ra-1 Johannes FallatiF. A. LangeGeorg LukacsHermann Schwarz    
 
VIKTOR STERN
Ein neues Argument
gegen den Materialismus


"Wenn Sie, meine hochgeehrten Damen und Herren, einen in Bewegung befindlichen Stein betrachten, dann mögen Sie noch so genau zusehen, Sie werden doch immer nur einen Stein sehen und nichts anderes mehr. Eine Bewegung als etwas Greifbares oder Sichtbares, als etwas Reales existiert nicht, denn was Sie sehen und greifen können, das ist immer nur der bewegte Stein, und nur dieser existiert. Was aber würden Sie zu einem Menschen sagen, der behaupten würde, es sei ganz gut möglich, daß die Bewegung für sich allein existieren könnte, ohne irgendeinen bewegten Körper?"

Eine Diskussion über den Materialismus führen, das bedeutet heute in den Augen vieler nicht viel mehr, als Eulen nach Athen tragen. Nach Ihrer Ansicht ist der Materialismus längst widerlegt und sozusagen mausetot, ein Ding, über das man einfach zur Tagesordnung übergehen kann.

Fast will es mir scheinen, als brächte damit auch die Philosophie, die man doch mit gutem Recht die uneigennützigste und selbstloseste aller Wissenschaften nennen kann, einen neuen Beweis dafür, daß Undank doch der Welten Lohn ist. Wenn sie, und nicht mit Unrecht, gar so stolz darauf ist, daß ihr in letzter Zeit so viele und so begeisterte Anhänger zugeführt hat, sollte sie da wirklich so schnell und so leicht den vergessen können, dem sie diese große Zahl von neuen Freunden nicht zum geringsten Teil zu danken hat? Was den philosophischen Dilettanten, bevor er sich noch mit der Philosophie befaßt hat, schon an dieser interessiert, das sind nicht die erkenntnistheoretischen und ontologischen Probleme, von denen er ja noch keine Ahnung hat, sondern Fragen, die ihm geläufig sind und deren Beantwortung er von der Philosophie erhofft.

Gibt es einen Gott und eine Seele? Gibt es ein Leben nach dem Tog, eine Unsterblichkeit der Seele? Oder ist das alles Lüge und Betrug, ein leeres Hirngespinst, erzeugt im Kopf eines Irren oder eines Schwindlers? Das sind Fragen, die so ziemlich jeden Gebildeten beschäftigen und eine Antwort erheischen. Auf alle diese Fragen gibt der Materialismus eine klare, eindeutige und auf den ersten Blick auch einleuchtende, vollkommen befriedigende Antwort. So gewinnt er unzählige Anhänger und ist weder als Feind noch aus Freund zu verachten und zu übersehen.

In wissenschaftlichen Kreisen allerdings zählt der Materialismus, trotz seines großen Einflusses und seiner weiten Verbreitung unter den gebildeten Laien, nur noch sehr wenige, vereinzelte Anhänger. Die meisten halten ihn für unzulänglich und nicht befriedigend, sehr viele der einflußreichsten und berühmtesten Denker für vollkommen widerlegt, endgültig abgetan und für die Wissenschaft überhaupt nicht mehr in Betracht kommend.

Daß es dem Materialismus glänzend geht, läßt sich unter solchen Umständen schwerlich behaupten. Die Annahme jedoch, daß er wirklich endgültig widerlegt und abgetan sei, wäre ebenso falsch und nicht weniger unrichtig. Er lebt, lebt noch immer, wenn auch schlecht, wenn auch nicht gerade in den glänzendsten Verhältnissen, aber er lebt, und er ist sich seines Lebens so wohl bewußt, daß er seinen Gegnern mit gleicher Münze heimzahlt, ihnen ebenso wie sie ihm jede Existenzberechtigung abspricht und das Recht zu sein für sich allein in Anspruch nimmt. Dem Materialismus geht es heute nicht schlechter als den nunmehr triumphiernd dastehenden Gegnern vor nicht gar so langer Zeit. Damals war man allgemein der Ansicht, daß nur der Materialismus als wissenschaftliche Weltanschauung in Betracht kommen kann. Heute ist es umgekehrt. Ebensowenig als man damals den Dualismus wirklich endgültig widerlegt hatte, ebensowenig ist dies heute beim Materialismus der Fall, und von allen Argumenten, die man gegen ihn vorbringt und mit denen man seine Beweise zu entkräften versucht, vermag kein einziges einer genauen Prüfung standzuhalten.

Als die wichtigsten Beweise für den Materialismus werden gewöhnlich das methodologische, das mechanische und das kosmologische Argument angeführt und scheinbar widerlegt. Ich sage ausdrücklich scheinbar, denn eine wirkliche und endgültige Widerlegung ist, wie ich zeigen will, bis jetzt noch nicht gelungen.

Das methodologische Argument für den Materialismus weist bekanntlich darauf hin, daß die Annahme eines immateriellen Seelenwesens durchaus unwissenschaftlich und durch nichts gerechtfertigt ist, weil uns in der Erfahrung immer nur Materie entgegentritt und niemals etwas anderes. Dieses Argument wird von den Gegnern in geradezu staunenswerter Einfachheit widerlegt, indem man ihm recht gibt. "Gewiß", sagt der moderne Dualist, "ist die Annahme eines eigenen Seelenwesens durchaus unwissenschaftlich und in keiner Weise berechtigt, weil uns in unserer Erfahrung tatsächlich nirgends ein Seelenwesen entgegentritt und wir daher absolut keinen Grund haben, ein solches anzunehmen. Was uns jedoch erfahrungsmäßig gegeben ist und was wir daher notwendigerweise als wirklich und tatsächlich existierend annehmen müssen, das sind die psychischen Vorgänge. Diese existieren unbedingt und sind dennoch von allem Materiellen so grundverschieden, daß man gezwungen ist, sie für immateriell zu halten. Eine solche Nachgiebigkeit hatte der Materialist nie und nimmer erwartet, im ersten Schreck verstummt er gänzlich und weiß keine Antwort. Die Waffe, die er geschmiedet hat, die hat der Gegner als brauchbar erkannt, ihm unversehens entrissen, um sie nun gegen ihn zu benützen.

Das methodologische Argument ist keineswegs das stärkste von allen, die für den Materialismus sprechen. Jedoch so leicht zu widerlegen ist es dann doch nicht. Es hat den Gegner zumindest zu einem sehr bedeutenden Zugeständnis gezwungen, zu einem Rückzug, zum Fallenlassen des Seelensubstanzbegriffs. Der moderne Dualist muß diesen Begriff fallen lassen, weil er sonst unrettbar dem Materialismus zugeführt wird. Hat man ihn aber einmal zu diesem Rückzug zu diesem Zugeständnis gezwungen, so hat man ihn damit zugleich genötigt, sich sein eigenes Grab zu schaufeln. Dann brauch man ihn nur die Konsequenzen aus einer eigenen Anschauung ziehen zu lassen und kann so bewirken, daß er sich immer mehr in unlösbare Widersprüche verwickelt und sich auf diese Weise selbst am besten widerlegt. Da der moderne Dualist den Seelensubstanzbegriff fallen lassen mußte, sieht er sich genötigt in den psychischen Erscheinungen Vorgänge zu sehen, welche keinen Träger haben, eine bloßes substratloses Geschehen. Damit verlangt er von uns Unmögliches. Infolge der fundamentalen Apperzeption ist es uns ganz unmöglich, dem Dualismus hierin zu folgen. Was immer auch geschieht, etwas muß da sein, womit es geschieht. Eine Änderung ohne irgendetwas, das sich ändert, ein Fühlen ohne irgendetwas, welches fühlt, ein Wollen, ohne daß irgendetwas will, das sind lauter unmögliche und undenkbare Dinge. Der gesunden Menschenverstand kann niemals annehmen,, daß sich irgendetwas ereignet, ohne daß irgendetwas existiert, womit es sich ereignet. Und ganz abgesehen davon, daß es dem gesunden Menschenverstand niemals einleuchten wird, auch nur die Möglichkeit eines bloßen substratlosen Geschehens zuzugeben, geschweige denn sich ein solches vorstellen zu können, ganz abgesehen davon ergibt für den Philosophen von Fach eine nähere kritische Untersuchung dieser Annahme sofort ihre Unhaltbarkeit. Betrachten wir nämlich all jene Erscheinungen, die wir als Geschehen bezeichnen, so stellt sich bald heraus, daß alle diese Ereignisse gar nicht existieren, daß einzig und allein nur die Dinge existieren, mit denen etwas geschieht, sich etwas ereignet. Und nur um diese Tatsache, nämlich, daß sich mit dem betreffenden Ding etwas ereignet, auszudrücken, sprechen wir von einem Ereignis. Wenn Sie, meine hochgeehrten Damen und Herren, einen in Bewegung befindlichen Stein betrachten, dann mögen Sie noch so genau zusehen, Sie werden doch immer nur einen Stein sehen und nichts anderes mehr. Eine Bewegung als etwas Greifbares oder Sichtbares, als etwas Reales existiert nicht, denn was Sie sehen und greifen können, das ist immer nur der bewegte Stein, und nur dieser existiert. Was aber würden Sie zu einem Menschen sagen, der behaupten würde, es sei ganz gut möglich, daß die Bewegung für sich allein existieren könnte, ohne irgendeinen bewegten Körper? So wie es mit der Bewegung ist, so ist es auch mit allen anderen Ereignissen, es existieren immer nur die Körper, und nur die Tatsache, daß sie uns zu verschiedenen Zeiten mit verschiedenen Eigenschaften entgegentreten, drücken wir dadurch aus, daß wir von einer Änderung, von Ereignissen sprechen. Würden wir uns nur immer vor Augen halten, daß dieses Ereignisse eigentlich keine reale Existenz besitzen, und daß nur die Träger der Ereignisse existieren, dann würden wir niemals in den Irrtum verfallen können, ein trägerloses Sichereignen anzunehmen, wie es der moderne Dualist tun muß, um das methodologische Argument widerlegen zu können. Wie wir sehen ist schon das methodologische Argument allein sehr wohl geeignet, den Gegnern Schwierigkeiten zu bereiten. Dabei ist es keineswegs das stärkste Argument für den Materialismus. Viel stärker und heute noch unwiderlegt ist das mechanische Argument.

Die Summe aller vorhandenen Energie ist konstant. Nimmt man nun immaterielle psychische Wesen  oder  Vorgänge an, welche durch ihre Einwirkung einen Muskel zur Kontraktion bringen, so würde dies eine Neuschöpfung von Kraft bedeuten, was unserem physikalischen Gesetz von der Erhaltung der Energie widerspricht.

Auch dieses Argument versuchte der moderne Dualismus zu widerlegen. Die Widerlegung ist sehr geistreich und sehr überzeugend, hat aber leider nur den einen sehr unangenehmen Fehler, daß sie unserer Physik widerspricht. Der moderne Dualist weist darauf hin, daß der Wille, und auf den kommt es ja hier hauptsächlich an, keineswegs eine neue Kraft in die Welt schafft, sondern nur die im Muskel aufgespeicherte Spannkraft in eine lebendige Kraft umsetzt.

Diese Erwiderung übersieht ein sehr wichtiges physikalisches Gesetz, das Gesetz der Trägheit, demzufolge auch zu einer solchen Umwandlung von Spannkraft in lebendige Kraft unbedingt eine, wenn auch noch so geringe Krafteinwirkung notwendig ist. Kein Körper verändert freiwillig, d. h. ohne daß eine Kraft auf ihn gewirkt hat, seinen Zustand, auch der Muskel nicht. Wenn sich also die Spannkraft des Muskels in eine lebendige Kraft umsetzt, muß unbedingt eine Kraft auf ihn gewirkt haben.

Wollten wir aber annehmen, daß immaterielle Wesen oder Vorgänge eine solche Muskelkontraktion hervorriefen, so behaupten wir damit, daß diese immateriellen Dinge eine Kraftäußerung schon bewirkt hätten, ehe sich noch die Spannkraft des Muskels in eine lebendige verwandelte, d. h. sie hätten Kraft in die Welt hineingezaubert, die Erhaltung der Energie durchbrochen. Das mechanische Argument läßt sich also durch den vorgeführten Einwand nicht widerlegen, es besteht zu Recht und lautet kurz ausgedrückt: Das, was wir Seele oder seelische Vorgänge nennen, ruft materielle Veränderungen, speziell Bewegung hervor, was nur durch Kräfte möglich ist. Die seelischen Vorgänge sind daher entweder selbst Kräfte oder sie vermögen Kräfte zu erzeugen. Im ersten Fall sind sie materiell, der zweite Fall widerspricht dem Gesetz von der Erhaltung der Energie. Das ist mehr als ein bloßes Argument, das ist ein logisch unanfechtbarer Beweis für die Richtigkeit des Materialismus.

Mit Rücksicht auf die zwingende Logik des mechanischen Beweises kann der Materialismus ruhig auf das kosmologische Argument verzichten, welches auf keinen Fall mehr als die Wahrscheinlichkeit des Materialismus erhärten kann, eine Wahrscheinlichkeit, die allerdings sehr erhöht wird, wenn man anstelle des kosmologischen das verwandte biogenetische oder noch spezieller anthropogenetische Argument anführt. Das kosmologische Argument ist eigentlich eine Frage an jenen, der noch an eine Seele oder an seelische Vorgänge glaubt. Es fragt, wo und was denn diese Seele gewesen sei zu der Zeit, als die ganze Welt ein feuriger Gasball war. Der Dualist antwortet, daß man über diese Zeit überhaupt nichts Gewisses aussagen kann. Ob das eine überzeugende Entgegnung ist, lasse ich dahingestellt.

Man versuchte jedoch den Materialismus auch direkt zu widerlegen, nicht bloß durch Einwendungen gegen seine Argumente, sondern auch dadurch, daß man in der Anschauung des Materialismus selbst einen Widerspruch, eine logische Unmöglichkeit zu finden suchte. Auch diese direkten Beweise vermögen nicht zu überzeugen. Wenn man dem Materialisten einwendet, Materie könne doch unmöglich denken, so erwidert er nur: das sei eine bloße durch nichts bewiesene Behauptung, die Materie könne im Gegenteil sicher denken, und erhärtet diese seine Behauptung durch Beweise, was der Gegner nicht vermag. Weist man jedoch den Materialisten auf den unleugbaren und ins Auge fallenden Gegensatz zwischen materiellen und psychischen Erscheinungen hin, so zuckt er mit den Achseln, meint, dieser Gegensatz wäre nur ein oberflächlicher, scheinbarer und beruft sich wiederum auf seine unwiderlegten Beweise, die einen wirklichen Gegensatz ausschließen.

Fast hat es nun den Anschein, als könnte der Materialismus überhaupt nicht widerlegt werden, ähnlich, wie dies ja bekanntlich beim Solipsismus der Fall ist, der allen Versuchen in dieser Hinsicht zum Trotz, bis heute noch nicht widerlegt werden konnte. Meiner Ansicht nach läßt sich der Materialismus sehr wohl widerlegen, nur muß man den richtigen Weg dazu einschlagen. Mit transzendenten, ganz außerhalb einer jeden Erfahrung liegenden Argumenten wird man ihm niemals beikommen, weil solche transzendente Argumente nicht überprüft werden können. Man kann an sie glauben, man muß es aber nicht. Wenn es jedoch gelingen könnte, der Erfahrung ein Argument gegen den Materialismus zu entnehmen, so müßte es unbedingt von zwingender Überzeugungskraft sein. Niemals aber werden wir dem Materialisten mit der bloßen Behauptung: Materie kann doch nicht denken, beikommen.

Nur dann, wenn es gelingen sollte, eine Eigenschaft anzugeben, welche allen materiellen Erscheinungen am Menschen zukommt, eben weil sie materiell sind, dann ließe sich leicht feststellen, ob diese Eigenschaft, dieses Merkmal auch den psychischen Erscheinungen zukommt oder nicht. Dann ließe sich auch auf rein empirische Weise feststellen, ob der Materialismus richtig ist oder nicht. Ein auf diese Weise gewonnenes Argument wäre ein sicherer Beweis von zwingender Überzeugungskraft, eben wegen seines empirischen, erfahrungsmäßigen Ursprungs. Das Merkmal nun, das einem solchen Beweis zugrunde liegen könnte, glaube ich gefunden zu haben: Es ist die Vererbungs möglichkeit. 

Zunächst läßt sich leicht einsehen, daß dieses Merkmal die erste und grundlegende Bedingung erfüllt. Alle materiellen Eigenschaften des Menschen müssen zwar nicht vererbt werden und werden uach meistens nicht vererbt, aber sie besitzen unbedingt die, wenn auch noch so geringe Möglichkeit, vererbt zu werden und diese Möglickeit der Vererbung ist ja mein Merkmal. Wenn ich nun irgendetwas beim Menschen nachweisen kann, für welches auch die bloße Möglichkeit einer Vererbung ausgeschlossen erscheint, dann ann dies nicht mehr materieller Natur sein, weil ihm ein Merkmal fehlt, das allem Materiellen am Menschen zukommt. Von diesem Grundgedanken ausgehend läßt sich der Materialismus leicht z. B. durch folgende Erwägung widerlegen.

Jemand weiß, daß der Radius der Erde 6370 km lang ist. Würde dieses Wissen wirklich wie der Materialist behauptet nur auf einer materiellen Beschaffenheit seines Gehirns beruhen, so müßte unbedingt die Möglichkeit vorhanden sein, daß dieser Zustand seines Gehirns auf seinen Nachkommen vererbt würde, daß also sein Sohn oder Enkel die Länge des Erddurchmessers wüßte, ohne jemals davon etwas gehört zu haben. In Wirklichkeit ist dies, wie jeder zugeben muß, ganz ausgeschlossen, ganz unmöglich. Dadurch erscheint der Materialismus widerlegt.

Die Möglichkeit der Vererbung, auf die es hier ankommt, die wird zur Wahrscheinlichkeit und fast zur Gewißheit, wenn es sich um materielle in der Stammesgeschichte erworbene Eigentümlichkeiten der ganzen Gattung handelt. Wenn nun die Kenntnis der Sprachbilder wirklich nur auf einer materiellen Beschaffenheit des Gehirns beruhen würde, dann müßte die Vererbung dieser Kenntnis nach dem eben erwähnten Erfahrungssatz zur höchsten Wahrscheinlichkeit werden und in Wirklichkeit tritt uns auch hier, wie jeder notgedrungen zugeben muß, eine absolute Unmöglichkeit entgegen. Oder könnte es jemand wirklich für möglich halten, daß irgendwer ganz von selbst, ohne es von irgendeiner Seite erfahren zu haben, wissen könnte, dieser Gegenstand heiße Tisch, jener Glas usw.? In einem solchen Fall tritt der Gegensatz viel schärfer hervor, als wenn es sich bloß um mein Wissen und nicht um ein Wissen handelt, das schon mein Vater, mein Großvater, mein Urgroßvater usw. hatte. Hier stehen sich nicht mehr Möglichkeit und Unmöglichkeit gegenüber, sondern hohe Wahrscheinlichkeit und Unmöglichkeit. Eigentlich könnten wir uns damit zufrieden geben. Unser Merkmal hat seinen Dienst getan und könnte gehen. Es hat uns gezeigt, daß auch etwas Immaterielles existiert, das Wissen. Was aber liegt näher, als dieses Merkmal nun auch auf die anderen psychischen Erscheinungen als Kriterium anzuwenden und zu untersuchen, ob nicht auch diese immaterieller Natur sind. Das Resultat dieser Untersuchung ist von ganz eigentümlicher, von äußerst überraschender Art. Es stellt sich heraus, daß die anderen psychischen Erscheinungen, das Fühlen, das Wollen, das Denken, insbesondere auch Fähigkeiten und Eigenschaften, materielle Vorgänge und Zustände sind, weil sie eben vererbbar sind. Der Materialismus hat also nur in Bezug auf das Bewußtsein, auf das Wissen Unrecht, in Bezug auf alle anderen psychischen Vorgänge aber vollkommen Recht. Das Fühlen, das Wollen und das Denken sind unbedingt nichts anderes als rein materielle Vorgänge im Gehirn, ebenso wie psychische Eigenschaften und Fähigkeiten sicherlich materielle Zustände unseres Nervenzentrums sind. Das Kriterium der Vererbungsmöglichkeit, dessen Anwendung den Materialismus widerlegt und gezeigt hat, daß wir im Wissen unbedingt etwas Immaterielles zu sehen haben, ebendasselbe Kriterium bestätigt die Richtigkeit des Materialismus, soweit die übrigen psychischen Erscheinungen in Betracht kommen. Bei psychischen Eigenschaften und Fähigkeiten liegt die Vererbungsmöglichkeit klar auf der Hand. Hundert- und tausendmal kommt es vor, daß der Sohn eines Mathematikers eine Eignung für Mathematik, der Sohn eines Musikers für Musik, die Tochter eines Denkers für Philosophie besitzt. Roheit und Milde, Melancholie und Sanguinismus, Bescheidenheit und Anmaßung, das alles kann vererbt werden und wird auch sehr oft vererbt. Etwas weniger deutlich zeigt sich die Vererbung des Denkens, Fühlens und Wollens. Auch diese ist vorhanden. Ein starrer, unbeugsamer Wille, ein scharfer, durchdringender Verstand, ein leicht erregbares Gefühl, Dummheit und Klugheit, Gefühllosigkeit und tiefes Empfinden, Energielosigkeit und konsequentes starkes Wollen, das alles wird oft vererbt und besitzt auf jeden Fall unser Merkmal, die Vererbungsmöglichkeit. Was nicht ererbt werden kann, ist einzig und allein das Wissen. Lateinische Vokabeln muß jeder lernen, der sie können will, und der Papa kann höchstens den Herrn Professor bitten, sie nicht gar zu streng zu prüfen. Beim Denken haben wir es besser. Das haben unsere gütigen Vorfahren vor so und so vielen tausend Jahren, vielleicht gar schon als Affen, für uns gelernt, denen es nun von selbst kommt, ohne daß wir es merken.

Durch diese Betrachtungen kommen wir zu einem Dualismus von ganz anderer Art als jeder bisherige. Auch für unseren Dualismus besteht der Gegensatz von Materiellem und Immateriellem. Zum ersteren gehört aber nicht nur all das, was man bisher zum Materiellen rechnete, sondern auch alle sogenannten psychischen Erscheinungen mit Ausnahme des Wissens, oder besser und richtiger: des Gewußtwerdens. Auch unser Dualismus kennt keine Seelensubstanz und nur ein immaterielles Geschehen, das Gewußtwerden. Unser Standpunkt bietet aber den großen Vorzug, daß wir nicht zu der ganz unhaltbaren Annahme eines substratlosen Geschehens, eines subjektlosen Prädikats genötigt sind, denn unser immaterielles Geschehen, das Gewußtwerden, hat einen Träger, ein Subjekt, nämlich die materiellen Vorgänge und Zustände, die wir psychische nennen, die sind es, welche gewußt werden.

Von diesem Standpunkt aus werden jedoch nicht bloß die Widersprüche, welche der moderne Dualismus in sich selbst trug, vermieden, von diesem Standpunkt aus ist es auch ein Leichtes, alle früher angeführten Argumente des Materialismus zu widerlegen, was, wie ich zu zeigen versuchte, bisher nicht ganz gelungen war. Zunächst entfällt natürlich sofort das methodologische Argument, da wir ja zu unserer Ansicht auf empirische also sicher nicht unwissenschaftliche Weise gelangten und weiters verliert auch das mechanische also das stärkste Argument für den Materialismus jeden Halt, da unser Immaterielles ja keinerlei materielle Änderungen hervorruft und somit auch keine neue Kraft in die Welt setzt. Was materielle Änderungen hervorruft, das ist der Wille, und der kann dies, weil er selbst materieller Natur ist. Das Gewußtwerden dieses Willens ist immaterieller Natur, ändert aber nichts an den materiellen Verhältnissen. Das kosmologische Argument endlich und mit ihm das bio- oder anthropogenetisch ist nun ohne jede Bedeutung, da die psychischen Vorgänge ja selbstverständlich erst gewußt werden können, wenn sie schon existieren, wenn also ihre Vorbedingung, das organische Leben, bereits entstanden ist, und nicht früher.

Das Endresultat der vorhergehenden Betrachtungen läßt sich folgendermaßen in Kürze zusammenfassen:

Der Mensch ist ganz so, wie es der Materialismus behauptete, eine Maschine. Sein Gehirn ist so wunderbar konstruiert, daß es auf äußere Reize mit sehr zweckmäßigen Reaktionen zu erwidern vermag. In vielen Fällen geht dieser Erwiderung ein komplizierter Vorgang im Gehirn voraus, welcher dazu dient, die zweckmäßigste Erwiderung zu finden. Dann folgt diese Erwiderung zunächst in Form eines Gehirnvorgangs, der dann die entsprechenden Muskelkontraktionen zur Folge hat. Ferner wird das Gehirn oft durch äußere Reize in einen eigentümlichen Zustand versetzt, der seine Tätigkeit fördern oder hemmen kann. Alle diese materiellen Vorgänge und Zustände im Gehirn, in welchen ein jeder sofort das Denken, Wollen und Fühlen erkennt, können auch, ohne daß ein äußerer Reiz eingewirkt hat, im Gehirn zustande kommen. Unter den materiellen Vorgängen des Gehirns gibt es nun einige, die durch eine besondere Eigentümlichkeit ausgezeichnet sind, durch den Umstand, daß sie direkt gewußt werden. Und dieser Umstand, dieses direkte Gewußtwerden verleiht diesen materiellen Vorgängen ein so eigentümliches Gepräge, daß es uns schwer fällt in ihnen materielle Vorgänge zu erkennen, weshalb wir sie als psychische bezeichnen. Diese sogenannten psychischen sind materielle Erscheinungen und ich will, um dies auszudrücken, die scheinbar sich selbst widersprechende Bezeichnung materielle psychische Erscheinungen für sie benutzen, zum Unterschied von allen anderen nicht psychischen materiellen Erscheinungen. Alle anderen materiellen Erscheinungen werden nur indirekt gewußt, das heißt, sie müssen, um gewußt zu werden, zuerst psychische materielle Erscheinungen, die selbst direkt gewußt werden hervorrufen. Aus diesem wesentlichen Unterschied, erklärt sich der Gegensatz dieser Erscheinungen zur Genüge, und es geht daher nicht an, aus diesem Gegensatz schließen zu wollen, daß die von mir materiell psychisch genannten Erscheinungen nicht materiell sind.

Das Verhältnis unseres Standpunktes zu anderen Weltanschauungen würde sich dann ungefähr auf folgende Weise veranschaulichen lassen:

subobsubob

Für den Materialismus ist alles Objekt. Für den Idealismus ist alles Subjekt. Der moderne Dualismus differenziert in Objekt und Subjekt, indem er beide anerkennt. Unser Standpunkt tut dasselbe, verlegt aber die Grenze an eine andere Stelle, indem die psychischen materiellen Erscheinungen in das Subjekt nicht mit einbezogen werden.

pfeil psychische
non-psychische
} materielle
Erscheinungen
} Existenz

Wir finden demnach auch im Objekt selbst eine Differenzierung in direkt Gewußtes und indirekt Gewußtes.

Nachdem wir so von einer Erfahrung ausgehend zu der Überzeugung gekommen sind, daß nur das Wissen immateriell und alle anderen psychischen Erscheinungen materiell sind, können wir nun auch umgekehrt aus dieser Annahme logische Konsequenzen ziehen und untersuchen, ob diese Konsequenzen mit der Erfahrung übereinstimmen. Aus unserer Annahme läßt sich z. B. schließen, daß die sogenannten psychischen Störungen nur bei den materiellen psychischen Erscheinungen auftreten werden. Und in der Tat sind es auch wirklich nur die materiellen psychischen Erscheinungen wie das Fühlen, das Wollen, das Denken, welche in Fällen von psychischen Störungen falsch funktionieren, während das Wissen vollkommen richtig funktionert. Die meisten psychischen Erscheinungen werden so wie sie sind gewußt, ob sie nun den tatsächlichen Verhältnissen der Außenwelt entsprechen oder nicht. Daher wäre es auch viel richtiger, immer nur von Nerven- oder Gehirnkrankheiten zu sprechen und niemals von Geisteskrankheiten. Nicht das Wissen wird oder ist in allen solchen Fällen unrichtig, sondern nur das, was gewußt wird. Ganz analog verhält es sich mit der Einwirkung von materiellen äußeren Reizen. Auch da bestätigt die Erfahrung das, was aus unserer Annahme logisch folgt. Nur insofern als das Subjekt des Wissens, die Erscheinungen, welche gewußt werden, durch die äußeren Reize eine Veränderung erfahren haben, nur soweit ist auch das Wissen ein anderes geworden. Damit verliert das vielumstrittene Problem der Wechselwirkung von Materiellem und Immateriellem seine ganze Schwierigkeit, da ja materielle Erscheinungen der Träger, das Subjekt alles immateriellen Geschehens sind. Sind zum Beispiel die materiellen psychischen Erscheinungen infolge von materiellen Ursachen unbestimmt, undeutlich und verschwommen, so werden sie naturgemäß so wie sie sind, also undeutlich, verschwommen gewußt, und treten diese Erscheinungen, was ja auch unmöglich ist, aus irgendeinem Grund nicht auf, dann können sie auch nicht gewußt werden. In einem Moment, in dem es keine anderen psychischen Erscheinungen gibt, kann es auch kein Bewußtsein geben. Auch dies wird durch die Erfahrung bestätigt. Etwas Materielles z. B. Chloroform kann also auf das immaterielle Bewußtsein einwirken, es sogar ganz aufheben, das Umgekehrte jedoch kann, wenn unsere Anschauung richtig ist, nicht eintreten und tritt auch in Wirklichkeit nicht ein. Etwas Immaterielles kann niemals auf etwas Materielles einwirken, weil zu jeder materiellen Veränderung eine Kraft erforderlich ist. Die Erfahrung bestätigt dies. Wenn ein materieller Vorgang gewußt wird, so hat eine jede Änderung des Vorgangs auch eine Änderung des Gewußtwerdens zur Folge, umgekehrt jedoch kann der Umstand, daß dieser Vorgang gewußt wird, am Vorgang selbst nichts ändern. Scheinbar bringt auch das Wissen materielle Veränderungen hervor, aber auch nur scheinbar. Ich weiß, daß Feuer brennt, und dieses Wissen ist scheinbar die Ursache von vielen Bewegungen. In Wirklichkeit ist jedoch die Ursache aller solchen Bewegungen nicht das Wissen, sondern ein Urteil, ein Denkakt, also ein materieller Vorgang im Gehirn, welcher einen anderen materiellen Vorgang ebenfalls im Gehirn, das Wollen auslöst. Denken wir uns das Wissen ausgeschaltet, so würden alle materiellen Vorgänge genau so vor sich gehen, wie mit dem Wissen. Daraus folgt klar, daß das Wissen in keinerlei Weise auf materielle Erscheinungen einwirkt.

Der Materialismus ist also von unserem Standpunkt aus als widerlegt zu betrachten, aber nicht in allen Punkten. In einem sehr wesentlichen Teil seiner Behauptungen behält er Recht. Alle seine Beweise sind formal und logisch vollkommen richtig, sie lassen sich nicht widerlegen und verlieren ihre Beweiskraft unserem Standpunkt gegenüber nur deshalb, weil sie nicht mehr beweisen, als wir ohnehin zugestehen. Unser Standpunkt ist gleichsam eine Vermittlung zwischen Materialismus und Dualismus, aber nicht von der Art, daß sie es mit beiden verderben wollte, indem sie beiden Unrecht gibt. Sie trachtet vielmehr mit beiden auf gutem Fuß zu stehen, indem sie beiden in den wichtigsten Punkten Recht gibt und nur zeigt, daß sich diese scheinbar widersprechenden Anschauungen ganz gut vereinbaren lassen. Und weil wir nun schon beim Friedenschließen sind, so möchte ich auch noch den Versuch wagen, ob denn nicht auch mit dem Monismus eine gütliche Verständigung möglich ist, so entgegengesetzte Begriffe Monismus und Dualismus auch sein mögen. Es läßt sich ja doch nicht leugnen, daß die Aufstellung eines einheitlichen Prinzips in der Weltauffassung von größter Bedeutung ist. Man darf dabei nur nicht Gegensätze, die sich nun einmal nicht aus der Welt schaffen lassen, mit aller Gewalt zu leugnen suchen. Man muß vielmehr die wirklich bestehenden und nicht zu leugnenden Gegensätze anerkennen, nichtsdestoweniger jedoch versuchen, ob sich nicht irgendein Merkmal finden läßt, das allen gemeinsam und deshalb zur Bildung eines übergeordneten Begriffs geeignet ist. Ein solcher Begriff könnte die Grundlage einer einheitlichen monistischen Weltauffassung werden, die trotz ihrer Einheitlichkeit alle Gegensätze anerkennt. Im naturwissenschaftlichen Monismus von Dr. M. L. STERN, meinem Vaters, ist auch wirklich als ein solcher oberster Weltbegriff die Existenz aufgestellt worden, und dies dürfte in der Tat das einzige sein, was sich von allem noch so Entgegengesetzten gemeinsam aussagen läßt.

Eine solche Weltauffassung ist dann einheitlich ohne einseitig zu sein, sie erkennt die wirklich bestehenden Gegensätze an, ohne auf das zusammenfassende Prinzip zu verzichten, sie vereinigt in sich die Vorzüge des Dualismus und des Monismus mit Vermeidung ihrer Mängel.

Wenn auf diese Weise ein Friede zwischen den einzelnen Weltanschauungen zustande kommen könnte, so wäre es sicherlich ein ehrenvoller Friede.
LITERATUR: Viktor Stern - Ein neues Argument gegen den Materialismus, Archiv für systematische Philosophie, Neue Folge, Bd. 12, Berlin 1907