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EGON FRIEDELL
Der heutige Mensch
[Impressionismus]
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"Um 1890 kam eine wilde, jugendliche, neuerungssüchtige Jakobinerliteratur auf, die in ihrer Bekämpfung alles Akademischen und Klassischen, aller Scholastik und Begriffsromantik und aller idealistischen Staffage - allerdings in sehr verkleinertem Maßstab - an die Sturm- und Drangbewegung erinnerte. Die Natur, die sich immer nur vorübergehend ihre Rechte schmälern läßt, trat wieder in ihre Herrschaft ein, ein wilder Heißhunger nach Realität brach hervor und wurde die Signatur der Zeit. Und wiederum, wie schon so oft, glaubte die junge Generation, sie hätte die Natur zum erstenmal entdeckt."

"Die neuen Vorstellungsmassen hatten nun endlich vom Menschen so vollständig Besitz ergriffen, sie drangen mit solcher Energie und in solcher Fülle auf ihn ein, daß sie ihn gänzlich überfluteten. Die gesteigerte Impressionabilität, hervorgerufen eben durch jene Übermenge der Reize, wird zur Unfähigkeit, etwas anderes zu tun als zu perzipieren. Es wird nur noch perzipiert: die Reaktionsfähigkeit erlischt. Der Mensch vermag die Erfahrung nicht mehr als Einheit zu konzipieren. Im Strom des Bewußtseins tauchen die Eindrücke auf wie vereinzelte Wellen, tauchen auf, gehen unter. Der Impressionismus wird Selbstzweck."

Diese völlige Umkehrung des ursprünglichen Standpunkts, nämlich die Betonung des Primats der Seele, ist nun überhaupt ein spezifisch modernes Kulturferment. Für den naiven Menschen gibt es nur Handlungen; welche Überwindung muß es somit bedeuten, wenn sich nun gar eine Erkenntnis bahnbricht, die genau das Gegenteil behauptet: die Tat ist nicht der Mensch; die Tat ist der Unmensch!"

"Mit der Maschine ist es uns zuerst gegangen wir mit jeder neuen Wirklichkeit. Jede neue Realität steht zunächst da in ihrer nackten, rohen Tatsächlichkeit, als factum brutum, und wir meinen, der Materialismus habe mit ihr einen neuen Sieg errungen. Aber sobald wir uns nur einmal an dieses neue Ungetüm von Tatsache gewöhnt haben, beginnen wir zu erkennen, daß es so etwas wie Materialismus gar nicht gibt und daß alle Materie nur dazu da ist, um vergeistigt, in Geist aufgelöst zu werden. Und die Maschine ist kein Ungetüm mehr."

Es war uns bis jetzt nur möglich, einige verwischte und fast zufällige Züge am Impressionismus zu erkennen. Um über den Menschen von heute, den impressionistischen Menschen einige Klarheit zu gewinnen, müssen wir einen Blick in seine Geschichte tun; wir müssen in aller Kürze die "Grundlagen des 20. Jahrhunderts" betrachten. Es soll aber hier nicht von den Hethitern oder der Völkerwanderung die Rede sein, nicht einmal von HEGEL oder den Befreiungskriegen, sondern bloß vom letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts; auf dieses aber müssen wir einen flüchtigen Blick werfen, denn in dieser Zeitspanne hat sich der heutige Mensch entwickelt. Und zwar in drei Etappen; wir bezeichnen sie mit den Schlagworten: Bourgeoisie, Naturalismus, Fin de siécle.

Die Etappe der Bourgeoisie hat ihren Ausgangspunkt im deutsch-französischen Krieg; sie nimmt ihren Anfang mit den siebziger Jahren und endet mit den achtziger Jahren. Damals betrat in Deutschland zum ersten Mal der Bürger als Hauptperson, als Titelheld die Bühne des öffentlichen Lebens. Es war die Zeit der Gründerkultur, der Philisterdiktatur und der Aristokratie des Geldes. Eine höchst sonderbare Zeit.

Betreten wir die Wohnräume eines mit solidem Wohlstand gesegneten Menschen der siebziger oder achtziger Jahre. Wir bemerken dreierlei. Zunächst: ein völliges Durcheinander aller möglichen Stile, eine absolute Barbarei der Geschmacksmischungen. Die Teppiche sind aus Persien, die Nippes aus dem 18. Jahrhundert, der Salon ist in Empire, das Speisezimmer in Renaissance, das Schlafzimmer in Gotik. Dabei macht sich eine Bevorzugung aller Vielfarbigkeit und Vielförmigkeit geltend. Je gewundener, verschnörkelter, arabesker die Formen, je gescheckter, greller, indianermäßiger die Farben sind, desto beliebter sind sie: am liebsten hätte man das ganze Spekturm beisammen. Die Stilvermischung geht aber noch weiter: es werden auch die einzelnen Künste ineinander gearbeitet und übereinander geschachtelt: ein geschnitzter Wandschrank entpuppt sich plötzlich als Orchestrion, die Täfelung eines Speisezimmer dient zur Aufnahme gemalter Sinnsprüche.

Wir bemerken zweitens eine entsetzliche Überstopfung, Überladung, Vollräumung, Übermöblierung, und zwar vorwiegend mit allerlei Kleinkram, mit Niaiserien. Das sind keine Wohnräume, sondern Leihhäuser und Antiquitätenläden. Endlich drittens beobachten wir einen völligen Mangel an Sinn für Nützlichkeit, für Zweck: nichts als Schaustellung, Parade, Ornament. Wir sehen zu unserem Erstaunen, daß der bestgelegene, wohnlichste und luftigste Raum des Hauses, welcher "gute Stube" genannt wird, überhaupt gar keinem Wohnzweck dient, sondern nur zum Herzeigen für Fremde vorhanden ist; wir erblicken eine Reihe von Dingen, die trotz ihrer Kostspieligkeit keineswegs dem Komfort dienen: Portieren aus schweren, unpraktischen Stoffen wie Rips, Plüsch, Samt, die auffallen und auffallen wollen, denn sie sind zu nichts anderem da; Butzenscheiben und Glasmalereien, sogenannte "Diaphanien", die das Licht abhalten, aber etwas darstellen; Handtücher, mit denen man sich nicht abtrocknen kann, auf die aber der "Trompeter von Säckingen" gestickt ist; Seidenmöbel, die den größten Teil des Jahres mit häßlichen, pauvren [farblos, spärlich - wp] Überzügen bedeckt sind; dünnbeinige Etageren, die immer wackeln und mit permanent umfallenden Flüssigkeiten vollgestellt sind; Kommoden mit geblümten Decken, die das Zumachen der Laden verhindern; Riesenprachtwerke, die man unmöglich lesen kann, weil einem nach fünf Minuten die Hand einschläft, und nicht einmal lesen möchte, weil sie illustriert sind; und als Krönung und Symbol des Ganzen das Makarbukett, eine vollendete Abscheulichkeit und zugleich das idealste Staubreservoir, das man sich denken kann. Kurz: lauter Dinge zum Staatmachen, aber keineswegs geeignet, den Bewohnern das Leben zu erleichtern.

Ins Psychologische gerechnet bedeutet dies dreierlei: Zunächst ist die Stillosigkeit, so oft sie auftritt, ein Zug, der mit Bestimmtheit darauf schließen läßt, daß wir es mit Epigonen zu tun haben. Dies ist keine Besonderheit gerade jener Zeit, es ist ein genereller Zug aller Übergangszeitalter. Zweitens: jener tüftelige, mikrophile Zug, der sich in der Tendenz zur Überladung und zum Kleinkram ausprägt, verrät Zerfahrenheit, Unfähigkeit zur Synthese, Labilität des inneren und äußeren Menschen. Der Hang zur Niaiserie und zum Zuviel ist ein Charakteristikum aller Menschen, die nicht konsolidiert sind. Der Grund dieser Direktionslosigkeit ist der: es kündigen sich neue psychische Inhalte an, aber sie sind noch nicht ergriffen, geschweige denn eingeordnet. Das Dritte endlich: der mangelnde Sinn fürs Praktische und die Vorliebe für repräsentative Talmi [Falschgold - wp] deutet auf Unsachlichkeit und Unnatürlichkeit.

Diese Züge nun trägt das gesamte Geisteslben der Zeit bis in seine kleinsten Äußerungen herunter. Es ist zum Beispiel kein bloßer Zufall oder etwas Äußerliches, daß damals der Vollbart vorherrschte, wie niemals vorher und niemals nachher. Historisch ist er zurückzuführen auf den Demokratenbart der 48er Jahre, der damals verboten und eine Art Tschandala-Abzeichen [niedere Kaste - wp] war und dann mit dem entscheidenden Sieg des Bürgertums zum Ehrenzeichen avancierte. Der Bart ist zunächst eine Maske, und das bedeutet zweierlei: er verbirgt und er nivelliert. Er löscht alle charakteristischen Linien des Mundes, des Kinns usw., er gleicht aus, verwischt; und zugleich zeigt er weniger, als da ist. Er ist aber nicht bloß eine Maske, sondern auch ein Schmuck, eine Draperie, eine Art Ornament im Antlitz; und schließlich drittens ist er überflüssig und unpraktisch, denn er erfordert eine sorgfältige und zeitraubende Pflege. Wir haben also auch in dieser kleinen Äußerlichkeit wieder alle Züge beisammen: Selbstgefälligkeit, Unsachlichkeit, Unaufrichtigkeit. Diese ist überhaupt einer der hervorragendsten Züge jener Zeit: es ist vielleicht niemals mehr gelogen und naiver gelogen worden als damals. Die ganze Auffassung des Lebens in Kunst, Politik, Erotik, Naturbetrachtung als gestellte Idylle ist niemals konsequenter durchgeführt worden, und dies ist umso bemerkenswerter, als gerade das damalige Leben mit seinen neu entfesselten Leidenschaften des Erwerbstriebs dem aufs Äußerste widersprach.

Alle Züge, die das Wesen dieser Zwischenperiode ausmachten, können wir auch in einen zusammenfassen: Lust am Unechten. Und nun kam um die Wende der Achtzigerjahre im Naturalismus jener bekannte Rückschlag, bemerkenswwert vor allem durch die seltene Vehemenz, mit der er erfolgte, in der die ganzen unterirdischen reaktiven Energien von zwei Jahrzehnten zusammengeballt waren. Um 1890 kam eine wilde, jugendliche, neuerungssüchtige Jakobinerliteratur auf, die in ihrer Bekämpfung alles Akademischen und Klassischen, aller Scholastik und Begriffsromantik und aller idealistischen Staffage - allerdings in sehr verkleinertem Maßstab - an die Sturm- und Drangbewegung erinnerte. Die Natur, die sich immer nur vorübergehend ihre Rechte schmälern läßt, trat wieder in ihre Herrschaft ein, ein wilder Heißhunger nach Realität brach hervor und wurde die Signatur der Zeit. Und wiederum, wie schon so oft, glaubte die junge Generation, sie hätte die Natur zum erstenmal entdeckt. Diese ganze Gegenbewegung ist infolge ihrer elementaren Heftigkeit sehr überschätzt worden, sie war viel mehr eine Restauration, eine Wiederherstellung der vernünftigen und gesunden Kunstprinzipien als eine Revolution, sie war wirklich nur ein bloßer Gegenstoß, der seine lebendige Energie weniger aus sich selbst als aus der Kraft des Zusammenstoßes zog; aber sie hat sehr reinigend gewirkt; sie hat vor allem weggeräumt, Platz gemacht. Der Naturalismus nahm übrigens von der schönen Literatur nur seinen Ausgang; er ergriff allmählich alle Gebiete und kam bald sämtlichen Künsten und Wissenschaften, der Politik, dem Wirtschaftsleben zugute und drückte der ganzen öffentlichen Physiognomie seinen Stempel auf. Die zunehmende Vernatürlichung des europäischen Menschen hat in der Tat von jenem Zeitpunkt an mit voller Entschiedenheit eingesetzt: in der Vernatürlichung der Natur, die nicht mehr anthropomorph betrachtet wird, sondern allmählich wirklich natürlich, natura wird; in der Vernatürlichung der Philosophie und Erkenntnistheorie, die immer mehr ihr Grundproblem in der Frage erblickt: wie ist das, was wir "Wahrheit" nennen, als eine Art Anpassungseinrichtung des Menschen an die umgebende Außenwelt zu begreifen; in der Vernatürlichung unserer Rechtspflege und Politik, die immer mehr dazu gelangt, in den Staatsfragen bloße Macht- und Wirtschaftsprobleme und in den Kriminalfragen bloße Problem der sozialen Hygiene zu erblicken; in der Vernatürlichung des Wohnraums, der sich ins Praktische, Einfache, Selbstverständliche entwickelt: gutes Material, klare Linien, einfarbiger Wand- und Bodenbelag, gesunde, starke Farben; Zweckmäßigkeit der Möbel sogar als dominierender Gesichtspunkt; Schmuckformen, soweit sie überhaupt vorhanden sind, mehr als eine Art Pikanterie und Marotte. Auch unsere gesellschaftlichen Formen werden zusehends ungekünstelter, gewissermaßen ornamentloser; die Titulaturen werden möglichst eingeschränkt, die konventionellen Gesellschaftslügen sinken zu Atavismen [Wiederholungen - wp] oder bloßen Redewendungen herab; knappere Allüren setzen sich allmählich durch. Man schreibt nicht mehr "Wohlgeboren"; bei Tisch wird nicht mehr genötigt. Solche "Bagatellen" sind bekanntlich immer gerade das Allersymptomatischste.

Nun muß man sich klarmachen, daß die Entwicklung der menschlichen Kultur sich zwar ununterbrochen in der Richtung des Naturalismus bewegt, aber nicht geradlinig, sondern in einer Wellenlinie. Das Uranfängliche jeder Entwicklung ist zunächst immer ein Naturalismus; mit zunehmender Zivilisation begibt sich jedoch der Mensch regelmäßig vom Naturalismus weg, und man kann daher sagen: Kultur trägt immer die Tendenz zur Entnatürlichung in sich. Der Geist ist zunächst für den Menschen etwas so Neuartiges, Paradoxes, seiner innersten Anlage Heterogenes, daß er ihn anfänglich immer dazu benützt, ihn gegen die Natur auszuspielen. Erst ganz spät gelingt es ihm wieder, zur Natur zurückzukehren: wenn er sich ebenso hoch über den Geist erhoben hat, als er sich seinerzeit über die Natur erhob. Um die Gleichung: auch Geist ist Natur, einzusehen, geschweige denn zu leben, bedarf der Mensch unendlich langer und schwieriger Überwindungen. Die Rückkehr zur Natur, wie sie ROUSSEAU predigte - eine kindische, weltfremde Velleität [zögerndes Wollen - wp] darf daher nicht mit jener wirklichen Vernatürlichung verwechselt werden, die niemals Programm sein kann, aus dem einfachen Grund, weil sie sich ganz von selbst vollzieht. Schon oft haben geistig hochstehende Zeitalter diese Entwicklung organisch vollzogen: die Griechen um PERIKLES; die Italiener und Engländer der Renaissance; die Deutschen am Ende des 18. Jahrhunderts, die wir "klassisch" nennen, weil sie eminent natürlich waren. Der Mensch aber entfernt sich dann regelmäßig wieder von der Natur, jedoch nur, um den Prozeß auf einer höheren Stufe von Neuem aufzunehmen. Die Linie ist daher, genauer gesagt, keine Wellenlinie, sondern eine steigende Spirale. Steigender Naturalismus hat daher immer die Bedeutung zunehmender Kultur, zunehmender Selbstsicherheit und Synthese, zunehmenden Selbstbewußtseins: das Wort in seinem doppelten Sinn genommen; wie steigende Nervosität anzeigt, daß sich geistige Neubildungen vorbereiten, Neubildungen ganz im medizinishen Sinn, die immer mit Krankheitssymptomen Hand in Hand gehen.

Dies führt uns zur dritten Etappe, die etwa das letzte Jahrfünft des vorigen Jahrhunders umfaßt und - vermutlich von einem Parfümfabrikanten - den Namen Fin de siécle erhalten hat. Um es kurz zu sagen: die geistige Verfassung des Fin de siécle bedeutet den endgültigen Sieg des Impressionismus; aber Sieg im Sinne einer Besiegung, einer völligen Überwältigung. Die neuen Vorstellungsmassen hatten nun endlich vom Menschen so vollständig Besitz ergriffen, sie drangen mit solcher Energie und in solcher Fülle auf ihn ein, daß sie ihn gänzlich überfluteten. Die gesteigerte Impressionabilität, hervorgerufen eben durch jene Übermenge der Reize, wird zur Unfähigkeit, etwas anderes zu tun als zu perzipieren. Es wird nur noch perzipiert: die Reaktionsfähigkeit erlischt. Der Mensch vermag die Erfahrung nicht mehr als Einheit zu konzipieren. Im Strom des Bewußtseins tauchen die Eindrücke auf wie vereinzelte Wellen, tauchen auf, gehen unter. Der Impressionismus wird Selbstzweck.

Zugleich treten Lähmungserscheinungen auf. "Niemand", sagt GRILLPARZER, "ist so in Gefahr, stumpf zu werden als der höchst Reizbare." Es ist, als ob er damit jene Zeit vorausgeahnt hätte. In der Tat: Stumpfheit und höchste Reizbarkeit sind ihre Generalzustände, halten sich die Waage. Es ist die Zeit der Willenshemmungen, Abulien [Unentschlossenheit - wp], zugleich der Neurasthenien [Erschöpfungen - wp], Psychosen: es ist der Krisiszustand des modernen Geistes, wie jede Krisis charakterisiert durch Erschöpfungszustände, Neurosen, Fiebererscheinungen.

Der Grundzug ist die fast pathologische Verinnerlichung des Menschen. Es ist die Verfassung aller echten Werdezeiten, der Schwangerschaftszeiten der Geschichte. Denken wir an das Zeitalter der Empfindsamkeit und an die deutsche Spätromantik. Man rege sich nicht unnötig auf: es war immer so und wird hoffentlich noch oft so sein. Die Innenwelt überwuchert gewissermaßen die Außenwelt, zieht sie in sich hinein, löscht sie aus. Man kann das ganze Jahrhundert bis dahin das expressionistische nennen. Es ist eine Zeit der Überschätzung der Innenwelt, gleich der Wertherzeit, und der Unterschätzung der Außenwelt, gleich der Fichtezeit, eine Zeit des Psychomonismus. Wahr ist nur das Leben der Seele; Handlungen sind unprägnant, zufällig, Kompromisse mit fremden Faktoren, bestenfalls eine mittlere Proportionale zwischen Innenwelt und Außenwelt. Es gibt nur eine Realität: die Seele.

Diese völlige Umkehrung des ursprünglichen "natürlichen" Standpunkts, die Betonung des Primats der Seele, ist nun überhaupt ein spezifisch modernes Kulturferment. Die Entwicklung unserer Rechtsbegriffe zeigt ganz deutlich, daß die Auffassung anfangs genau die entgegengesetzte war. Für den naiven Menschen gibt es nur Handlungen; und zwar war der Fortschritt zur Wertung der Handlungen nach Motiven schon ungeheuer und muß sehr viel Zeit gebraucht haben; denn zunächst sah man in einer schlechten Handlung nichts anders als eine einfache Gleichgewichtsstörung im sozialen Organismus und beantwortete sie dementsprechend mit einem mechanischen Gegenstoß, der ebenfalls nicht psychologisch gewertet wurde. Der Begriff des dolus [böser Vorsatz - wp] der im modernen Recht fast ausschließlich den Gesichtspunkt abgibt, war schon eine sehr große Errungenschaft und ist gar nicht etwa von Anfang an ein selbstverständliches Ingrediens [Zutat - wp] des europäischen Rechtsgefühls gewesen: man denke doch nur an die Behandlung der Irrsinnigen, der Leprakranken, der Hysterischen ("Hexen") im Mittelalter; sie wurden keineswegs als etwas vom Verbrecher Verschiedenes angesehen, sondern alle unter dem gemeinsamen Gesichtspunkt des "Unsozialen". Welche Überwindung muß es somit bedeuten, wenn sich nun gar eine Erkenntnis bahnbricht, die genau das Gegenteil behauptet: die Tat ist nicht der Mensch; die Tat ist der Unmensch!

Eine derartige Weltanschauung muß jedoch notwendig zum Skeptizismus und weiterhin zum Indifferentismus führen. Denn so sicher die Geringschätzung positiver Handlungen mit steigender Vergeistigung des Menschen sich vergrößern muß, so sicher ist dennoch ein handlungsreiches Leben, die vita activa für die geistige Gesundheit des Menschengeschlechts unerläßlich, nicht wegen der Resultate, sondern wegen des Prozesses, in dem die Tat wird, wegen ihrer Bedeutung für den geistigen und sozialen Stoffwechsel. "Handlungen" haben neben ihrem zweifelhaften moralishen Wert noch einen unbezweifelbaren hygienischen Wert. Wenn man erkannt hat, daß ein Mensch, der seinen höchsten Ehrgeiz darein setzt, den Großglockner bestiegen zu haben, ein Narr ist, so hat man damit noch lange nicht erkannt, daß jeder Mensch, der den Großglockner besteigt, ein Narr ist.

Die wenigen Züge echter Dekandenz in der modernen Entwicklung sind in der Tat nur jenem Zeitkreis zu entnehmen. Zunächst das Hervortreten der Deklassierten, der Überläufer, der Zwischentypen, Die Stände vermischen sich; es wird eine Art Ehrgeiz, mit dem Stand, in dem man geboren ist, zu brechen; Zwischenkünste drängen sich hervor und reißen die Hegemonie an sich: vor allem der Zwischenkünstler par excellence, der Schauspieler. Die Entdeckung des Schauspielers in allen Künsten ist das Werk dieser Zeit. Und die hier dominierenden Typen: der Redner, der Prediger, der Virtuose, der Theaterschriftsteller, der Schauspieler selbst, sie haben alle ein Gemeinsames: sie exzellieren durch einen auffälligen Mangel an Hemmungen. Es ist dies immer ein geistiges Niedergangssymptom. Es ist nicht ausgeschlossen, daß wir eines Tages aus Kultur wieder zu jener Auffassung zurückkehren werden, die frühere Zeiten aus Unkultur hatten: daß der Schauspieler etwas Minderwertiges, Unvornehmes, Domestikenhaftes, Anrüchiges ist, jedenfalls kein Gentleman.

Vorläufig steht es jedoch umgekehrt: jeder geistige Arbeiter wird genau in dem Maße geschätzt, in dem er Schauspieler ist: der Maler, inwieweit er "Stimmung" hat, der Dichter, inwieweit er "schreiben" kann usw.k Wenn man über den "Geist der Zeit" etwas erfahren will, so ist es immer am Besten, bei den Frauen anzufragen, dem fleischgewordenen Grundwillen des Zeitalters. Unsere Großmütter schwärmten für den Professor, unsere Mütter für den Leutnant, aber eine junge Dame von heute wird einen Schauspieler vorziehen.

Diesen Menschen der interessanten Degeneration, den unausgeglichenen Zwischenmenschen, der den Prolog der kommenden Kultur spricht, hat niemand lebendiger und eindrucksvoller zusammengefaßt als der Schauspieler JOSEF KAINZ; KAINZ, der die Sätze zerhackte oder zersprudelte und ihnen gerade dadurch eine neue merkwürdige Schönheit verlieh; der in seinen Gesten, seinem Mienenspiel, seiner flackernden Durchgeistigung des Körpers gewissermaßen stilisierte Fahrigkeit war; der in allen Gestalten, die er darstellte - einerlei ob es SHAKESPEARE, IBSEN oder NESTROY war - den Menschen des ausgehenden 19. Jahrhunderts vibrieren ließ: den typischen mal équilibré [Unausgeglichenen - wp] aus seelischer Überfülle, den Menschen der überwiegenden Intellektualität, in dem Kopf und Herz noch keine organische Synthese gebildet haben, den Übergangsmenschen, der überreif ist aus Unfertigkeit, den provisorischen Menschen, der aus Surrogaten: Verstand, Fleiß, Wissen aufgebaut ist, vorwiegend ein Produkt des Kalküls, genauer Ineinanderfügung und exakter Beherrschung der Teile, einer sehr subtilen und leistungsfähigen Präzisionsmaschine vergleichbar, eine Art gelungener homme machine; im Grunde die Erscheinung gewordene pure, kalte, sterile Intelligenz, die niemals an sich und ihren Problemen wirklich gelitten hat, sondern sich immer über sich selbst stellt, was aber nicht Superiorität [Überlegenheit - wp], sondern Inferiorität [Unterlegenheit - wp] bedeutet; und in der Tat: seine beste Rolle war der Mephisto. Es war nicht seine beste: es war seine einzige. Denn die Tragödie des Mephisto ist die Tragödie der reinen Intelligenz, die allemal scheitern muß, wenn sie es versucht, sich zum Alleinherrscher zu machen. Mephisto ist ein hochdifferenzierter Gehirnmensch und der konsequenteste Vertreter der genialen Ichsucht; und dasselbe war JOSEF KAINZ; und dasselbe der homme fin de siécle.

Diese Zeit war dekadent; denn sie besaß kein Herz.

Bei der ziemlich pessimistischen Untersuchung des modernen Geistes, die bis jetzt versucht wurde, haben wir hoffentlich nicht ein einziges Mal vergessen, daß von Vergangenheit die Rede war. Jetzt wollen wir von der Gegenwart sprechen. Inwieweit sind diese Entwicklungskrankheiten des modernen Menschen - denn anders können wir ja diese drei Phasen nicht bezeichnen, noch im heutigen Menschen vorhanden, inwieweit überwunden? Da muß zunächst vorausbemerkt werden, daß diese Dreiteilung, wie jede Einteilung, eine mehr oder weniger willkürliche ist. Es handelt sich eigentlich in allen drei Fällen um dieselbe Erscheinung: um den Impressionismus. Schon in der Stillosigkeit, Zerfahrenheit und Mikrophilie, den Hauptmerkmalen der bourgeoisen Etappe, liegt ein ausgesprochen impressionistisches Element. Und noch mehr fließen die beiden zweiten Etappen ineinander, sie sind oft fast identisch. Denn was ist jene nervöse Verinnerlichung des Fin de siécle anderes, als ein verstärkter, vertiefter Naturalismus, ein Zurückgehen auf noch realere Realitäten: auf die neurologischen?

Um es kurz zu sagen: das Thema sind in allen drei Phasen die neuen psychischen Inhalte und ihre Einverleibung. Diese neuen Inhalte treten hervor mit Beginn der Siebzigerjahre, und es vollzieht sich nun ein Schauspiel, das sich in der Geschichte mit ziemlicher Regelmäßigkeit wiederholt. Zunächst werden ja neue Inhalte immer als etwas Lästiges empfunden: sie komplizieren die Erfahrung und erschweren den Überblick über das Dasein, zudem enthalten sie immer ein revolutionäres Element. Das Nächste, was der Mensch in seiner Denkfaulheit tut, ist daher, daß er versucht, sie wegzuschieben, wegzulügen, er tut, als ob sie gar nicht da wären oder als ob sie in die alten Formen passen würden: dies ereignet sich im ersten Akt, in der Etappe der Bourgeoisie. Man probiert - bewußt oder unbewußt - ob sich die neuen Nahrungsmittel nicht verfälschen lassen. Auf die Dauer aber geht so etwas nicht, der Schwindel kommt auf, und eine neue aufgeklärte Generation macht sich nun mit größtem Eifer daran, die neuen Inhalte vorläufig einmal einzuregistrieren. Zunächst ist das eine ganz mechanische Tätigkeit, eine rein aktenmäßige Protokollierung und Inventuraufnahme, die einfach die neuen Dinge aufschreibt, abschreibt, einschreibt: diese Aufgabe erfüllt sich auf der Stufe des Naturalismus. Oder: um im Bild von den Nahrungsmitteln zu bleiben: die neuen Nährstoffe werden zerkleinert, aufgelöst, in einen verdaulichen Zustand gebracht. Auf diese Etappe folgt dann schließlich die der organischen Einverleibung; die neuen Nahrungsmittel werden resorbiert, verdaut, mit allen Begleiterscheinungen dieses Zustandes: nennen wir diese Stufe die der Verdauungsträgheit. Auf diese muß dann notwendigerweise ein Abschnitt folgen, in dem die neuen Materialien endlich ihren wirklichen Zweck zugeführt werden: nämlich sich in Wärme und Muskelkraft umsetzen, die Gesamtvitalität erhöhen und lebendige Arbeitsenergie spenden.

Inwieweit sind nun die Charaktere dieser drei Etappen im Menschen des 20. Jahrhunderts enthalten und - wie wir wohl erwarten dürfen - weiterentwickelt? Inwiefern ist er die Resultante aus diesen drei Komponenten?

Was zunächst die Bourgeoisie anlangt, so ist sie schon darum ein Bestandteil auch des heutigen Seelenlebens, weil sie die Grundfarbe unserer ganzen modernen Kultur bildet. Die moderne Kultur ist eine bourgeoise; sie ist weder in den Händen des Klerus wie im Mittelalter noch in den Händen einer ritterlichen Nobilität wie zu den Zeiten des Minnesangs oder eines Hofadels wie zur Zeit LUDWIGs XIV. Sie ist exklusiv bürgerlich. Wenn wir heute an die geistigen Typen, die kulturtragenden denken: an den Künstler, den Dichter, den Denker, so erscheint vor unseren Augen immer ein schlicht gekleideter, einfacher Bürgersmann von bürgerlicher Herkunft, bürgerlicher Umgebung, bürgerlichen Sitten und bürgerlichen Zielen; genau so wie beim Wort "Mittelalter" vor unseren Augen sogleich ein prächtig gekleideter Ritter zu Pferd auftaucht, oder auch ein Mönch, der im düsteren Refektorium über Folianten grübelt, oder wie das Wort "Rokokokultur" mit der Vorstellung königlicher Prunksäle, galanter Höflinge und glänzender Mätressen untrennbar assoziiert ist. Man muß bei Bourgeoisie durchaus nicht gleich an den Philister denken; wir brauchen nur das Wort "Goethe" auszusprechen, um sofort zu wissen, was unter dieser vornehmen Bürgerkultur gemeint ist. Daß nahezu alle bedeutenden Geister der neueren Zeit recht eigentlich die tiefsten Widersacher des Bürgertums und der bürgerlichen Weltanschauung waren, beweist den ganzen Tatbestand, statt ihn zu widerlegen. Sie waren eben bourgeois-outsider. Nur ein Jude konnte die Idee des Judentus in ihrem innersten Kern auflösen; nur ein katholischer Priester konnte den Katholizismus vom Tiefsten aus verneinen; nur ein durch und durch theologisch und moralisch orientierter Geist konnte Antichrist und Immoralist werden. Und war es nicht Graf MIRABEU, der die französische Revolution ins Rollen brachte? Um etwas mit der tiefsten Leidenschaft bekriegen zu können, muß man aufs Tiefste daran leiden können, und um daran wirklich leiden zu können, muß man es sein.

Wir haben schon erwähnt, daß die Begleiterscheinung zunehmender Kultur auch ein zunehmender Naturalismus ist, und da wir von der Annahme ausgehen, daß wir uns in einer solchen fortschreitenden Bewegung befinden, so dürfen wir erwarten, daß der Mensch von heute um nichts weniger naturalistisch sein wird als der Mensch der Neunzigerjahre, ja sogar naturalistischer. Und dies ist dann auch in der Tat der Fall; nur vollzog sich diese Entwicklung nicht mehr unter dem Druck irgendeines literarischen Programms, sondern unter der Einwirkung eines bislang sehr verachteten Wesens: der Maschine.

Mit der Maschine ist es uns zuerst gegangen wir mit jeder neuen Wirklichkeit. Jede neue Realität steht zunächst da in ihrer nackten, rohen Tatsächlichkeit, als factum brutum, und wir meinen, der Materialismus habe mit ihr einen neuen Sieg errungen. Aber sobald wir uns nur einmal an dieses neue Ungetüm von Tatsache gewöhnt haben, beginnen wir zu erkennen, daß es so etwas wie Materialismus gar nicht gibt und daß alle Materie nur dazu da ist, um vergeistigt, in Geist aufgelöst zu werden. Und die Maschine ist kein Ungetüm mehr.

Man wirft unserer Zeit vielfach vor, sie sei prosaisch, aber, näher zugesehen, ist das nichts als die Umschreibung für zwei sehr ehrenvolle Tatsachen: nämlich daß wir realer, reeller geworden sind, und daß wir mehr arbeiten.

Die Maschine ist die souveräne Beherrscherin unseres gegenwärtigen Lebens. Nun das leugnet niemand; was aber höchst verwunderlich ist: diese brutale, rohe, seelenlose Tyrannin, die alles, was wir für schön, wahr, gut und überhaupt für ideal hielten, zwischen ihren fühllosen Zähnen und Rädern zu zermalmen drohte, beginnt nun allmählich unsere geistige Führerin zu werden: unser Geschmack, unsere Ethik, unser Pathos, unsere ganze seelische und körperliche Haltung fängt an, sich am Vorbild der Maschine leise und halb unbewußt umzumodeln, und erstaunlicherweise: das Verhältnis kehrt sich um; wir glaubten, der Mensch habe die Maschine gemacht, aber O nein: - die Maschine macht den Menschen.

Dies zeigt sich zunächst in unserem veränderten Körperideal. Die Griechen und die Renaissancemenschen hatten das Ideal des schönen Körpers, wie sich ihn der bildende Künstler ausgedacht hat, des Körpers im freien, kraftvollen Spiel der Muskeln und Bänder, den Ringer- und Athletenkörper im Grunde; und alle Griechen waren geglückte oder verunglückte Athleten. Dann kam die Zeit einer einseitigen Geisteskultur: religiös im Mittelalter, gelehrt in den Zeiten des Humanismus und der Klassik, poetisch in der Periode der Romantik. Der Körper, nicht mehr geübt und gepflegt, wurde häßlich. Der menschliche Instinkt, nie verlegen um Sophismen, konnten einen solchen Körper nicht willkürlich für schön erklären, aber er tat etwas anderes: er erklärte ihn für belanglos. An dieser Auffassung vermag unsere Zeit jedoch nicht mehr festzuhalten; daß der Körper ein bloßes, verpfuschtes Anhängsel des Geistes ist, einer solchen Deutung widerstrebt nicht nur unsere monistische Philosophie, sondern auch unsere Instinkte: denn die Zeit, in der wir leben, ist nicht nur eine geistige, sondern auch eine naturalistische. Jedoch: die erste Vorbedingung schöner Körper, eine ausgiebige, fast ununterbrochene Leibeskultur ist nicht mehr erfüllbar, dazu ist unser Arbeits- und Bildungsbedürfnis zu sehr gewachsen: wir haben keine Zeit mehr. Zudem: wir sind für das Ideal eines schönen Körpers im kanonischen Sinn der Bildhauer auch schon viel zu vergeistigt; denn ein solcher Körper ist immer ein durch und durch animalischer, ein ungeistiger Körper, nichts als der Ausdruck prachtvoller tierischer Funktionen, gleich dem Raubtierkörper. Also: den schönen Körper der Alten konnten wir nicht mehr haben, und den häßlichen Körper von heute wollten wir nicht mehr haben. In diesem Dilemma erwuchs uns ein neues Ideal: der praktische Körper. Was praktisch ist, ist schön. Was praktisch ist, ist auch durchgeistigt, denn es ist der Ausdruck einer intensiven intellektuellen Arbeit, eines überlegenen Kalküls. Was praktisch ist, ist aber auch wenig entwickelt, nämlich nur im Nötigsten entwickelt, ist dünn, zart, sparsam gebaut. Und dies ist in der Tat das moderne Körperideal: ein möglichst leichter, beweglicher, veränderlicher, empfindlicher und dabei doch höchst präzise funktionierender, auf das Peinlichste zentralisierter Bewegungsapparat, und ebendarum, trotz seiner Kraft, Vitalität und Leistungsfähigkeit, durchaus nichts Robustes, Massives, sondern ein feines, differenziertes Meßinstrument der Seele. In dieser Synthese finden sich plötzlich die beiden scheinbar divergenten Bedürfnisse unserer Zeit zusammen: Kraft und Empfindlichkeit, Realismus und Verinnerlichung. Und was ist dieser Körper, wenn man ihn ins Vollkommene idealisiert? Eine Maschine.

Wir sehen: die abscheuliche Maschine nimmt schon freundlichere Züge an. Aber sie ist nicht bloß ein physisches Vorbild, sie ist auch ein ästhetisches und ethisches. Übersichtlichkeit, Geradlinigkeit, Sparsamkeit der Konturen, Vereinfachung fast bis zum Schematischen: dies wird allmählich der Kanon des modernen Geschmacks. Vorläufig nennt man überflüssige Linien, Farben und Formen, alle Arten von Schnörkel, Dekors und Koloraturen bloß unelegant; eines Tages wird man sie häßlich nennen. Was ist das Prinzip der Maschine? Erstens höchstmögliche Einfachheit; zweitens straffste Organisation, die alle Details einem Zentralzweck unterordnet; drittens möglichste Ausnützung der Mittel. Nun, und dies ist ganz einfach die Definition des modernen Kunstwerks. Die Maschine ist ein ästhetischer Kanon.

Sie ist auch ein ethischer Kanon. Indem wir der täglichen Arbeit dieses so moralischen, pflichttreuen, wortkargen, zielbewußten Wesens zusahen, hat sich unsere ganze Ethik vermännlicht, in eine neue Art Männlichkeit, die unpathetische, die sich zu der früheren Art des männlichen Ethos etwa verhält wie das heutige Körperideal zu den strotzenden, überquellenden, kraftprotzigen Körpern der Renaissance. Man kann übrigens nicht einmal sagen: unpathetisch; es entwickelt sich bloß ein neues Pathos, das Maschinenpathos, das rhythmische, ratternde, knatternde Pathos eines Eisenwalzwerks, eines Schraubendampfers, eines Artilleriefeuers, einer Dynamohalle, in der Stempel, Räder, Treibriemen, Transmissionen, Ankerwerke, Turbinen ihren ungeheuren Chor anstimmen, erfüllt von einem neuen Pathos, dem Pathos der Arbeit, das seine eigene Schönheit, seine eigene Musik hat.

Und selber unsere Betrachtung der Natur steht unter dieser Einwirkung. Die Augen des Menschen sehen immer nur genau so viel, als sie dringend nötig haben: die Natur ist sparsam. Oder theologisch ausgedrückt: der Mensch sieht die Dinge immer erst, wenn er sie sehen darf, wenn es ihm zugutekommt, sie zu sehen. Es ist kein Zufall, daß erst in unserer Zeit die Idee um sich gegriffen hat, die Natur sei zweckmäßig ohne alle Sentimentalität. Wir "erkennen" sie heute als das, weil wir erst jetzt das Recht erworben haben, sie so zu erkennen, weil wir erst jetzt zu dieser Erkenntnis reif sind. Es steht nicht in unserer Macht, Irrtümer "abzulegen", wie man Kleider ablegt, weil einem andere besser gefallen; sondern erst, wenn wir unsere Irrtümer nicht mehr brauchen, wenn sie wirklich "aufgetragen" sind, erst dann entsteht in uns die Kraft, sie abzulegen. Nach welchen Gesetzen die Natur wirklich verfährt, werden wir selbstverständlich niemals erfahren. DARWIN hat nicht mehr Recht als MOSES; nicht die Natur ist darwinistisch, aber der heutige Mensch ist es.

In der Tat: dies ist der ganze Wert der modernen Naturphilosophie. Wir haben in der Natur ein neues Paradigma, nach dem wir unser eigenes Leben einzurichten haben. Die Natur hat niemals zu etwas anderem gedient als dazu, dem Menschen ein großes Modell zu sein, das er vor sich aufrichten konnte. Ich bin überzeugt, wenn ein Zauberer käme, der die Gabe hätte, das Netzhautbild zu rekonstruieren, das eine Waldlandschaft im Auge eines schönheitstrunkenen Atheners um PERIKLES abgezeichnet hat, und dann das Netzhautbild, das ein Kreuzritter des Mittelalters von derselben Waldlandschaft empfing, es würden zwei ganz verschiedene Gemälde sein; und wenn wir dann selber hingingen und den Wald anblickten, wir würden weder das eine noch das andere Bild in ihm wiedererkennen.

Was uns heute an der Natur entzückt, ist ihre vollendete Zweckmäßigkeit. Eine Eiche ist immer noch die schönste Sache der Welt, aber nicht als "Sitz der Dryaden" oder als "Symbol der deutschen Treue", sondern weil sie das Praktischste und Vernünftigste ist, das sich denken läßt. Es gibt nichts Romantischeres und Poetischeres als zum Beispiel Pflanzenphysiologie oder Tiefseebiologie, darin ind wahrhaftig mehr amüsante und spannende Dinge enthalten als in einem Roman, und schönere Bilder als in einem Kunstalbum. Die Natur hat für uns also nicht an ästhetischem Reiz verloren, sondern gewonnen.

Die Grundparole der Natur ist: Rekord, und das ist auch die Parole des heutigen Menschen. Wir sind alle im Grunde unseres Wesens "Rekordbrecher", oder wollen es doch zumindest sein. Wer behauptet, daß hierin etwas Materialistisches, Prosaisches liegt, der versteht den tiefsten Grundwillen der Zeit nicht. Rokokomenschen haben eben auf unserem Planeten derzeit keine Lebensmöglichkeiten.

Leistung, Arbeit in einem streng physikalischen Sinn, das heißt: möglichst hohe Energieproduktion unter möglichst geringem Energieverbrauch; möglichst vollständige Ausnützung der Mittel bis auf letzte; Zentralisierung, Sammlung und Kompresson der Kräfte; raffinierte Ladung und Entladung: das ist der Grundsinn und Grundwille, das Ideal unserer Zeit. Ein Ideal wie jedes andere. Sollte es weniger den Anspruch auf diese poetische Bezeichnung haben, weil es unpoetischer, d. h.: weniger romantisch, romanhaft und kindisch, weil es menschlicher geworden ist? Man muß darauf mit Nein antworten. Dieser Maschinenwille unserer Zeit, der gerade unsere Besten vorwärtstreibt, zu immer höheren Kraftleistungen, zu einem Leben unter dem Hochdruck von zehntausend Volt, zur Kraftleistung fast als Selbstzweck -: er ist unser moderner Dämon, und jede Zeit hat eben den ihrigen.

Wir könnten vielleicht den Grundzug unseres Zeitalters mit dem Schlagwort "sachlicher Idealismus" zusammenfassen. Es ist ein Idealismus, der aus der Sache hervorgeht und sich an den Sachen entwickelt, ein immanenter, empirischer, induktiver Idealismus. Der Realismus des späten GOETHE; die Realpolitik BISMARCKs; das naturistische Drama IBSENs; die Philosophie des Pragmatismus; die Sozialethik, wie sie in den Tendenzdramen GEORGE BERNARD SHAWs zum Durchbruch gelangt: - all dies sind nur Synonyme dafür. Nichts anderes ist auch der vielverschriene ethische Individualismus. Er ist eine durch und durch idealistische Ethik wie jede andere (denn es gibt keine andere), aber dabei eine sachliche Ethik, eine Ethik, die sich lediglich an den wirklichen Sachen orientiert, d. h. an den jeweiligen, in jedem einzelnen Moment unseres Daseins gegebenen besonderen Konstellationen der Beziehung zwischen Mensch und Gesellschaft. Nur darum hat sie das ethische Gesetz aufgegeben; weil "Gesetz" in diesem Fall soviel bedeuten würde wie Schablone, Unpersönlichkeit, Kompromiß mit gewissen abstrakten, außermenschlichen Faktoren, somit: etwas Unethisches. Denn es ist bisher nur eine einzige ethische Erscheinung in der Entwicklung der Erde hervorgetreten: der Mensch. Was wir sonst noch Ethik nennen, ist nichts als Projektion des Menschen in die Natur, die ansich weder ethisch noch unethisch ist, sondern eben außermenschlich, außerethisch. Die Vervollkommnung der Ethik, ihre Höherentwicklung von einem etwas subtileren corpus civile zu einer wirklichen moralischen Beziehung zwischen Mensch und Leben, zu einer Ethik in jedem Augenblick (und daher natürlicherweise zu einer Augenblicksethik): das ist der Sinn der großen ethischen Revolution, die unsere Zeit erfüllt. Was ist der "kategorische Imperativ", was ist der "Altruismus"? Lauter Eselsbrücken für Denkfaule und Tatfaule. Man will ein ethisches Gesetz, das unverbrüchlich für alle gilt, weil man zu wenig moralisches Talent besitzt, um in jedem Augenblick das Richtige zu tun, alle Komponenten zu überblicken und die in jedem einzelnen Fall allein berechtigte moralische Schlußfigur aufs Neue zu bilden. Man ist unsachlich, denn man will den Tatsachen mit Abstraktionen beikommen; man ist unidealistisch, denn man will sich nicht weiterentwickeln; man ist ungesund, denn man verschmäht die natürlichen Beziehungen zu den Menschen und Dingen. Und all diese Eigenschaften wirft man dann dem revolutionären, dem fortschrittlichen Ethiker vor. Selbstverständlich.

Über die "survivals" (um einen Ausdruck englischer Ethnologen zu gebrauchen), die aus dem Fin de siécle herüberragen, braucht wenig gesagt zu werden. Es ist der Neurologismus, den wir von dort übernommen und nur verstärkt und vertieft haben, "überwunden" haben, aber beileibe nicht in dem Sinne, daß wir ihn abgetan haben. Wir sind keine "Nervenbündel" mehr; aber die alten Herren mögen sich darüber nicht zu früh freuen, es ist durchaus keine Rückkehr zu dem biederen unkomplizierten Wesen der guten alten Zeit. Wir haben die Nerven überwunden, aber eine Sache überwinden heißt nicht: sie zur Türe hinauszuwerfen, sondern sie sich einverleiben. Das Christentum hat die Antike überwunden, aber nur dadurch, daß es sie erhöhte; GOETHE hat den Sturm und Drang überwunden, aber nur dadurch, daß er ihn zu einer vollendeteren Form auskristallisierte. Denn in dieser lächerlichen Art und Weise, wie es sich die Schulmeister vorstellen, entwickelt sich die Kulturgeschichte nicht. Jede spätere Zeit ist in ihrer Art eine höherstehende; gleichwohl gibt es die berühmte Wellenbewegung, aber nicht etwa in der Weise, daß einmal ein "guter Jahrgang" von braven Schülern kommt, und dann ein schlechter, die die Klasse wiederholen muß, sondern es werden abwechselnd alte Komplexe aufgelöst und neue gebildet, es alternieren Dissonanzen und Harmonien, Disgregationen und Integrationen, Zersetzungen und Synthesen. Immer müssen zuerst die neue Extreme heraus; es muß die ganze Peripherie des menschlichen Bewußtseins erweitert, gedehnt, gestreckt werden, und eine zentrifugale, exzentrische Geisterverfassung ist daher immer die Nachwirkung einer vorangegangenen Konzentration, aber auch die Ankündigung neuer, zukünftiger Synthesen. Die klassische Periode der deutschen Literatur, die bei allen Professoren so beliebt ist, verdankte ihre ganze Grundlage den vorhergehenden Jahrzehnten, die so unbeliebt sind und trotzdem, man darf es wohl sagen, unbedingt die produktiveren waren, denn das ganze Nährmaterial an neuen Ideen ist, wenn auch ungeformt, damals entstanden. Diese Köpfe hatten die schwierigere und zugleich undankbare Aufgabe zu leisten. Die klassischen Leistungen: die abgeklärte Kunstform GOETHEs, der monumentale Systembau KANTs, sie waren durchaus nicht von vornherein in der natürlichen Anlage ihrer Schöpfer gegeben, sie kamen nur dadurch zustande, daß diese Männer den gesamten Bildungsgehalt ihrer Zeit mit unendlicher Mühe und Geduld langsam "auslagen" ließen; denn GOETHE schrieb auch einmal den Götz und Werther und KANT hatte seine "vorkritische Periode", die länger war als seine kritische; ohne diese "unvollkommenen" Voraussetzungen wären diese Leistungen niemals zustande gekommen. Aber das gab ihnen ja gerade ihren klassischen Wert, daß sie Entwicklungsprodukte, schwierige Erwerbungen, Errungenschaften waren. Sonst wäre ja PAUL HEYSE auch ein Klassiker. Er war es aber leider von Geburt an, und darum ist er es nicht.

Der Mensch von heute ist nicht weniger nervös als der typische Décadent der Neunzigerjahre, aber er hat seine Nervosität, wenn man so sagen darf, zu seinem Besitz, zu seinem Eigentum gemacht. Von beiden darf man behaupten: sie haben Nerven; aber vom Décadent muß man hinzufügen: die Nerven hatten mehr ihn, als daß er sie hatte. Wir hingegen haben sogar mehr Nerven als er, aber wir sind darum nicht kränker, sondern gesünder geworden.

Nervosität ist nichts anderes als erhöhte Produktivität und Leistungsfähigkeit, feinere Differenzierung eines bestimmten Organsystems unseres Körpers, das wir das nervöse nennen. Nichts verhindert uns, hierin ein Symptom gesteigerter Gesundheit und Lebenskraft zu erblicken.

Hieraus erklären sich zwei scheinbar widersprechende Züge unserer Zeit: nämlich einerseits die erhöhte Disziplin, Selbstzucht und Organisation auf allen Gebieten, und besonders im Geistigen, und andererseits die größere Reizbarkeit, Sensibilität und Impressionabilität. Diese letzteren Eigenschaften des modernen Menschen sind nämlich nur scheinbare Niedergangsphänomene, sie sind in Wahrheit ebenfalls nur stärkere Mittel und Möglichkeiten, die Wirklichkeit zu beherrschen, die ja aus nichts anderem besteht, als aus unseren Sinneseindrücken. Sie sind mit den Phänomenen zunehmender geistiger Kraft ganz identisch. Unsere Sinne sind eben infolge Nervosität einfach tüchtiger, schärfer, ehrlicher, objektiver geworden. Noch in den Achtzigerjahren vermißte NIETZSCHE die intellektuelle Rechtschaffenheit. Inzwischen haben wir uns nicht nur diese Rechtschaffenheit erworben, sondern eine noch viel wichtigere, wichtiger, weil sie in den Instinkten wurzelt: die sensuelle Rechtschaffenheit, die Rechtschaffenheit unserer Sinne.

Zunächst waren allerdings "Nerven" eine Art Krankheitssymptom, gewiß; aber in dem besonderen Sinn, in dem alle Neubildungen etwas Krankhaftes sind. Auch die Schwangerschaft ist ein Krankheitsstadium. Die Rekonvaleszenz trägt die äußeren Merkmale der Erschöpfung. Jede Krisis hat eben ihre Psychosen. Das Fieber ist ein abnormer Zustand, und dennoch ist es das einzige Rettungsmittel des Erkrankten. Nur der Laie hält Fieber für eine Krankheit: ein Wink für Kulturhistoriker.

Wenn jemand sagt "ich habe Nerven", so galt das bisher ohne Weiteres als Bekenntnis eines Schwächezustandes. Warum jedoch? Sind Nerven Geschwüre, Ekzeme, Mißbildungen? Im Gegenteil: Nerven sind die feinsten Organe, die wir kennen. Jedes Organ kann erstarken, warum nicht auch die Nerven? Man könnte ebensogut als Indiz für Dekadenz auffassen, wenn jemand sagt: "Ich habe besonders entwickelte Muskeln." Zunächst also ist dies ganz ungereimt.

Wir haben aber bereits die Erklärung. Der Nervenmensch des vorigen Jahrhunderts hätte richtig sagen müssen: "Ich bekomme Nerven": dies war in der Tat ein vorübergehender Krankheitszustand. Ein Kind, das Zähne bekommt, ist krank; genau so lange, als es sie "bekommt". Ein Kind, das Zähne hat, ist gesund, und nicht nur gesund, sondern physiologisch hundertmal leistungsfähiger als ein Kind, das noch keine hat.
LITERATUR Egon Friedell, Ecce Poeta, Berlin 1912