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BENNO ERDMANN
Erkennen und Verstehen

Das vielberufene Einleitungswort Kants, daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfängt, ist auch im Zusammenhang seiner kritischen Philosophie nicht ganz präzise formuliert. Unsere Erkenntnis hebt nicht mit der Erfahrung, sondern mit der Wahrnehmung an, wenn auch die Erfahrung der Inbegriff gedächtnismäßig verknüpfter und von allen Formen des Vorstellens durchsetzter Wahrnehmungen ist. Und zwar beginnt sie mit der Sinneswahrnehmung, die somit in der Tat "das absolute Fundament" all unserer Erkenntnis abgibt.

Die uns geläufige Scheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ist jungen Datums. Sehen wir von ihren Vorstufen in der griechischen Philosophie und der religiös zentrierten Philosophie der nächstfolgenden Periode ab, so begegnen uns deutliche Anfänge dieser Gliederung der Tatsachenwissenschaften erst im 18. Jahrhundert. Denn im 17. blieb die Entwicklung des Problems trotz der prinzipiellen kartesianischen Trennung von ausgedehnten und bewußten Substanzen, sowie der Fortbildung dieses Gegensatzes im spinozistischen Parallelismus zwischen Ausdehnung und Denken und der Substruktion des Psychischen durch LEIBNIZ unter das Mechanische gehemmt. Die schnell sieghaft gewordene mechanische Naturauffassung, die dem wissenschaftlichen Denken jener Zeit das Gepräge gab, hatte das geistige Auge dem Wissenschaftscharakter der historischen und philosophischen Disziplinen verschlossen und das methodische Vorurteil der mathesis universalis gezeitigt. Erst die psychologisch orientierte Erkenntniskritik des Empirismus seit LOCKE bot die Grundlagen für die Problementwicklung. Ein erster Ansatz läßt sich in BERKELEYs prinzipieller, nur im Sprachgebrauch schwankender Unterscheidung von ideas und notions [Vorstellung - wp] finden. Aber erst HUMEs Entdeckung der Wesensverschiedenheit zwischen Tatsachen- und demonstrativen Schlüssen und dementsprechend zwischen den mathematischen und den Tatsachenwissenschaften und KANTs wenige Jahrhzehnte spätere, anfangs wenig beachtete Ablösung des mathematischen Denkens vom philosophischen brachte auch die speziellere Frage nach dem Verhältnis der beiden Gruppen von Tatsachenwissenschaften in Fluß. HUMEs unausgeführte, mehr als selbstverständlich vorausgesetzte als begründete Entgegenstellung der Moral und Natural Philosophy konnte in dieser Unbestimmtheit nicht lange bestehen bleiben. Die volle Kraft zur Differenzierung setzt wenig später ein: in Frankreich und England seit der Mitte des 18. Jahrhunderts durch die Ausbildung der Nationalökonomie und Geschichtsphilosophie bis zur Begründung der Soziologie durch COMTE und den methodologischen Erörterungen von JOHN STUART MILL; in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts durch alle die Antriebe zu historischer Vertiefung des Denkens, die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichten. Die Phase, in der wir gegenwärtig stehen, hat bei uns um die achtziger Jahre mit der langsam erstarkenden Regeneration der Philosophie begonnen. Sie ist durch sehr verschiedenartige Einflüsse bedingt. Nachwirkungen der romantischen Geschichtsdeutung, die neuerdings durch Fortbildungen der rationalistischen Elemente des kantischen Kritizismus und der nachkantischen metaphysischen Spekulation verstärkt werden, fließen mit den Gedankengängen zusammen, die teils im Anschluß an, teil in Reaktion gegen die materialistische Geschichtsauffassung entstanden sind; und alle diese Antriebe vereinigen sich mit einer Kritik der Ansprüche, die zugunsten einer universellen naturwissenschaftlichen Methode von den modernen Vertretern des Monismus und Positivismus erhoben werden.

Begreiflich unter diesen Vorbedingungen, daß die Aufgabe, das Verhältnis der Natur- und Geisteswissenschaften genauer zu bestimmen, auch gegenwärtig sehr verschiedene Lösungsversuche möglich macht.

Wenn wir, wie im Nachstehenden geschehen soll, die Sonderstellung der reinen Mathematik gegenüber den Tatsachenwissenschaften unberührt lassen, so kommen für jeden Lösungsversuch jener Aufgabe Untersuchungen von drei verschiedenen Gesichtspunkten aus in Betracht.

Den nächstliegenden Ausgangspunkt bietet der offenkundige Gegensatz beider Wissenschaftsgruppen. Dieser objektive Gegensatz ist prinzipieller genommen, als er herkömmlicherweise gedacht wird, wenn wir die Natur als die gemeinhin sogenannte materielle oder Außenwelt und den Geist als die seelische oder Innenwelt fassen. Denn nicht die seelischen Vorgänge überhaupt, wie wir solche auch den Tieren zuschreiben, sondern lediglich die Funktionen des dem Menschen eigentümlichen seelischen Lebens, des Wollens und Denkens, des "Göttlichen" der Seele, des Pneuma antiker Fassungen, haben den Anlaß zur Namensgebung "Geistes"-Wissenschaften gebotenk. Als Geisteswissenschaften pflegen dementsprechend nur diejenigen Disziplinen zu gelten, die zu ihren Gegenständen Betätigungen und Produkte unseres Geisteslebens haben, also die historischen Wissenschaften im weiteren Sinne, wie die Sprachwissenschaft, die Philologie, die Geschichte der Religion, der Kunst, des Rechts- und Staatslebens. Von hier aus wird verständlich, daß er überlieferte Gegensatz sich neuerdings zu einem Kontrast zwischen Natur- und Kulturwissenschaften umbilden konnte. Ich behalte im Folgenden den überlieferten Namen "Geisteswissenschaften" für das oben allgemeiner gefaßte Innenglied des Gegensatzes bei, obgleich gemäß dieser Fassung das menschliche Seelenleben nur als das Innere der höchsten Stufe der organischen Entwicklung angesehen werden darf. Meine Aufgabe aber geht nur auf die engere, auch in der älteren Namensgebung gemeinte Bestimmung des Innengliedes, für die ich den Namen "Kulturwissenschaften" aufnehmen will. Es bleibt nur zweierlei zu beachten. Erstens ist diese engere Fassung nur eine Folgebestimmung der allgemeinen Deutung des Innengliedes; zweitens schließt sie trotz ihrer Enge alle Betätigungen unserer Kultur von den ersten Anfängen menschlicher Entwicklung an bis zum Verlauf der Geschichte im engeren Sinn ein.

Dem objektiven Gegensatz der Kultur- und Naturwissenschaften entspricht kaum weniger deutlich ein methodischer. Fassen wir ihn in üblicher Weise, so läßt sich etwa Folgendes sagen: Die methodische Grundlage der Naturwissenschaften ist die durchweg einer experimentellen Variation zugängliche und im Prinzip stets mathematisch instrumentierbare Beobachtung dessen, was die Sinneswahrnehmung darbietet. Für die Methode der Kulturwissenschaften ist dagegen die Einfühlung und das Hineindenken in fremdes geistiges Leben, kurz: die Einstellung auf dieses, auf der Basis der Selbstbeobachtung charakteristisch. Dementsprechend ist dort das Ziel die Ableitung allgemeiner Gesetze, bei denen grundsätzlich von aller Eigenart des Geisteslebens abstrahiert ist, sowie die Einordnung alles psychischen Geschehens und seiner Produkte in diesen gesetzlichen Zusammenhang. Hier dagegen gilt es, die Produkte menschlicher Kultur jeder Art und die geistigen Betätigungen, denen jene Produkte ihren Ursprung verdanken, zuletzt also die Taten und Erzeugnisse des individuellen geistigen Lebens, in ihrem objektiven Entwicklungszusammenhang zu verstehen. Keiner Erörterung bedarf, daß dieser methodische Gegensatz nach Voraussetzung und Aufgabe, wie zuletzt alle Verschiedenheit wissenschaftlicher Methoden, an der Eigenart der Gegenstände hängt, denen unser Denken zugewandt ist.

Dem methodischen und objektiven Gegensatz beider Wissensgebiete entspricht endlich ein dritter, der ebenfalls wiederholt die Untersuchung mitbestimmt, wennschon kaum jemals geleitet hat. Es ist dies der psychologische Kontrast zwischen den geistigen Vorgängen, durch die auf jedem der beiden Wissensgebiete die Gegenstände tatsächlich in Gedanken erfaßt und methodisch bearbeitet werden. Als Erkennen (der äußeren Natur) und Verstehen (fremden Geisteslebens) sind die Glieder dieses psychologischen Gegensatzes unterschieden worden.

Nur künstlich und schematisch sind diese drei Leitideen voneinander zu trennen. Kein Versuch, das Verhältnis beider Wissensgebiete zu bestimmen, darf eine von ihnen vernachlässigen. Jede solche Untersuchung aber muß damit beginnen, sie möglichst auseinanderzuhalten, wenn das Gedankengewebe, das sie vereinigt bilden, reinlich erkannt werden soll. Wie für alle Tatsachenfragen, so ist auch hier die aussondernde Analyse das für uns Frühere, die Synthese das für uns Spätere. Wie bei allen Erkenntnisproblemen, so haben wir uns freilich auch hier zu hüten, diese Synthese, das Kunstprodukt unseres konstruierenden Denkens, in ihrem durch die voraufgehende Analyse bedingten synthetischen Bestand als proteron to physei [ansich Erstes - wp] anzusehen. Wer dies nicht im Auge behält, der kommt zu jenen transzendentalen Spekulationen, mit denen der Rationalismus, die logische Kunst sich als seelische Natur vortäuschend, von jeher operiert hat.

In der nachstehenden Erörterung ist das zuletzt gekennzeichnete psychologische Problem behandelt. Aber ihre Aufgabe ist nicht, den Gegensatz der beiden Wissensgebiete psychologisch zu verdeutlichen, sondern die gemeinsamen tatsächlichen Grundlagen des Verstehens und Erkennens aufzuweisen und damit eine psychologische Basis für die Einsicht in die gemeinsamen Voraussetzungen des objektiven und methodischen Gegensatzes beider Wissenschaftsgruppen zu schaffen. Allgemein gesprochen, soll sie einen psychologischen Beitrag zur Lehre von der Einheit des Wissens liefern. Sie sucht diese Aufgabe dadurch zu lösen, daß sie das Verstehen fremden Geisteslebens und weiterhin das Verstehen überhaupt als Arten des Erkennens aufweist.

Das vielberufene Einleitungswort KANTs, daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfängt, ist auch im Zusammenhang seiner kritischen Philosophie nicht ganz präzise formuliert. Unsere Erkenntnis hebt nicht mit der Erfahrung, sondern mit der Wahrnehmung an, wenn auch die Erfahrung der Inbegriff gedächtnismäßig verknüpfter und von allen Formen des Vorstellens durchsetzter Wahrnehmungen ist. Und zwar beginnt sie mit der Sinneswahrnehmung, die somit in der Tat "das absolute Fundament" all unserer Erkenntnis abgibt.

Ich verstehe dabei unter Erkennen in weiterer Bedeutung den Inbegriff des Vorstellens, dessen Gegenstände als von ihrem Vorgestelltwerden unabhängig als wirklich vorausgesetzt werden. Ich nehme das Wort also in nur einer der mannigfachen Bedeutungen, die ihm der praktische und wissenschaftliche Sprachgebrauch zuweist. Erkenntnisse sind demnach diejenigen Vorstellungsinhalte, deren Gegenstände wir als von ihrem Vorstellungsbestand unabhängig als wirklich voraussetzen.

Die erkenntnistheoretische Frage, in welchem Sinn diese Voraussetzung sich als gültig erweisen läßt, mit welchem Recht sie also gemacht werden darf, steht hier nicht zur Erörterung. Die Psychologie kann über dieses Problem im Rahmen ihrer Untersuchungen ebensowenig entscheiden wie irgendeine andere einzelwissenschaftliche Disziplin. Aber sie bedarf für die Lösung der ihr eigenen Aufgabe, für die Analyse und Erklärung des seelischen Tatbestandes und seiner funktionellen Beziehungen zu den physischen Lebensvorgängen, einer solchen Entscheidung so wenig, wie irgendeine andere Einzelwissenschaft.

Was sie gegenüber dem naiven Realismus und dem theoretischen Materialismus für ihre Aufgaben zu fordern hat, ist das Zugeständnis, daß die Inbegriffe der Sinneswahrnehmung uns, unbeschadet der objektiven Realität, die wir ihnen mit Fug zuschreiben, ebensowohl als Bewußtseinsinhalt (vgl. in meiner "Logik", Bd. 1, § 43) gegeben sind, wie die Inbegriffe der Erinnerung, Einbildung und Abstraktion sowie die Bewußtseinsprodukte ihrer geistigen Bearbeitung im Denken. Sie darf ihrerseits dafür den Forderungen der Naturwissenschaft gegenüber das Zugeständnis machen, daß jeder seelische Lebensvorgang in funktioneller Beziehung zu einem und nur einem physischen Lebensvorgang steht. Daß jeder Ausschnitt aus diesen beiden Vorgangsreihen einen nur künstlich abgrenzbaren Teilinbegriff der Mannigfaltigkeit der Lebensvorgänge überhaupt ausmacht, ist dabei vorausgesetzt.

Ich nehme mir ferner das umstrittene Recht, die seelischen Vorgänge und Inhalte überhaupt in intellektuelle und emotionale zu zerlegen. Ich rechne dabei zu jenen das ganze Gebiet der Vorstellungen mit Einschluß der Wahrnehmungen sowie die Aufmerksamkeit, zu diesen das Fühlen und das Streben. Dadurch, daß die Aufmerksamkeit ein emotionales Moment einschließt und die Vorstellungen nahezu durchaus ebensolche Momente enthalten, daß ferner die Emotionen fast durchweg an Vorstellungen gebunden sind, wird das Recht zu einer solchen Einteilung nicht gestört. Denn alle biologischen, also auch alle psychologischen Einteilungen ergeben nur repräsentative Typen, d. h. Arten, die nicht reinlich gegeneinander abgegrenzt werden können, weil sie durch mannigfaltige Übergangsformen miteinander verbunden sind.

Die Vorstellungsinhalte der Sinneswahrnehmung sind gemäß diesem Sprachgebrauch ebensowohl intellektuelle wie die aus ihnen abgeleiteten Vorstellungen. Also sind auch die Vorgänge, in denen die Wahrnehmungsinhalte wirklich sind, nicht weniger intellektuelle als die Vorgänge des aufmerksamen Vergleichens und Unterscheidens, kurz des Denkens, dessen Formelemente die Urteile bilden.

Das methodische Element jeder psychologischen Analyse bilden die Sinneswahrnehmungen des entwickelten Bewußtseins, d. h. diejenigen, die sich aufgrund wiederholter Sinnesreize als Glieder einer ausgestalteten Erfahrung einstellen.

Die gegenständlichen Inbegriffe, aus denen diese Sinneswahrnehmungen bestehen, sind durchweg Erkenntnisse im oben festgestellten Sinn, und zwar entwickelte Erkenntnisse, d. h. solche, deren Gegenstände logisch gesprochen, als Exemplare von Gattungen erkannt werden; ein Gegenstand dieser Art z. B. als diese Eiche, ein Baum, eine Pflanze, ein organischer Körper, ein Körper usw. Die entwickelte sinnliche Erkenntnis kann also jede Stufe der Bestimmtheit von fast völliger Unbestimmtheit an bis zur konkretesten Bestimmtheit aufweisen. In logischer Wendung: die subsumierende Gattung kann jeden Umfang von der höchsten Gattung sinnlicher Gegenstände, dem Etwas im Raum überhaupt, an bis zur nächsthöheren abstrakten Einzelvorstellung besitzen. Eine schlechthin unbestimmte entwickelte Erkenntnis, eine solche also, deren Gegenstand, logisch formuliert, nicht als Exemplar irgendeiner Gattung bewußt wäre, ist eine contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp].

Die für unsere Analyse einfachsten Fälle des entwickelten Erkennens liegen dann vor, wenn sich vertraute Gegenstände der Sinneswahrnehmung darbieten, deren Erkenntnis nicht irgendeiner "Reflexion" bedarf, d. h. unmittelbar erfolgt. Besonders einfach zeigt sich der hier zu erklärende Bewußtseinsbestand unter zwei einander entgegengesetzten Bedingungsreihen. Einmal dann, wenn das wahrnehmende Erkennen so achtlos erfolgt wie da, wo unser Blick über vertraute Gegenstände der täglichen Umgebung hinweggleitet, während unsere Aufmerksamkeit nach einer anderen Richtung hin, etwa nach Innen gespannt ist. Aber auch dann, wenn wir uns, wie bei tachistoskopischen [Kurzzeitbilder - wp] Reaktionsversuchen, mit gespannter Aufmerksamkeit für kurze Zeit in einen vertrauten Wahrnehmungsbestand vertiefen.

Die Selbstbeobachtung zeigt dem Geschulten, daß der Bewußtseinsbestand des erkannten Gegenstandes unter diesen Bedingungen der Regel nach nichts anderes enthält als den Wahrnehmungsbegriff, der durch die gegenwärtigen Reize im entwickelten Bewußtsein ausgelöst ist, d. h. daß der Erkenntnisbestand mit dem Wahrnehmungsbestand in eins zusammenfällt.

Die scheinbare Paradoxie dieses gleichen Erfolgs entgegengesetzter Bedingungen löst sich leicht. Die Konzentration des Bewußtseinsbestandes auf den Wahrnehmungsinhalt ist bei unaufmerksamem Wahrnehmen dadurch bedingt, daß die anders gerichtete Aufmerksamkeit alle Bewußtseinsreproduktionen hemmt, die nicht direkt durch die vorliegenden Reize ausgelöst werden. Bei jenem kurzdauernden aufmerksamen Wahrnehmen dagegen werden weitere, mittelbare Bewußtseinsreproduktionen dadurch ausgeschlossen, daß die Aufmerksamkeit lediglich dem Wahrnehmungsbestand zugewandt ist.

An der Analyse des so bedingten, mit dem Wahrnehmungsbestand kongruierenden Erkenntnisbestandes habe ich mich schon vor langen Jahren versucht. Aber ich gestehe, daß ich trotz oft erneuter Arbeit noch nicht zum Abschluß gelangt bin. Ich finde, sie gehört zu den schwierigsten Aufgaben der deskriptiven Psychologie. Sie ist kaum weniger schwierig als die mathematische Bestimmung der Maßbeziehungen, die den Raum unserer Gesichts- und Tastwahrnehmung als ebenen kennzeichnen. Auch die experimentell variierte Analyse der Wahrnehmungsbegriffe vermag die Fehlerquellen, die aus landläufigen logischen und unübersehbar mannigfaltigen erkenntnistheoretischen Annahmen in solche Beschreibungen einfließen, nur schwer zu verstopfen. Alles hängt hier an geschulter und zugleich, was schwerer erreichbar ist, unbefangener Selbstbeobachtung. Für die Mängel, die solchen Analysen anhaften können, bieten LOTZEs Deutung der Lokalzeichen, die neueren Hypothesen über "Gestaltqualitäten", sowie die alte, noch nicht ausgemerzte Annahme, daß in unserer Erkenntnis die bezeichnenden Worte stets mitbewußt werden, nur nächstliegende Beispiele.

Glücklicherweise verlangt die nachstehende Untersuchung lediglich die Feststellung, daß unter den genannten Voraussetzungen das Wahrnehmen unmittelbar zu wohlbestimmten entwickelten Erkenntnissen führen, d. h. in logischer Formulierung, daß es den Gegenstand unmittelbar als Exemplar der nächsthöheren Gattung erkennbar machen kann. Denn schon aus dieser tatsächlichen Feststellung folgt, was wir hier brauchen, daß nämlich selbst dann, wenn der Erkenntnisbestand im entwickelten Erkennen lediglich durch den Wahrnehmungsbestand gegeben ist, dieser Erkenntnisbestand nicht ausschließlich durch die gegenwärtigen Reize bedingt sein kann. Der Inbegriff gefärbter, räumlich begrenzter Flächen, den ich bei flüchtiger Wahrnehmung als die Uhr auf meinem Schreibtisch erkenne, gibt in dieser Erkenntnis mehr, als der ledigklich durch den gegenwärtigen Reizbestand ausgelöste Wahrnehmungsinhalt für sich allein darbieten würde. Ebendies wird offenbar, wenn ich bei gespanntester Aufmerksamkeit eine im Tachistoskop sich darbietende, in der Zeichnung mir vertraute Figur unmittelbar als Bild eines Schreibzeugs erfasse, ohne daß ich auch bei sorgsamster Analyse in diesem Erkenntnisbestand mehr als den vorliegenden Wahrnehmungsinhalt aufzufinden vermag. Schon diese Wahrnehmungsbestände werden deshalb nur erklärlich, wenn für die qualitative Bestimmtheit der Empfindungen wie für die Schärfe ihrer Wahrnehmungsbeziehungen, z. B. ihrer räumlichen Ordnung, Gedächtnishilfen aufgrund früherer analoger Reize als mitwirkend angenommen werden. Man denke an die Übungswirkungen für die Unterscheidung von Farbnuancen und an die Erfahrungen für die Raumordnung bei den ersten Sehversuchen operierter Blindgeborener. Und die Erklärung des mit dem vorliegenden Wahrnehmungsbestand kongruierenden und doch die Erkenntnis als Uhr oder Bild eines Schreibzeugs vermittelnden Bewußtseinsbestandes erfordert doch mehr. Dieser Erkenntnisbestand verlangt entsprechende Gedächtnishilfen für jedes der Momente, die den wahrgenommenen Gegenstand dort unmittelbar als Uhr auf meinem Schreibtisch, hier als Bild eines Schreibzeugs erfassen lassen. Man wolle nur beachten, was jene Gegenstände bei ebendemselben Wahrnehmungsbestand demjenigen als Erkenntnisinhalt darbieten, der niemals eine Uhr oder ein Schreibzeug gesehen hat. Kurz: der aufgewiesene Erkenntnisbestand verlangt Gedächtnishilfen auch für alle die Momente des Bewußtseinsbestandes, die sich bei logischer Formulierung als subsumierende Gattung darstellen.

Ist somit das Postulat von Gedächtnishilfen für das ausschließlich wahrnehmende Erkennen vertrauter Gegenstände gesichert, so ist doch die nächstliegende Hypothese für die Konstitution dieser Hilfen durch das Ergebnis der Bewußtseinsanalyse ausgeschlossen. Denn als Erinnerungen oder andere abgeleitete Vorstellungen, als selbständige Bestandteile des Bewußtseins also neben dem Wahrnehmungsinhalt, sind sie nicht gegeben, auch im Unterbewußtsein nicht aufzufinden. Sie können demnach an der Auslösung des Wahrnehmungs- oder Erkenntnisbestandes nur als Gedächtnisresiduen früherer Wahrnehmungen des vorliegenden Gegenstandes beteiligt sein, die dem gegenwärtigen Bewußtseinsbestand Glied für Glied und Beziehung für Beziehung eingeschmolzen sind. Nur aufgrund einer solchen Verschmelzung kann der Wahrnehmungsinhalt als das vorliegende Erkenntnisganze, dort als Uhr, hier als Schreibzeug, bewußt werden.

Wir haben demgemäß schon für den Bewußtseinsbestand dieses Wahrnehmens zwei zusammenwirkende Bedingungen anzunehmen, die wir zweckmäßig als Reiz- und Residualkomponente unterscheiden. Dabei bleibt zu beachten, daß nicht nur die Annahme einer solchen Residual-, sondern ebenso auch die Voraussetzung einer Reizkomponente, logisch gesprochen, eine Hypothese bildet, die aus dem allein unmittelbar gegebenen Bewußtseinsbestand des entwickelten Wahrnehmens abgeleitet ist. Wir haben uns somit den Auslösungsprozeß des entwickelten sinnlichen Erkennens, dessen Erkenntnisbestand mit dem Wahrnehmungsbestand zusammenfällt, folgendermaßen zu konstruieren: Der Inbegriff der Sinnesreize, also die Reizkomponente, erregt den Inbegriff von Gedächtnisresiduen früherer Wahrnehmungen, die durch die gleichen Reize bedingt waren, d. h. die Residualkomponente, die diesen Inbegriff ausmacht. Was uns aufgrund dieses Auslösungsprozesses allein im Bewußtsein gegeben ist, der Wahrnehmungsinhalt als erkannter Gegenstand, ist das Produkt dieses Zusammenwirkens.

Der Auslösungsprozeß der Resiualkomponente besteht in einer Neuerregung oder Reproduktion der Gedächtnisresiduen, aus denen diese Komponente zusammengesetzt ist. Er darf als eine Reproduktion durch Verschmelzung bezeichnet werden, wenn ich mir das Recht nehmen darf, den durch HERBART eingeführten, längst vieldeutig gewordenen Terminus "Verschmelzung", abweichend von seinem Sinn in HERBARTs "Psychologie", für diesen Prozeß zu verwenden. In analoger Anlehnung bezeichne ich die Gesamtheit der bei wahrnehmenden Erkennen stattfindenden Erregungsvorgänge als Apperzeption und demgemäß die eben charakterisierte Verschmelzun als apperzeptive.

Auf die Bestätigungen der vorstehenden Hypothese, die den biologischen Gedächtnisunterschungen von HERING und SEMON entnommen und zuletzt bis auf die Wirkungen wiederholter Anstöße im Unorganischen zurückbezogen werden können, gehe ich hier nicht ein. Ebensowenig auf die dominierenden Wirkungen, die der Residualkomponente bei gespannter Erwartung eines vorherbestimmten Wahrnehmungsinhalts für den Erkenntnisbestand zukommen können.

Unerörtert soll ferner bleiben, ob die Glieder der Residualkomponente und deren Beziehungen nur physischer oder, wie die Bewußtseinsinhalte und -vorgänge, psychophysischer Natur sind. Eine Entscheidung darüber hier zu treffen, wäre beim gegenwärtigen Stand dieser Streitfrage methodisch verfehlt. Nur die dritte formell mögliche Deutung, daß sie lediglich psychischer Art sind, ist aufgrund der Annahme durchgängiger funktioneller Beziehungen zwischen den psychischen und physischen Lebensvorgängen sowie der offenkundigen Gewohnheitswirkungen auf physischem Gebiet ausgeschlossen.

Auch den Bedenken, die gegen die vorstehende Annahme einer doppelseitigen Bedingtheit der Wahrnehmungserkenntnis aus physiologischen Hypothesen über Gedächtniszentren und psychologischen Deutungen krankhafter oder experimentell herbeigeführter Ausfallserscheinungen hergeleitet werden können, möchte ich hier nicht kritisch begegnen. Ihnen gegenüber sei nur betont, wasa auch Forscher wie RAMON y CAJAL gelegentlich anerkannt haben, daß die letzte Entscheidung über die seelischen Funktionen des Nervensystems und die Art seiner Zentrierung und deren Verknüpfungen an den Daten und Postulaten der Analyse des entwickelten Bewußtseins hängt. Daß jede Analyse dieser Art keine der gesicherten Tatsachen über Bau und physiologisch feststellbare Funktionen des Nervensystems unberücksichtigt lassen darf und jede wohlfundierte Hypothese dieser Herkunft zur Prüfung und Verifikation der psychologischen Ergebnisse heranziehen muß, versteht sich von selbst.

Setzen wir demnach die zweifache Bedingtheit des Wahrnehmungsbestandes im entwickelten sinnlichen Erkennen als gesichert voraus, so ergibt sich noch eine weitere Konsequenz. Die Residualkomponente ist in den bisher betrachteten Fällen der Kongruenz zwischen Erkenntnis- und Wahrnehmungsbewußtsein ausschließlich durch die Gedächtnisresiduen bestimmt, die früheren, durch gleiche Reize ausgelösten Wahrnehmungsinhalten entstammen. Sie ist uns ferner nur in einem Verschmelzungsprodukt des gegenwärtigen Wahrnehmungsinhalts bewußt. Für sich genommen, ist sie - ebenso wie die Reizkomponente und der Verschmelzungsvorgang selbst - unbewußt. Wir finden sowohl beim unaufmerksamen Wahrnehmen wie beim Wahrnehmen konzentriertester Aufmerksamkeitsspannung keine Spur davon im Bewußtsein, daß erst ein unentwickelter, residual unabhängiger Wahrnehmungsinhalt auftauchte, dann eine abgeleitete Vorstellung, die den Gedächtnisresiduen der Residualkomponente entspricht und daraufhin erst das Verschmelzungsprodukt. Ebensowenig sind beide Komponenten zuerst gleichzeitig für sich und dann verschmolzen gegeben. Für LEIBNIZ' Hypothese der petits perceptions [kleine Wahrnehmungen - wp] bietet auch hier der Bewußtseinsbestand keinen Raum. Sie ist nicht Daten der Bewußtseinsanalyse, sondern unzulänglichen metaphysischen Konsequenzen aus dem Kontinuitätsprinzip entsprungen. [...]
LITERATUR - Benno Erdmann, Erkennen und Verstehen, Sitzungsberichte der königlich-preußischen Akademie der Wissenschaften, Jahrgang 1912, Berlin 1912 [vorgetragen am 28. November 1912]