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FRIEDRICH KUNTZE
Die kritische Lehre
von der Objektivität

[ 4/6 ]

Vorwort / Einleitung
Erstes Kapitel -
Die Objektivitätsbedingungen und die Platonismen des Ichbegriffs.
Zweites Kapitel -
Die Objektivitätselemente und die Platonismen der Seelenvermögen.
Drittes Kapitel -
Die Objektivitätsformen und die Platonismen des Normgedankens

"Die ganze reine Logik hat es mit Verhältnissen des Gedachten, des Inhalts unserer Vorstellungen zu tun; aber nirgends mit der Tätigkeit des Denkens, nirgends mit der psychologischen, also mit der physischen Möglichkeit desselben."

Zweites Kapitel
Die Objektivitätselemente und
die Platonismen der Seelenvermögen.

Wenn von Platonismen in den Elementen der Objektivität geredet wird, so denkt man zunächst an KANTs "Seelenvermögen" und an ihre Kritik durch HERBART. (14) Diese einst berühmte Kritik ist heutzutage durch COHEN, RIEHL und andere so gründlich erledigt, daß man HERBARTs sonstigen großen Verdiensten unrecht tut, wenn man all seine verkehrten historischen Unterstellungen noch einmal in Erinnerung bringt. (15) Wir sehen also bei der Besprechung der Seelenvermögen in Vergangenheit und Gegenwart vorläufig abe von jeder Nutzanwendung der Ergebnisse auf KANT. Vielmehr wollen wir diese Lehre in einer unzweifelhaften Formulierung betrachten, um dann zu zeigen, was sich von ihr noch im Denken unserer Tage nachweisen läßt. Die Lehre von den Seelenvermögen hat ihre klassische Gestalt in WOLFFs rationaler Psychologie bekommen und ihre Zerstörung in KANTs Paralogismen erfahren. Die Vermögen sind nach WOLFFs rationaler Psychologie als "verschiedene Modifikationen der ursprünglichen Kraft zu denken, welche das Wesen der Seele ausmacht". In WOLFFs empirischer Psychologie wird auf die Einheit dieser Vermögen sehr wenig der Ton gelegt; sie stehen nebeneinander wie verschiedene Subjekte, die sich gegenseitig nicht viel angehen. Die Trennung wird begünstigt durch den Rangunterschie der Vermögen, die in einen "höheren und niederen" oder, wie man wohl besser sagt, einen oberen und unteren Teil zerfallen. Der untere Teil umfaßt die dunklen und konfusen, der obere die klaren und deutlichen Vorstellungen. Diese ziemlich unbeholfene Begriffsmythologie, die noch nicht einmal den Vorzug bildlicher Anschaulichkeit hat, ist durch die Kritiken KANTs und HERBARTs aufgedeckt und wohl auf ewige Zeiten beseitigt worden. Die Lehre von den Seelenvermögen aber ist, obwohl sie KANT und HERBART mit überwunden haben, dennoch nicht aus dem lebendigen Denken geschwunden. Sie hat vielmehr eine Art posthumer Rache geübt und sich gerade der Begriffe bemächtigt, die bestimmt gewesen waren, zugleich mit ihrer alten Form sie selbst zu ersetzen. Diese Rache wird dadurch vervollständigt, daß alle die modernen Vermögenstheorien späte Zinsen des einen großen Kapitals sind, das einst LEIBNIZ dem menschlichen Denken gemacht hatte. Die Expansion der LEIBNIZschen Ideen hatte sich nicht in den genügsamen Spekulationen WOLFFs auswirken können; sie brauchte vielmehr erst die weiten Räume der modernen Wissenschaft, um zu zeigen, wer sie war. Wir wollen die Mannigfaltigkeit der Lehren, deren innerstes Wesen eine Vermögensmetaphysik ist, in zwei Gruppen zerlegen. Die erste soll die biologisch gegründeten Vermögenstheorien einschließen, die zweite die psychologisch begründeten.


I. Die biologisch begründeteten
Vermögenslehren

Zunächst wirkt in den biologisch begründeten Vermögenstheorien, über den Kopf CHRISTIAN WOLFFs hinweg, LEIBNIZ' großer Geist. LEIBNIZ schuf den Begriff des virtuellen Angeborenseins, der heute unter dem Namen der Disposition besonders in den alles beweisenden ancestralen [angestammten - wp] Erklärungen der  psychologistischen  Erkenntnistheorie so unentbehrlich geworden ist. Von LEIBNIZ stammt der Begriff der unbewußten Vorstellung, der es den  metaphysischen  Erkenntnistheorien unserer Tage erlaubt, alle gegebenen phänomenologischen Unterschiede unserer Geisteshandlungen schließlich in einem letzten gemeinsamen Dämmern verlöschen zu lassen. Im Menschengeist schlafen - so lehrt LEIBNIZ - die eingeborenen Idee, wie die Bildsäule im Marmor schläft; sie warten nur auf den schaffenden Ruf der äußeren Erfahrung, um ans Licht zu treten, um aus der Form der Unbewußtheit in die Bewußtheit überzugehen. Dieses eingeborene Ideenreich enthält alle die Wahrheiten, die der Geist aus eigenen Mitteln finden kann; ein Vorzug, der mit einer Wendung ins  Zeitliche  durch den Ausdruck "ewige Wahrheiten" festgehalten wird. Alles Licht des Menschengeistes wird aus diesem dunklen Urgrund geboren. Was aber die eigentliche  logische  Macht der ewigen Wahrheiten ausmacht, hat LEIBNIZ nicht gesagt.

Diese Gedanken bekommen im 19. Jahrhundert durch den Darwinismus neue Flügel. Das virtuelle Angeborensein schien die Lösung seines logischen Rätsels in der Vererbungslehre zu finden, denn der Vererbungsbegriff gab der Frage des "woher", die das Angeborensein mit sich führt, die Antwort. Mit dem Begriff der Vererbung verband man das Dogma vom Kampf ums Dasein und vom Überleben des Tüchtigsten in diesem Kampf. Diese Begriffsverbindung gab ein ganzes Geschlecht von Theorien, dessen vielfache Spielarten sich auf ungefähr folgende Gemeinsamkeiten bringen lassen. Wir gehen, um allmählich in die hier gemeinten Gedanken einzuführen, von einer rein individuellen und psychologischen Anwendung des in Rede stehenden Prinzips aus. Dann erweitern wir es ins Gattungsmäßige und Gattungspsychologische, oder, nach der Meinung der Philosophen des Darwinismus, ins Erkenntnistheoretische.

Nach RIBOTs Lehre machen das Kind und der Staroperierte, bei denen die Merkpunkte des Gesichtssinns und Tastsinns noch nicht einander zugeordnet sind, um einen bestimmten Gegenstand zu ergreifen, eine große Menge Bewegungen, von denen einige ihr Ziel erreichen, andere es verhehlen. Dann sind aus der ganzen Zahl der Bewegungen die, die zum Ziel geführt haben die brauchbaren, die anderen die unbrauchbaren. Die brauchbaren überleben, das heißt sie werden im Gedächtnis aufgehoben, die unbrauchbaren gehen zugrunde, das heißt, sie werden vergessen. Die brauchbaren Bewegungsbilder heißen war, die unbrauchbaren falsch.

Was RIBOT hier für ein beschränktes Gebiet der Data ausgeführt hat, die dem einzelnen Individuum als wahr gelten, überträgt die Erkenntnispsychologie des Darwinismus auf die Gattung. Nach der erkenntnispsychologischen Selektionstheorie differenziert sich innerhalb der Gattung zunächst aus den unzähligen Wesensäußerungen der Individuen ein Etwas heraus, das man als das Erkennen bezeichnet. Dieses Erkennen besteht aus einer Reihe deskriptiv gleicher Handlungen, von denen die einen - hier auf dem indirekten Weg eines Mittels zum Zweck - das gewollte Ziel erreichen, die anderen es verfehlen. Die ersten, die gelungenen Handlungen, werden im Gattungsgedächtnis behalten, das ist, sie werden als Dispositionen auf die Nachkommen vererbt, die zweiten, die nicht gelungenen Handlungen, werden vergessen, das heißt, sie werden nicht vererbt.

Wie einst der dunkle Urgrund in Gott SCHELLING aus allen Verlegenheiten helfen mußte, so ist den modernen Philosophen des Darwinismus der dunkle Urgrund des unbewußten Erbes der Gattung der stets bereite  deus ex machina  [Auftauchen einer Gottheit mit Hilfe einer Bühnenmaschinerie - wp]. Soweit diese novellistischen Erklärungen sich im Bereich des Psychologischen halten, kann man sie neidlos der Psychologie überlassen, sobald sie aber die Grenzen der Objektivitätslehre überschreiten, wird ihre Prüfung zur Pflicht. Die Prüfung lehrt, daß der ganze so beschriebene Entwicklungsgang der objektiven Wahrheiten ihr innerstes Wesen nicht im mindesten anrührt. Man kann nur dann hoffen, auf dem beschriebenen Weg die Elemente der Objektivität wissenschaftlich zu durchdringen, wenn man zwei grundverschiedene Arten der Erklärung nicht auseinanderhält. Diese zwei Erklärungstypen, deren ersten wir den wesentlichen und deren zweiten wir den außerwesentlichen Typ nennen wollen, werden uns noch mehrfach in diesem Buch begegnen. Hier möge ein einfaches Beispiel uns ihren Unterschied verdeutlichen. Ich kann die Entstehungsgeschichte eines Dramas auf doppelte Art schreiben. Erstens kann ich etwa die Bücher angeben, die der Dichter benutzt hat, die Menschen charakterisieren, die seine Modelle gewesen sind, die persönlichen Erlebnisse in mir nachbilden, die diesem oder jenem Zug der Handlung zugrunde liegen und brauche am Ende gar die Tinte und Feder nicht zu vergessen, durch die das Ganze schließlich zu Papier gebracht ist. Das ist eine außerwesentliche Art, Geschichte zu schreiben, denn sie lehrt nicht das geringste über das Sosein und die innere Notwendigkeit des Dramas. Zweitens kann ich das Drame als eine Gegebenheit nehmen, die ich nicht nach ihrer äußeren Entstehung frage. Dann sage ich etwa: In diesem Drama ist ein Held,dessen Bild kraft der und der, willkürlich gewählten Grundeigenschaften die und die sekundären Eigenschaften gesetzlich fordert. Die Gesamtheit all dieser Eigenschaften, die derart durch ein immanentes Gesetz zu einem unteilbaren Eins zusammengebunden ist, nennen wir den Charakter dieser Person. Die aufbauende Kraft, die diesen Charakter schuf, schafft weiter nach derselben immanenten Notwendigkeit das ganze Stück. Zunächst fordert der festumschriebene Charakter des Helden einen oder mehrere feste Gegenspieler, deren innerstes Wesen a priori durch den Charakter des Helden bestimmt ist. Dieses Beisammen von Charakteren fordert wieder mit immanenter Notwendigkeit eine Handlung, die nichts ist als die Erfüllung des innersten Wesens der handelnden Personen. Derart kann ich verfolgen, wie der Dichter beim ersten Schritt frei, beim zweiten Knecht ist, wie er die Anfangskonstellation frei wählen kann, dann aber in jedem weiteren Tun bestimmt ist. Dieses Beisammen von Charakteren fordert wieder mit immanenter Notwendigkeit eine Handlung, die nichts ist als die Erfüllung des innersten Wesens der handelnden Personen. Derart kann ich verfolgen, wie der Dichter beim ersten Schritt frei, beim zweiten Knecht ist, wie er die Anfangskonstellation frei wählen kann, dann aber in jedem weiteren Tun bestimmt ist. Schreibe ich die Entstehungsgeschichte des Dramas in dieser Art, die die beliebig angenommenen Grundeigenschaften einer Person als die intelligible Ursache des ganzen Stückes aufzeigt, so habe ich die Entstehungsgeschichte des Dramas auf wesentliche Art geschrieben, denn diese Art der Geschichtsschreibung belehrt darüber, warum kein Zug im Stück verändert werden kann, ohne das Ganze unwahr zu machen. Allgemein kann man mithin sagen: Eine wesentliche Erklärung ist immer dann vorhanden, wenn sie über die immanente Notwendigkeit des zu Erklärenden Aufschluß gibt, eine außerwesentliche dann, wenn sie nur von den Gelegenheitsursachen zu berichten weiß, durch die das zu Erklärende enstanden ist.

Die darwinistische Erklärung der Objektivätselemente ist eine außerwesentliche. Über die Sätze der euklidischen Geometrie zum Beispiel lerne ich nicht das mindeste dazu, wenn man mir sagt, diese Sätze hätten ihren Grund in ihrer großen Nützlichkeit für den Menschen. Wohl aber lerne ich etwas über sie dazu, wenn man mir sagt, diese Sätze seien nur Ausdrucksformen sehr allgemeiner Wahrheiten in einer besonderen Sprache und ihr wesentlicher Inhalt lasse sich auch in nicht euklidischen Geometrien darstellen. Hier sieht man mit vollkommener Deutlichkeit, daß das Selektionsprinzip für die Erklärung der Objektivität nur den Wert eines harmlosen Vorzeichens hat, das keinen Tatbestand verändern kann, daher man es denn, wenn es einem sonst Vergnügen macht, ohne Schaden und ohne Nutzen vor einen jeden Inhalt setzen mag.


II. Die psychologisch begründeten
Vermögenslehren

Die zweite Gestalt der Lehre von den Seelenvermögen hat sich aus der Metaphysik HERBARTs, des Zerstörers der Seelenvermögen entwickelt. Dieser Platonismus lehrt, die Elemente der Objektivität seien reale psychologische Kräfte. Das Mißgeschick, diese Lehre verursacht zu haben, ist nicht eigentlich bei den ausdrücklichen Erklärungen HERBARTs zu suchen. Prinzipiell hat HERBART sich vom hier zu besprechenden Irrtum, einem der folgenschwersten in der Geschichte der Philosophie, durchaus reingehalten. HERBART hat Logik und Psychologie nicht vermengt, er hat das Wahrheitsverhältnis nicht in ein dynamisches Verhältnis der Vorstellungen gesetzt. "Die ganze reine Logik hat es mit Verhältnissen des Gedachten, des Inhalts unserer Vorstellungen ... zu tun; aber nirgends mit der Tätigkeit des Denkens, nirgends mit der psychologischen, also mit der physischen Möglichkeit desselben." (16)

Da trotzdem HERBARTs Nachfolger, als sie HERBARTs Gedanken weiterführten, auf den eben genannten Platonismus gestoßen sind, so muß das System ihres Meisters noch einige inoffizielle Lehrstücke haben, die bei den Schülern, wie das öfter geschieht, nur stärker hervortreten als beim Meister und dadurch bemerkbar werden. HERBART erneuerte, wie bekannt, die Metaphyisk LEIBNIZ'. Es ist aus mehreren Gründen eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür vorhanden, daß die inoffiziellen Lehrstücke LEIBNIZsche Gedanken sind, die von HERBARTs Kautelen [Vorbehalten - wp] befreit, als Irrtümer der Herbartianer zutage treten. Dieser Spur gehen wir jetzt nach.

Bekanntlich sind in HERBARTs Psychologie die Vorstellungen einerseits Selbsterhaltungen der Seele gegen die anderen Realen, also  Kräfte,  andererseits in der Seele identisch beharrende Objekte, also konstante, folglich  meßbare  Kräfte. Da aber das Seelenwesen einfacher Qualität ist, so ist es verboten, eine Mehrheit von Grundkräften, von "Vermögen" anzunehmen. Die Unterschiede der Vorstellungsreihen sind infolgedessen nur quantitativ; hierauf gründet sich auch die Möglichkeit, sie mathematisch einander gegenüberzustellen. Vorstellungen hemmen und fördern sich nach bestimmt angebbaren Gesetzen; sie sind allerorten als feste, geschlossene Dinge behandelt, deren Wesentliches in ihren dynamischen Beziehungen steckt. Von dieser Psychologie sagt HERBART selbst, sie konstruiere den Geist aus den Vorstellungsreihen,  so wie die Physiologie den Leib aus den Fibern [Körperfasern - wp] konstruiere.  (17) LEIBNIZ verrät uns das erkenntnistheoretische Geheimnis der HERBARTs: HERBART hat nicht nur die  Methoden  der Körperwissenschaft auf die Seelenwissenschaft übertragen, sondern auch gewisse zeitlich zufällie  Hilfsvorstellungen  der Physik der Psychologie zum Geschenk gemacht. Diesen Hilfsvorstellungen sind die Begriffe "Kraft" und "Substanz" wesentlich. Aus der Aufnahme des ersten Begriffs erklärt sich HERBARTs Dynamik der Vorlesungen, aus der des zweiten die Dinghaftigkeit, die seine Psychologie den Vorstellungen leiht.

Diese Eigentümlichkeiten der HERBARTschen Psychologie strahlen in seine Logik über. Trotz der früheren Gegenüberstellung sind logische und psychologische Gesetze bei HERBART nicht um einen ganzen Himmel verschieden. Vielmehr gibt es einen Fall, wo das Psychologische ins Logische übergeht: den Akt des richtigen Denkens. Die Logik ist eine Moral für das Denken und in jedem Fall richtigen Denkens setzt sich dieses Moralgebot durch.  Die reinen theoretischen Wahrheiten können also eine motivierende Kraft auf den psychologischen Denkverlauf gewinnen.  Durch diese Behauptung, in Verbindung mit seiner Lehre von der Dynamik der Vorstellungen ist HERBART der Vater eines weitverbreiteten Platonismus der Elementbegriffe geworden. Dieser Platonismus besteht darin, den logischen Akten reale formierende Wirkungen zuzuschreiben, durch die sie, Webstühlen vergleichbar, die Gegebenheit der äußeren Welt zu einer einheitlichen Wahrheit zusammenweben. Kennen wir diese Elemente, diese Inbegriffe der wissenschaftlichen Mittel, welche die Objektivität jeweils erschaffen, die Kategorien, so zeigt die Entwicklung des Kategoriebegriffs drei Stadien. Zunächst deutet man die Kategorie lediglich dynamisch. Dann sondern sich in ihr ein dynamischer von einem logischen Teil. Schließlich erscheint sie als reine Form all der logischen Akte, durch die sich das Erkennen auf Gegenstände bezieht.


1. Die Kategorien als rein
dynamische Werte

Wir befassen uns zuerst mit der rein dynamischen Theorie und mit ihren Vertretern. In diesen wirkt, wie gesagt, durch die Vermittlung HERBARTs LEIBNIZ weiter.

ERNST LAAS vermengt die psychologische und sachliche Ordnung der Vorstellungen und deutet ins Logische, was HERBART nur psychologisch gemeint hatte. So setzt er die Objektivität in ein "bestimmt geordnetes Streben" der Vorstellungen und glaubt KANT durch folgende, von HERBART psychologisch gemeinte Stelle berichtigen zu sollen: "Faktisch liegt ihm, HERBART - nicht im Inneren, sondern - "im Vorstellen ein geordnetes Streben, vermöge dessen jede kleinste Partialvorstellung alle die anderen in bestimter Reihenfolge nach sich zieht." (18) Das ist keine Erklärung, sondern nur ein Symbol, und, was das schlimmste ist, ein Symbol, das durch andere, gleichwertige vertreten werden kann.

Anstelle des "geordneten Strebens" kann man zunächst, wie asd wohl zuerst F. A. LANGE in den "Logischen Studien" (19) getan hat, das Prinzip des Überlebens der zweckmäßigsten Verbindungen setzen. Dann vertauscht man ein mechanisches mit einem biologischen Symbol. Es ist dies dann "das vernichtenden Prinzip im natürlichen Fortschritt der Organismen, darauf beruth, daß immer neue Verbindungen von Vorstellungen erzeugt werden, von denen beständig die große Masse wieder vernichtet wird, während die besseren überleben und weiter wirken." (20) Diese Lehre ist eine psychologische Spielart der vorhin geschilderten biologischen Theorie und es gilt für sie dasselbe, was über jene gesagt wurde.

Das biologische Prinzip findet ein gewisses Gegenbild im mechanischen Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. Dieses hat ja den Vorteil vor dem biologischen Prinzip, daß es auch teleologisch ist und dennoch mathematisch gedeutet werden kann. Diese Eigenschaft erlaubt es, das, was das biologische Prinzip zu sagen wünscht, exakter in mechanischer Sprache auszudrücken. Den mechanischen Ausdruck in dieser Foem haben bekanntlich MACH und AVENARIUS gewählt. LAAS, LANGE, AVENARIUS erscheinen so, nach der Vollkommenheit ihrer Übneretzungsmittel eingeschätzt, als Thesis, Antithesis, Synthesis, nach dem aber ,was sie damit erreicht haben, als Vertretern der gleichen irrigen Ansicht. Diese theoretischen Möglichkeiten sind durchaus gleichwertig, denn, hat man einmal die Vorstellungen überhaupt verdinglicht, so sind es nur verschiedene Erscheinungsformen ein und desselben Irrtums, welche Verfassungsweisen der äußeren Welt sie sich anziehen, ob die mechanische (AVENARIUS), die biologische (LANGE) oder - die chemische (STUART MILLs "Psychische Chemie" und HEYMANNs ("Chemie der Urteile").

Die Kritik für al diese Möglichkeiten ist die gleiche. Bei ihnen allen rächt sich die scheinbare Verselbständigung, welche das Vorstellen durch dieses vom Subjekt unabhängige "geordnete Streben" zum Beispiel erhält, bitter genug. Dadurch, daß dieses Streben zu einem Fatum der Vorstellungsdinge wird, von dem doch wieder nur ein subjektiver Schein ins Bewußtsein fällt, erhält man zwei innere Gesetzeswelten, eine, die in einem "geordneten Streben" subsistiert [durch sich selbst besteht - wp], eine andere, die sich das Individuum nach diesem Streben schafft und die durch unsere eigene Wahrheit denken können, indem eine Wahrheit außer uns für uns eben nichts ist, die Wahrheit aber wiederum nicht im "Innern", sondern in einem "geordneten Streben des Vorstellens" liegen soll, so folgt, daß wir die Gesetze in unserem Inneren bezweifeln müssen nach dem Gesetz unseres Inneren, daß die Wahrheit nur in einer, unserer subjektiven Willkür entrückten Zielstrebigkeit bestehen könne.

Dieser Zirkel ist keineswegs notwendig, denn er schwindet, sobald man die Folge der Vorstellungen von der Folge der Gegenstände der Vorstellungen scheidet und aus der Regel, die diese letzte Folge beherrscht, jenen Rest von antiker Objektivität wegläßt, welcher etwas Reales, ein Stück natürliche Wirklichkeit in sie hineinbringt, denn nur dieses ist die Veranlassung, welche das Schicksal des geordneten Strebens der Vorstellungen zum Schicksal der geordneten Folge der Sachen macht. Er so bilden die Regeln der Erscheinungen ein eigenes Reich und haben es nicht mehr nötig, ihr Schicksal gleichzeitig zu stimmen und zu erleben.

Die Unterscheidung von Folge der Vorstellungen und Folge der Gegenstände der Vorstellungen ist überhaupt die  instantia crucis [ausschlaggebende Instanz - wp], vor der der größte Teil angemaßter Kritik der kantischen Erkenntnistheorie zuschanden wird. Dann gibt vielleicht nichts einen solchen Begriff von der ungeheuren Überlegenheit KANTs über das gaze folgende philosophische Jahrhundert als die Bemerkung, daß uns diese Verteidigungswaffe von KANT selbst in die Hände gegeben ist. (21) "Wenn meine Vorstellung worauf folgt, so würde der Gegenstand derselben noch nicht darauf folgen, wenn dessen Vorstellung nicht wodurch als eine Folge determiniert wäre, welches niemals anders, als nach einem allgemeinen Gesetz geschehen kann." Unausgesprochen ist diese Distinktion der Angelpunkt von KANTs HUME-Kritik und damit der Ausgangspunkt seiner eigenen Erkenntnistheorie.


2. Die Kategorien als Verbindungen
dynamischer und intellektueller Werte

Wir wenden uns zu den Kategoriebegriffen, in denen eine reale, die Erfahrung gestaltende Funktion und ein rein logischer Formbegriff zusammengekoppelt sind. Als Vertreter dieser Ansicht diene uns SIMMEL mit seinen Vorlesungen über KANT. SIMMEL schreibt (22): "Mögen in jedem Augenblick auch apriorische Normen die Erfahrung beherrschen - warum sollen nicht auch sie, die doch, unsere Naturerkenntnis bildend, von der anderen Seite gesehen, selbst natürliche Wesenheiten sind, eine Entwicklung zeigen, deren kontinuierlicher Fluß sie in keinem Augenblick zu einem systematischen Abschluß kommen läßt; und wenn es ein Zirkel ist, die Entwicklung als das dauernde Schicksal der Dinge erkennen zu wollen, wenn die Erkenntnis selbst sich dauernd entwickelt, - so ist es einer jener unververmeidlichen fundamentalen Zirkel, in denen sich der Relativitätscharakter unserer geistigen Existenz offenbart."

Nicht hier indessen scheint mir der tödliche Zirkel zu liegen, sondern in entwas anderem. Entwicklung heißt doch, daß etwas entsteht, während etwas anteres vergeht, daß etwas anfängt, ein anderes aufhört zu sein und das alles nach einer Regel. Entwickeln sich die Normen, so heißt das: es entstehen Normen und vergehen Normen, wie billig, auf das All der Normen ausgedehnt wird, warum soll dann nicht auch die Norm, welche die Entwicklung der Normen dekretiert [anordnet - wp], sich entwickeln, das heißt mit ihrem früheren Zustand verglichen, - vergehen und werden? Wenn sich also die Entwicklungsnorm entwickelt, so muß sie erstens negativ etwas anderes als Entwicklung werden, das ist vergehen, dann aber ist gerade durch ihre Entwicklung wieder eine absolute Stabilität der Normen erreicht. Zweitens muß sie einen positiv  neuen  Charakter annehmen, durch den sie nicht mehr bloß etwas anderes ist, sondern durch den sie als eine wirkliche Norm dasteht, das heißt sie muß im eminenten Sinn  werden,  dann abst ist sie nicht mehr Entwicklung und wiederum ist durch ihre Entwicklung erreicht, daß es keine Entwicklung mehr gibt, das heißt wiederum sind wir bei de absoluten Stabilität der Normen (wenigstens im Verhältnis zur  Entwicklung)  angelangt.

Dieser Zirkel ist nich dadurch zu vermeiden, daß man eine Besonderheit des Entwicklungsbegriffes für die Normen statuiert und nur eine eindeutige Entwicklung annimmt, der das "Vergehen" fehlt, indem man etwa sagt, die Entwicklung der Normen sei eine Entwicklung nur in dem SInne einer Berichtigung, die aus unvollkommenen Formulierungen zu immer vollkommeneren fortschreite, damit aber nur in historischer Folge das eigentliche Wesen des Formulierten enthülle. Hier verwechselt man das innere Wesen der Norm mit der Geschichte ihrer Bewußtwerdenung; natürlich kann ein Gesetz von einem primitiven Denken primitiver formuliert worden sein, als von einem entwickelten und vor allem, es kann äußerlich ganz anders aussehen, je nachdem es in einen engeren oder weiteren sachlichen Zusammenhang eingestellt wird, wofür ich an die GALILEIschen Fallgesetze und an das NEWTONsche Gravitationsgesetzt erinnere. Dies aber darf das innere Wesen, die reine Bedeutung des Gesetzes durchaus nicht ändern, denn dieses würde ja sofort seinem Begriff widersprechen, das heißt aufhören Gesetz zu sein, wenn es bald dieses, bald jenes aussagte. Ein Gesetz ist entweder Gesetz und dann entwickelt es sich nicht, oder es entwickelt sich, und dann ist es kein Gesetz; will man "Gesetz" und "Entwicklung" vereinen, so gerät man unrettbar in den obigen Zirkel.


3. Die Kategorien als rein intellektuelle Werte

Der dritte und feinste Platonismus der Element-Begriffe fällt in unser eigenstes Gebiet: in die kantische Erkenntnistheorie. Wir können ihn darum gar nicht beschreiben, ohne vorher unseren eigenen Standort ganz allgemein bestimmt zu haben. Dann haben wir zu zeigen, wie dieser Standort bei nicht ganz zuverlässiger Umgrenzung immer noch für einen Platonismus Raum haben kann. Unsere Stellung umschreiben wir negativ durch den Ausschluß jeder realen Dynamik aus dem Kategorie-Begriff, positiv durch die Bestimmung, die Objektvitätselemente seien die letzten, phänomenologisch aufeinander nicht mehr zurückführbaren Formbestandteile einer gewissen typischen begrifflichen Umgestaltung unseres unmittelbare Erlebens. Sehen wir zunächst, was wir damit erreicht haben. Wir haben eine vollkommene Unabhängigkeit der Formen von allem physischen oder psychologischen Sein, eine ausschließend Beschränkung auf das rein Logische, eine vollkommene Ablehnung der Zumutung, die reinen Formen als irgendwie den psychologische Bewußtseinsverlauf in ihre Bahnen ziehende Agentien aufzufassen. Nur dieses ideelle Programm scheint mir imstande zu sein, unserem modernen Weltbild rechtmäßig jene Geschlossenheit und Stabilität zu geben, die auf angemaßtem Grund einst die Weltanschauung des Mittelalters besaß, denn nur die vollkommene Elimination der Wirklichkeit aus den Objektivitätselementen scheint mir die Objektivität von Psychologie und Metaphysik unabhängig zu machen. (23)

Solchermaßen scheinen wir uns zu einem durchaus unverdächtigen Elementbegriff durchgerungen zu haben. Dennoch kann, wie angekündigt, auch an diesen schon so vielfach geläuterten Begriff immer noch ein Platonismus gebunden zu sein. In diesen Begriff fällt zwar keine Wirklichkeit mehr hinein, wohl aber ruht der Schatten der Wirklichkeit über ihm. Der neue Platonismus überträgt zwar keine Wirklichkeiten mehr in die Objektivität, wohl aber gewisse typische Verfassungsweisen der Wirklichkeit auf logische Verhältnisse. Man kann sich immer noch die kategoriale Formung nach  Analogie  der realen primären Formung des stumm geborenen unmittelbaren Erlebens zu einem Ausdruck denken. Die kategoriale Formung erscheint dann als eine  psychologische  Neuschaffung, beziehungsweise Umgestaltung des Gegenstande. Das ist eine Mißdeutung, der der kantische Begriff der Synthesis immer in einem besonders hohen Maße ausgesetzt gewesen ist. Diese Mißdeutung verwischt den Unterschied zweier wichtiger Einheiten, der realen primären Einheiten, in die wir unser unmittelbares Erleben fassen, um es dann weiter als Material aller Wissenschaft zu verwenden und der kategorialen Einheiten, die nach logischen Gesetzen die Teile einander zuordnen und die nie real sein können. Wäre die kategoriale Formung eine reale Formung, so müßte (24) das Ergebnis ein neuer Gegenstand im primären und realen Sinne sein, was der bloß beziehenden Natur der Kategorien widersprechen und den fundamentalen erkenntniskritischen Unterschied von unmittelbaren Einheiten und Beziehungseinheiten illusorisch machen würde. Keine ärgere Mißdeutung aber kann die objekte Einheit treffen als die, in ihr eine reale Neuformung des Gegenstandes zu erblicken. Dadurch rückt man die Objektivität in das Gebiet des vorwissenschaftlichen Erlebens, denn dieses allein kennt reale Neuschaffungen. Das heißt aber die objektive Formung mit dem Material verwechseln, an dem sie sich betätigt. Die objektive Einheit kann darum immer nur eine kategoriale, nie eine reale Einheit sein. Deshalb verbannen wir aus den Objektivitätselementen auch diesen versteckten Platonismus, der zwar keine Wirklichkeit mehr, wohl aber eine  Analogie  der Wirklichkeit in sie einführen will.

Diese Gedanken sollen uns regulative Ideen bei der Kantdarstellung sein. Ihre weitere Verfolgung gehört nicht hierher, denn sie bewußt darstellen, heißt bereits, über den historisch gegebenen KANT hinausgehen. Für jetzt wenden wir uns wieder von den höchsten Elementgebilden der modernen Objektivität zu ihren untersten Formgebilden.

LITERATUR - Friedrich Kuntze, Die kritische Lehre von der Objektivität - Versuch einer weiterführenden Darstellung des Zentralproblems der kantischen Erkenntniskritik, Heidelberg 1906
    Anmerkungen
    14) JOHANN FRIEDRICH HERBART, Werke, Ausgabe HARTENSTEIN 1850, Bd. V, Seite 248f und 505f; Bd. III. Seite 118f
    15) ERNST LAAS hat es versucht, COHENs Kritik an HERBART abzuweisen (Idealistische und positivistische Erkenntnistheorie III, Seite 416). Statt diese Widerlegung zu widerlegen und so eine Kritik in der dritten Potenz zu liefern, scheint es mir geratener, auf die Möglichkeit einer Verständigung hinzuweisen. Diese ist dadurch gegeben, daß LAAS (Seite 435) gegen die "triftigste Erinnerung" COHENs nichts einzuwenden hat, HERBART habe nur die sogenannte "metaphysische Deduktion" berücksichtigt, das Vorhandensein der "transzendentalen Deduktion" aber gänzlich ignoriert. Wenn man aber diese Tatsache zugibt, so gibt man die Unzulänglichkeit der herbartischen Kritik zu, denn erst die "transzendentale Deduktion" enthält als die Idee einer Wissenschaft der Naturtheorie überhaupt den eigentlichen KANT. Daß es übrigens COHENs "Grundgedanke" ist, "die kantische Transzendentalphilosophie mit herbartischer Psychologie sowohl zu durchleuchten als auch in Einklang zu bringen", wird COHEN einigermaßen überrascht haben.
    16) JOHANN FRIEDRICH HERBART, Psychologie als Wissenschaft, § 119
    17) HERBART, Werke 5 (Ausgabe Kehrbach), Seite 192
    18) ERNST LAAS, Idealistische positivistische Erkenntnistheorie III, Seite 428
    19) FRIEDRICH ALBERT LANGE, Logische Studien, 1877 20) LANGE, Logische Studien, Seite 28
    21) REICKE, Lose Blätter, Seite 21
    22) SIMMEL, Vorlesungen über Kant, 1. Auflage, Seite 23
    23) Die unglückselige Vermengung von Wahrheit und Existenz, die die ganze neuere Erkenntnistheorie verunstaltet, hat wohl ihre kausale Veranlassung in der Formel des CARTESIUS  sum cogitans  [Ich bin meine Vorstellungen - wp] unaufhaltsam fort, wie das SCHELLING in seinen genialen Münchner Vorlesungen zur Geschichte der neueren Philosophie bereits gezeigt hat.
    24) EDMUND HUSSERL, Logische Untersuchungen, Bd. II, Seite 638