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Laurent Verycken
F o r m e n   d e r  
W i r k l i c h k e i t


Sprache
- I I -

1. raum-zeit
2. Bewußtsein
3. Logik
5. Tatsachen
6. Moral
  7. Ordnung
  8. Recht
  9. Ökonomie
10. Anarchie
11. Religion
"Wer Wort und Idee identifiziert, denkt begriffsrealistisch und ist im Grunde Idealist im klassischen Sinn. Fuer ihn gibt es keinen Unterschied zwischen dem, was er denkt und dem, was wirklich ist."

Die Sprache war seit jeher schon das fundamentalste aller Gemeingueter, hauptsaechlichstes Medium von Integration und wichtigste Instrument zur Sozialisierung. Die Beziehungen des Alltags sind hauptsaechlich auf die Sachverhalte gerichtet, die sich haeufig wiederholen. Die Selbstverstaendlichkeit der Wiederholung gilt als Normalitaet. Im Alltag denken wir nur allzugern alles Unbestaendige bestaendig. Die Objektivitaet der allgemeinen Nuetzlichkeitsvorstellungen laesst es am praktischsten erscheinen, sich allgemeinen Anschauungen anzupassen. Angepasstheit ist die Folge einer Unterwerfung unter die Herrschaft des Realitaetsprinzips, das vorwiegend sprachlich repraesentiert ist. Wie wir uns die Welt vorstellen und uns zu ihr verhalten, ist wesentlich das Ergebnis sprachlicher Prozesse. "Etwas Unbekanntes auf etwas Bekanntes zurueckzufuehren, erleichtert, beruhigt, befriedigt, gibt ausserdem ein Gefuehl von Macht." 15)

Die Sprache ist zugleich die soziale Macht zwischen den Menschen. Unsere ganze Lebensanschauung haben wir allein durch die Tatsache, dass wir sprechen. Verschiedene Grammatiken fuehren dabei zu verschiedenen Beobachtungen und diese zu unterschiedlichen Weltansichten. "Es gibt ein grundlegendes Klassifikationsschema, das  in  unsere Sprache eingebaut ist. Dieses eingebaute Klassifikationsschema leitet uns so, dass wir  die  Dinge beobachten, denen wir ohne weiteres Namen, die wir kennen, beilegen koennen; waehrend wir stark dazu neigen, alles andere zu uebersehen. ( 16) Die Form der Sprache ist ihr entscheidender Inhalt. Das medium ist die message. "Die Verschiedenheit der Sprachen ist die Verschiedenheit der Weltansichten selbst." 17)

Jedes vernuenftige Uebereinkommen wird durch sprachliche Prozesse erreicht, oder es wird nicht erreicht. Der Begriff leistet die Integration der Allgemeinheit. Wer in der modernen Welt nicht die Sprache der Begrifflichkeit spricht, ist nicht oeffentlichkeitsfaehig. Die allgemeinen Begriffe foerdern jedoch sehr die Traegheit des Denkens. Die automatisierte Sprachverwendung ist, im Gegensatz zum aktiven Denken, eigentlich Passivitaet. In der Sprache ist eine Form der Aktivitaet moeglich, die in der Wirklichkeit nichts veraendert. Die Beschreibung einer Tatsache tritt an die Stelle der wirklichen Tatsache. "Die Sprache ist von allen sozialen Einrichtungen diejenige, welche am wenigsten zur Initiative Gelegenheit gibt. Sie gehoert unmittelbar mit dem sozialen Leben der Masse zusammen, und diese ist natuerlicherweise schwerfaellig und hat vor allem eine konservierende Wirkung." 18)

Wer  Wort  und Idee identifiziert, denkt begriffsrealistisch und ist im Grunde Idealist im klassischen Sinn. Fuer ihn gibt es keinen Unterschied zwischen dem, was er  denkt  und dem, was wirklich  ist.  Solange wir an die Kongruenz von Wort und Sache glauben, kann deshalb schwerlich auf die Wirklichkeit eingewirkt werden. Die Allgemeinbegriffe spiegeln das Immergleiche. Das Ansich des Allgemeinen ist das  Ideal  der Dinge. Indem wir abstrahieren, idealisieren wir. Alle Abstraktionen sind also nur logische Ideale, d.h. sie sind etwas Gesolltes.  Ideal  ist gleichbedeutend mit  begrifflich;   real  bedeutet  raum-zeitlich,  d.h. zu einer ganz bestimmten Zeit an einem ganz bestimmten Punkt. Die Idealisierung steigert sich mit dem Grad der Abstraktion. Das Allgemeine hat den Vorteil zeitlos, ewig und von aller Veraenderung unberuehrt zu sein. "Was sich nie und nirgends hat begeben, das allein veraltet nie." 19)

Die  Beschreibung  einer Tatsache kann an die Stelle der  wirklichen  Tatsache treten. Die Beschreibung einer Veraenderung tritt an die Stelle der wirklichen Veraenderung. Es kann immer nur geredet werden, ohne dass etwas getan werden muss. Die Opfer der Ideologen werden getaeuscht durch die Illusion, Abstraktionen waeren die Wirklichkeit. Die Realitaet braucht nicht mehr veraendert zu werden, es genuegt, sie veraendert zu denken. Das Versprechen ersetzt die Reform. "Der Umgang mit der Sprache hat eine Tendenz, sich an die Stelle des Umgangs mit den Sachen zu setzen." 20) Das Wort  Freiheit  kann gebraucht werden, ohne dass Freiheit existiert. Woerter wie  Leben, Religion, Geld, Gewalt, Arbeit, Erfolg, Liebe  etc. koennen so verwendet werden, als wuesste jeder, was damit gemeint ist. Diese Selbstverstaendlichkeit ist aber eine der Hauptursachen fuer Begriffsverwirrung und weltanschauliche Orientierungslosigkeit.

Alle Woerter unserer Sprache beruhen darauf, dass sich Menschen auf ihre Verwendung geeinigt haben. Abstraktionen resultieren aus Uebereinkuenften. Die Vereinbarung von Zeichen und Signalen geschieht aus Gruenden der Verallgemeinerung, d.h. um allgemeine Verwendbarkeit zu ermoeglichen. Die Frage von Verschiedenheit oder Gleichheit der Dinge ist eine Frage von Uebereinstimmung und Nichtuebereinstimmung und damit eine Frage der Vertraeglichkeit, bzw. der Unvertraeglichkeit. Wo es viele Differenzierungen gibt, gibt es wenig Uebereinstimmung und wenig Uebereinstimmung erhoeht die Konfliktgefahr. Die scheinbare Harmonie der Meinungen bricht sofort auseinander, sobald die hinter den Schlagworten stehenden Ideen thematisiert werden. Durch den Schein der Worte kann ein Schein des Verstehens entstehen, der mehr Verwirrung stiftet, als Klarheit schafft. Sprachliche Konstruktionen koennen uns immer ebenso schaden, wie sie uns nuetzen koennen.

Die Sprache verleitet zum Irrtum wie kaum eine andere menschliche Erfindung. Wir unterliegen bei Woertern mit den Suffixen  schaft, ung, heit keit, tum, ling, sal, nis  (Gesellschaft, Wirtschaft, Herrschaft, Freiheit, Eigentum, Bewandtnis, Heiterkeit, etc.) der Suggestion einer selbstverstaendlichen und dynamischen Einheit. In der Wirklichkeit als solcher gibt es aber keine X-schaft oder Y-heit. Alle Sowieso-tuemer sind reine Vorstellungen - genauer gesagt Wertvorstellungen. Das gilt nicht nur fuer Dingwoerter, bzw. Substantivierungen, sondern auch fuer Zeitwoerter und Adjektive.  Einbrecher  oder  Nachbarin  bezeichnen keine lebenden Personen, sondern sind logische Konstruktionen. Ohne eine Uebereinkunft ueber die Idee, die durch ein Wort symbolisiert wird, reden wir immer aneinander vorbei.

Als Mittel der Beziehung wird die Sprache hauptsaechlich zur Beeinflussung, d.h. zur Willens- und Gedankenlenkung gebraucht. Taeuschung durch sprachliche Mittel ist unauffaellig und gibt sich den Schein der Objektivitaet. Begriffe wie  Profit, Leistung, Gerechtigkeit, Notwendigkeit, Wirtschaftlichkeit  etc. haben aber keine Bedeutung, wenn nicht der entsprechende Bezugsrahmen verdeutlicht wird (Profit fuer wen?). Die Sprache eignet sich hervorragend, um die  wahre  Bedeutung einer Rede im Dunkeln zu lassen. Abstraktionen spiegeln Grundpositionen, die im Prinzip nicht mehr diskutiert werden, sondern sich axiomatisch verankert haben. Willkuerliche Normen und Werte werden fuer allgemeingueltig erklaert. Das Dogma von der Wirklichkeit der Abstraktion verhindert jede Fragestellung, die grundsaetzlich das Verhaeltnis von Denken und Realitaet beruehrt und damit die wesentliche und entscheidende Kritik.

Die Ideologie ist ein feststehendes und abgeschlossenes Denkgebaeude, das sich selbst weitgehend gegen skeptische Standpunkte absichert, weil keine Theorie das allgemeine Denken in Frage stellt, da sie sich ja dann auch selbst in Frage stellen muesste. Was dem Klischeé der Allgemeingueltigkeit nicht genuegt, wird als irrational und irrelevant denunziert. Der herrschende Sprachgebrauch entpuppt sich so als das  Wesen,  besser der Spuk des gesellschaftlichen Zwangs zur Konformitaet. Wo Abstraktionen als Gruende dienen, sind alle Probleme blosse Scheinprobleme. Jede Auseinandersetzung wird zum blossen Wortgefecht. Wenn wir mit harmlosen Allgemeinbegriffen an die Wirklichkeit herangehen, bleibt alles Wesentliche ungesagt und ungefragt.

Abstraktionen sind im Prinzip Vorurteile und Vorurteile beschraenken den Gebrauch unseres Intellekts. Das bestuerzende und naive Vertrauen, das zur abstraktiven Simplifikation gehegt wird, ist gespickt mit Verdrehungen und Verfaelschungen. Die Manipulation des Scheins heisst: so tun  als ob.  Die Fiktion ist entweder eine bewusste Luege oder wird als unbewusste Taeuschung zumindest billigend in Kauf genommen. Der naive Wortaberglaube ist aber immer ein Mittel der Entfremdung. In einer objektiven Welt sind wir selbst als Subjekte nicht vorhanden.
"Im taeglichen Leben koennen wir gerade das Haften an solchen Abstraktionen das Blindwerden bei Menschen beobachten, die auf das abstrakte Denken schelten, die wenig denken, aber immerfort ihre gewohnten Abstraktionen fuer die Wirklichkeit halten." 21)
Was wir wahrnehmen ist nie die Realitaet, sondern nur unser gewohnter Anblick von ihr. Der Naturalismus dagegen stellt einfach fest, dass das, was wir sehen, die wirkliche Welt ist. Wer borniert ist, beharrt in den Gewohnheiten des Bestehenden. Man sagt immer noch:  Die Sonne geht auf.  Wir sind durch unser begriffliches und symbolisches Denken foermlich hypnotisiert. Ein Denken, das diesen Namen verdienen soll, muss sich deshalb von allen hinderlichen Gewohnheiten lösen.

Für FRITZ MAUTHNER besteht eine direkte Verbindung zwischen Wortglaube und Wortmacht. Logokratie ist ihm der Name fuer die Herrschaft der Logik. Logokratie meint die Macht der Worte und Zahlen. Abstraktionen in Wort und Zahl sind die  Form der Allgemeinheit,  d.h. die Form der Macht. Die Machtsprueche der Definitionen treten jedesmal in Erscheinung, wo das Machtwort  ist  Verwendung findet. Die Beschreibung bedeutet immer einen Machtgewinn ueber das Beschriebene. Worte und Zahlen werden mit real existierenden Dingen gleichgesetzt und zum  Grund  erhoben. Der  Grund  aller Wirklichkeit wird zugleich zur  Macht  ueber alles Wirkliche. Die Herrschaft tritt dem Einzelnen als die Herrschaft der Abstraktion gegenueber. Wort und Zahl sind die geistigen Instrumente der Eroberung. Die Abstraktionen sind nicht auf Erkenntnis, sondern auf Bemaechtigung gerichtet. In einer vom Sprachglauben beherrschten Welt ist der Anspruch auf Wissen und Erkenntnis dogmatisch monopolisiert. Auf der Herrschaft der allgemeinen Gedanken, d.h. auf der Herrschaft des Begriffs, entwickelt sich das Fundament der Herrschaft ueber die Wirklichkeit.

Das Prinzip des quantitativen Denkens wird ueber Sprachglaeubigkeit zum Prinzip der Herrschaft. Das herrschende Realitaetsprinzip ist dermassen maechtig, dass viele Leute glauben  Moral, Recht  und  Gesetz  koennten direkt aus den Naturgesetzen abgeleitet werden. Eine politische Theorie jedoch, die gesellschaftliche Fragen fuer wissenschaftlich loesbare Sachfragen haelt, kann nur als scheinrational, d.h. ideologisch bezeichnet werden. Das beste Mittel zur Unterwerfung von Menschen ist die Unterwerfung ihres Geistes. Ideologie ist die Fortsetzung der Gewalt mit anderen Mitteln. Abstrakte Objektivitaet dient dabei der Rechtfertigung zweifelhafter Interessen und legalisiert gleichzeitig die geistige Unterdrueckung. Die Logik des Denkes bleibt die Logik der Herrschaft. 22) An den Schalthebeln der Macht werden die offiziellen Bedeutungen ausgegeben.

Die wesentlichste  Eigenschaft  der Sprache kann im draengenden Wunsch nach Machbarkeit, Planung und Entmystifizierung des Formlosen gesehen werden. Prognose und Planung sind Mittel der Machtausuebung. Entscheidend aber ist, wie jemand aufgrund von Beobachtungen zu allgemeinen Aussagen kommt, die ihrem Gehalt nach ueber das unmittelbar Beobachtete hinausgehen. Die Frage ist
"wie der wissenschaftliche Begriff Macht ueber das Wirkliche bekommt, und auch die Antwort hierauf liegt nahe. Nur durch eine begriffliche Trennung von Andersartigkeit und Stetigkeit kann die Wirklichkeit  rational  werden. Das Kontinuum laesst sich begrifflich beherrschen, sobald es  homogen  ist." 23)
Mit den Kategorien bringen die Begriffs- und Zahlendenker alle physischen Verschiedenheiten wie auch die Einzigartigkeit der Menschen zum Verschwinden. Die konkrete Wirklichkeit in ihrer unwiederholbaren und individuellen Einmaligkeit wird der Gleichfoermigkeit wegen verdraengt. Es existiert nur, was sich durch Definition, d.h. durch Abstraktion begruenden und damit rechtfertigen laesst. Was sich nicht benennen oder zahlenmaessig erfassen laesst, ist auch nicht wirklich. Die Nuetzlichkeit des Denkens liegt in seiner Objekthaftigkeit. Wenn wir aber ueber Menschen in derselben dinghaften Weise denken, behandeln wir diese als Objekte. Der Dingfetischismus wird zur Unmenschlichkeit. In seiner logischen Reinheit ist das abstrakte Denken ohne jeden konkreten Bezug zur Wirklichkeit und damit kalt und grausam. Abstraktion und Vergegenstaendlichung koennen zu gefaehrlichen Mitteln der Erkenntnis werden, weil wir mit ihnen "versuchen, die menschliche Realitaet zu einer Form zu konstituieren, die ihrem eigenen Wesen Gewalt antut. 24)

Wo Abstraktionen herrschen, wird entfremdet und entmenschlicht. Der Versuch allgemeingueltige Regeln aufzustellen geht immer auf Kosten der  Menschlichkeit. 
"Ob wir leiden, ob wir selig werden koennen, oder als einzeln existierende Menschen unsterblich sind, darum bekuemmert sich der Begriff nicht. Denn der (abstrakte) Denker ist auf dem Wege, kein Mensch mehr zu sein, er ueberlaesst uns das Schlimmste und geht stolz aus einer Existenz, die so wenig das Interesse der Abstraktheit beruehrt." 25)
Dem logischen Verstand ist das Seelische prinzipiell rationalisierbar. Das bedeutet aber, neben der fortschreitenden Entmenschlichung auch Entzauberung der Welt.

Wissenschaft schafft greifbare Objekte, mit denen umgegangen werden kann, die zu gebrauchen sind, um sich die Welt gefuegig zu machen. Das Begreifen ist im Prinzip ein Besitzergreifen durch Vergegenstaendlichung. Nur das Gegenstaendliche laesst sich begreifen, nur das Begreifliche (Begriffliche) laesst sich besitzen. Wo es keine allgemeingueltigen Begriffe gibt, gibt es nichts, das man  wissen  und damit besitzen kann. Der Hang nach Wissen ist im Grunde nichts anderes, als eine andere Form des Hangs nach Dauer und damit nach Besitz. Verdinglichung ist eine Form des Besitzenwollens. "Die Sprache ist der erste Hebel zur Aneignung. 26) Forschen und Suchen bedeutet im Grunde ein Noch-nicht-Haben. Das ideelle  als-ob  der Begriffe wird Mittel in einem Planspiel der Eroberung und Kolonisierung der Wirklichkeit. "Die Wissenschaft greift die Welt mit Hypothesen an. Sie ist die Fortsetzung jener fuer lebende Wesen so charakteristische angreifende Haltung. 27) Überall sehen wir den Verdinglichungsdrang einer terministischen Logik. In der logischen Abstraktion erstarrt das Lebendige und wird toter Begriff. Je lebloser und abstrakter, desto mehr ist alles unter Kontrolle.

Ein wesentlicher Zweck der Abstraktionen ist es, fuer Ruhe und Ordnung im Denken zu sorgen. Das logische Denken erzeugt einen Zwang zur objektiven und rationalen Betrachtung, die jedem jederzeit einsichtig sein  muss.  Allgemeine Geltung beinhaltet immer die Noetigung zur Anpassung. Ideologische Positionen, wie sie sich aus dem Abstraktionsverfahren ergeben, entlasten vom Zweifel, befreien von seelischen Konflikten und ersparen die Anstrengung des weiteren Nachdenkens. Gehorsam wird weniger durch direkten Zwang und Strafe, als durch die Macht der taeuschenden, ideologischen Überzeugung erzielt.
"Diese  (abstrakten)  Gedankengebilde bestehen naemlich zum erheblichen Teil aus beliebig manipulierbaren  Leerformeln,  die den jeweils schon an der Macht Befindlichen und den noch nach Macht Strebenden gleichermassen zur scheinbaren Rechtfertigung ihrer Positionen, Interessen und Ziele verfuegbar sind." 28)
Denken ist beherrschen, Menschen werden durch willkuerliche Symbolsysteme tyrannisiert, wo wir den Irrtum unangebrachter Verallgemeinerung nicht durchschauen.
"Die Grundtatsache, dass das Subjekt die Wirklichkeit nur durch Zwischenschaltung von Zeichen erfahren kann, wird zum Mittel der Lenkung von Menschen durch Menschen ueber Zeichen." 29)
Im objektivistischen Denken wird der Stellvertretungscharakter der Abstraktionen unterschlagen. Die
"erstickenden Totalisierungen der herrschenden Machtgebilde, die versuchen, mit Hilfe abstrakter Kategorien alles auf einen Nenner zu bringen um damit den Menschen die Verleugnung ihres eigenen Seins und Tuns aufzuzwingen." 30),
werden meist gezielt verschleiert.

Ideologien befriedigen vor allem ein Orientierungsbeduerfnis. Sie erfuellen diese Aufgabe, indem sie aus einer im Grunde sinnlosen Welt eine Wirklichkeit destillieren, die insich schon bestimmte  objektive  Zwecke erkennen laesst. Ideologen postulieren eine natuerliche Notwendigkeit, deren Zwang dann nur noch auf politische und gesellschaftliche Verhaeltnisse uebertragen werden muss. Die ideologische Autoritaet moechte den Machtverhaeltnissen die negative Seite des Zwangs nehmen. Wer ideologisch zu ueberzeugen versteht, braucht nicht mehr gewaltsam niederzuzwingen. Ideologische Wissenschaft ist ein bequemes Instrument des politischen Machtkampfes. Jede wirksame Kritik muss sich deshalb gegen nicht mehr weiter hinterfragte Dogmen und Vorurteile richten, die am meisten in den scheinbar selbstverstaendlichsten Abstraktionen enthalten sind. Die Heimtuecke der Allgemeinplaetze ergibt sich aus der taeuschenden Klarheit, durch welche die Ideologiehaftigkeit solcher Denkweisen verschleiert wird.

Das Wort war immer Quelle und Ursprung aller Entdeckungen. Es war der Schluessel zum Wissen - in Worten oder in Ziffern - das alle Tueren zum Weltverstaendnis oeffnen sollte. Darin bestand die Macht der Woerter und Zahlen. Heute begreifen immer mehr Menschen, dass die Pseudo-Erkenntnis durch Begriffe und Zahlen eigentlich mehr Probleme schafft, als sie loest. Unser menschlicher Geist braucht zwar Begriffe, wenn er ueberhaupt funktionieren soll, doch weitaus wichtiger ist die  vernuenftige  Verwendung derselben.  Vernuenftiges  Denken und Handeln beruecksichtigt die besonderen Umstaende eines konkret lebenden Menschen. Das zeichnet es als  Wert  gegenüber der objektiven Rationalitaet aus. Auch wenn es oft nicht ohne Verallgemeinerung geht, so muessen wir doch bei jeder Verallgemeinerung aeusserst vorsichtig sein.
"Wenn wir uns im Klaren bleiben, dass solche Formeln ganz einfach ein einfaches graphisches Mittel sind, um eine bestimmte Anschauung auszudruecken, und wenn wir den geheiligten Namen der Wissenschaft nicht dazu missbrauchen, unseren eigenen Kram anzupreisen, kann durch unser Vorgehen kein Schaden entstehen." 31)
Wir sind gezwungen in Bildern und Gleichnissen zu sprechen, die nicht genau treffen, was wir meinen, trotzdem koennen wir uns mit diesen Bildern den Sachverhalten irgendwie naehern, aber nur, wenn wir uns von den Bezeichnungen der Dinge nicht taeuschen lassen. Woerter bleiben gleich, aber die Ideen, die Menschen damit verbinden, koennen verschieden sein und sich aendern. Hinter jedem Wort steckt ein immenser Vorstellungsvorrat. Das ist die Ursache fuer viele Missverstaendnisse. Wenn wir die Bedeutung eines Wortes vor und in einem Gespraech nicht genau festlegen, ist es nicht moeglich, eine Frage mit Gewinn zu diskutieren.
"Alles Sprachliche kann immer missverstanden werden. Dass wir uns so oft verstehen, beruth groesstenteils auf dem guten Willen: auf dem Wunsch zu verstehen." 32)
Begriffe dienen nur der mehr oder weniger adaequaten Darstellung unserer subjektiven Erfahrung. Darueber hinaus haben sie keinerlei Legitimation. Generalisierungen selbst sind keine Erfahrungen, sondern Modelle von Erfahrungen. Kategorien sind allgemeine Schemata, entworfene Typen, aber es ist grundfalsch, sie als Realitaeten zu behandeln. Die Maße des Wirklichen sind selbst immer inkommensurabel, d.h. unvergleichlich. Warum wir etwas mit dieser und nicht jener Analogie interpretieren, hat letztlich psychologische Gruende. Die Fiktion besteht darin, das Bild fuer die Wirklichkeit zu halten. Diese Problematik ist aber nicht nur dem Medium  Sprache  eigen, sondern gilt auch fuer alle anderen Medien im umfassenden Sinn. Wer den logischen Schritt zwischen Wirklichkeit und Denkoperation nicht bemerkt, d.h. zwischen Bild und Tatsache, faellt auf den simplen Streich herein, den ihm seine Gewohnheiten spielen. Die Bequemlichkeit der Abstraktionen laesst uns auch den entferntesten Gegenstand als muehelos greifbar erscheinen, ohne dass er es tatsaechlich waere. Der Wortaberglaube, bzw. Bildaberglaube, produziert immer einen Schein von Verstaendigung, der hauptsaechlich dem zum Vorteil gereicht, der das  Spiel  der Abstraktionen zu durchschauen weiss.

Gegen Manipulation wehren wir uns am besten, indem wir uns Klarheit verschaffen ueber den meist unnoetig hohen Grad an Verallgemeinerung. In den herrschenden Denkformen wird die Wirkungsweise der Sprache kaum in Frage gestellt. Die bedeutende Beziehung zwischen Denken und Sprechen wird nicht problematisiert. Die Aufgabe des kritischen Denkens muss es sein, zur Befreiung von der Herrschaft der Kategorien zu gelangen, die seit der griechischen Antike die Interpretation unseres Denkens, Handelns und Hoffens beherrscht haben. Jede wirksame Kritik ist Kritik der Abstraktionen. Die Kritik der Sprache fuehrt ueber die gewoehnlichen Denkformen hinaus. Kritik der Sprache ist Kritik der Objektivitaet, des Rationalismus und der klassischen Logik.
LITERATUR - Laurent Verycken, Formen der Wirklichkeit - Auf den Spuren der Abstraktion, Penzberg, 1994
    Anmerkungen
  1. FRIEDRICH NIETZSCHE, Götzendämmerung, Frankfurt 1985, Seite 44
  2. WENDELL JOHNSON, Verbal Man, ohne Jahr
  3. WILHELM von HUMBOLDT, Über das vergleichende Sprachstudium, 1820, Seite 20
  4. FERDINAND DE SAUSSURE, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967, Seite 86
  5. FRIEDRICH SCHILLER ohne Quelle
  6. KARL JASPERS, Was ist Philosophie, Muenchen 1980, Seite 328
  7. KARL JASPERS, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin/Heidelberg 1990, Seite 82
  8. HERBERT MARCUSE, Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1978, Seite 154
  9. HEINRICH RICKERT, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Stuttgart 1986, Seite 51
  10. J.P. SARTRE in LAING/COOPER, Vernunft und Gewalt, Ffm 1973, Seite 11
  11. ERNST BLOCH, Geist der Utopie, Ffm 1985, Seite 228
  12. HERBERT MARCUSE, Vernunft und Revolution, Neuwied 1977, Seite 76
  13. J.W.N. WATKINS in JOSEF SPECK (Hrsg), Philosophie der Gegenwart I, Goettingen 1979, Seite 207
  14. ERNST TOPITSCH, Erkenntnis und Illusion, Hamburg 1979, Seite 15
  15. HARRY PROSS Zwänge, Berlin 1981, Seite 48
  16. LUTZ BREDLOW in STEFAN BLANKERTZ (Hrsg), Auf dem Misthaufen der Geschichte, Münster/Wetzlar 1978, Seite 28
  17. LIN YUTANG, Weisheit des laechelnden Lebens, Stuttgart 1973, Seite 23
  18. KARL R. POPPER, Logik der Forschung, Tuebingen 1989, Seite XXVII