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WILLY FREYTAG
[mit NS-Vergangenheit]
Zur Frage des Realismus
[Eine Erwiderung]
[1/2]

"Auch ist nicht zu vergessen, daß Regel und Gesetz erst von uns in die Welt der Erscheinungen hineingetragen werden. Wenn Beobachten gleichbedeutend wäre mit Sehen und Hören, so gliche die Welt einer Stickerei, die von hinten betrachtet wird, einem Gewirr von Fäden, deren zahllose Anfänge und Enden jeden Glauben an einen allgemeinen gesetzmäßigen Zusammenhang Lügen strafen müßten."

"Wenn die Beobachtungen des Naturforschers, welche eine Gesetzmäßigkeit zeigen, nicht die in den Beobachtungen gegebenen psychischen Inhalte wie Farben, Töne usw. sind, sondern Urteile über einen Gegenstand, der diesem in der Beoachtung Gegebenen, oder überhaupt der Beobachtung als psychischem Inhalt und Vorgang transzendent sind, und wenn zugestanden ist, daß eine Beobachtung sich nicht selbst beobachtet, Urteile sich nicht selbst beurteilen, sondern ihren Gegenstand beobachten, beurteilen, so ist die Gesetzmäßigkeit, welche die Beobachtungen des Naturforschers zeigen, eine solche des transzendenten Gegenstandes."

"Die Hypothese von der Existenz eines Planeten läßt sich durch dessen Wahrnehmung, die Annahme von chemischen Elementen durch deren Entdeckung, die Rekonstruktion einer verloren gegangenen Geschichtsquelle durch deren Auffindung bestätigen. Daß aber unseren naturwissenschaftlichen Gedanken reale Existenzen entsprechen, kann auf keine Weise bestätigt und geprüft werden."

Die eingehenden Besprechungen, welche OSWALD KÜLPE in den "Göttinger gelehrten Anzeigen (1904, Nr. 2 und 1905, Nr. 12) meinen Schriften "Der Realismus und das Transzendenzproblem", Halle/Saale 1902 (RT) und "Die Erkenntnis der Außenwelt", Halle/Saale 1904 (EdA) hat zuteil werden lassen, veranlassen mich zu einer Verteidigung meines Standpunktes.

Es ist eine alte Klage bei den Philosophen, daß Unaufmerksamkeit auf die Begriffe - die eigenen und die der Gegner - und die daraus unvermeidlich hervorgehenden Mißverständnisse die Schuld trugen an einem doch gar zu großen Teil der endlosen Streitigkeiten in unserer Wissenschaft. Ich glaubte nun, meinerseits alles aufgewendet zu haben, um die Quelle solcher Mißverständnisse zu verstopfen. Daß es mir damit doch nicht recht gelungen ist, ersehe ich aus den vorliegenden Besprechungen.

Merkwürdig, mein erstes Buch sollte ein beachtenswertes Zeichen für das Bestreben sein, der Metaphysik in den Einzelwissenschaften und in der Philosophie wieder freie Bahn zu schaffen! Ich wüßte wirklich nicht, wo ich ein solches Bestreben bekundet hätte.

Aber seien wir nicht zu vorschnell, beherzigen wir wieder die Klage über die Mißverständlichkeit der Begriffe! Was meint KÜLPE und was meine ich mit dem Wort "Metaphysik"? Ich verstehe unter Metaphysik den Versuch, mit anderen als den von den Einzelwissenschaften als wissenschaftlich zulässig betrachteten Mitteln auch zu anderen Erkenntnissen zu gelangen als die Einzelwissenschaften. KÜLPEs Auffassung von der Metaphysik scheint nun in einem wesentlichen Punkt die gleiche zu sein, wenn man nach den von ihm in seiner "Einleitung in die Philosophie" (dritte Auflage) gegebenen Begriffsbestimmungen urteilt. Die Aufgabe der Metaphysik, erfassen wir z. B. dort Seite 329, besteht in der Ausbildung einer wissenschaftlich begründeten Weltansicht, und kann der Natur der Sache nach nicht innerhalb einer oder aller Einzelwissenschaften ihre Erledigung finden.

Also die Metaphysik soll Erkenntnisse z. B. über das Wesen der Körperwelt hervorbringen, wie sie der entsprechenden Einzelwissenschaft, der Physik etwa, unerreichbar wären?

An eine solche Metaphysik nun glaube ich wirklich nicht, und einen solchen Glauben habe ich auch in der genannten Schrift nirgends ausgesprochen.

Aber andererseits, KÜLPE sieht zwar in der Metaphsyik etwas, das über die Einzelwissenschaften hinausgeht, aber doch etwas wissenschaftliches, und weiter, es scheint mir, daß er das Hinausgehen über die Einzelwissenschaften doch nicht in meinem strengen Sinn meint, daß ihm die Grenzen von Einzelwissenschaft und Metaphysik ziemlich flüssig sind. Er spricht (Einleitung, Seite 333) von einer Metaphysik, die ohne Transzendenz über das Erfahrbare hinaus ohne Abschluß bliebe, also scheint doch ein Stück der Metaphysik auch ohne Transzendenz über der Erfahrbare hinaus möglich, die Metaphysik zum Teil zumindest eine Erfahrungswissenschaft, also nach unserem Sinn eine Einzelwissenschaft etwa Physik oder Psychologie zu sein.

Das wäre dann ein Stück Metaphysik, gegen das ich nichts einwenden könnte. Freilich die Kehrseite dieser Annäherung der Metaphysik an die Einzelwissenschaft ist wieder sehr bedenklich. Denn wenn auf der einen Seite der Metaphysik damit ein etwas wissenschaftlicherer Charakter verliehen wird, so wird auf der anderen in die eigentliche Wissenschaft etwas von der Problematik der alten Metaphysik hineingetragen. So wird von der realistischen Psychologie gefordert, daß sie ihre Forschung nicht bloß auf die erfahrbaren psychischen Inhalte wie Vorstellungen und Gefühle richtet, sondern auch auf ein nicht erfahrbares psychisches Reales, das dahinter steht, den seelischen Träge jener psychischen Inhalte (vgl. Seite 146 und öfter). Und die Lehren der realistischen Naturwissenschaft von der Außenwelt erscheinen den metaphysischen Annahmen über das Unerfahrbare gar zu sehr gleichartig: auch sie sind der Erkenntnis der Bewußtseinsinhalte gegenüber etwas weniger Sicheres, etwas Abgeleitetes (vgl. Seite 152 und 162).

Ich möchte demgegenüber nur darauf hinweisen, daß z. B. der Satz vom Brechungswinkel des Lichts durchaus ein Satz über die Außenwelt ist, und daß ihm wohl unbestritten mindestens dieselbe Sicherheit zugeschrieben wird wie irgendeinem Satz über psychische Inhalte.

Also hier bin ich wieder nicht in der Lage, der Auffassung KÜLPEs von der Metaphysik und ihrem Verhältnis zur Einzelwissenschaft zuzustimmen. Der Ausdruck Metaphysik, wie ihn KÜLPE gebraucht, ist eben zu unbestimmt, als daß er zu einer genaueren Charakterisierung des Ziels meiner Schriften verwendet werden könnte; und in diesem Mangel mag es wohl mit begründet sein, wenn KÜLPE, nachdem er sich in seiner ersten Besprechung zwar nicht mit meinem Weg, wohl aber mit meinem Ziel einverstanden erklärt hat, in seiner zweiten Besprechung auch von einem Ziel nichts mehr wissen will, obgleich es doch dasselbe geblieben ist.

Oder wäre mein Ziel, wäre mein Standpunkt vielleicht nicht mehr derselbe, im zweiten wie im ersten Buch? KÜLPE scheint so etwas andeuten zu wollen, wenn er in der zweiten Besprechung Seite 987 sagt:
    "Er (Freytag) gibt jetzt mit voller Rücksichtslosigkeit zu, daß aus einer allgemeinen Eigentümlichkeit des Denkens, wie sie in der Transzendenz vorliegt, unmittelbar nichts über die Existenz besonderer Gegenstände des Denkens, über die Außenwelt folgt. Damit erledigt sich prinzipiell ein Haupteinwand, den wir gegen das frühere Buch des Verfassers erhoben haben" usw.
In der Tat, ich traute meinen Augen kaum, als ich seinerzeit in der ersten Besprechung Seite 95 las:
    "Wenn daher Freytag mit besonderem Nachdruck für die Transzendenz der Gegenstände des Denkens schlechthin eintritt und damit den Realismus sichergestellt zu haben glaubt, so hat er seinen Scharfsinn an eine aussichtslose Aufgabe verschwendet."
Sollte ich mich wirklich im ersten Buch so mißverständlich ausgedrückt haben? Schlagen wir doch einfach einmal nach! Was lesen wir z. B. RT, Seite 134?

"IX. Abschnitt. Die besonderen Probleme des Realismus". - Schon diese Überschrift hätte wohl genügen sollen, KÜLPE eines Besseren zu belehren! Und wie beginnt § 1?
    "Die prinzipiellen Einwände, welche der Antirealist gegen die Denkbarkeit oder Erkennbarkeit einer Außenwelt richtet, haben sich als hinfällig erwiesen. Damit ist aber noch nicht die Richtigkeit des realistischen Standpunktes dargetan."
Und der ganze IX. Abschnitt, den wir KÜLPE noch einmal zu lesen bitten, beschäftigt sich dait, die weiteren besonderen Einwände gegen den Realismus zu entkräften, ja schließlich auch positive Gründe für diesen Standpunkt ausfindig zu machen. So heißt es schließlich §4 (Seite 156f):
    "Einwendungen gegen den Realismus waren es, die wir zu widerlegen suchten, von den allgemeinsten, die sich auf das Wesen des Denkens selbst bezogen haben, herab bis zu den ganz speziellen, die aus Einzelerkenntnissen psychologischer Verhältnisse hergeleitet wurden."

    "Sind die Einwände gegen den Realismus beseitigt, so tritt der Realismus wieder in sein natürliches Recht."

    "Und wenn wir das, was sich positiv zu seinen Gunsten ergeben hat, einmal kurz zusammenfassen wollen, so würden wir zu zwei freilich voneinander kaum zu trennenden Gedanken gelangen, die etwa folgendermaßen auszusprechen wären:
      1. Der Realismus bietet gegenüber den anti-realistischen Standpunkten ein widerspruchsfreies und harmonisches Weltbild dar, er allein ermöglicht die Wissenschaft.

      2. Wer einen einigermaßen regelmäßigen oder gar einen lückenlosen Kausalzusammenhang der Welt annimmt, muß auch die Existenz und die Erkennbarkeit der Außenwelt annehmen.
    In den letzten Abschnitten ist gezeigt worden, daß der Begriff der Außenwelt als einer vom Denken unabhängigen, jenseits der Welt der Gedanken des Gegebenen, der psychischen Inhalte überhaupt gelegenen, ein denkbarer Begriff ist, daß genügend wertvolle Begriffe zu ihrer Bestimmung vorhanden sind, mag sie auch inhaltlich noch so weit von der Art des Psychischen abweichen. Aus den Überlegungen des ersten Abschnittes aber ergab sich, daß die Innenwelt, das heißt das Ganze der psychischen Inhalte, wie sie unmittelbar gegeben sind oder aufgrund der Erinnerung angenommen werden können, keinen lückenlosen Kausalzusammenhang, überhaupt keine hinreichende Regelmäßigkeit aufweist, wie sie die Wissenschaft in dem bei weitem größeren Teil ihrer Induktionen verlangt."
Ich bin der Meinung, daß die Naturwissenschaft mit ihrem Kausalsatz die Existenz einer erkennbaren Außenwelt beweist; da aber die anti-realistische Erkenntnistheorie sich vielfach über die Naturwissenschaft erhaben dünkt, und da der Kausalsatz doch tatsächlich nur eine Hypothese ist und fallen gelassen werden müßte, wenn er auf einen logischen Widerspruch stößt, so muß der Kampf für den Realismus auch auf dem eigensten Gebiet der Logik oder Erkenntnistheorie geführt werden.

Und da nun endlich dieser Kampf der erkenntnistheoretischen Ansichten von ganz allgemeinem Interesse für den Philosophen ist, so habe ich seiner Erörterung im ersten Buch, das, wie die Überschrift sagt, nicht bloß vom Realismus handeln sollte, auch einen größeren Raum gewidmet.

Eine einfache Sachlage doch! Wie konnte sie nur mißverstanden werden?

Ein derartiges Mißverstehen zieht sich durch die ganzen Besprechungen KÜLPEs hindurch, trotz des lebhaften Interesses, das er besonders in der ersten seinem Gegenstand entgegenbringt. Es würde aber den Leser ermüden, wollte ich in der bloßen Aufzählung dieser Mißverständnisse fortfahren. Ich wende mich vielmehr zur Erörterung des sachlichen Gegensatzes selbst: Die Mißverständnisse, die auch ihn zum Teil bedingen, werden sich dabei ebenfalls erledigen lassen!

Wenn in der oben angeführten Stelle der zweiten Besprechung KÜLPE sagte: "Damit erledigt sich prinzipiell ein Haupteinwand" usw., so scheint daraus hervorzugehen, daß KÜLPE den über meine erste Schrift (RT) ausgesprochene Tadel gegenüber der zweiten (EdA) nicht aufrecht erhalten will, als ob die zweite sich auf den Tadel hin gebessert hätte. Aber es scheint nur so, denn KÜLPE fährt an der angegebenen Stelle fort: "Aber tatsächlich ist es leider so ziemlich beim Alten geblieben."

Dabei ist mir nicht ganz klar, was der Gegensatz von "prinzipiell und tatsächlich" - oder welcher andere sonst? - eigentlich bedeuten soll. Halten wir uns aber an die einzelnen Vorwürfe!
    "Noch immer wird die Frage des Realismus mit der Frage nach der Existenz und Erkennbarkeit der Außenwelt identifiziert."

    "Noch immer wird das Problem des Realismus in das Gebiet der Logik verwiesen."

    "Noch immer wird zwischen Induktion und Realismus ein Zusammenhang behauptet."
Diese Vorwürfe sind also gerichtet gegen Gedanken, die sich ganz oder zum guten Teil als einfache Begriffsbestimmungen ausweisen. Und es scheint mir nun, daß diese und noch andere in den Besprechungen hervortretenden Meinungsverschiedenheiten zuletzt auf einer verschiedenen Auffassung des Wesens der Begriffsbestimmung selbst beruhen. Ich verstehe nämlich unter einer Begriffsbestimmung oder Definition einen Gedanken, der vom Urteil ganz und gar verschieden ist, der mit Wahrheit und Falschheit nichts zu tun hat, und kurz etwa als willkürliche Namenserklärung oder Begriffsbenennung zu fassen wäre. Urteile sagen über Tatsächliches aus, Definitionen weisen einen Begriff und einen Namen einander zu. Urteile können daher falsch sein, Definitionen aber können nie falsch sein, für sie besteht nur ein Unterschied der Zweckmäßigkeit und Unzweckmäßigkeit. Definitionen werden daher nicht bewiesen, sondern aufgestellt nach dem Zweck, den man dabei verfolgt, vor allem nach dem, daß mit den so definierten Begriffen in den Urteilen die Tatsächlichkeit auf die deutlichste und einfachste Weise dargestellt werden kann.

KÜLPE versteht unter Definitionen offenbar etwas anderes, denn wie könnte er sonst so kurzweg den Stab über meine Begriffsbestimmungen brechen? Ebenso, wenn er des weiteren (II. Besprechung, Seite 990) der von ihm selbst hervorgehobenen konsequenten Anwendung meiner Definition des Urteils als desjenigen, was wahr oder falsch sein kann, vorwirft, sie führe zum Materialismus (!), und fortfährt:
    "Dem gegenüber ist daran festzuhalten, daß Urteile Denkakte sind, die sich irgendwie im Bewußtsein ausdrücken, und daß es demgemäß keinen Sinn hat, auf Gegenstände der Außenwelt, seien es auch Gehirnprozesse, den Namen Urteil anzuwenden."

    "Ist demnach ein unbewußtes, d. h. nach Freytag körperliches Urteil eine contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp], so entfallen auch alle realistischen Konstruktionen, die auf diesen Begriff gebaut werden."
Sehr einfach in der Tat! KÜLPE hat einen anderen Begriff von Urteil als ich, und weil nach seinem Begriff ein unbewußtes Urteil ein widerspruchsvoller Begriff ist, so muß ich in meinem Begriff des unbewußten Urteils etwas Widersprechendes gedacht haben!

Wenn der Fehler dieses merkwürdigen Beweisversuches darin zu liegen scheint, daß KÜLPE seine Definition des Urteils für ein Urteil hält und für wahr hält, so spricht er sich an anderen Stellen doch wieder so aus, als ob für die Definitionen die Frage der Zweckmäßigkeit die maßgebende ist, nähert sich also meiner Auffassung. Eine Klärung dieser und mit ihr vieler anderen zwischen uns schwebenden Streitfragen wäre also am leichtesten zu erreichen, wollte er einmal genau angeben, was er unter einer Definition versteht.

Betrachten wir nun nach dieser allgemeinen Bemerkung das Besondere der einzelnen Vorwürfe!

Wenn jemand das Problem des Realismus in das Gebiet der Logik verweist, so ist das offenbar eine Sache der Definition. Die Berechtigung dieses Verfahrens würde also aus einer Rechtfertigung des Begriffs der Logik und des Realismus abzuleiten sein. Über den letzteren werde ich sogleich noch zu reden haben; über den Begriff der Logik aber, insbesondere über meine Gleichsetzung dieses Begriffs mit dem der Erkenntnistheorie möchte ich mich an diesem Ort nicht weiter verbreiten, da ich erstens der ganzen Sache keine übermäßig große Bedeutung beilege, und zweitens hier auch gar keine Veranlassung dazu vorhanden ist. Denn wenn KÜLPE behauptet, daß ich in RT und nachher "noch immer" die Frage des Realismus als eine logische behandle, so entspricht diese Behauptung nicht dem Tatbestand; ich verweise diese Frage vielmehr in das Grenzgebiet zwischen Naturwissenschaft und Logik (vgl. z. B. RT, Seite 59f, EdA, III. Hauptbuch, Seite 46f, bzw. 121).

Richtig hat KÜLPE dagegen bemerkt, und das ist auch das Wichtigere, daß ich Realismus und Induktion miteinander in einen engen Zusammenhang bringe. Ich wünschte zu zeigen, daß, wer den Gedanken der Induktion, und damit ihre allgemeinste Voraussetzung, die strenge Gesetzmäßigkeit der Welt, anerkennt, auch Realist sein muß, daß daher, wenn jemand das erstere tut und trotzdem Anti-Realist ist, für die Frage des Realismus noch andere Schwierigkeiten bestehen müssen, als die, welche die reale Gesetzmäßigkeit der Welt betreffen - nämlich die Schwierigkeiten die der Frage der Transzendenz ganz allgemein anhaften, und daß darum die Entscheidung dieser allgemeinen Transzendenzfrage auch für die Sache des Realismus wohl - psychologisch zumindest - die wichtiger sein wird!

Das war mein Gedankengang in RT. Nun fragen wir aber, ist die erste Behauptung richtig? oder vielmehr, wird sie durch das, was KÜLPE dagegen vorgebracht hat, vielleicht widerlegt? Ich meine ganz im Gegenteil, wenn wir uns an das Wesentliche von KÜLPEs Ausführungen hierüber halten, so heben sie sich zum Teil durch einen inneren Widerspruch selbst auf, zum Teil aber sind sie nicht gegen, sondern für mich!

Ich hatte in RT ausgeführt, daß der Induktionsschluß in der ihm üblicherweise zugeschriebenen Form unsinnig ist, daß er dann aber, wenn man ihm die richtige Form gibt, nichts anderes ist als ein gewöhnlicher Syllogismus, daß also nicht in der Form, sondern im Inhalt, nämlich dem Inhalt seiner allgemeinen Prämisse die Besonderheit gegenüber anderen Schlüssen liegt, eine besondere Theorie des Syllogismus somit nur die sein kann, welche sich mit diesem Inhalt, dem allgemeinen Kausalsatz, oder noch allgemeiner, der Annahme einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit beschäftigt.

Nun, daß es auf diesen Inhalt, diese Annahme vor allem ankommt, das ist doch wohl auch KÜLPEs Ansicht, wenn er sagt (erste Besprechung, Seite 92):
    "Problematisch ist nicht der Schluß, sondern ihn erst ermöglichende Annahme über den Zusammenhang der S untereinander und mit P."

    "Unter dieser Voraussetzung ist der Schluß nicht mehr problematisch, sondern notwendig."

    "Prinzipiell ist diese Schwierigkeit (die Anwendung der Induktion betreffend) keine andere, als sie beim Syllogismus vorliegt."

    "Nach dieser Darlegung ist die Kausalität nur eine Art der bei einer Induktion vorauszusetzenden Zusammenhänge."
Das Ergebnis ist also: die Möglichkeit der Induktion setzt die Annahme der Regelmäßigkeit der Welt voraus. Und das ist doch wohl, was auch ich gesagt hatte. Und wenn KÜLPE meinen Aussagen hier einen etwas anderen Sinn unterzulegen scheint, so ist das wieder eins der vielen Mißverständnisse!

Aber dann kommt die Abweichung: KÜLPE will nicht zugestehen, daß aus der Annahme der Regelmäßigkeit der Welt der Realismus folgt, nämlich die Annahme, daß eine erkennbare Außenwelt existiert.

Nun lese man aber, was KÜLPE hier sagt (erste Besprechung, Seite 93f):
    "Freytag übersieht dabei ganz, daß, wenn es überhaupt eine Regelmäßigkeit in der Außenwelt gibt, sie allein aus dem Verhalten der äußeren Wahrnehmung, also von Bewußtseinsinhalten, erschlossen werden kann. Würden die Beobachtungen des Naturforschers gar keine Gesetzmäßigkeit zeigen, so gäbe es auch keine gesetzmäßige Außenwelt. Gewisse Phänomene im Bewußtsein sind somit zweifellos von der Art, daß man von einer gesetzmäßigen Verknüpfung bei ihnen sprechen kann" usw.
Und weiter unten:
    "Auch ist nicht zu vergessen, daß Regel und Gesetz erst von uns in die Welt der Erscheinungen hineingetragen werden. Falls wir alles, was in der Erfahrung folgt und sofern es folgt, als regel- und gesetzmäßig folgend betrachten würden, so käme ein seltsames Weltbild zustande. Wenn Beobachten gleichbedeutend wäre mit Sehen und Hören, so gliche die Welt einer Stickerei, die von hinten betrachtet wird, einem Gewirr von Fäden, deren zahllose Anfänge und Enden jeden Glauben an einen allgemeinen gesetzmäßigen Zusammenhang Lügen strafen müßten."
Eine für einen Realisten, der KÜLPE doch sein will, sehr merkwürdige Behauptung, daß "Regel und Gesetz erst von uns in die Welt der Erscheinungen hineingetragen werden"! Aber ich habe keinen Anlaß, ihre Richtigkeit hier zu prüfen, ich muß KÜLPE erst fragen, wie er sie und was darauf folgt mit dem wenige Zeilen vorher Gesagten zusammenreimen will!

Wenn Beobachten gleichbedeutend ist mit Sehen und Hören, so ist die (beobachtete) Welt ohne jeden allgemeinen gesetzmäßigen Zusammenhang! Die Welt der Erscheinungen ist ohne Regel und Gesetz! So heißt es an der einen Stelle; an der anderen aber: Gewisse Phänomene im Bewußtsein sein zweifellos gesetzmäßig verknüpft, die Beobachtungen des Naturforschers zeigen Gesetzmäßigkeit.

Offenbar, wenn Erscheinungen und Phänomene des Bewußtseins dasselbe sind, oder die letzteren wenigstens ein Teil der ersteren, so besteht in KÜLPEs Sätzen ein unaufhebbarer Widerspruch.

Was aber den Begriff des Beobachtens, der Beobachtung anlagt, so gibt KÜLPE selbst einen Unterschied der Bedeutung desselben an, den ich ihn nur etwas genauer zu beachten bitte. Es ist derselbe Unterschied, der mich veranlaßt hat, in dem schlechthin "Wahrnehmen", "Wahrnehmung" genannten zu scheiden zwischen dem Auftreten psychischer Inhalte, des in der Wahrnehmung "Gegebenen", der "Erscheinung" einerseits, und dem über dieses Gegebene hinausgehenden Meinen, dem "Wahrnehmungsurteil" andererseits. Wenn KÜLPE von einem Beobachten spricht, welches gleichbedeutend ist mit Sehen und Hören, und welches nur ein regelloses Bild der Welt liefert, so meint er dmit wohl mein Wahrnehmen im ersten Sinn des Auftretens von psychischen Inhalten. Dann muß aber das Beobachten des Naturforschers, welches eine gesetzmäßige Welt zeigt, etwas anderes sein, nämlich das über die psychischen in der Wahrnehmung gegebenen Inhalte hinausgehende Meinen oder Urteilen.

Damit erledigen sich aber eine ganze Reihe der von KÜLPE gegen mich gerichteten Vorwürfe. So zuerst natürlich die in der zweiten Besprechung ausdrücklich gegen meine Zurechnung der gewöhnlichen Sinneswahrnehmungen zu den Urteilen gerichteten Bedenken. Dann aber wird auch der ganze Beweisversuch gegen meine Begründung des Realismus durch den Kausalsatz im Kern zunichte. Nämlich wenn die Beobachtungen des Naturforschers, welche eine Gesetzmäßigkeit zeigen, nicht die in den Beobachtungen gegebenen psychischen Inhalte wie Farben, Töne usw. sind, sondern Urteile über einen Gegenstand, der diesem in der Beoachtung Gegebenen, oder überhaupt der Beobachtung als psychischem Inhalt und Vorgang transzendent sind, und wenn zugestanden ist, daß eine Beobachtung sich nicht selbst beobachtet, Urteile sich nicht selbst beurteilen, sondern ihren Gegenstand beobachten, beurteilen, so ist die Gesetzmäßigkeit, welche die Beobachtungen des Naturforschers zeigen, eine solche des transzendenten Gegenstandes. Und wenn diese Regelmäßigkeit des transzendenten Gegenstandes der Beobachtungen des Naturforschers benutzt werden sollte, um aus ihr die Regelmäßigkeit der Bewußtseinserscheinungen zu erweisen, so könnte das nur unter der Voraussetzung geschehen, daß jener transzendente Gegenstand der Beobachtungen des Naturforschers nichts anderes ist, als ein Stück der Bewußtseinswelt!

Bei einem Anti-Realisten würde also dieser Beweis gegen den Realismus auf einen Zirkel hinauslaufen; bei KÜLPE aber, der ja eine reale Außenwelt als Gegenstand der Naturwissenschaft anerkennt, ist der Fehler ein anderer: er verwechselt die Beobachtung selbst mit dem Gegenstand der Beobachtung.

Die Beobachtungen des Naturforschers sind ansich geistige, oder, wie KÜLPE will, psychische Vorgänge oder Inhalte, sie selbst oder die in ihnen gegebenen psychischen Inhalte wie Farben und Töne zeigen, wie KÜLPE selber sagt, keine Regelmäßigkeit, er muß ihnen also ihre Gegenstände unterschieben, um ihnen zur Regelmäßigkeit zu verhelfen.

Es ergibt sich somit zweierlei: erstens, daß KÜLPE mit mir im Grunde derselben Ansicht ist, daß in der Bewußtseinswelt die gesuchte Regelmäßigkeit nicht zu finden ist: und zweitens, daß auch er in den allgemeinen anti-realistischen Fehler verfallen ist, den Gegenstand eines Urteils, einer Beobachtung mit dem Urteil, der Beobachtung selbst zu verwechseln.

Diese letztere Bemerkung mag zugleich als Antwort dienen auf das allgemeine Bedenken, das er (erste Besprechung, Seite 99) gegen meine Erörterung der Transzendenz vorbringt: nämlich, wenn ich mit meiner Behauptung, ein jeder Gedanke sei sich selbst transzendent, meinte, "das im Subjekt Bezeichnete ist nicht identisch mit der Bezeichnung", so sei diese Behauptung wohl richtig, wird aber nirgends bestritten. Wenn ich KÜLPEs Worte: "das im Subjekt Bezeichnete ist nicht identisch mit der Bezeichnung" richtig verstehe als gleichbedeutend mit der von mir gebrauchten Wendung: "der Gegenstand des Gedankens ist verschieden vom Gedanken", so darf ich wohl annehmen, daß auch KÜLPE sich nunmehr überzeugt haben wird, daß gegen diesen Satz gestritten und allerdings wohl noch häufiger ungewußterweise verstoßen wird.

Ungewußterweise! In der Tat scheint KÜLPE oftmals gegen sein besseres Wissen zu urteilen, wo er sich gegen die in meinen Büchern vorgetragenen Ansichten wendet. In RT hatte ich den Nachweis, daß die für die Wissenschaft notwendige Regelmäßigkeit nich in der für sich genommenen Bewußtseinswelt zu finden ist, und durch sie somit eine Außenwelt gefordert wird, nur angedeutet, in EdA aber ist er, dem Zweck dieser Schrift entsprechend, ausführlich vorgetragen worden. Merkwürdig ist nun, wie KÜLPE auch diese ausführliche Darlegung so kurz abtut, daß er meinen Nachweis, in den beharrenden Wahrnehmungsmöglichkeiten (permanent possibilities of sensation) MILLs sei die Anerkennung des Realismus tatsächlich enthalten, mit dem bloßen Hinweis, diese Wahrnehmungsmöglichkeiten seien vielleicht nur Hilfsbegriffe, entkräftet zu haben glaubt (zweite Besprechung, Seite 991/2). Merkwürdig nämlich aus zwei Gründen: erstens deshalb, weil ich die angedeutete Ausrede des Anti-Realisten, der Begriff der Wahrnehmungsmöglichkeiten sei nur ein Hilfsbegriff, die Theorie des Realismus habe nur rechnerischen aber keinen Wahrheitswert, in meinen Schriften des öfteren besprochen und zurückgewiesen habe. - z. B. in RT, IX. Abschnitt, §4, in EdA, V. Hauptstück, Abschnitt 2 -; und zweitens merkwürdig deswegen, weil KÜLPE da, wo er selbst seinen Realismus begründet, z. B. in der "Einleitung in die Philosophie", Seite 148f, nicht nur im Wesentlichen dieselben Gründe benutzt wie ich, sondern auch selbst jenen Einwurf, den er mir macht, die Wahrnehmungsmöglichkeiten seien vielleicht nur Hilfsbegriffe, gar nicht beachtet!

Es lassen sich nämlich nach ihm für die Annahme einer realen Außenwelt folgende Gründe geltend machen:
    1. Der Unterschied zwischen der Sinneswahrnehmung einerseits, der Erinnerung und Einbildung andererseits.

    2. Die Notwendigkeit, zur Erklärung der Wahrnehmungen Dinge anzunehmen, die auch während der Wahrnehmungspausen beharren.

    3. Die eigene von uns unabhängige Gesetzmäßigkeit der wahrgenommenen Inhalte.

    4. Die Einfachheit des Realismus als Erklärungshypothese.
Von diesen Gründen fallen der zweite und der vierte offenbar zusammen mit von mir in den beiden von KÜLPE besprochenen Schriften angeführten (vgl. z. B. RT, Seite 157, EdA IV und V, 2). Den ersten aber habe ich nicht in dieser Form benutzt, weil er so kaum richtig sein dürfte. Ich weise da auf KÜLPEs eigene Auseinandersetzungen hin, die er unter der Überschrift: "Über die Objektivierung und Subjektivierung von Sinneseindrücken", in Bd. 19 der "Philosophischen Studien" (1902) gegeben hat. Als das Ergebnis mannigfaltiger Versuche erfahren wir hier, daß sich das Erlebnis der Sinneswahrnehmung on dem der Einbildung durch keine immanenten d. h. in ihm selbst gegebenen Merkmale unterscheidet, sondern vielmehr durch eine Beziehung der Unabhängigkeit oder Abhängigkeit vom Subjekt (vgl. dort Seite 553 und 555).

Durch diese Versuche wird also zunächst bestätigt, was die Erkenntnistheoretiker schon zumeist angenommen hatten, daß das in der Sinneswahrnehmung Gegebene - das Erlebnis - als solches nicht von anderem Gegebenen abweicht; daß allein in seinen gesetzlichen Beziehungen zu anderen Inhalten, zunächst in seiner Unabhängigkeit von uns, ein Unterschied gelegen ist. Aber dieses Merkmal der Unabhängigkeit von uns scheint mir kein klarer Begriff zu sein: unabhängig ist von uns doch auch ein großer Teil der Erinnerungen usw.! Was gemeint ist, scheint vielmehr dies, daß das Auftreten der Sinneswahrnehmungen sicher - vielleicht auch das aller anderen Erlebnisse - nicht in einem eindeutig bestimmbaren Zusammenhang mit dem Gegebenen steht. Das ist dann auch der wesentliche Inhalt von KÜLPEs drittem Grund, und entspricht meinem Hauptsatz, daß ein lückenloser gesetzmäßiger Zusammenhang nicht im Gegebenen zu finden ist!

Also tatsächlich hat KÜLPE keine anderen Gründe für den Realismus als ich, sondern nur einige weniger! Ich kann ihm also nicht den Vorwurf ersparen, daß er entweder größere Teile der von ihm kritisierten Bücher nicht gelesen hat, oder daß er dieselben Gedanken mit zweierlei Maß mißt, sobald sie von mir und sobald sie von ihm vorgetragen werden; wobei als erschwerend noch der merkwürdige Umstand hinzukommt, daß der vierte Grund für den Realismus - seine Einfachheit - von KÜLPE noch nicht in der zweiten, sondern erst in der dritten Auflage seiner "Einleitung in die Philosohie" im Jahre 1903 beigebracht worden ist, also wohl in derselben Zeit, in der er meine erste Schrift (RT), die ihn IX, 4 entwickelt, gelesen und besprochen hat.

Betrachten wir nun auch den ersten der oben angeführten drei Vorwürfe noch etwas genauer!
    "Noch immer wird die Frage des Realismus mit der Frage nach der Existenz und Erkennbarkeit der Außenwelt identifiziert."
In der ersten Besprechung (Seite 91) hatte sich KÜLPE begnügt, darauf hinzuweisen, daß er den Begriff des Realismus anders faßt als ich, wie er sagt, weiter, insofern
    "als er nicht nur eine reale Außenwelt, sondern auch eine reale Innenwelt der Wirklichkeit des Bewußtseins gegenüberstellt."
In der zweiten Besprechung wird aus dieser Feststellung ein Vorwurf! Daß derselbe nun in dieser Kürze gemacht unberechtigt ist, geht wohl aus meinen obigen Bemerkungen über das Wesen der Definition hervor. Nur wenn Definitionen notwendig entweder wahr oder falsch sein müssen, und wenn KÜLPEs Definition des Realismus als wahr erwiesen wäre, würde die Feststellung, daß meine Definition von der seinigen abweicht, zur Verdammung genügen. So aber hätte KÜLPE doch einen ordentlichen Nachweis führen müssen, daß seine Definition zweckmäßiger ist als meine! Und ein solches Abschätzen unserer Definitionen würde sich wohl gelohnt haben, wie auch immer das Ergebnis ausgefallen sein würde. Ich bin durchaus nicht halsstarrig im Festhalten weder meiner Behauptungen noch meiner Definitionen, und werde sie gern gegen Besseres eintauschen. Es wäre außerordentlich wünschenswert, daß wir in der Philosophie bald zu einer ähnlich festen und allgemein angenommenen Terminologie gelangen wie etwa die Physiker sie in ihrer Wissenschaft haben. Und ich habe mich bemüht, zur Erreichung dieses Ziels beizutragen, indem ich meine Definitionen so eng wie möglich an den Sprachgebrauch der wichtigsten philosophischen Werke angepaßt habe. Aber natürlich so wenig man eine in sich widerspruchsvolle Definition annehmen darf, so wenig kann man es auch allen recht machen: die Schwankungen im Gebrauch solcher Wörter wie Realismus, Positivismus usw. sind zu beträchtlich!

Es ist andererseits auch klar, daß die Terminologie auch wieder von der Art des Gedankensystems abhängt, in dem sie verwendet wird. Und solange noch so gewaltige Unterschiede zwischen den Gedankensystemen der Philosophen vorhanden sind, wird es schwer sein, auch nur zu einer Einigung über die Ausdrucksweise zu gelangen: jedes System wählt sich die ihm angemessenste. So oft ich daher auch schon daran gedacht habe, ob sich eine Einigung über die wichtigsten Definitionen nicht durch eine allgemeine Zusammenkunft der Philosophen erzielen läßt, so fürchte ich doch, daß dafür die Zeit noch nicht gekommen ist; man braucht sich ja nur daran zu erinnern, daß die Philosophen noch nicht einmal darüber einig sind, was überhaupt unter einer Definition verstanden werden soll - die Physiker scheinen uns auch darin weit voraus zu sein!

Ich glaube daher, daß die hier zu leistende Arbeit zunächst noch als Kleinarbeit - im Einzelnen - getan werden muß, wozu dann die beste Gelegenheit wohl gerade in Besprechungen der Arbeiten anderer gegeben ist. So will ich dann hier, wenn auch nur kurz, die von KÜLPE den meinigen gegenübergestellten Definitionen auf ihre Brauchbarkeit hin prüfen.

Der Realismus soll nach ihm die Lehre sein, welche der Wirklichkeit des Bewußtseins nicht nur eine reale Außenwelt, sondern auch eine reale Innenwelt gegenüberstellt. Eine jede Definition ist nun nur dann brauchbar, wenn sie mit Hilfe von Begriffen erklärt, die selbst klar sind. Kann das KÜLPE von seinen Begriffen "Innenwelt", "Bewußtsein", "wirklich", "real" behaupten? Ich muß gestehen, daß ich eine deutliche Angabe darüber vermisse, wie er eine wirkliche Bewußtseinswelt und eine reale Innenwelt einander so scharf entgegensetzen kann. Wo liegt der Gegensatz? Ist "wirklich" dem "real" oder "Bewußtsein" einer "Innenwelt" gegenübergestellt?

Die ganze Anlage der Definition weist wohl darauf hin, daß der Gegensatz im ersteren Begriffspaar "wirklich" und "real" liegen soll. Und dazu würde stimmen, daß der dem Realismus entgegengesetzte Standpunkt des Konszientialismus von KÜLPE einfach als Wirklichkeitsstandpunkt bezeichnet wird (vgl. "Einleitung in die Philosophie", § 17). Dann aber muß doch gefragt werden, wodurch sich denn die beiden Begriffe "real" und "wirklich" voneinander unterscheiden. Dieser Unterschied ist doch nicht von selber klar, oder als bekannt vorauszusetzen; im Gegenteil dürften wohl nur die Wenigsten hier überhaupt einen Unterschied machen. Auch ich brauche beide Worte als gleichbedeutend. Ob ich einem Gefühl Wirklichkeit oder Realität zuschreibe, ist für mich dasselbe und in gleicher Weise kann ich daher von der Realität des Bewußtseins reden wie von der Realität der Außenwelt, von der Wirklichkeit der Außenwelt wie von der des Bewußtseins.

Warum macht KÜLPE hier nun einen Unterschied? Eine Definition des Begriffs "real" steht in der zweiten Auflage seiner "Einleitung in die Philosophie", Seite 225.
    "Wenn wir dagegen als real bezeichnen, was durch eine methodisch regelrechte, einwandfreie Untersuchung als gültig festgestellt worden ist, und sich an der Erfahrung bewährt, so ist die Realität nirgends einfach gegeben, sondern bildet das Ende, das Ziel der wissenschaftlichen Forschung."
Diese Definition wird nun freilich vielleicht von KÜLPE selbst nicht mehr anerkannt, da sie in der dritten Auflage seiner "Einleitung", soweit ich sehe, fehlt. Da er sie aber nicht durch eine andere ersetzt hat, müssen wir uns zunächst an sie halten.

Zunächst ist der Ausdruck, "real ist das, was gültig ist", offenbar mangelhaft: gültig ist doch wohl nur ein Urteil! Also setzen wir dafür: "real ist, was durch eine regelrechte Untersuchung in (gültigen) Urteilen festgestellt wird, welche sich an der Erfahrung bewähren. Dann soll folgen, daß das Reale nirgends einfach gegeben sein kann. KÜLPE nimmt doch an, daß nur die Erkenntnis der Bewußtseinsinhalte z. B. also ihrer Existenz unmittelbar sicher ist, die der Außenwelt aber daraus erschlossen. Dann würde also das real sein, was erschlossen wird, das aber nicht real, aus dem es, und damit auch seine Realität erschlossen wird! Und real würde es sein, weil es erschlossen wird, nicht real aber würde etwas sein, wenn es die Grundlage dieses Schlusses auf die Realität bildet!

Sehr merkwürdige Folgerungen, deren erste jedenfalls KÜLPE auch dann zur Last fällt, wenn er die obige Definition des "real" nicht mehr aufrecht erhält. Denn wie er auch den Inhalt des Begriffes "real" bestimmen mag, immer muß ihm das erst Erschlossene real, das, woraus es erschlossen ist, aber nicht real sein!

Nun aber weiter! Real soll das sein, was sich an der Erfahrung bewährt oder wie ich vorziehe zu sagen, dessen Realität in Urteilen ausgesagt wird, die sich an der Erfahrung bewähren. Auch hier muß ich KÜLPE eines Widerspruchs bezichtigen; er sagt nämlich in der zweiten Besprechung Seite 913:
    "Und es fehlt uns gleichfalls die Einsicht in die Möglichkeit einer weiteren Bestätigung für eine psychophysische Theorie des Unbewußten. In derselben Lage befinden wir uns gegenüber der Erklärung, daß der Realismus eine unendlich lange Prüfungszeit hinter sich hat und in Leben und Wissenschaft ausnahmslos bestätigt worden ist. Die Hypothese von der Existenz eines Planeten läßt sich durch dessen Wahrnehmung, die Annahme von chemischen Elementen durch deren Entdeckung, die Rekonstruktion einer verloren gegangenen Geschichtsquelle durch deren Auffindung bestätigen. Daß aber unseren naturwissenschaftlichen Gedanken reale Existenzen entsprechen, kann auf keine Weise bestätigt und geprüft werden."
Hier kann man sich vor Widersprüchen kaum retten! KÜLPE behauptet, daß die Hypothese von der Existenz eines Planeten durch Erfahrung bestätigt werden kann - daß aber unseren naturwissenschaftlichen Gedanken reale Existenzen entsprechen, kann auf keine Weise bestätigt werden! Ist die Hypothese von der Existenz eines Planeten vielleicht kein naturwissenschaftlicher Gedanke? Oder ist die Existenz eines Planeten keine "reale" Existenz? Das Letztere sollte man fast annehmen; dann aber würde die Unmöglichkeit, die Annahme einer KÜLPEschen "realen" Existenz zu bestätigen, nichts beweisen gegen die Behauptung, daß der Realismus in meinem Sinne bestätigt werden kann. Und so enthalten KÜLPEs Beispiele von der Bestätigung der Planetenhypothese usw. nicht eine Widerlegung, sondern eine Zustimmung zu meiner Behauptung - wieder ungewußterweise, wie es scheint!

Halten wir uns aber an das, was KÜLPE mit dieser merkwürdigen Erörterung beweisen will, nämlich, daß Annahmen über reale Existenzen nicht bestätigt werden können, so haben wir damit eben den Widerspruch gegen seine obige Behauptung, real ist, was sich an der Erfahrung bewährt!

Nun lassen wir diese Widersprüche in KÜLPEs Gedankenbau beiseite: sie werden ja hervorgerufen durch Sätze, die wir selbst nicht unterschreiben! Sehen wir die Definition vielmehr darauf hin an, ob sie ansich brauchbar ist und ihren nächsten Zweck zumindest erfüllt!
    "Was durch eine regelrechte Untersuchung in Urteilen festgestellt wird, welche sich an der Erfahrung bewähren, ist real."
Dann ist notwendigerweise das ganze Bewußtseinsleben des Menschen real, denn die Psychologie z. B., eine der Wissenschaften, die sich mit ihm beschäftigt, stellt ihre Urteile durch regelrechte Untersuchungen fest, und prüft sie an der Erfahrung. Ist aber die Bewußtseinswelt so gut real wie die Außenwelt, dann kann der Unterschied beider nicht durch den Gegensatz von "real" und "wirklich" gekennzeichnet werden! Dann besagt aber die Definition KÜLPEs einfach, daß der Realismus außerhalb der Bewußtseinswelt noch eine Außenwelt und eine nichtbewußte Innenwelt als wirklich und erkennbar annimmt. Und warum diese besser sein soll, als die von mir aufgestellte, wonach der Realismus in der Annahme einer erkennbaren Außenwelt besteht, vermag ich wirklich nicht einzusehen. Für meine Zwecke ist sogar unzweifelhaft die meine vorteilhafter. Denn die Frage nach der Existenz einer Außenwelt und die Frage nach der Existenz einer hinter unserem Bewußtsein stehenden Seele sind doch zwei verschiedene Fragen, und ich hatte es nur mit der ersteren zu tun. Warum sollte ich da in meine Definition einen Hinweis auf ein Problem aufnehmen, was mich nichts angeht, ganz abgesehen davon, ob ich an eine solche unbewußte psychische Seele überhaupt glaube.

Ich glaube aber, daß es nicht nur für meinen Standpunkt, sondern überhaupt zweckmäßig ist, in der Definition des Realismus von jener Frage der Seele abzusehen, da in den erkenntnistheoretischen Erörterungen, in denen die Begriffe des Realismus, des Konszientialismus usw. herausgebildet worden sind, die eigentliche Frage doch fast immer die gewesen ist, ob es außer unseren Vorstellungen von der Außenwelt auch noch eine Außenwelt selbst gibt, womit die Frage nach einer substanziellen Seele innerlich doch nur sehr lose zusammenhängt, wie schon daraus zu ersehen ist, daß dieses Problem sich gar nicht entsprechend fassen läßt als die Frage etwa, ob es außer unseren Vorstellungen von der Seele auch noch eine Seele selbst gibt. Diese letztere Frage ist eine solche der allgemeinen Transzendenz und von mir auch in diesem Sinne behandelt worden, wo ich von der Transzendenz gesprochen habe; sie ist also viel allgemeiner als die Frage nach einer substanziellen Seele oder nach dem unbekannten psychischen Seelenwesen!

Es muß also daran festgehalten werden, so möchte ich mich beinahe mit KÜLPE ausdrücken, daß der Realismus gleich der Annahme einer erkennbaren Außenwelt ist. Ich will aber lieber einfach feststellen, daß in seinen Ausführungen kein Grund liegt, von meiner Definition des Realismus abzugehen.

Und ich glaube auch trotz KÜLPE weiter an meinem Begriff des dualistischen Realismus festhalten zu dürfen. KÜLPE folgert nämlich in der zweiten Besprechung Seite 989:
    "Realismus heißt nach ihm (Freytag) wie wir wissen, Annahme einer Außenwelt. Dualistisch könnte daher ein Realismus nur dann sein, wenn es eine zweifache Art von Außenwelt gibt."
Ganz zutreffend scheint nun KÜLPE selbst diese Folgerung nicht gewesen zu sein, denn er fügt sogleich hinzu:
    "Die Innenwelt, die mit den unmittelbar gegenwärtigen Bewußtseinsinhalten zusammenfällt, gilt dem Verfasser sonst durchaus nicht als etwas Reales" usw.
Das heißt KÜLPE ersetzt den Vorwurf, daß ich trotz meiner Definition nur eine einfache Außenwelt annehme, nämlich nur eine reale Außenwelt, keine reale Innenwelt.

Es fällt wirklich schwer auf solche Vorwürfe ernsthaft zu antworten. Denn wo in aller Welt habe ich behauptet, daß die Bewußtseinsinhalte weniger wirklich oder weniger real sind als etwa die Körper? Ist es nicht vielmehr KÜLPE, der, nach dem Obigen zu urteilen, die Neigung zeigt, das Bewußte für weniger real zu halten als das Körperliche? Und weiter: wie kann man nur aus dem Namen eines Begriffs über dessen Inhalt etwas erschließen wollen? Ich häte ja den dualistischen Realismus unbeschadet des durch ihn gemeinten Inhalts auch als XY bezeichnen können!

Ich glaube aber auch nicht, daß der Name "dualistischer Realismus" so schlecht gewählt ist. Durch meinen Begriff des Realismus wird ja nicht gemeint, daß ausschließlich die Außenwelt real ist, die Innenwelt aber nicht, sondern es wird, da die Realität der gegebenen Bewußtseinswelt für den Realismus wie für den Anti-Realismus in gleicher Weise eine unbestrittene Voraussetzung ist, zur Kennzeichnung dieser Standpunkte nur ihr Urteil über die Außenwelt herangezogen. Und im Begriff des dualistischen Realismus wird dann gemeint, daß diese vom Realismus als real gesetzte Außenwelt von der unbestrittenen als real gedachten Innenwelt inhaltlich verschieden ist.

Auch sonst hat KÜLPE noch einiges gegen meine Definitioinen der erkenntnistheoretischen Standpunkte vorzubringen. Auch will ich seinen Vorwurf, die Zusammenstellung derselben sei "nicht gerade übersichtlich und einheitlich" (zweite Besprechung Seite 987), auf sich beruhen lassen. Achten wir aber auf das genauer Ausgeführte! Da heißt es (zweite Besprechung, Seite 988):
    "Wie unzweckmäßig es ist, Realismus und Annahme einer Außenwelt zu identifizieren, zeigt sich z. B. mit besonderer Deutlichkeit am sogenannten monistischen Realismus, der nur deshalb ein Realismus genannt wird, weil er von einer Außenwelt redet. Tatsächlich fällt er mit dem Positivismus, Agnostizismus, Konszientialismus zusammen, die ja auch von einer Außenwelt sprechen können."
Darauf möchte ich unter Hinweis auf meine angegriffenen Ausführungen in EdA nur erwidern, daß für mich weder der Positivismus und der Agnostizismus und der Konszientialismus miteinander zusammenfallen - das ist nur für manchen Anhänger eines dieser Standpunkte der Fall, und das "bloße Schema" durch welches ich den Unterschied dieser Standpunkte gleichsam von selbst hervortreten lasse, ist daher eine sehr nötige Vorbereitung zur Kritik dieser Standpunkte - noch fällt der monistische Realismus, wie ich ihn definiert habe, und wie er, natürlich oft in der Vermischung mit anderen Standpunkten vorkommt, mit dem Agnostizismus usw. selbst zusammen. Nämlich nach diesem Monismus hängt es lediglich vom Gesichtspunkt der Betrachtung ab, ob ein Inhalt der Innenwelt oder der Außenwelt zugezählt werden soll: er ist ansich dasselbe, nur ist jedesmal ein anderer Teil der Beziehungen in denen er steht, betont. Sehr nahe liegt es dann, von diesem Standpunkt aus anzunehmen, daß die in den Beziehungen zum Ich oder zu einander stehenden Inhalte, weil sie sich in diesen Beziehungen nicht ändern, so wie sie in der Beziehung zum Ich auftreten, auch außerhalb dieser Beziehung sind, und daß sie überhaupt ansich dasselbe bleiben, beharren, gleichgültig ob ein Ich existiert oder nicht. Dann haben wir einen monistischen Realismus, als dessen Vertreter ich (EdA Seite 27) PETZOLDT und KIRCHMANN und in gewissem Sinn auch MACH genannt habe.

Wie jemand, der meine Auseinandersetzungen an der eben genannten Stelle gelesen hat, behaupten kann, daß das, was ich monistischen Realismus nenne, gar kein Realismus ist, das verstehe ich nicht.

LITERATUR - Willy Freytag, Zur Frage des Realismus [Eine Erwiderung], Düsseldorf 1906