ra-2 Albert Schäfflevon EhrenfelsErnst TroeltschPaul Tillich    
 
OTTO RITSCHL
(1860 - 1944)
Über Werturteile
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 "Alle  Gefühle enthalten entweder einen Wert oder Unwert. Sie deshalb als Wertgefühle zu bezeichnen, wäre nur ein Pleonasmus. Indem man sich aber darüber oft nicht klar ist, verfällt man leicht der Einbildung, als ob Wertgefühle eine besondere Klasse von Gefühlen sein sollten. Das läßt sich aber nur etwa von jenem Gefühl des eigenen Wertes mit Grund behaupten. Formal psychologisch stehen dagegen alle gefühlten Werte einander gleich, und ebenso alle gefühlten Unwerte. Lust oder Unlust sind also die einzigen Kriterien, wonach unter einem psychologischen Gesichtspunkt die Gefühle und die in ihnen enthaltenen Werte voneinander unterschieden werden können."

"Werte, die sich den Einzelnen zur Aneignung anbieten, können als Kurswerte oder Geltungswerte charakterisiert werden. Beide Arten können sich im einzelnen Fall miteinander decken. Denn nichts hätte Geltungswert werden können, das nicht zuvor für viele Einzelne Affektionswert gehabt hätte, und sowie ein Geltungswert von jemandem innerlich angeeignet wird, erhält er für diese Person wieder den Charakter als Affektionswert. Andererseits können beide auch voneinander abweichen. Denn die Geltungswerte sind vermöge ihres objektiveren Bestandes noch mehr als die subjektiven Werturteile stets in Gefahr, in bloße Gewohnheitswerte umzuschlagen, denen das ursprüngliche Gefühlsmoment verloren gegangen ist."

"Die letzte Frage, auf deren Lösung im Bereich der höchsten Werte alles ankommt, ist die, welche von allen Religionen und Weltanschauungen über die übrigen den Sieg behalten wird. Denn diese Religion ist es, deren Glaubensobjekte sich auch notwendig als die allein wahrhaften und wirklichen erweisen werden. Wenn der gewaltigste Kampf, der sich in der Weltgeschichte abspielt, allein durch die Gewalt geistiger Waffen entschieden sein wird, dann wird auch die so erreichte freie Übereinstimmung aller in den höchsten Werturteilen eine Allgemeingültigkeit mit sich führen, die derjenigen der Naturwissenschaft, soweit eine solche vorhanden ist, nicht nur ebenbürtig, sondern, da es sich um höhere Dinge, als die der Natur handelt, unvergleichlich überlegen sein muß."


3. Die Werturteile des religiösen Erkennens

Wenn nun aufgrund der Erkenntnis des menschlichen Seelenlebens, die in diesem Jahrhundert allmählich erreicht worden ist, die Religion von der Wissenschaft als ein verschiedenartiges Gebiet geistiger Betätigung unterschieden werden kann, so erhebt sich weiter die Frage, in welchem Sinne denn das religiöse Erkennen und Urteilen mit der Ausübung von Werturteilen in Beziehung gesetzt werden kann. Um diese Frage zu entscheiden, bedarf es zunächst eines allgemeinen Begriffs von der Religion, der alle ihre Arten und Abarten vollständig deckt. Ich bin nun nicht in der Lage, mich an eine der mancherlei religionsphilosophischen Theorien anzulehnen, zu deren Ausbildung und Begründung seit SCHLEIERMACHER so viel Fleiß und Scharfsinn aufgewendet worden ist. Denn deren Ergebnisse erscheinen mir teils zu kompliziert, teils zu einseitig. Einen gänzlich einfachen und doch unendlich vielseitigen Religionsbegriff bieten dagegen in genialer Klassizität bereits LUTHER im Anfang seines großen Katechismus:
    "Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten, also daß ein Gott haben nichts anderes ist, denn ihm von Herzen trauen und glauben; wie ich oft gesagt habe, daß allein das Trauen und Glauben des Herzens macht beide, Gott und Abgott. Ist der Glaube und Vertrauen recht, so ist auch dein Gott recht; und wiederum, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht: denn die zwei gehören zu Haufe, Glaube und Gott. Worauf du nun dein Herz hängst und verlässest, das ist eigentlich dein Gott".
LUTHERs fernere Erklärungen über das erste Gebot beweisen es, daß diese grundlegende Definition, die zugleich den Gottesbegriff und den Glaubensbegriff als notwendige Korrelate zusammenstellt, und beide gegenseitig durch einander erklärt, alle Formen der Religion, zugleich mit allen ihren Abarten des Aberglaubens und der Abgötterei umfaßt. Ob in einer Religion sinnliche oder geistige Güter erstrebt, ob ein oder mehrere Götter verehrt werden, ob der Gottesdienst in sinnlosen Zeremonien oder in sittlichen Leistungen besteht, nichts von allen besonderen Merkmalen (39) einer einzelnen Religion ist in jenem Allgemeinbegriff ausgeschlossen. Sondern jede Gestaltung der Religiosität eines Einzelnen, jede Volksreligion und auch die großen Weltreligionen sind darin ebenso enthalten, wie die Surrogate von Religion, mit denen sich ja manche begnügen, und wie die Verkehrungen der religiösen Anlage im Menschen, die sei es im Egoismus und Aberglauben Einzelner, sei es in analogen Gebilden ganzer Menschengruppen ihren Ausdruck finden.

Deshalb ist jedoch nicht etwa schon von selbst eine einzelne Religion, wie das Christentum, durch jene Definitioin bestimmt. Rechter Glaube und rechter Gott sind vielmehr zunächst nur  eine  Gleichung mit zwei unbekannten Größen.Daß sie auch auf bestimmte Religionen zutrifft, hängt erst von der Synthese mit einer neuen bekannten Größe ab. Dies ist im Sinne LUTHERs, der im Grunde ja doch immer nur das Christentum im Auge hat, die christliche Offenbarung. Ob indessen andere Religionen sich gleichfalls auf Offenbarungen, oder ob offenbarungslose Weltanschauungen ihren Glauben auf andere Erkenntnisgründe stützen, es kommt nur auf das Objekt an, worauf das Vertrauen in jedem Fall gerichtet wird. So ergibt die Synthese dieses jeweiligen Objekts mit dem allgemeinen Begriff des Glaubens den bestimmten Gott oder Abgott, dessen vertrauensvolle Anerkennung jedesmal einer besonderen Religion oder Abart von Religion ihren eigentümlichen Charakter verleiht.

Nun richtet niemand sein Vertrauen auf irgendein Objekt von dessen Betätigung oder Wirkungsweise er nicht auch eine Rechtfertigung seines Vertrauens erwartete. Solche Erwartungen scheinen freilich auch auf theoretische Urteile gestützt werden zu können, wie wenn sich jemand, worauf auch LUTHER hinweist, auf sein Können und Wissen verläßt. Da aber der Erfolg alles angewandten Könnens und Wissens, wozu man LUKAS 12,20 vergleiche,niemals in des Menschen Hand steht, und da sich alle künftigen Eventualitäten niemals im Voraus mit absoluter Sicherheit berechnen lassen, so ist auch jenes Vertrauen keineswegs nur die Sache eines theoretischen Urteils, sondern es wird der eigenen intellektuellen Leistungsfähigkeit vielmehr aus Gründen des Gefühls ein bestimmter Wert beigelegt. Und dieses Werturteil ist nun das eigentliche Fundament, auf dem sich auch die ferneren Äußerungen des Vertrauens auf Wissen und Können erheben. Mag man aber noch beliebig viele Fälle ähnlicher Art in derselben Weise untersuchen, so wird man immer, wo es sich um Vertrauen handelt, als seinen Grund entsprechende Werturteile finden, so gewiß überhaupt kein Streben und Wollen beobachtet werden kann, dessen Antriebe nicht in bestimmten Gefühlen (40) enthalten wären.

So stellt sich in der vorher entwickelten Auffassung von den Werturteilen die psychologische Bedingung des von LUTHER angegebenen Religionsbegriffs dar. Und dessen Allgemeinheit entspricht zugleich der umfassende Bereich, in welchem wir die Wertbeurteilung auftreten sahen. Wenn wir aber die Fähigkeit Werturteile zu vollziehen in der engsten Verbindung mit der frischen und ursprünglichen Empfänglichkeit für neue Eindrücke fanden, so ist bekanntlich eine solche Empfänglichkeit eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung der Religion in einem Subjekt. Hiermit bringe ich einmal das Herrenwort, daß der Kinder das Gottesreich ist (MARKUS 10, 14), in Zusammenhang, ferner den Vorzug, den JESUS und PAULUS den Unmündigen und Törichten als solchen Menschen zusprechen, an die sich in erster Linie die Botschaft des Evangeliums mit Aussicht auf Erfolg wendet. Andererseits ist aber auch eine Erklärung dafür gefunden, daß tatsächlich doch auch intellektuell hochgebildete Menschen, wenn sie nur nicht die Fähigkeit zu sehr eingebüßt haben, in Werturteilen zu denken, nicht minder dazu imstande sind, sich den christlichen Glauben anzueignen.


4. Die Frage nach der Objektivität der durch
Werturteile gewonnenen Erkenntnisse

Wir wenden uns jetzt der Frage zu, wie es sich denn mit der objektiven Wirklichkeit der Gegenstände verhält, deren sich das in Werturteilen denkende Subjekt bewußt ist. Da kann nun zuerst festgestellt werden, daß von Haus aus alle menschen die von ihnen wahrgenommenen Dinge, die sie ja zunächst durch Werturteile erkannt haben, auch für wahrhaft und wirklich halten. (41) Die Idee der Wirklichkeit entsteht in ihnen überhaupt zugleich mit ihren primitiven Erkenntnisleistungen. Und von daher bringt jeder diese Idee immer schon mit, wenn er später beginnt, sich dem Unterricht im theoretischen Denken zu unterwerfen. Sie ist also eine Mitgift der ursprünglichen Wechselwirkung der Seele mit der Außenwelt. Und sie bleibt das Maß, nach welchem jeder in der Praxis des Lebens die Dinge als wirklich behandelt, die er besitzt, genießt oder zu beliebigen anderen Zwecken verwendet. Erst der philosophische Idealismus hat diesen jedem Menschen geläufigen Begriff der Wirklichkeit auf den Kopf gestellt, indem man die erkennende Tätigkeit des Geistes künstlich von der fühlenden und wollenden isolierte, so daß dann auch begreiflicherweise die Kriterien des praktischen Lebens abhanden kamen, an denen jedes empirische Ding als wirklich erwiesen werden kann.

Demgegenüber ist jedoch auch die andere Tatsache unleugbar, daß wir auf allen Gebieten des Wissens dem mannigfaltigsten Irrtum unterliegen. Schon die Vergleichung von einander widersprechenden Wert- und Gewohnheitsurteilen führt jeden auf den Begriff der Täuschung. Andererseits hat KAFTAN (42) richtig gesehen, daß alle Wissenschaft nur den Zweck hat, das gewöhnliche Wissen zu berichtigen. So aber verändert sich schon mit jedem Fortschritt, den ein Einzelner im theoretischen Erkennen macht, sein zunächst nur aus Werturteil herrührendes Weltbild. Und mit jedem Fortschritt der Wissenschaft überhaupt wird auch das allgemeine Weltbild, zunächst der gebildeten Menschheit, ein anderes. Auch die vermeintlich geschichtlichen Überlieferungen, die sich in den verschiedenen Religionsgemeinschaften von Generation zu Generation vererben, sind diesem Wechsel unterworfen, so oft die historische Wissenschaft mit zwingenden Gründen die eine oder andere solcher Annahmen als ungeschichtlich erweist. Es fragt sich aber, ob durch derartige Veränderungen des für wahr gehaltenen geschichtlichen Vorstellungsstoffes zugleich auch die noch nicht zu Gewohnheitsurteilen gewordenen religiösen Werturteile so sehr getroffen werden, daß sie dadurch sei es charakteristisch umgewandelt ooder überhaupt aufgehoben würden.

Die zweite dieser Möglichkeiten ist nun offenbar von vornherein ausgeschlossen. Denn die alltägliche und die geschichtliche Erfahrung lehrt, daß der geistig normale Mensch niemals aufhört zu vertrauen und zu hoffen. Verflüchtigen sich ihm also wirklich die Objekte seines bisherigen Vertrauens, so sucht er sich neue, die er an deren Stelle setzt. Dieser Vorgang ist der gleiche, ob jemand von der Gottesverehrung zur Abgötterei, unter die ja LUTHER auch den Mammonsdienst und den Kultus des eigenen Ich rechnet, oder ob er umgekehrt von einer schlechteren zu einer besseren Religion übergeht. Damit ist die Allgemeinheit und Notwendigkeit der Religion in dem von LUTHER festgestellten ganz allgemeinen Sinn erwiesen. Unter dieser Voraussetzung fragt es sich aber weiter, ob denn wirklich die tatsächliche Veränderung des allgemeinen Weltbildes, die in der Neuzeit allmählich eingetreten ist, speziell die christliche Religion zu gefährden imstande ist. Denn es ist doch unmöglich mehr zu leugnen, daß die allgemeinen Vorstellungen von der Welt schon seit KOPERNIKUS zunehmend andere geworden sind, als wie sie im Neuen Testament als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Braucht nun deshalb mit dem biblischen Weltbild auch die christliche Religion zu fallen? Und vermag die fortschreitende Wissenschaft, welche neuen Aufschlüsse über die Dinge dieser Welt ihr auch noch vorbehalten sein mögen, das Verhältnis von Vertrauen und Gott, wie es im Christentum von Anfang an bestimmt gewesen ist, irgendwie zu verändern?

Solchen Fragen gegenüber kann nur darauf hingewiesen werden, daß die Werturteile, die im Christentum der Ausdruck des hier heimischen Glaubens sind, auch wenn man sich durchaus das Weltbild der modernen Wissenschaft aneignet, in praktischer Beziehung dennoch dieselben zu bleiben vermögen, die sie von Anfang an gewesen sind. Der Grund für diese Erscheinung ist die Tatsache, daß die Wissenschaft als solche gar nicht kompetent ist, über Sein oder Nichtsein der übersinnlichen Größen des christlichen Glaubens zu urteilen oder zu entscheiden. Der christliche Gott, seine Offenbarung in der Person und im Werk CHRISTI, Gemeinde der Heiligen, Sünde, Rechtfertigung, Wiedergeburt, Gotteskindschaft und ewiges Leben sind über die Naturwelt erhabene Größen, die als solche dem ausschließlich wissenschaftlichen Erkennen unzugänglich und unerkennbar sind. Erkennbar sind sie dagegen dem Glauben, dessen Vorstellungen als gläubige zugleich das Gefühl in Anspruch nehmen. Dieses empfindet den Wert oder Unwert jener übersinnlichen Wirklichkeiten, und in dem Maße, als es die wertvollen Objekte der christlichen Religion erfaßt und festhält, erzeugt es ein mehr oder weniger starkes Vertrauen auf sie. Insofern hat die Welt der durch das Christentum gesetzten Werte ihre eigenen Gesetze, deren Gültigkeit an Ergebnissen der Wissenschaft nun einmal nicht gemessen werden kann.

Wenn also aufgrund der christlichen Offenbarung auf Gott als den Vater JESU CHRISTI vertraut wird, so ist er eben, weil ein solches Vertrauen geübt wird, der christliche Gott, und dieser Glaube kann nicht gefördert, sondern nur geschädigt werden, wenn jener Gottesgedanke obendrein mit Vorstellungen kombiniert wird, die nicht aus der Offenbarung selbst geschöpft, sondern anderen Weltanschauungen oder einem durch diese bedingten wissenschaftlichen Begriffsapparat entlehnt sind. Wenn ferner auf CHRISTUS als den alleinigen Offenbarer Gottes dasselbe Vertrauen gesetzt wird, wie auf Gott selbst, wie denn, wenn dies nicht geschähe, auch der von ihm verkündete Gott zweifelhaft werden müßte, so wird er gemäß der von LUTHER erkannten Korrelation von Glaube und Gott von seiner Gemeinde selbst als Gott anerkannt. Und dieses Werturteil kann niemals dadurch mit zureichendem Grund in Frage gestellt werden, daß etwa eine philosophische oder theologische Theorie für den Gottesbegriff bestimmte Merkmale festlegt, die an CHRISTUS nicht zu konstatieren sind. Vielmehr überschreitet alles theoretische Denken seine Grenzen, wenn es nach irgendeinem irgendwie von ihm abstrahierten Gottesbegriff dem schlichten Vertrauen auf CHRISTUS, d. h. dem praktischen Bekenntnis zu ihm als Herrn und Gott, meinte Normen vorschreiben zu können. So ist das religiöse Erkennen im Christentum selbständig und unabhängig von jeder ihm fremden Gesetzgebung. Und deshalb ist auch die Wirklichkeit, die es den Objekten seines Glaubens beimißt, unkontrollierbar durch die Merkmale von Tatsächlichkeit, an welchen ganz andersartigen Gebieten des Seins angehörige Dinge als wirklich oder unwirklich erkannt werden.

Damit haben wir nun freilich nur erst ein negatives Resultat erreicht. Denn wenn der christliche Glaube als solcher nicht durch das wissenschaftliche Erkennen normiert werden kann, so ist damit doch noch keineswegs erwiesen, daß nicht etwa andere Religionen oder Weltanschauungen eine zutreffendere Wahrheitserkenntnis in Bezug auf die übersinnlichen Dinge besitzen. Dennoch folgt schon aus den bisherigen Erörterungen, daß derjenige, der in seinem Leben die christliche Wertbeurteilung ausübt, d. h. der wirklich glaubt, indem er auf den christlichen Gott vertraut, niemals noch eines theoretischen Beweises für die Wirklichkeit der Objekte seines Glaubens bedarf. Diese versteht sich ihm vielmehr ganz von selbst, weil sie sich ihm immer wieder in den Erfahrungen seines Lebens bezeugt und stets von Neuem in der Wiederholung der ihm geläufigen religiösen Werturteile zu Bewußtsein kommt.

Diese Selbstgewißheit des Glaubens psychologisch zu erklären, bedarf es aber nur des vorher entwickelten Begriffs von den Werturteilen. Dagegen leistet die Theorie, daß die religiösen Urteile Postulate aufgrund von Sätzen seien, als deren Prädikat ein Wertbegriff gesetzt wird, zunächst schon keine befriedigende psychologische Deutung des festgestellten Befundes. Denn wenn nach SCHEIBEs Meinung (Seite 25) solche Sätze, wie "die Dampfmaschine ist nützlich", "die RAFAEL'sche Madonna ist schöne", "die Barmherzigkeit ist sittlich wertvoll", "die Liebe Gottes ist religiös wertvoll", als die eigentlichen Werturteile angesehen werden soll, so beruhen (43) doch im tatsächlichen Leben niemals die wirklichen religiösen Urteile auf solchen Erwägungen. Denn diese sind immer eine direkte Synthese des Glaubens mit dem von ihm erkannten und vertrauensvoll ergriffenen Objekt, also stets synthetische Urteile. Jene Sätze sind aber vielmehr analytische Urteile und beweisen dadurch ihren Ursprung gerade aus der theoretischen Reflexion; der Theoretiker vermag allerdings aus allen synthetischen Urteilen, also auch aus den religiösen, nachträglich analytische Sätze zu abstrahieren. Aber solche Abstraktionen des theoretischen Denkens sind in Wirklichkeit niemals die Voraussetung von religiösen Urteilen, sondern immer nur nachträgliche Denkoperationen aufgrund der zuvor gegebenen primitiven religiösen Werturteile.

Andererseits ist für die Objektivität des Inhalts der religiösen Urteile nichts dadurch gewonnen, daß sie als Postulate (44) aufgrund jener analytischen Urteile hingestellt werden. Aus dem Wert, den ein Einzelner oder viele in synthetischen oder analytischen Urteilen für ihr Gefühl feststellen, kann niemals auf eine Wirklichkeit des für wertvoll erklärten Gegenstandes geschlossen werden, die mit der wissenschaftlichen Objektivität in Allgemeingültigkeit konkurrieren könnte. Eine solche Überspannung des subjektivistischen Gesichtspunktes ist eine sehr zweischneidige Waffe, die sich schließlich immer nur gegen diejenige Theorie zurückwendet, in welcher von ihr Gebrauch gemacht wird. Denn mit jenen Mitteln kann ebenso gut die Weltanschauung von SCHOPENHAUER und NIETZSCHE, wie diejenige des Christentums deduziert werden. Also die subjektivistische Betrachtungsweise versagt, wenn mit ihrer Hilfe der Versuch gemacht wird, den Objekten irgendeines Glaubens eine der wissenschaftlichen Objektivität analoge Allgemeingültigkeit zu erobern. Und von diesem Standpunkt des wertempfindenden Subjekts aus vermögen wir auch gar nicht weiter zu kommen. Dagegen ist ein Fortschritt unserer Erkenntnis möglich, wenn wir auch die andere Seite der Sache, nämlich die dem Menschen objektiv gegebenen Werte (45), betrachten.


5. Die geschichtlich gegebenen geistigen Werte im
Unterschied und im Verhältnis zur
subjektiven Wertbeurteilung

Über die sinnlichen Güter kann ich hier füglich schweigen. Es versteht sich von selbst, daß die materiellen Dinge bereits Realität besitzen, bevor sie der Einzelne, weil sie geeignet sind, seinen Bedürfnissen zu dienen, weil sie also eben diesen Wert für ihn haben, erstrebt und im günstigen Fall in seinen Gebrauch nimmt. Aber erstrebt und im günstigen Fall in seinen Gebrauch nimmt. Aber auch die ideellen Werte in der Welt sind doch nicht nur Wirklichkeiten, sofern sie, wie LOTZE freilich zu meinen scheint, vom Subjekt im Gefühl angeeignet und festgehalten, sondern auch sofern sie ihm regelmäßig zuvor zu dieser Aneignung dargeboten werden. In der Menschheit sind eben schon immer geistige Werte als solche anerkannt, bevor der Einzelne auch nur in die Lage kommt, zu ihnen selber Stellung zu nehmen und eine Wahl unter mehreren ihm erreichbaren Werten zu treffen. Ferner ist er in dieser Wahl auch nur in sehr beschränktem Maß frei. Denn teils treten an ihn gar nicht alle wirklich vorhandenen Werte heran, sondern immer nur diejenigen, die gerade im Bereich seiner Umgebung als Werte gelten. Andererseits wird bereits in einem Lebensalter, in dem die Empfänglichkeit für alle möglichen Werte noch ungeschwächt ist, durch Erziehung und Beispiel ein Einfluß auf alle Menschen ausgeübt, der auf die in ihnen werdende bestimmte Art der Wertbeurteilung sich maßgebend geltend macht. So eignen sich die meisten, wenn auch stets in irgendwie individueller Färbung, die Wertschätzung an, die in ihrer Umgebung herrscht, und in dem Maße, als sie darauf eingehen, setzen sie sie fort und wirken so weiter wieder auf andere, wie zuvor auf sie selbst gewirkt worden war. Also von der Wertbeurteilung der einzelnen Subjekte hebt sich eine Gesamtschätzung der Dinge ab, die unter den Ausdrücken Sitte, öffentliche Meinung, Zeitgeist, Volkstum, Kirchlichkeit, Familiengeist, guter und schlechter Ton und dgl. mehr bekannt ist. Es sind dies alles meist schwer greifbare Stimmungen, der Niederschlag, den die zum großen Teil geschichtlich notwendigen Wertschätzungen unzähliger Generationen hinterlassen haben.

So sehr nun alle Menschen von diesen unvermeidlich auf sie einwirkenden Mächten immer irgendwie abhängig sind, so ist andererseits doch auch deren Konstanz nur eine bedingte. Denn die einzelnen und namentlich diejenigen von besonders kräftiger Individualität üben stets in irgendeinem Grad eine Rückwirkung auf die geistige Verfassung der Gesamtheit aus. Beide Teile bedingen und ergänzen sich also wechselseitig, wie in anderen Dingen, so auch auf dem Gebiet der Wertbeurteilung. Dieses Verhältnis kann aber auf einen noch deutlicheren Ausdruck gebracht werden. Jeder Wert nämlich, der einem Einzelnen wirklich zum inneren Eigentum wird, ist für ihn ohne Zweifel ein persönlicher oder Affektionswert. Dagegen die irgendwie von größeren Gruppen von Menschen anerkannten Werte, die sich den Einzelnen zur Aneignung anbieten, können als Kurswerte oder Geltungswerte charakterisiert werden. Beide Arten können sich im einzelnen Fall miteinander decken. Denn nichts hätte Geltungswert werden können, das nicht zuvor für viele Einzelne Affektionswert gehabt hätte, und sowie ein Geltungswert von jemandem innerlich angeeignet wird, erhält er für diese Person wieder den Charakter als Affektionswert. Andererseits können beide auch voneinander abweichen. Denn die Geltungswerte sind vermöge ihres objektiveren Bestandes noch mehr als die subjektiven Werturteile stets in Gefahr, in bloße Gewohnheitswerte umzuschlagen, denen das ursprüngliche Gefühlsmoment verloren gegangen ist. Dann aber vermögen sie das Gefühl von aufrichtigen und ernsten Menschen auch nicht mehr genügend erregen, und nun sehen sich gefühlsstarke und willensmächte Personen dazu gedrungen, die Geltung eines oder mehrerer oder aller herrschenden Werte in Zweifel zu ziehen, sie zu revidieren, zu reformieren, und, wenn sie irreformabel sind, durch neue und bessere zu ersetzen.

So kommen die großen Umwälzungen im geistigen Leben der Menschheit zustande. Der einzelne geniale Mensch (46), ein Schöpfer und Gesetzgeber auf dem Gebiet der höchsten menschlichen Interessen, prägt neue Werte, die dann freilich wieder demselben Wechsel unterliegen, wie alle bisherigen, mehr oder weniger verändert oder mit andern vermischt, dann wieder revidiert und im besten Fall wirklich reformiert oder wiederhergestellt zu werden. Dies ist auch das Schicksal aller Religionen (47), wenn wir deren innere Entwicklung ins Auge fassen. Äußerlich angesehen aber treten die Religionen, die sich auf demselben Boden begegnen, miteinander in einen Wettkampf, und bei dem noch immer sich steigernden Weltverkehr wird es nicht ausbleiben, daß mit der Zeit überhaupt alle verschiedenen Weltanschauungen sich gegenseitig den Sieg streitig machen werden.

Für diese Aussicht bürgt allein schon die Wichtigkeit der Sache. Von allen geistigen Werten ist eben die Religion, oder was sie manchen Individuen scheinbar ersetzt, derjenige Wert, der bewußt oder unbewußt von allen Menschen als der höchste anerkannt wird. Denn kein Mensch kann irgendeinem materiellen oder ideellen Objekt etwas Besseres geben, als sein unbedingtes Vertrauen. Und ein solches Vertrauen auf irgendetwas, was es auch sei, ist Religion oder wenigstens Abart von Religion. Die Seele lebt geradezu von diesem ihrem Vertrauen, auf welchen Wert oder Unwert es auch immer gerichtet sein mag. Und daß wirklich die Religion oder auch die Abgötterei von den Menschen als der höchste Wert anerkannt wird, das beweist die bekannte Tatsache, daß keine Kämpfe leidenschaftlicher geführt werden und den Grund der Seele tiefer aufwühlen, als die Kämpfe um die Religion, die Weltanschauung, die Überzeugung.

Nun ist die letzte Frage, auf deren Lösung im Bereich der höchsten Werte alles ankommt, die, welche von allen Religionen und Weltanschauungen über die übrigen den Sieg behalten wird. Denn diese Religion ist es, deren Glaubensobjekte sich auch notwendig als die allein wahrhaften und wirklichen erweisen werden. Wenn der gewaltigste Kampf, der sich in der Weltgeschichte abspielt (48), allein durch die Gewalt geistiger Waffen entschieden sein wird, dann wird auch die so erreichte freie Übereinstimmung aller in den höchsten Werturteilen eine Allgemeingültigkeit mit sich führen, die derjenigen der Naturwissenschaft, soweit eine solche vorhanden ist, nicht nur ebenbürtig, sondern, da es sich um höhere Dinge, als die der Natur handelt, unvergleichlich überlegen sein muß.

Wir Christen antizipieren aber, wenn auch vorläufig nur aus Gründen von subjektiver Gültigkeit, jenen höchsten Maßstab der Objektivität in unserem Glauben, sofern sich dieser nicht nur in der Praxis des Lebens jedem einzelnen Frommen als Kraft und Wahrheit bewährt, sondern sofern er uns auch auf den endgültigen Sieg unserer Religion hoffen lehrt. Und mit je festerer Zuversicht wir glauben und hoffen, umso mehr wächst auch die Aussicht auf den Sieg unserer Sache. Denn die Kraft der Liebe und der Geduld, durch die wir nach dem Voranschreiten unseres Herrn allein hier auf Erden streiten und siegen wollen, hängt ab von der Stärke unseres Gottvertrauens und unserer Hoffnung. Wenn wir durch theoretische Beweise unsere Gegner von der Wahrheit des Christentums überführen könnten, so brauchten wir ja auch nicht mehr im Glauben Liebe zu üben, um sie durch dieses Mittel für die Gemeinde CHRISTI und den wahren Gottesdienst zu gewinnen. So hat es seine guten, in unserer Religion selbst liegenden Gründe (49), daß für deren Vorzug und für die Wirklichkeit ihrer Glaubensobjekte niemals ein exakter, sondern immer nur ein praktischer Beweis geführt werden kann. Wenn wir Christen aber alle dieser Pflicht viel dringlicher und intensiver nachkämen, so würde es auch mit der Überzeugungskraft unseres Glaubens weit bestellt und der Wunsch nach durchschlagenden theoretischen Beweisen für die Wahrheit des Christentums viel weniger laut sein. Denn beides schließt sich gegenseitig aus, jenes aber entspricht allein dem Sinn JESU CHRISTI.


6. Die einheitliche Weltanschauung
des Christentums

Daß nun endlich die christliche Weltanschauung und die menschliche Wissenschaft, die nach den bisherigen Ausführungen scheinbar nebeneinander hergehen, aber nicht mehr ineinander greifen sollen, eben deswegen eine doppelte Wahrheit begründen müßten, das ist eine Folgerung, für die weder in der einen noch in der andern ein zureichender Grund vorhanden ist. Die anderen Religionen und Weltanschauungen, nicht aber die Wissenschaft, die sich auf die ihr zuständigen Gebiete der Natur und der Geschichte beschränkt, sind Konkurrenten und Gegner des Christentums. Und der Glaube, der wirklich als Vertrauen und Gehorsam gegen Gott in einer übersinnlichen Welt seinen Grund hat und aus ihr seine Kraft zieht, braucht nicht so kleingläubig zu sein, um von der pflichtbewußten Wissenschaft wirklich Gefahr für sich zu befürchten. Vielmehr geht aus der christlichen Weltanschauung selbst die Nötigung hervor, auch die Wissenschaft in den Bereich des von ihr zu regelnden Handelns einzubegreifen. Denn sie schreibt ja der ganzen Praxis des sittlichen Lebens, von der doch auch die Wissenschaft ein sehr wichtiger Teil ist, die Grundsätze der Berufstreue, der Aufopferung und der Wahrhaftigkeit hervor. Und ordnet sich in dieser sittlichen Handlungsweise nicht gerade die Wissenschaft der christlichen Lebensnorm freiwillig unter, mit einer nur in der Sache lebenden Begeisterung und Tatfreudigkeit, wie man sie auf anderen Gebieten des sittlichen Lebens nicht allzuoft zu bemerken Gelegenheit hat? Sie selbst aber leistet mit der ihr obliegenden Pflege eines zuverlässigen Erkennens der Welt auch den Christen mannigfaltige Förderung, indem sie auch ihnen sehr wichtige Kenntnisse und Fertigkeiten gewährt, deren sie zur Lösung der ihnen durch ihre Religion gestellten sittlichen Aufgaben bedürfen, und die sie nur zum Nachteil der christlichen Religion selbst verschmähen würden. So gibt es für den Christen nur eine Weltanschauung, das ist sein Glaube, es gibt für ihn aber viele Pflichten, Leistungen und Aufgaben in der Welt, und diese richtig auffassen und zweckmäßig angreifen zu können, dazu helfen ihm vor allem auch die Mittel, Methoden und Einsichten, die er der Wissenschaft verdankt.


7. Zusammenfassende Sätze

    1) Grundbedingung der zutreffenden Erkenntnis über das Wesen und die Art der Wertbeurteilung ist die richtige psychologische Einsicht, daß stets die ganze Seele in ihren verschiedenen Funktionen wirksam, daß also jede von diesen niemals ohne gleichzeitige Mitwirkung der anderen tätig ist.

    2) Urteile, welche zugleich durch die vorstellende und fühlende Tätigkeit der Seele zustande kommen, sind als Werturteile zu bezeichnen, da der darin ausgedrückte Wert ihres Inhalts nur auf das Gefühl zurückgeführt werden kann.

    3) Von Haus aus erkennt der Mensch nur in der Form von Werturteilen.

    4) Der seines ursprünglichen Gefühlsgehaltes allmählich entleerte Ertrag dieser Werturteile liegt in den Gewohnheitsurteilen des gemeinen Wissens vor.

    5) Die Fähigkeit, theoretische oder wissenschaftliche Urteile zu vollziehen oder zu bilden ist stets das Produkt einer sehr komplizierten geistigen Schulung.

    6) Das religiöse Erkennen als solches verläuft ausschließlich in Werturteilen.

    7) Das ursprüngliche Erkennen des Menschen führt von vornherein die Überzeugung von der Wirklichkeit seiner Objekte mit sich.

    8) Da aber diese Überzeugung lediglich subjektiver Art ist, so ermangelt sie der objektiven Allgemeingültigkeit, die das theoretische Erkennen der Wissenschaft, wenn es richtig geübt wird, für einen Teil seiner Urteile zu erreichen vermag.

    9) Bedingung für die Aneignung und Schätzung ideeller Werte, die ein Einzelner vollzieht, ist immer die mehr oder weniger allgemeine Geltung derselben oder gleichartiger Werte in dem Lebenskreis, dem er angehört.

    10) Neue Werte entstehen, wenn einzelne gottbegnadete Individuen die herrschenden Geltungswerte in Zweifel ziehen und ihnen mit mehr oder weniger Erfolg den Ertrag ihrer eigenen selbständig gewordenen Wertbeurteilung entgegensetzen.

    11) Die Allgemeingültigkeit bestimmter geistiger, insbesondere religiöser Werte, läßt sich nur als das zukünftige Ergebnis des als endgültig entschieden vorgestellten Kampfs um die Weltanschauung denken und insofern allerdings in der religiösen Hoffnung antizipieren.

    12) Da die anderen Religionen und Weltanschauungen, nicht aber die Wissenschaft, mit dem Christentum konkurrieren, so ist die durch dieses gesetzte Weltanschauung einheitlich, und alle wissenschaftlichen Erkenntnisse sind von einem Christen als Mittel zu würdigen, die er zur Lösung der ihm durch seine Religion gestellten sittlichen Aufgaben zu verwerten hat.

LITERATUR - Otto Ritschl, Über Werturteile, Freiburg/i.B. und Leipzig 1895
    Anmerkungen
    39) Daß viele heidnische Religionen, und zwar je mehr sie in Aberglauben Zauberwesen aufgehen, umsomehr auch die Furcht vor übersinnlichen Mächten als das wirksame Motiv ihrer kultischen und mystagogischen Betätigung erkennen lassen, beweist nichts gegen die Definition der Religion durch den Begriff des Vertrauens. Denn wie im Christentum das Gottvertrauen die Ehrfurcht vor Gott nicht aus-, sondern einschließt, so erzeugt auch im Heidentum die Furcht stets ein Vertrauen auf die Mittel der Zauberei und des Opfers, durch die man den schädlichen Einflüssen der gefürchteten höheren Mächte zu begegnen weiß. Und die Ausübung der Religion erfolgt doch gerade in der Anwendung dieser kultischen Gebräuche, auf deren Wirksamkeit man vertraut. Indem man dies aber tut, vertraut man zugleich auch dem durch Opfer befriedigten oder durch geheime Kunst bezauberten Gott, daß er zunächst wenigstens keinen weiteren Schaden stiften wird. Dies ist das direkt religiöse Moment in den niederen heidnischen Religionen, nicht aber die Furcht, die vielmehr durch Zauberei und Opfer und durch das auf deren Wirksamkeit gerichtete Vertrauen vorübergehend immer wieder gebannt wird. Wie übrigens Kultusmittel, auf deren Kraft man großes Vertrauen setzt, eben dadurch selbst zu Gottheiten werden können, beweist das bekannte Beispiel des indischen Soma-Opfers.
    40) Den Ausdruck  Wertgefühl  vermeide ich mit Absicht. Eine gewisse Berechtigung hat er nur, wenn er, wie von de WETTE und HERRMANN, im Sinne von Gefühl des eigenen Werts oder Gefühl der Menschenwürde oder Selbstgefühl gebraucht wird. Dieses Selbstgefühl, als dasjenige eines Christen gedacht, wie es auch außerhalb des Christentums überhaupt keinen zureichenden Grund hat, ist aber gar keine primäre Erscheinung, sondern stets vielmehr erst eine Konsequenz des Vertrauens auf den christlichen Gott, also auch der grundlegenden Wertbeurteilung im Christentum. Diese stützt sich nun allerdings auf Gefühle, die Werte empfinden und anzeigen. Aber  alle  Gefühle enthalten entweder einen Wert oder Unwert. Sie deshalb als Wertgefühle zu bezeichnen, wäre nur ein Pleonasmus [andere Bezeichnung ohne Informationsgewinn -wp]. Indem man sich aber darüber oft nicht klar ist, verfällt man leicht der Einbildung, als ob Wertgefühle eine besondere Klasse von Gefühlen sein sollten. Das läßt sich aber nur etwa von jenem Gefühl des eigenen Wertes mit Grund behaupten. Formal psychologisch stehen dagegen alle gefühlten Werte einander gleich, und ebenso alle gefühlten Unwerte. Lust oder Unlust sind also die einzigen Kriterien, wonach unter einem psychologischen Gesichtspunkt die Gefühle und die in ihnen enthaltenen Werte voneinander unterschieden werden können. Richtig lehrt hierüber OSWALD KÜLPE, Grundriß der Psychologie auf experimenteller Grundlage, Seite 239.
    41) Werturteile und sogenannte "Seinsurteile" in Gegensatz zueinander zu stellen und nun gar mit den sogenannten "Seinsurteilen", die theoretischen Urteile zu identifizieren, als ob die Werturteile ein Nichtsein ausdrückten, ist eine ganz widersinnig Mißdeutung der in der Wirklichkeit vorkommenden Denkoperationen. Denn in Werturteilen  will  man ebenso wie in theoretischen Urteilen immer nur einen für wahr gehaltenen Tatbestand aussprechen. Andererseits  kann  auch der Inhalt theoretischer Urteile tatsächlich irrtümlich und unrichtig sein. Die Entscheidung über die Wahrheit eines Urteils liegt eben nicht darin, inwieweit eim einem Urteilsakt selbst zugleich die Wertempfindung beteiligt ist oder nicht, sondern sie liegt in dem zu beurteilenden Gegenstand und in dessen eigentümlicher Qualität. Demnach sind formal psychologisch betrachtet die Werturteile ebenso wie die Gewohnheits- und theoretischen Urteile "Seinsurteile", wenn einmal dieser Ausdruck überhaupt gebraucht werden soll. Denn logisch betrachtet ist er eine begriffliche Mißbildung derselben Art, wie der Ausdruck "Wertgefühl". Alles Urteilen dient ja zur Erkenntnis des Seins oder zur Mitteilung und Anwendung einer solchen Erkenntnis. Daher lasse man es nur bei der alten Unterscheidung der affirmativen und negativen Urteile, neben denen die hypothetischen und disjunktiven [unterscheidenden - wp] Urteile als Hilfsmittel zur richtigen Erkenntnis des Seins ihre Stelle haben. In all diesen logischen Formen können aber auch die Werturteile ebenso wie die Gewohnheits- und theoretischen Urteile auftreten.
    42) JULIUS KAFTAN, Die Wahrheit der christlichen Religion, Seite 317f. Vgl. auch SCHLEIERMACHER, Dialektik, § 55 - 63, Seite 276 und 300 und Beilage E, Seite 534
    43) SCHEIBE, der sich Seite 25 auf HERBART beruft, ist zu seiner von mir bestrittenen Formel wohl unter dem Eindruck der Auffassung HERBARTs gekommen, daß die moralischen Urteile auf ästhetischen beruhen, indem er mit den moralischen nun auch die religiösen in Parallele stellt. Aber auch HERBART rechnet die religiösen vielmehr zu den sogenannten ästhetischen Urteilen selbst. Und daß die moralischen auf religiösen Urteilen bewußt oder unbewußt beruhen, das ist allerdings auch meine Meinung. Auf diese Frage komme ich unten in einer Anmerkung noch zurück.
    44) KANT nennt selbst einmal in seiner Schrift "Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee" (Werke Bd. 6, Seite 84) diejenigen Schlüsse, die er in der Regel als "Postulate" bezeichnet, "Machtsprüche" der Vernunft. Seine Postulate haben indessen alle denselben von ihm für absolut objektiv gehaltenen Grund, nämlich das vermeintlich im Gewissen jedes Menschen von Haus aus gegebene Sittengesetz. (Vgl. "Kritik der praktischen Vernunft", Werke Bd. 5, Seite 149, Anm.) Eine solche objektive Grundlage sucht freilich auch SCHEIBE seinen Postulaten zu sichern. Aber seine Hypothese eines "überindividuellen Geistes, der in den ethischen und ästhetischen Normen zu uns redet" (Seite 32, Anm. 2) ist doch kaum durchführbar, da vielmehr das Sittengesetz etwas geschichtlich gegebenes ist, und da auch das ästhetische Urteil sowohl durch individuelle Anlage, als auch durch Erziehung und andere äußere Umstände stets sehr deutlich bedingt, also durchaus nicht allgemeingültig ist.
    45) Indem ich die subjektivistische Betrachtung der vorliegenen Frage durch die objektivistische ergänzt wissen will, wird mir die vielfach übliche Unterscheidung von hedonischen, ästhetischen, moralischen und religiösen Werturteilen gegenstandslos. Allerdings gibt es hedonische, ästhetische, moralische und religiöse Werte oder Güter. Indem diese als solche durch die erkennenden, fühlenden und wollenden Betätigungen der Seele festgestellt und angeeignet werden, ist auch das Gefühl der Lust oder Unlust je nach dem Objekt, worauf es sich richtet, verschieden. Aber der Grund der Verschiedenheit liegt in den Objekten, und nicht in der subjektiven Wertbeurteilung, die jedesmal erst durch das bestimmte Objekt, auf welches sie sich bezieht, ihren bestimmten Charakter erhält. So ist die Differenz der Objekte die primäre, die Verschiedenheit der Werturteile die sekundäre. Davon unabhängig ist die Frage nach den Gründen des ästhetischen Wohlgefallens. Mag man diese subjektivistisch oder objektivistisch lösen, mit dem Urteil, daß ein Gegenstand schön ist, ist ansich noch kein bestimmter Wert festgestellt, den er für das Gefühl des so urteilenden Subjekts hat. Dazu kommt es erst, wenn man das als schön anerkannte Objekt als solches auch genießt oder zu besitzen trachtet. Notwendig ist das aber nicht. Denn vielen Menschen ist überhaupt das Gebiet des Schönen gleichgültig, und übrigens ist der ästhetische Geschmack individuell sehr verschieden. Was aber die moralischen Urteile betrifft, so ist es mir bei deren Bedingtheit durch Religion oder Weltanschauung zweifelhaft, ob sie ohne weiteres mit den übrigen Werturteilen in eine Linie zu stellen sind. Gewiß wirkt auch bei ihnen das Gefühl mit. Aber es fragt sich, wieweit dieses als ein selbständiges neben dem religiösen Gefühl nachgewiesen werden kann. Mir scheint dies dann doch nicht wohl durchführbar zu sein, wenn man wenigstens den Gegenstand in seiner Vollständigkeit vergegenwärtigt. Höchstens modifizieren sich in der Anwendung auf das durch religiöse Gefühle zu moralischen,, aber im letzten Grund handelt es sich nicht um eine verschiedenartige Wertbeurteilung. Sondern wie die Religion ist, so ist auch die Moral, aus der einen kann man auf die andere richtig zurückschließen. Außer diesen allgemeinen Erwägungen beachte man folgendes. Im Gebiet des wirklichen Lebens versteht man unter moralischen Urteilen Aussagen der Billigung oder Mißbilligung geschehener oder als möglich vorgestellter Handlungen. Als unwirklich erfolgende werden diese Urteile dem Gewissen zugeschrieben. Nun erreicht aber zumindest die christliche Religion an den einzelnen Menschen ihren nächsten Zweck, indem sie teils deren Gewissen zur Mißbilligung ihrer vorherigen Lebensweise erregt, teils die dadurch erschreckten und gedemütigten Gewissen wieder beruhigt und tröstet. In beiden Beziehungen ist das moralische Urteil und das Gefühl moralischer Lust oder Unlust abhängig von der religiösen Einwirkung. Auf diese würde aber niemand in jener Weise reagieren, wenn er nicht zuvor den Wert des Ideals als auch für sich selbst gültig anerkannt hätte. SO wird ihm dieses zum Gesetz, nach dem er unwillkürlich sich selbst beurteilen muß. Das Ideal aber ist ihm nur im geschichtlichen Zusammenhang der christlichen Religion gegeben. Er hat es also empfangen, denn er selbst kann es nie aus sich heraus produzieren, sondern nur reproduzieren, nachdem er es sich in der weiter oben beschriebenen Weise angeeignet hat. So sind die moralischen Urteile im Christentum bewußt oder unbewußt stets durch religiöse Eindrücke bedingt. Und analog verhält es sich auch in allen anderen Religionen und Weltanschauungen.
    46) Wo es sich um religiöse Neuschöpfungen handelt, erscheinen deren Urheber der religiösen Betrachtung als Gottgesandte und Propheten im eigentlichsten Sinne. Wie sich aber über deren Menge CHRISTUS in einzigartiger Weise erhebt, ist hier nicht der Ort zu erweisen.
    47) Was das Christentum betrifft, so ist unter einem objektiven Gesichtspunkt sein Kern die allerdings dem Glauben stets korrelate Offenbarung. Freilich besteht ein tiefeinschneidender Streit über den Begriff der Offenbarung. Darauf kann hier natürlich nicht eingegangen werden. Aber da die Offenbarung Gottes in CHRISTI Person und Werk als objektiver Wert geschichtlich stets allen unseren subjektiven Werturteilen vorangeht, und alle christliche Wertbeurteilung bedingt, so ist nicht diese, da sie ja auch irrenkann, das entscheidende Moment in der Theologie, sondern vielmehr die Offenbarung. Zu diesem Ergebnis gelangt auch SPERL in seinem trotz mancher Mängel und Einseitigkeiten beachtenswerten Aufsatz über "Das Wesen der Werturteile" (Neue kirchliche Zeitschrift, Bd. 1, Seite 556 - 589). Wie die christliche Offenbarung als objektives Datum der Geschichte erweislich, und damit ein der subjektiven Willkür des Einzelnen entzogener fester Punkt der Theologie gegeben sei, habe ich zu zeigen versucht in meiner Abhandlung über den "geschichtlichen Christus usw." in der "Zeitschrift für Theologie und Kirche", Bd. 3, Seite 371 - 426.
    48) CARLYLE nennt einmal den Krieg des Glaubens gegen den Unglauben den großen Universalkrieg, der allein die Geschichte der Welt ausmacht (Über Helden und Heldenverehrung, 1853, Seite 362).
    49) Vgl. dazu KANT, Kritik der praktischen Vernunft, Sämtliche Werke, Bd.5, Seite 152