfassung, sondern auch und vor allem in den Tatsachen des  Gedächtnisses.  Daß in diesen überhaupt die Wirkung vergangener Erlebnisse auf unseren Bewußtseinszustand unzweideutig zum Ausdruck kommt, ist von selbst klar; inwiefern wir aber behaupten dürfen, daß  alle  früheren Erlebnisse auf unseren Zustand nachwirken, wird sich im Verlauf der folgenden Ausführungen ergeben.

Da wir die Analyse derjenigen Komponenten unseres Bewußtseinsinhaltes, welche durch augenblickliche Empfindungen bedingt sind, im vorigen bereits ausführlich besprochen haben, so werden wir unsere gegenwärtige Untersuchung auf die Analyse der Nachwirkungen früherer Erlebnisse beschränken können. Eine dieser Komponenten, die Nachwirkung eines früheren Erlebnisses auf unseren jetzigen Zustand als solche bemerken, heißt nun offenbar nichts anderes, als sich dieses Erlebnisses  erinnern:  wenn wir sagen, wir erinnern uns eines Ereignisses, so bezeichnen wir mit diesem Ausdruck eben nichts anderes, als die Hervorhebung einer bestimmten Vorstellung aus der Gesamtheit der Komponenten unseres Bewußtseinszustandes, welche Vorstellung als die Nachwirkung jenes Ereignisses erkannt wird.

Dementsprechen können und müssen wir - analog unseren früheren Begriffsbestimmungen im Empfindungsgebiet -  als unbemerkte Komponenten unseres Bewußtseinsinhaltes außer den gegenwärtigen Empfindungen alle Gedächtnisbilder früherer Ereignisse bezeichnen.  Mit dieser Definition wird der Bewußtseinsinhalt dem Empfindungsinhalt völlig parallelisiert und man sieht alsbald, wie sich nunmehr alle früher gewonnenen Resultate  mutatis mutandis  [das zu Ändernde geändert - wp] auf die Analyse des Gesamtbewußtseinsinhaltes übertragen lassen. Ich glaube ausdrücklich darauf hinweisen zu müssen, daß diese Übertragung nicht etwa hypothetisch ist, nicht bloß als  Bild  dient, unter welchem sich die Tatsachen der Bewußtseinsanalyse und des Gedächtnisses bequem begreifen lassen; daß vielmehr die Tatsachen des Gedächtnisses die eben gegebene Definition der unbemerkten Komponenten notwendig erfordern und daß durch diese Definition die Analogie mit den früher betrachteten Erscheinungen sofort gegeben ist.

Unsere Aufgabe wird demnach von jetzt an darin bestehen, die Analogien der Bewußtseinsanalyse mit derjenigen der Empfindungen im Einzelnen nachzuweisen und diejenigen Unterschiede hervorzuheben, welche der Natur der Sache nach hier gegenüber der früheren Fällen hervortreten.

3. Da, wie bemerkt, die Nachwirkungen der früheren Erlebenisse zwar den gegenwärtigen Zustand beeinflußen, nicht aber alle einzeln wahrgenommen werden, so werden wir auch hier, in demselben Sinne wie früher von Verschmelzung der gleichzeitigen Empfindugnen, von  Verschmelzung der Gedächtnisbilder  zu sprechen haben. Sowohl diese Verschmelzungsphänomene, als auch der Verlauf der Analyse, welche uns die einzelnen Gedächtnisbilder bemerken läßt, sind den entsprechenden Phänomenen im Gebiet der Empfindungen durchaus parallel. Hier wie dort besteht die Gesamtwirkung der vorhandenen Phänomene - die sich hier wohl am passendsten durch das Wort  Seelenstimmung  bezeichnen ließe - aus der Summe der Wirkungen einer Mehrheit von Komponenten, über deren Zusammenbestehen erst die im Laufe der Zeit sich vollziehende Analyse Aufschluß gibt. Wir können geradezu den Gesamtzustand des Bewußtseins mit den Verschmelzungserscheinungen in irgendeinem Sinngebiet vergleichen, wobei sich die durchgängige Analogie deutlich zeigt. So entspricht z. B. jenem Gesamtzustand der Gesamteindruck eines Zusammenklanges. In diesem dominiert entsprechend der augenblicklichen Richtung der Aufmerksamkeit einer der Teiltöne, ohne daß darum die übrigen aus der Gesamtempfindung wegfielen, die vielmehr durch alle Töne wesentlich mitbestimmt ist. Bei der Analyse verändert sich die Gesamtempfindung, indem sukzessive die übrigen Bestandteile mit dem ihnen eigenen Gefühlston erscheinen, jeweils aber getragen vom Hintergrund der anderen, momentan nicht mit Aufmerksamkeit betrachteten Teiltöne. Analog erscheint der Gesamtbewußtseinszustand als ein durch das Zusammenwirken der gegenwärtigen Empfindungen und der früher zu Bewußtsein gekommenen und durch die Gedächtnisbilder in demselben fortwirkenden Phänomen bedingtes Ganzes, in welchem jeweils eine der Komponenten im Vordergrund steht, während die übrigen nicht als solche bemerkt werden. Sobald aber die Aufmerksamkeit auf eine jener übrigen Komponenten z. B. auf eines der Gedächtnisbilder gelenkt wird, verschwindet der bisherige Bewußtseinszustand und an seine Stelle tritt ein neuer, in welchem die nunmehr hervorgehobene Vorstellung mit den an sie geknüpften Sonderinteressen dominiert, stets aber mit beeinflußt durch die übrigen Bestimmungsstücke des Gesamtinhaltes.

Wie also gemäß unserer früheren Betrachtungen die Gesamtempfindung, so verändert sich stets auch der Bewußtseinsinhalt während der Analyse; eben diese Veränderung ist es auch hier, welche zunächst bemerkt wird und rückwärts auf die Zusammensetzung des analysierten Inhaltes schließen läßt - ein Schluß, dessen Mechanismus uns freilich in den seltensten Fällen zu Bewußtsein kommt.

Man sieht, daß die früheren Erlebnisse gewissermaßen den  Reizen  im Empfindungsgebiet vergleichbar sind. Wie dort durch das Zusammenwirken der Reize, so entsteht hier durch das Zusammenwirken der vergangenen Phänomene ein Gesamtobjekt, in welchem die Wirkungen der einzelnen Komponenten zunächst verschmolzen, bei gehöriger Aufmerksamkeit aber im Allgemeinen einzeln wahrnehmbar sind. Allerdings wird es ebenso wenig gelingen, sie  alle  einzeln wahrzunehmen, also den Bewußtseinsinhalt vollständig zu analysieren, als etwa eine vollständige Analyse unseres Gesichtsfeldes jemals vollzogen werden kann: auch die ausführlichste Selbstbiographie kann niemals auch nur annähernd die sämtlichen Ereignisse beschreiben, welche schließlich den gegenwärtigen Seelenzustand des Autors herbeigeführt haben.

4. Wir müssen an dieser Stelle einen naheliegenden Einwand zurückweisen, welcher gegen unsere Betrachtungen erhoben werden könnte. Wenn wir auf unser früheres Leben zurückblicken, so finden wir unseren Bewußtseinszustand in fortwährender Veränderung begriffen. Offenbar ist nun aber jede solche Änderung auch für alle weiteren Zustände, welche das Bewußtsein durchläuft,  mitbestimmend.  Sollen nun in der Tat, wie unsere Theorie es verlangt, alle Komponenten unseres Bewußtseinsinhaltes als gegenwärtige und bewußte, obgleich unbemerkte Teilinhalte existieren, so müßte die unendliche Menge früherer Erlebnisse durchgängig in unserem Gedächtnis aufbewahrt bleiben und es müßte uns also möglich sein, uns an jedes auch noch so geringfügiges Ereignis zu erinnern: ein absolutes Vergessen wäre ausgeschlossen.

Dem scheinen nun aber die Tatsachen direkt zu widersprechen. Selbst aus den letzten Stunden können wir uns selten an mehr als einige wenige besonders wichtige und in hervorragender Weise auf unseren Zustand fortwirkende Ereignisse erinnern. Je weiter wir zurückdenken, um so geringer wird die Zahl deutlicher Erinnerungen und im ersten Kindesalter verlieren sich dieselben völlig. Wie soll das mit der vorgetragenen Theorie stimmen?

Hierzu ist zunächst zu bemerken, daß nicht alle Nachwirkungen vergangener Erlebnisse gleiche Stärke und Deutlichkeit besitzen und bewahren können. Sind doch die Gedächtnisbilder keineswegs Bilder im gewöhnlichen Sinn - gleichsam photographische Aufnahmen der jeweiligen Anschauung, die im Gehirn aufgespeichert würden, wo wir sie nur zu suchen und zu betrachten hätten -; sondern die Nachwirkungen der Erlebnisse sind zweifellos komplizierte Prozesse, welche durch mannigfache äußere Einwirkungen gestört, abgeschwächt oder auch verstärkt werden. Aber auch ohne solche alterierende Einflüsse würden sie ebensowenig alle gleiche Bedeutung und Deutlichkeit besitzen, als etwa alle Teile des Gesichtsfeldes gleichen Einfluß auf die Natur des Gesamtbildes haben.

Ferner aber werden wir, wie im Gebiet der sinnlichen Empfindungen, so auch hier die Existenz  unbemerkbarer  Komponenten des Bewußtseinsinhaltes zugeben müssen. Wie wir nämlich im Empfindungsgebiet zwischen solchen Wirkungen der Reize zu unterscheiden hatten, welche zusammenfließend eine einfache, nicht zerlegbare Empfindung bildeten und solchen, welche der Analyse unterworfen werden konnten, so drängt sich uns eine analoge Unterscheidung auch hier wieder auf. Es zeigt sich nämlich allgemein, daß wir uns nur solcher Ereignisse einzeln erinnern können, welche zur Zeit ihres Eintrittes einzeln bemerkt wurden, während jeder einheitliche Inhalt, der als solcher ins Gedächtnis aufgenommen wurde, auch nachträglich einheitlich bleibt und keiner Analyse mehr zugänglich ist, wie die Klänge, deren Obertöne während des Erklingens nicht bemerkt wurden, nachträglich in keiner Weise mehr analysiert werden können. So wird jede andauernde Stimmung, während deren wir unsere Zustands- und Empfindungsänderungen nicht beachteten, eben nur als  Ganzes  in das Gedächtnis aufgenommen und die unbeachteten Zustandsänderungen sind für die Erinnerung ebenso verloren, wie sie es zur Zeit ihres Eintrittes für die Aufmerksamkeit waren. Aus dieser Tatsache ergibt sich die Erklärung für die meisten Fälle des Vergessens. Insbesondere dürfte das Fehlen der Kindheitserinnerungen zum größten Teil auf der mangelnden Analyse der Eindrücke beruhen. Einerseits besitzt das Kind noch nicht die Begriffe, auf denen unsere Analyse der Anschauung beruth; andrerseits nimmt gerade das Erlernen der Begriffe seine Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch, daß es auf die übrigen Merkmale, welche die Erlebnisse zeitlich spezialisieren und dadurch zu Objekten einer bestimmten Erinnerung machen würden, nicht gleichzeitig zu achten vermag. Haben wir demnach gerade in den erlernten Begriffen und sprachlichen Bezeichnungen der Begriffe die Summe unserer Kindheitserinnerungen zu erblicken, so erscheint die übliche Aussicht, daß die Kindheitseindrücke wegen noch allzugroßer Nachgiebigkeit des Gehirns nicht aufbewahrt, sondern rasch verwischt würden, als eine überflüssige Hypothese.

Soweit der obige Einwand nicht durch die vorigen Bemerkungen bereits entkräftet ist, wird ihm durch die Tatsache der Boden entzogen, daß das Bemerken jeder einzelnen Komponente unseres Bewußtseinsinhaltes nicht unserer Willkürl anheim gegeben ist, sondern von einer Menge äußerer Faktoren abhängt. JAMES MILL bemerkt, daß es gar nicht in unserer Macht liege, willkürlich an eine bestimmte Vorstellung zu denken, da wir, um an sie denken zu  wollen,  bereits an sie denken  müßten.  Wenn schon in dieser Form die Behauptung infolge einer Äquivokation [Wort, das für verschiedene Begriffe steht / wp] - analog derjenigen, welche eine frühere Kontroverse über die Wirkungen der Aufmerksamkeit im Sinnesgebiet veranlaßt hat - nicht ganz richtig ist, zeigt sie doch deutlich die Abhängigkeit unseres Denkens von unwillkürlichen Faktoren. Offenbar muß, wenn es mir etwa einfällt, an den Ton  a  denken zu wollen, die  Symbolvorstellung  a  mir bereits gegenwärtig sein, ehe ich meinen Willen auf die Erzeugung der wirklichen (ausgeführten) Vorstellung richten kann. Ähnliches gilt in allen Fällen; ob aber weiter in jedem Fall das Ziel unseres Wollens erreicht werden kann, hängt abermals von manchen Faktoren ab, über welche uns keine Verfügung zusteht. Analogien im Empfindungsgebiet liegen nahe genug, um einen besonderen Hinweis auf sie überflüssig zu machen.

Wir dürfen hiermit jenen Einwand wohl als widerlegt ansehen, so daß also unsere Theorie, nach welcher das Gesamtobjekt des Bewußtseins in gleicher Weise aus den gegenwärtigen Empfindungen und den Gedächtnisbildern der früheren Phänomene zusammengesetzt ist, wie der Empfindungsinhalt jeweils aus der Gesamtheit der gleichzeitigen Empfindungen, zurecht bestehen bleibt.

5. Bis zu einem gewissen Grad gibt uns diese Analogie zwischen Bewußtseins- und Empfindungsinhalt auch über die Wirksamkeit jener oben erwähnten Faktoren Aufschluß, von welchen das willkürliche wie das unwillkürliche Erinnern abhängt.

Wenn im Gesichtsfeld unsere Aufmerksamkeit durch irgendeinen Wechsel der Reize von einer Teilempfindung auf eine andere gelenkt wird, so wird die letztere niemals allein, sondern stets zusammen mit ihrer Umgebung wahrgenommen; wenn etwa der Glanz eines spiegelnden Sees unseren Blick auf sich zieht, so bemerken wir alsbald nicht nur den glänzenden Streifen, welcher uns veranlaßt, das Auge zu wenden, sondern den See als Ganzes samt seinen Ufern. In ähnlicher Weise kann nun unsere Aufmerksamkeit durch irgendeine Veranlassung auf ein bestimmtes Gedächtnisbild gelenkt werden. Dieses aber ist stets Teil eines im Gedächtnis aufbewahrten Komplexes gleichzeitiger oder sukzessiver Phänomene, welcher seiner Zeit als Ganzes in das Bewußtsein aufgenommen worden ist. Ebenso wie im Gesichtsfeld wird nun auch hier nicht der Teil für sich allein, sondern alsbald der  Komplex  wahrgenommen, welchem derselbe angehört, beziehungsweise, wenn dieser früher analysiert worden war, der Komplex als Gesamtheit der in demselben bemerkten Teil. Man erkennt unschwer, wie in dieser Tatsache die Phänomene der  Assoziation durch Kontiguität  [Berührung, Angrenzung / wp] ihre Erklärung finden. Die sollizitierende [nötigende - wp] Vorstellung lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Komplexion hin, deren Teil sie selbst oder eine ihr ähnliche Gedächtnisvorstellung ist; was bemerkt wird, ist diese Komplexion und - falls sie früher analysiert worden war - ihre einzelnen Teile.

Die Tatsache, auf welche hierdurch die Kontiguitätsassoziationen zurückgeführt erscheinen - daß nämlich eine Vorstellung unsere Aufmerksamkeit auf das Gedächtnisbild einer  ähnlichen  Vorstellung hinzulenken vermag, die unter anderen Umständen ins Bewußtsein getreten ist, möchte einer weiteren Zurückführung und Erklärung nicht wohl fähig sein. Dieselbe scheint mir vielmehr ebenso elementar, wie etwa im Empfindungsgebiet die Tatsache der Verstärkung der Wirkung eines Reizes durch einen weiteren ähnlichen Reiz.
LITERATUR - Hans Cornelius, Über Verschmelzung und Analyse (Eine psychologische Studie), Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Leipzig 1892, Bd. 16
    Anmerkungen
    1) CARL STUMPF, Tonpsychologie II, Seite 13
    2) STUMPF, Tonpsychologie II, Seite 65
    3) Vgl. ERNST MACH, Beiträge zu einer Analyse der Empfindungen, Seite 129
    4) Auch an physiologischen Gründen hierfür dürfte es nicht fehlen. Ein physiologisch ähnlicher Zustand wie jener der ersten Sehtätigkeit ist wohl der, in welchem wir uns beim Austritt aus dem Dunklen in blendenden Sonnenschein (oder umgekehrt) befinden; auch hier tritt Analyse erst nach einiger Übung ein.
    5) Vgl. weiter unten Kapitel V.
    6) ERNST MACH, Beiträge zu einer Analyse der Empfindungen, Seite 128
    7) ERNST MACH, Beiträge zu einer Analyse der Empfindungen, Seite 131
    8) Vgl. auch AVENARIUS, Kritik der reinen Erfahrung, Bd. II, Seite 71 und 72.
    9) Wenn WILLIAM JAMES (Mind XII, Seite 187) die Bewegungsempfindungen als "direct and simple sensations" gegeben sein läßt, so steht diese Äußerung mit unseren Betrachtungen im Einklang, wenn wir uns die Übersetzung von "simple" durch "einheitlich" (nicht  einfach)  vorbehalten.
    10) CHRISTIAN von EHRENFELS, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie XIV, Seite 268f
    11) SCRIPTURE in WUNDTs "Philosophische Studien", VII, Seite 213f
    12) CARL STUMPF, Tonpsychologie I, Seite 34f
    13) CHRISTIAN von EHRENFELS, Über Gestaltqualitäten, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie XIV, Seite 289f
    14) Übereinstimmend mit STUMPFs Definition, Tonpsychologie I, Seite 69
    15) SIGWART, Logik I, 2. Auflage, Seite 48f
    16) CHRISTIAN von EHRENFELS, Über Gestaltqualitäten, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie XIV, Seite 249f
    17) ALEXIUS von MEINONG, Zeitschrift für Psychologie und Physologie der Sinnesorgane II, Seite 245
    18) Die Unterscheidung derjenigen Gestaltqualitäten, die samt ihren Elementen unter den Begriff der physischen Phänomene fallen, von demjenigen, welche sich ganz oder teilweise auf psychische Phänomene gründen, scheint mir in mehrfacher Hinsicht von Wichtigkeit und es möchte daher wohl gerechtfertigt erscheinen, die ersteren mit einem besonderen Namen zu bezeichnen. Der ursprünglich von EHRENFELS für die Gesamtheit der einschlägigen Phänomene gebrauchte Name "Gestaltqualitäten", welcher von MEINONG durch für diese Gesamtheit passenderen Namen der fundierten Inhalte ersetzt wurde, scheint mir zur Bezeichnung jener speziellen Klasse nicht ungeeignet - wie denn offenbar EHRENFELS zum Gebrauch desselben durch die "physischen" Gestaltqualitäten, wie Melodie und Raumgestalt, veranlaßt worden ist.
    19) Vgl. ALEXIUS von MEINONG, Zeitschrift für Psychologie und Physologie der Sinnesorgane II, Seite 245
    20) ALEXIUS von MEINONG, Zeitschrift für Psychologie und Physologie der Sinnesorgane II, Seite 252f
    21) CHRISTIAN von EHRENFELS, Über Gestaltqualitäten, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie XIV, Seite 285
    22) EHRENFELS' Bemerkung (a.a.O. Seite 288), daß "bei einem im Bewußtsein gegebenen Komplex von Vorstellungsinhalten nur die Gestaltqualitäten derjenigen Grundlagen mit vorhanden sind, welche sich von ihrer Umgebung merklich abheben" steht hiermit völlig in Übereinstimmung.
    23) MEINONG, a.a.O., Seite 260. Man vergleiche auch daselbst weiter unten (Seite 261): "indessen dürfte auch hier" - nämlich bei den oben (Seite 66 Anmerkung 3) im engeren Sinn als Gestaltqualitäten bezeichneten Inhalten - "den fundierenden Inhalten nicht alles zu überlassen sein. Bei Auffassung einer Melodie kommt es nicht nur darauf an, zu hören und zu reproduzieren, sondern auch darauf, daß das Zusammengehörige beisammen bleibt" usw.
    24) Übereinstimmend mit MEINONG a.a.O., Seite 254: "Relation ist die Komplexion vom Standpunkt eines (oder mehrerer) der Bestandstücke aus besehen."
    25) MEINONG, a.a.O. Seite 253