p-4p-4p-4ReslWillyBergmannVariscoOesterreich    
 
WLADISLAUS SWITALSKI
Zur Analyse des Subjektbegriffs
[1/3]

"Die Bedeutung des Wortes Subjekt war ursprünglich nicht auf den Bereich des Bewußtseinswesen eingeengt: "subjectum" heißt wörtlich das zugrunde Gelegte; es kann deshalb dem Wortsinn nach mit dem metaphysischen Terminus Substantia (=Seinsgrundlage) gleichwertig gebraucht werden."

"Das Bewußtseinssubjekt als Praktiker hat keine Muße aus dem Strom der Ereignisse emporzutauchen, um sie in unparteiischer Ruhe zu betrachten. Es fühlt sich selbst in Wirkung und Gegenwirkung verstrickt und vermag so zur Würdigung seiner einzigartigen Einheitlichkeit nicht vorzudringen. Auf dieser Stufe verharrt das Bewußtsein der Tiere. Ich wende deshalb auf sie die Bezeichnung Subjekt nicht gern an, weil dieser Ehrentitel nach meinem Gefühl nur den Bewußtseinswesen zukommt, die im Vollbewußtsein ihrer Subjektivität zu wahrhaft selbständigem Handeln sich durchzuringen vermögen."

"Im frühesten Kindesalter fehlt jedes Selbstbewußtsein, weil die selbständigen Regungen noch nicht stark genug sind, um eine Akzentuierung in Ich und Nicht-Ich anzuregen. Im Traum ist es für gewöhnlich ebenfalls nicht vorhanden, weil die Lockerung der Vorstellungsbeziehungen, wie sie mit der Herabsetzung des seelischen Lebens im Schlaf gegeben ist, das vereinheitlichende Moment völlig zurücktreten, wenn nicht ganz verschwinden läßt."

"Gerade weil der Erkenntnisprozeß ohne Selbständigkeit nicht realisierbar wäre, muß das ideale Erkenntnissubjekt als autonom, als absolut selbständig gedacht werden. Die Erkenntnis wäre eben dann vollendet, wenn es für den Erkennenden keine Dunkelheit, nichts lediglich Gegebenes und darum einfach Anzuerkennendes gäbe, wenn er also in der Lage wäre, alles aus eigenen Setzungen abzuleiten."

"Denn es gibt diese beklagenswerten Dunkelheiten, in denen mir mein Können, das in mir ist, verborgen ist, so dass meine Seele, sich nach ihrer eigenen Kraft fragend, glaubt, es sei nicht leicht, an sich selbst zu glauben." - Augustinus, Bekenntnisse, Buch X, Kapitel 32


Im Erkenntnisakt wird ein erkennendes Subjekt mit dem zu erkennenden Objekt in eine eindeutige allgemeingültige Beziehung gesetzt; und zwar wird diese Beziehung dadurch allgemeingültig, daß das Subjekt sich bemüht [war stets bemüht - wp], allseitig und unter Ausschaltung störender Einflüsse über die Gliederung des Objekts und den gesetzmäßigen Zusammenhang seiner Bestandteile sich zu orientieren. Daß zu diesem Zweck eine Fixierung der zu erforschenden Objekte eine Heraushebung des Beharrlichen und Gemeinsamen in ihrer stetig wechselnden Mannigfaltigkeit und endlich eine sorgfältige Bestimmungen der Ordnungen erforderlich ist, in die das betrachtete Objekt seinen verschiedenen Seiten nach hineingehört, ist im modernen Wissenschaftsbetrieb allgemein anerkannt. Auch das ist nicht unbekannt, daß das erkennende Subjekt auf selbstgewählten Wegen und mit eigenen Mitteln - "subjektiv" - dem angedeuteten Erkenntnisziel sich zu nähern sucht. Aber diese Tatsache, deren Feststellung der neuzeitlichen Philosophie ihren spezifischen Charakter aufgeprägt hat, ist noch lange nicht in ihrer vollen Tragweite erkannt und gewürdigt. Daher die Mißverständnisse, die immer von Neuem beim Gebrauch des Subjektivitätsbegriffs mit unterlaufen: auch heute noch wird der Beitrag des Subjekts zum Zustandekommen der Erkenntnis teils unterschätzt, teils ungebührlich übertrieben. Man reflektiert eben nicht zu Genüge über die Bedeutung des Subjekts als eines wichtigen Erkenntnisfaktors. Meist begnügt man sich mit dem Hinweis auf das selbstverständlich erscheinende Ich-Erlebnis: Während die einen dabei nicht imstande sind, das erlebte "Ich", das sie unbedenklich mit dem Erkenntnissubjekt identifizieren, von seiner empirischen Augestaltung zu sondern, schälen andere, kritischer gesinnt, im Begriff des Erkenntnissubjekts sorgfältig die Subjektbestimmtheit, den Charakter des "Sich-Gegenüberstellens" und "Aufeinanderbeziehens" des zu Erkennenden, heraus; sie kommen so zu einem Subjektbegriff, dem als dem "reinen Ich" nichts Empirisches, nichts Konkretes und Individuelles mehr anhaftet. Jene deuten die Mitarbeit des Erkennenden an der Erkenntnis in einem unklar subjektivistischen Sinn aus: Die nicht weiter analysierte und deshalb keineswegs eindeutig bestimmte Naturausstattung des empirischen Subjekts wird gleichsam als Käfig betrachtet, in dem wir bei unserem Erkennen eingeschlossen sind, so daß wir zur Erfassung des Nicht-Subjektiven, also zu dem, was das Erkennen eigentlich bezweckt, nicht vordringen können. Diese, die Vertreter des transzendentalen Idealismus, stempeln das "Ich" zum eigentlichen Quell und sozusagen zum schöpferischen Bestimmungsgrund allen Wissens: Das "reine Ich" ist autonom, auf sich selbst gestellt. Alles Andere ist nur "sein" Gegenstand, insofern die konstitutiven Merkmale dieses "Anderen" aus Setzungen des reinen "Ichs" abzuleiten sind. Das Erkenntnisganze, die "Wissenschaft" in idealer Bedeutung, ist das bis ins Einzelne hinein durchsichtige System von Vernunftsetzungen des "Ichs" zum Zweck der einsichtigen Vergegenwärtigung der Erfahrungswirklichkeit als eines vernunftgemäß notwendigen Zusammenhangs.

Man sieht, das "reine Ich" hat mit dem "Ich" der Subjektivisten nichts mehr als den Namen gemein; und doch wird es nur allzuhäufig mit dem empirischen Subjekt zusammengeworfen! Aus dieser Vermengung der Autonomie mit der subjektivistischen Relativität entsteht geradezu ein "gordischer Knoten" erkenntniskritischer Schwierigkeiten: Wie soll ich denn auch die Absolutheit des postulierten "reinen Ichs" und die logische Durchsichtigkeit seiner Setzungen mit der offenkundigen Bedingtheit des empirischen Subjekts und mit dem problematischen Charakter seiner Betätigungen in eins setzen lassen! Sollte es da nicht näher liegen, mit bewußter Ablehnung des auf solche Irrpfade uns führenden Subjektivismus dem extremen Objektivismus zu huldigen und den Beitrag des Subjekts zum Erkenntnisaufbau konsequent zu ignorieren? Der Positivismus ist eine der radikalsten Formen dieser naiv realistischen Interpretation des Erkennens. So verständlich es nun auch ist, daß eine derartige Leugnung aller Subjektivität als Gegengewicht gegen die Irrungen und Wirrungen eines kritiklosen Subjektivismus sich Geltung zu verschaffen sucht, so wenig begründet und berechtigt ist auch dieses Extrem. Um eine allseits befriedigende Lösung des Problems der Subjektivität anzubahnen, muß eben möglichst unbefangen, also ohne jedes polemische Interesse, der Subjektbegriff selbst durch eine Analyse der in ihm enthaltenen, für die Erkenntnisgewinnung wichtigen Momente geklärt werden. Einen Beitrag zu dieser Klärung soll die vorliegende Studie liefern, indem sie die Begriffspaare "Erkenntnisbewußtsein und Ichbewußtsein", "Bewußtseinssubjekt und Wirklichkeit", "empirisches und absolutes Subjekt" vom logischen Gesichtspunkt aus unter Zuhilfenahme psychologischer Erfahrungen genauer zu bestimmen unternimmt.


I. Erkenntnissubjekt
und Ich-Bewußtsein

"Indem ich suchte ... woher ich ein Urteil entnähme, um veränderliche Dinge zu beurteilen und zu sagen »das muss so sein, das nicht so«, ... fand ich eine unwandelbare und wahre Ewigkeit der Wahrheit über meinem wandelbaren Geist."
      - Augustinus, Bekenntnisse, Buch VII, Kapitel 17


"Subjekt" im logischen Sinn ist der Gegenstand der Urteilsaussage. So angewendet bezeichnet dieses Wort jeden Gegenstand der Erkenntnis, die sich ja stets in Urteilen vollzieht. Wenn ich jedoch hier von einem "Erkenntnissubjekt" spreche, so meine ich damit nicht jeden beliebigen, durch einen Erkenntnisakt bestimmbaren Gegenstand; ich verwende vielmehr das Wort in einem einzigartigen Sinn, in dem es niemals auf das Erkannte, sondern auf den Erkennenden, nicht auf das Beurteilte, sondern auf den jeweils Urteilenden Anwendung findet. Erkenntnisakte werden nun im Wesentlichen innerhalb eines Bewußtseins vollzogen; "Erkenntnissubjekt" in dem soeben angedeuteten Sinn kann somit nur ein mit Bewußtsein ausgestattetes Wesen sein. So führt uns das "Erkenntnissubjekt" auf die allgemeinere Bezeichnung "Bewußtseinssubjekt".

Die Bedeutung des Wortes "Subjekt" war ursprünglich nicht auf den Bereich des Bewußtseinswesen eingeengt: "subjectum" heißt wörtlich das "zugrunde Gelegte"; es kann deshalb dem Wortsinn nach mit dem metaphysischen Terminus "Substantia" (=Seinsgrundlage) gleichwertig gebraucht werden. Die Verwendung von "subjektive" im Mittelalter für die reale, unabhängige Daseinsform, für das also, was wir heute allgemein als "objektiv" bezeichnen, ist nur aus einem solchen Sprachgebrauch erklärbar. Erst die Forderung des DESCARTES, das letzte Fundament aller Gewißheit im Einzelbewußtsein zu suchen, hat die Wandlung des Wortsinnes angebahnt, die zu dem heute allgemein üblichen Sprachgebrauch führte. "Subjektivität" bedeutet fortan die Fähigkeit, die von der Wirklichkeit herrührenden Strahlen in sich auf eine anderen unmittelbar nicht mitteilbare Weise zu sammeln und aufgrund der so gewonnenen Erfahrungen individuell-selbständig auf die Reize der Umgebung zu reagieren. Einem jeden von uns ist nur ein Subjekt, nämlich sie selbst, unmittelbar gegenwärtig, da die Eigentümlichkeit, Brennpunkt der Erlebnisse und individueller Betätigungsgrund zu sein, jeder nur an sich selbst konstatieren kann.

Ich habe das "Bewußtseinssubjekt" als die allgemeinere Bezeichnung vom "Erkenntnissubjekt" unterschieden. Diese Unterscheidung wird gerechtfertigt durch einen Vergleich der Begriffe "Bewußtsein" und "Erkennen". "Bewußtsein" bedeutet nun allerdings wörtlich ein "Wissen um etwas", also ein "Erkennen; aber gleichwohl muß das "Erkennen" als eine von vielen Bewußtseinsfunktionen von diesem genau unterschieden werden. Wenn nämlich auch die Form des "Habens von Bewußtseinsinhalten", die "Bewußtheit", als Wissen gedeutet werden kann, so verstehen wir doch dem psychologischen Sprachgebrauch zufolge unter "Bewußtsein" den Inbegriff all dessen, was in jener Form gegenwärtig ist. Und dazu gehört sehr Verschiedenartiges: Vom Erleben (Empfinden, Fühlen, Streben) zum Vorstellen (Sich-Erinnern und Phantasieren) bis zum Denken (Erkennen), Wollen und künstlerischen Gestalten! - Von den einfachen Erlebnissen unterscheidet sich nun das Erkennen durch die Selbständigkeit, die in der erkenntnismäßigen Aufnahme der Inhalte sich stets kundgibt; von den übrigen, durch Selbständigkeit ausgezeichneten Bewußtseinsfunktionen aber (dem Wollen und künstlerischen Gestalten) durch die Gebundenheit an ,ein fest bestimmtes Ziel: Ist doch das Erkennen ein sachlich bedingtes Ordnen und Erfassen der betrachteten Gegenstände! Als "Erkenntnissubjekte" haben wir uns frei zu machen von allen individuellen Beschränkungen und alles auszuschalten, was den Erkenntnisgehalt verfälschen könnte. Nur auf diesem Weg können wir unsere Erkenntnis zum Rang der Allgemeingültigkeit erheben! Das ideale Erkenntnissubjekt wäre somit der zwar selbständige, aber durchaus unparteiische Betrachter der Gegenstände, vergleichbar dem räumlich unausgedehnten Mittelpunkt des Kreises, in den alle Radien einmünden, ohne ihre Eigenart zu verlieren und ohne ihn selbst räumlich zu erweitern.

Diese erkenntnistheoretische Fiktion, die eben als solche im Bereich der Empirie nie völlig realisierbar ist, dient nun als Norm für die Beurteilung der Erkenntnisleistung der empirischen Subjekte. Diese in der Erfahrung allein vorfindlichen Subjekte, wir selbst, sind nämlich - vermöge der Eigenart unseres Bewußtseinslebens - nicht ausschließlich, nicht einmal in erster Linie derartig "reine" Erkenntniswesen: Wie alle Bewußtseinsinhalte mehr oder weniger gefühlsbetont sind, uns also tiefinnerlich in Mitleidenschaft ziehen, so sind auch alle auf diese Erlebnisse reagierenden Bewußtseinsäußerungen ursprünglich und vornehmlich von unserem Interesse diktiert, es sind praktische Stellungnahmen dem "Fremden" gegenüber. Wir sind also vor allem praktisch-orientierte Wesen; und wenn der mit so großem Enthusiasmus seinerzeit begrüßte Pragmatismus nicht weiter bezweckt, als einer extrem-theoretischen und darum durchaus wirklichkeitsfremden Ausdeutung des Seelenlebens entgegenzutreten, so wäre gegen ihn nichts einzuwenden.

Die Praxis hat es mit äußerst komplizierten, in ihrer raschen Veränderlichkeit sofort Antwort erfordernden Verhältnissen zu tun. Das Bewußtseinssubjekt als Praktiker hat somit keine Muße aus dem Strom der Ereignisse emporzutauchen, um sie in unparteiischer Ruhe zu betrachten. Es fühlt sich selbst in Wirkung und Gegenwirkung verstrickt und vermag so zur Würdigung seiner einzigartigen Einheitlichkeit nicht vorzudringen. Auf dieser Stufe verharrt das Bewußtsein der Tiere. Ich wende deshalb auf sie die Bezeichnung "Subjekt" nicht gern an, weil dieser Ehrentitel nach meinem Gefühl nur den Bewußtseinswesen zukommt, die im Vollbewußtsein ihrer Subjektivität zu wahrhaft selbständigem Handeln sich durchzuringen vermögen. In mir selbst nehme ich nun diese Fähigkeit wahr. Ich bleibe nicht ständig auf der Stufe der reinen Praxis. Ich stelle mich allmählich immer bestimmter dem von mir Erlebten gegenüber. Ich mache es zu meinem "Gegenstand" im wahrsten Sinne des Wortes, indem ich es aus dem Strom des unmittelbaren Erlebens herauslöse, um es "für sich" zu betrachten. Diese Fähigkeit der Vergegenständlichung, die mir als das Grundmerkmal meiner geistigen Würde erscheint, lockert zunächst die Bande der praktischen Bedürfnisse, um mich im Verlauf meiner geistigen Entwicklung immer vollständiger von ihnen zu befreien. So werde ich von einem rein praktisch interessierten Subjekt immer mehr zu einem unparteiischen Beschauer, zu einem Theoretiker. Ich nähere micht damit dem Ideal des "reinen Erkenntnissubjekts", wenn ich es auch nie völlig erreiche.

Daraus ergibt sich für mich als Erkenntnissubjekt die Forderung, meine Selbständigkeit derart auszubilden, daß sie gegebenenfalls imstande ist, rein das Erkenntnisziel zu verfolgen und dabei alles Unsachliche, affektiv und praktisch Bestimmende zu eliminieren. Das Bewußtseinssubjekt muß sich somit zum Erkenntnissubjekt emporentwickeln, da es nicht in jedem seiner Stadien in gleicher Weise befähigt ist als Begründer allgemeingültiger Erkenntnisbeziehungen zu fungieren. Wenn aber dieser notwendigen Entwicklung die richtigen Wege gewiesen werden sollen, so müssen wir uns zunächst noch genauer über die unmittelbar vorfindliche Eigenart des Bewußtseinssubjekts orientieren.

Unmittelbar tritt uns das Bewußtseinssubjekt in der "Ich"- Form gegenüber. Die Bestimmung des Subjekts hebt deshalb zweckmäßig mit der Analyse des Ich-Bewußtseins an. Was ich mit "Ich" meine, scheint mir nun freilich auf den ersten Blick einer Analyse weder fähig noch bedürftig zu sein. Glaubte doch schon DESCARTES mit seinem berühmt gewordenen Grundsatz: "Cogito, ergo sum", also mit dem Hinweis auf das Ich-Erlebnis, endlich eine solide Basis für alle Gewißheitsbegründung gefunden zu haben! Wenn wir nun aber bedenken, wie weit ernste Denker in ihren Ansichten über die Bedeutung des "Ich-Begriffs" voneinander abweichen, ja wie man es sogar versucht hat, das Ich-Erlebnis als Jllusion aus der Reihe des unmittelbar Gegebenen zu streichen, dann dürfte man wohl kaum mehr von einer Selbstverständlichkeit und durchsichtigen Klarheit des Ich-Erlebnisses sprechen wollen! Fragen wir uns nun zunächst: was bezeichnen wir mit dem "Ich-Begriff"? Durch die "Ich-Bezeichnung" wird das Gemeinte unfraglich nach zwei Seiten hin abgegrenzt: Dem "Ich" steht einerseits die ihm fremde, von ihm abhängige Wirklichkeit gegenüber, und andererseits wird das "Ich" seinen Inhalten gegenübergestellt. Das Ich ist somit jedenfalls ein Beziehungsbegriff, aber eben als solcher braucht es nicht immer auf ein und denselben Gegenstand Anwendung zu finden. Das "Ich" ist vielmehr der "Eins" in der Zahlenreihe vergleichbar: Was mit diesen Beziehungsbegriffen gemeint ist, hängt eben jeweils vom Ansatz und der Beziehungsrichtung ab, in der sie gebraucht werden. "Ich" meine zwar mit diesem Wort nur "mich"; jeder andere aber, der dieses Wort sinnvolll gebraucht, meint eben "sich" damit.

Indem "ich" mich nun den von mir unabhängigen Gegenständen einerseits und meinen Erlebnissen andererseits gegenüberstelle, stehe "ich" immer auf der Seite des "sich" etwas Gegenüberstellenden. "Ich" bin somit stets "Subjekt" und "ich" kann "mich" eigentlich nie objektivieren. Mit dieser Feststellung scheinen wir uns jedoch von vornherein die Möglichkeit genommen zu haben, tiefer in der Analyse des Ich-Erlebnisses vorzudringen. In der Tat, wenn "ich" "mich" betrachte, so ist eben das betrachtete "Mich", und nicht das betrachtende "Ich" der eigentliche Gegenstand der Reflexion. Dieser Einwand, der so manchem Denker geradezu unaufhebbar zu sein scheint, ist allerdings so lange nicht zu beseitigen, als wir uns lediglich auf den Standpunkt der Reflexion stellen. In der Rückwendung des geistigen Blicks, die wir als Reflexion bezeichnen, ist ja stets eine ideelle Spaltung des Bewußtseins gegeben. Aber die Reflexion baut sich doch auf dem unmittelbaren Erleben auf, und hier, in der Erlebnissphäre, ist in ungeschiedener Einheit gegeben, was von der Reflexion in seine Komponenten zerlegt wird. Wenn wir nun in Sachen des Ich-Bewußtseins an das unmittelbare Erleben appellieren, so finden wir in der Tat, daß wir durchaus berechtigt sind, das betrachtete "Mich" und das betrachtende "Ich" in eins zu setzen. Konstatieren wir doch dabei nicht nur, daß die gegenwärtig erlebten Inhalte (im "Querschnitt" des Bewußtseins) wechselseitig zu einer restlos nicht auflösbaren Einheit verknüpft sind; wir sind vielmehr aufgrund der Nachwirkungen unserer Erlebnisse ebenso unmittelbar gewiß, daß dieselbe Bewußtseinseinheit auch im Nacheinander unserer Zustände (im "Längsschnitte" des Bewußtseinsstromes) sich behauptet, und dabei wird uns nun auch von unserem Erleben bezeugt, daß das Betrachter-Ich des einen Augenblicks, so sehr es sich in ihm der Gesamtheit der Bewußtseinserlebnisse, dem "Mich", gegenüberstellt, sich im nächsten Augenblick ohne weiteres in den "Mich"-Zusammenhang einordnet, so daß an der Identität beider im Ernst nicht zu zweifeln ist. Durch diese Erwägung haben wir uns also für eine weiterdringende Analyse des "Ich"-Begriffs freie Bahn geschaffen.

Wenn ich nun auf mein "Erlebnis-Ich" reflektiere, so drängt sich meiner Betrachtung zweierlei, anscheinend Gleichberechtigtes auf: es ist die Fülle der Inhalte und Vorgänge einerseits, die ihc als "meine" Erlebnisse und "meine" Betätigungen vorfinde, und andererseits der eigenartige Zusammenhang, der sie nicht bloß wechselseitig verknüpft, sondern im eigentlichen Sinn erst zu "meinem" Eigentum macht, ihre Richtung auf einen Einheitspunkt, auf den sie hinweisen und von dem sie ausgehen, das Moment der Einheit also, das sie zu einem "Reich für sich", zu einem in sich geschlossenen und organisierten Zusammenhang abschließt. Nennen wir die Fülle der Erlebnisse und Betätigungen die "materiale" Ich-Komponente und jenes Einheitsmoment die "formale" Ich-Komponente, so unterliegt es keinem Zweifel, daß dieses formale Element das konstituierend Merkmal des Ich-Begriffs ist. Das materiale Element gibt seinen abgeleiteten Charakter schon in den großen Schwankungen kund, denen es unterworfen ist: Inhalte tauchen auf und verschwinden wieder; ja, der Bereich dessen, was ich als zu "mir" gehörig aus dem Umkreis des Gegebenen heraushebe, wechselt sogar je nach dem Gesichtspunkt, unter dem ich das mir vorliegende Material betrachte: "Meine" Empfindung, "mein" Streben, "mein" Denken, "mein" Körper, "mein" Buch, "mein" Vaterland -, welche Mannigfaltigkeit von Umkreisen, die ich mit diesen Bezeichnungen herausgehoben habe! Jedesmal aber ist es das formale Ich-Element, das bei dieser verschiedenartigen Akzentuation des Gegebenen in "Ich" und "Nicht-Ich" eine bestimmende und zwar stets die gleiche Rolle gespielt hat.

Sollen wir nun daraus folgern, daß die "materiale" Ich-Komponente für die Bestimmung unseres Subjektcharakters von keiner Bedeutung ist? Wir würden damit entschieden über das Ziel hinausschießen! Denn einerseits finden wir bei näherem Zusehen, daß ein Teil von Inhalten enger, als andere Inhalte, und zwar so unlöslich mit der formalen Ich-Komponente verknüpft ist, daß er sich nötigenfalls sein "Bürgerrecht" im Reich meines "Ich-Bewußtseins" erzwingt, und andererseits erlebe ich, daß diese so mit mir verbundenen materialen Momente auf die Ausgestaltung der formalen Ich-Komponente unter Umständen auf einen bestimmenden Einfluß ausüben. Ich konstatiere deshalb, daß jenes im engeren Sinne zur materialen Ich-Komponente gehört, das auf diese Weise als zu "mir" in einem unauflösbaren "realen" Zusammenhang stehend erlebt oder aufgrund der Erlebnisse ermittelt wird. Mit dieser zuletzt erwähnten Bestimmung werden wir aus dem Bereich des unmittelbar Gegebenen hinausgeleitet. Ich will deshalb hier den Gedanken nicht weiter verfolgen und nur auf den für die weitere Untersuchung grundlegenden Unterschied zwischen realem Bestand und ideellem Vorfinden mit einigen Worten hinweisen: Was zu mir in realer Weise gehört, braucht mir nicht unmittelbar (ideell) gegenwärtig zu sein. In der Tat fällt vieles davon aus dem Rahmen meines Bewußtseinslebens heraus. Ja, selbst was in meinem Bewußtsein realiter vorgeht, wird von mir nicht immer (idealiter) bemerkt. Zu mir "gehört" eben vieles, was ich nicht zu mir "rechne". Realer Zusammenhang und ideelle Zusammenordnung sind zweierlei. Daraus ergibt sich aber für unser spezielles Problem, daß das "Ich", soweit es mir in der Reflexion gegenwärtig ist, sich nicht mit dem Erlebnis-Ich restlos deckt, und daß dieses wiederum wohl zu unterscheiden ist von einem realen Bewußtseinssubjekt, das sich in ihm selbst erlebt.

Immerhin darf auch diese Unterscheidung nicht überspannt werden. Das "Erleben" und die "Reflexion" sind selbst reale Vorgänge, und so erklärt es sich denn, daß das Ich-Bewußtsein, wie es mir im Erleben und schärfer noch in der Reflexion gegenwärtig ist, auch auf den realen Erlebnis-Zusammenhang einen bestimmenden Einfluß ausüben kann. Was insbesondere den realen Erkenntnisprozeß anbetrifft, so wird er überhaupt erst möglich, sobald das Subjekt, wenn auch zunächst in noch so primitiver Form, sich als "ich" der Umwelt gegenübergestellt und die Zuverlässigkeit, Schärfe und Konsequenz meines Erkennens hält gleichen Schritt mit der gleichsinnigen Entwicklung meines "Ich"-Bewußtseins. Man kann unbedenklich die Behauptung aufstellen, daß genauso viel von unserem realen Subjektcharakter für das Erkennen - und nicht nur für dieses, sondern für jede selbständige Stellungnahme - aktualisiert, wirkungsfähig gemacht wird, als es uns im "Ich" bewußt wird und sich als solches verfestigt.

Wie kommt jedoch dieses "Ich"-Bewußtsein zustande? und wie kann es sich somit vervollkommnen? Als das eigentlich "Ich"-bildende Moment erschien mir die formale Ich-Komponente: Die ansich ungeschiedene Erlebnismasse wird in Ich und Nicht-Ich akzentuiert durch jede Betätigung dieser Komponente. Dunkel gibt sie sich bereits im Fühlen, im "Angemutetsein von den einzelnen Erlebnissen" kund; bestimmter regt sie sich in jeder Triebäußerung, im Akt des Strebens. Gefühl und Streben sind somit die ersten Kristallisationspunkte für die Bildung des Bewußtseins vom eigenen Selbst. Je bestimmter sich nun diese Selbständigkeit äußert, je mehr durch sie vom erlebten Material verarbeitet, organisiert, also einheitlich durchgestaltet wird, umso schärfer umrissen tritt das "Ich" in seiner Einheitlichkeit hervor. Hier kommt nun auch die materiale Ich-Komponente wieder zur Geltung: die Selbständigkeit kann sich nicht im "luftleeren Raum" äußern. Sie braucht nicht nur einen Gegenstand, an dem sie sich erproben kann; sie bedarf vielmehr auch eines konreten Stützpunktes, an dem sie sich orientiert, und von dem aus sie sich äußert. Gerade als dieser konkrete Stützpunkt dient nun für unser Selbstbewußtsein die materiale Ich-Komponente, also der Inbegriff von "meinen" Erlebnissen und "meinen" Handlungen. Die Einheitlichkeit eines jeden Querschnitts meines Bewußtseins und damit mein gegenwärtiges Ich-Erlebnis wird von mir bemerkt, weil ich eben finde, wie alle bewußten Inhalte wechselseitig zusammenhängen und sich um einen einheitlichen Mittelpunkt gruppieren; und die Identität meines "Ich" in den verschiedenen Stadien meiner Entwicklung würde von mir nicht konstatiert werden können, wenn nicht Fäden des Zusammenhangs mein früheres, nun dispositionell in "mir" ruhendes Erleben mit dem gegenwärtigen Erleben auf das Engste verknüpft würden.

Eine kurze Vergegenwärtigung von Zuständen, in denen das Ich-Bewußtsein - sei, daß es vollständig fehlt, sei es krankhaft verändert - ist, mag zur Bekräftigung meiner Ausführungen dienen! Im frühesten Kindesalter fehlt jedes Selbstbewußtsein, weil die selbständigen Regungen noch nicht stark genug sind, um eine Akzentuierung in Ich und Nicht-Ich anzuregen. Im Traum ist es für gewöhnlich ebenfalls nicht vorhanden, weil die Lockerung der Vorstellungsbeziehungen, wie sie mit der Herabsetzung des seelischen Lebens im Schlaf gegeben ist, das vereinheitlichende Moment völlig zurücktreten, wenn nicht ganz verschwinden läßt. Aus dieser Dissoziation der einzelnen dispositionellen Verknüpfungen und zwar aus einer eigenartigen Auflösung in einzelne, in sich abgeschlossene Komplexe von Dispositionen erklärt sich auch die krankhafte Erscheinung der sogenannten "Spaltung der Persönlichkeit" und das alternierende Auftreten verschiedener "Persönlichkeiten" in einem Subjekt. Gerade diese Anomalien sind besonders lehrreich, da in ihnen die formale Ich-Komponente augenscheinlich wirksam ist. Wegen der vollständigen Loslösung einzelner Komplexe der materialen Ich-Komponente erscheint sie sich aber, weil sie jeden einzelnen Komplex als Stützpunkt benutzt, in den einzelnen Stadien als "nicht dieselbe" Persönlichkeit. Aber auch im normal entwickelten Bewußtseinsleben kommen Trübungen des Ich-Bewußtseins vor: Wer "in den Tag" hineinlebt und sich heute nicht um das kümmert, was gestern war, bei dem ist das Identitätsbewußtsein des Ich zumindest sehr schwach. In die früheste Kindheit kann sich kaum einer von uns zurückversetzen, weil die allmähliche Umwandlung der materialen Ich-Komponente im Lauf der Jahre einen solchen Umfang angenommen hat, daß die Beziehungsfäden zu jenem ersten Stadium fast gänzlich für unser Bewußtsein verloren sind: ich sage "fast gänzlich", denn es kann vorkommen, daß bei etwas günstigeren Bedingungen, bei einem mit der Kindheitsstimmung verwandten Gesamtgefühlszustand z. B., auch von weit entfernten Erlebnissen sich gleichsam der Schleier lüftet. Zum Schluß sei noch auf die gewaltsamen Erschütterungen des Seelenlebens - nach Krankheiten, Trauerfällen und Ähnlichem hingewiesen, die unter Umständen derartig revolutionierend auf das Ich-Bewußtsein einwirken, daß "ich" "mich selbst", wie "ich" unmittelbar vor dem Vorfall war, nicht mehr wiedererkenne! - Das "Ich"-Bewußtsein ist also einer Vervollkommnung ebenso fähig, wie es jederzeit der Gefahr einer Herabsetzung ausgesetzt ist. Wollen wir dieser Gefahr begegnen und jene Vervollkommnung immer mehr realisieren, dann gilt es eben, durch eine selbständige, vielseitige Vereinheitlichung und Ordnung des in der materialen Ich-Komponente aufgespeicherten Materials das "Ich" in seiner einheitbildenden Bedeutung für unser Bewußtsein im "Querschnitt" und im "Längsschnitt" scharf zu entwickeln.

Das "Ich", so könnte man sagen, "ist" nicht, es "wird" und es wird umso bestimmter zur Geltung kommen, je mehr ich mir einerseits die Identität der formalen Ich-Komponente im Wechsel der Bewußtseinsstadien vergegenwärtige und andererseits diese Stadien selbst genau auseinanderhalte und ihnen jeweils die entsprechende Entwicklungsstufe der materialen Ich-Komponente zuordne. Eine besondere Hilfe für diese Vervollkommnung des Ich-Bewußtseins bietet die Ausbildung des Zeitbewußtseins. Je genauer mein Begriff von einem stetigen Nacheinander ist, je mehr ich imstande bin, konkrete zeitliche Verhältnisse sorgfältig in ihrer Aufeinanderfolge zu bestimmen, umso mehr werde ich auch in der Lage sein, mir über die Phasen meiner Entwicklung Rechenschaft abzulegen, ja, man könnte geradezu sagen, daß wir nur so viel von unserer früheren Erlebnissen in einem sicheren Eigenbesitz geborgen haben, wie wir in eine übersichtliche zeitliche Ordnung einzureihen vermögen. Indem wir vom Standpunkt der Gegenwart auf das Vergangene zurückblicken, suchen wir unser früheres Leben zu rekonstruieren, und nur so weit läßt es sich eben rekonstruieren, als wir es zeitlich zumindest annähernd genau bestimmen können.

Ich habe nun noch die Resultate meiner Analyse des Ich-Bewußtseins zu würdigen. Zunächst ein negatives Ergebnis: Wegen der Wandelbarkeit des Ich-Bewußtseins und wegen der nur allmählich fortschreitenden Aktualisierung des Bewußtseinssubjekts im Ich-Bewußtsein darf das erkennende Ich einer Phase nicht ohne Weiteres als gleichwertig mit dem Ich einer anderen Phase meines Bewußtseins betrachtet werden. Die in den verschiedenen Entwicklungsstadien gewonnenen Erkenntnisse sollten also nicht bloß sachlich miteinander verglichen werden; will man ihnen vielmehr vollkommen gerecht werden und zugleich ihren Sinn möglichst adäquat erfassen, so muß man sie auf den Zustand des Ich-Bewußtseins beziehen, von dem aus sie gebildet sind. Jeder Versuch einer unterschiedslosen Gleichsetzung der einzelnen Ich-Stadien oder gar einer Verabsolutierung eines unter ihnen führt zu einem Begriffsrealismus schlimmster Art und verwickelt in heillose Widersprüche. Man ersieht daraus, wie logisch widersinnig es ist, bei seinen Entscheidungen auf sein Ich zu pochen, als wäre es eine unwandelbare, in jedem Augenblick klar umrissene Größe!

Die Schwankungen und Unstimmigkeiten, die für den Erkenntnisprozeß aus der Wandelbarkeit des Ich-Bewußtseins und aus der nur allmählichen Verwirklichung des Subjektcharakters im Erkennenden sich ergeben, suchen wir nun gerade durch die Herausarbeitung eines einheitlichen, seiner steten Entwicklung und seiner Identität in dieser Entwicklung sich bewußten "Ichs" zu beseitigen. Wir erkämpfen uns dadurch einen festen Ausgangspunkt für die zum Zweck der Erkenntnis anzustellenden Beobachtungen. Wie wir mit unserem Auge nur dann einen Körper scharf visieren, wenn sich unser Auge in einer Ruhelage befindet, so sind wir eben auch nur nach der Herstellung einer Ruhelage für unseren geistigen Blick durch Ordnung und eindeutige Bestimmung des erkennenden Subjekts imstande, den zu erforschenden Gegenstand zu fixieren und seiner Eigenart gemäßt ohne Schwankungen zu umgrenzen.

Die fortschreitende Herausarbeitung des "Ich"-Charakters befreit uns also immer mehr vom Strom des Erlebens, der uns selbst fortzureißen droht, und gewährt uns jene Selbständigkeit, deren wir zur Vollziehung der Erkenntnisakte bedürfen. Erkennen ist ja kein passives Hinnehmen; Erkennen bedeutet vielmehr, von der subjektiven Seite aus betrachtet, ein Erfassen, ein Aneignen vom jeweiligen Stand meiner Entwicklung aus und ein Einordnen in den bisher gewonnenen Schatz der Erfahrungen. Darum ist das für den Erkenntnisakt günstige Verhalten nicht eine völlige Selbstentäußerung, sondern gerade eine Steigerung der Aktivität, die uns in den Stand versetzt, von einem hohen und freien Standort aus nach selbstgewählten Gesichtspunkten das Material zu sichten, zu gliedern und so allmählich die in ihm verborgenen Fäden (Gesetzmäßigkeiten) in voller Reinheit herauszulösen.

Gerade weil der Erkenntnisprozeß ohne Selbständigkeit nicht realisierbar wäre, muß das ideale Erkenntnissubjekt als autonom, als absolut selbständig gedacht werden. Die Erkenntnis wäre eben dann vollendet, wenn es für den Erkennenden keine Dunkelheit, nichts lediglich Gegebenes und darum einfach Anzuerkennendes gäbe, wenn er also in der Lage wäre, alles aus eigenen Setzungen abzuleiten. Das empirische Subjekt, das wegen seiner unaufhebbaren Bedingtheit dieses Ziel nie erreichen kann, strebt zumindest diesem Ideal nach: es hat nur so viel wirklich erkannt, als es sich durch selbständige Verarbeitung angeeignet hat.

Man verwechselt die Autonomie, die hier als Ideal des Erkenntnissubjekts gewürdigt wurde, meist mit der Willkür des landläufigen Subjektivismus. Die hier gemeinte Selbständigkeit ist jedoch das gerade Widerspiel von Willkür und dumpfer Laune. Die Forderung der Autonomie darf also keineswegs als Freibrief aufgefaßt werden für eine schrankenlose Auswirkung aller Anlagen und Neigungen des empirischen Subjekts. Autonomie bezweckt vielmehr eine auf sich selbst gestellte, in sich selbst ruhende Gewißheit des Subjekts, und eine derartige Gewißheit schließt nicht bloß das einfache Gegebensein der Objekte, sondern ebenso das blinde Hingegebensein an das in uns zufällig Auftauchende aus. Wenn wir in der Fähigkeit der Vergegenständlichung das konstituierende Merkmal unserer geistigen Würde gesehen haben, so können wir die Möglichkeit der Konstruktion des autonomen Ideals als die Feuerprobe unserer Geistigkeit, als den Höhepunkt geistigen Ringens bezeichnen!

Das Erkennen als subjektive Funktion ist aber nicht lediglich durch die zu betätigende Selbständigkeit charakterisiert; es ist vielmehr, wie wir sahen, ein "Einordnen in einen bisher gewonnenen Schatz der Erfahrungen". Die Ordnung und Beherrschung der materialen Ich-Komponente kommt uns hier in ihrer Bedeutung für den Erkenntnisprozeß zu Bewußtsein: Was wir erlebt und uns durch Beachtung angeeignet haben, dient uns fortan als Hilfsmittel zur Aneignung (Apperzeption) des neu und fremdartig uns Entgegentretenden. Je reicher der so gewonnenen Erfahrungsschatz ist, und je mehr er durch vielfältige Verknüpfung erregbar ist, umso besser sind wir für die Aufnahme und Beachtung des Neuen ausgerüstet, weil die zu seiner Interpretation verwendbaren Spuren präsent sind oder doch leicht präsent gemacht werden können. Auch hierbei spielt übrigens die Aktivität eine wichtige Rolle: Blitzartig knüpft sie Beziehungen des Neuen mit dem bereits Erfahrenen, die den zu erfassenden Gegenstand in einem besonderen Licht erscheinen lassen (Intuition), und durch Erregung bald der einen bald der anderen Dispositionsreihe arbeitet sie ihn gleichsam plastisch heraus, indem sie ihn von den verschiedensten Seiten beleuchtet. So ist das Ich mit dem im Laufe seiner Entwicklung erworbenen und selbständig geordneten Erfahrungsschatz einem mehr oder weniger fein gestimmten Apparat vergleichbar, der die Eindrücke nicht bloß aufnimmt, sondern auch in die uns verständliche Sprache übersetzt.

Daß unserem Erkennen in der Tat ein solcher Aneignungs- und Ausdeutungsprozeß zugrunde liegt, können wir unaufhörlich an uns selbst konstatieren: Wie vieles wird von uns nur oberflächlich erfaßt! und Wenn manches uns nicht nur mehr interessiert, sondern von uns auch schärfer erkannt und vollständiger gewürdigt wird, so liegt es eben daran, daß unsere Aktivität gerade auf diesem Gebiet sich besonders leicht und gewandt äußert, und diese Leichtigkeit hinwiederum ist zum größten Teil bedingt durch unsere "Erfahrung" und "Übung" auf diesem Gebiet, d. h. aber durch die Stärke der entsprechenden Dispositionen und ihre feste, vielseitige Assoziation, die eben ihre Erregbarkeit und Verfügbarkeit bedingen! Wenn es uns schließlich bei einem ansich alltäglichen Gegenstand "wie Schuppen von den Augen fällt", so daß wir neue Seiten an ihm erkennen, so erklärt sich diese plötzliche Neubeleuchtung nur dadurch, daß bis dahin noch nicht erregte Dispositionen wirksam werden und dabei jenen scheinbar altbekannten Gegenstand meiner Betrachtung von einem neuen Gesichtspunkt aus zeigen.

Es liegt nahe aus dieser Fragestellung die Folgerung zu ziehen, daß eine fortschreitende Beachtung des in mir Vorgehenden, eine stete Vertiefung in das eigene Innere also, mit der Entdeckung neuer Mannigfaltigkeiten im Eigenleben zugleich eine weitergehende Feinheit in der Aufnahme der "fremden" Eindrücke bedingt, und in der Tat belehrt uns die Geistesgeschichte der Menschheit, daß eine genauere Orientierung über das eigene Innere stets eine Erweiterung und Bereicherung unseres objektiven Gesichtskreises zur Folge hatte, wobei freilich schon hier darauf hingewiesen sein mag, daß auch umgekehrt unseres Geisteskraft durch eine Erforschung und Erfassung des Gegenständlichen geschärft und geschult wird für die Analyse und genauere Bestimmung unserer Ich-Zustände.

Ist jedoch durch eine Betonung der subjektiven Seite des Erkenntnisprozesses das Erkennen als ein lediglich "sachlich bedingtes" Erfassen des Erkenntnisgegenstandes nicht aufgegeben? Wie läßt sich Subjektivität und Sachlichkeit miteinander versöhnen? Das Bedenken erscheint so schwerwiegend, weil man mit dem Begriff der Subjektivität ohne weiteres den Nebengedanken des subjektiven Verfälschens des Aufzunehmenden verbindet. Meine Analyse des Ich-Bewußtseins sollte aber zeigen, auf welchem Weg wir uns immer mehr aus den einengenden Fesseln der empirischen Anlagen zu befreien vermögen: Die Aktivität, die ein wesentliches Moment der formalen Ich-Komponente bildet, setzt uns in den STand auch über unsere eigene Bedingtheit zu reflektieren und damit ihren Einfluß auf die Aufnahme der zu erkennenden Gegenstände zu kontrollieren, und gerade je mehr wir uns den Schatz unserer Erfahrungen selbständig durchgestaltend angeeignet haben, umso weniger werden wir eine "von selbst" erfolgende Apperzeption des Neuen einfach hinnehmen, umso mehr werden wir vielmehr bestrebt sein, unsere Erkenntnis immer genauer dem Objekt anzupassen. So liegt gerade in einer derartig gereinigten Subjektivität das nie rastende Streben nach ungetrübter Sachlichkeit unserer Erkenntnis und die einzig zuverlässige Bürgschaft ihrer Erreichbarkeit. Nur dem so selbständig zu stärkenden Wahrheitssinn erschließt die Welt der Erkenntnisgegenstände endlich ihre letzten Rätsel!

Ein Streben, wie es hier angedeutet ist, erfordert allerdings ein bestimmtes Ziel, und, wenn es von aller beengenden Fessel befreit sein soll, dann muß das ihm vorschwebende Ziel über die Zufälligkeiten und den Wechsel des empirischen Daseins erhaben sein. So sehe ich als das notwendige Korrelat der zu erstrebenden subjektiven Selbständigkeit die Anerkennung eines überindividuellen und überempirischen Ziels des Erkenntnisstrebens! Das Ich-Bewußtsein kann sich nur dann voll entfalten, wenn es an einem solchen Ziel sich orientiert, und von diesem Ziel, der absoluten Autonomie her, nimmt das Erkenntnissubjekt dann auch die unveränderlichen Maßstäbe zur eindeutigen Fixierung und allseitigen Bestimmung des Erkenntnisgegenstandes.

LITERATUR - Wladislaus Switalski, Probleme der Erkenntnis, Gesammelte Vorträge und Abhandlungen II, Münster in Westfalen 1923