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Ziel und Struktur physikalischer Theorien [ 2 / 2 ]
§ 4. Der Streit über die verborgenen Ursachen Sehr häufig nehmen die Vorwürfe, die eine kosmologische Schule gegen die andere richtet, die Form an, daß die eine die andere der Berufung auf verborgene Ursachen anklagt. Die großen kosmologischen Schulen - die peripatetische, die NEWTONsche, die atomistische und die cartesianische - können in eine solche Reihenfolge gebracht werden, daß jede derselben der Materie eine kleinere Zahl wesentlicher Eigenschaften zubilligt, als es die in der Reihe folgenden tun. Die peripatetische Schule setzt die Substanz der Körper nur aus zwei Elementen, dem Stoff und der Form, zusammen. Aber diese Form kann Eigenschaften annehmen, deren Zahl ohne Grenzen ist. So kann jede physikalische Eigenschaft einer besonderen Qualität zugeschrieben werden, sie kennt wahrnehmbare Eigenschaften, die direkt unseren Sinnen zugänglich sind, wie die Schwere, die Dichte, das Flüssigsein, die Wärme, das Licht und verborgene Eigenschaften, die ihre Wirkungen unseren Sinnen nur in indirekter Weise kundgeben, wie die Magnetisierung oder die Elekrisierung. Die Anhänger NEWTONs verwerfen diese unendliche Mannigfaltigkeit von Eigenschaften, um in einem hohen Grad den Begriff der materiellen Substanz zu vereinfachen. Als Elemente der Materie lassen sie einzig Massen, gegenseitige Wirkungen und Gestalten bestehen, wenn sie nicht wie BOSCOVICH und mehrerer seiner Nachfolger so weit gehen, dieselben auf Punkte ohne Ausdehnung zu reduzieren. Noch weiter geht die atomistische Schule. Nach ihr behalten die materiellen Elemente Masse, Gestalt und Härte, aber die Kräfte, durch welche sie sich gemäß der NEWTONschen Schule gegenseitig beeinflussen, verschwinden aus dem Reich der Wirklichkeit, sie werden nur als Erscheinungen und Fiktionen betrachtet. Die Cartesianer endlich treiben die Tendenz, die materielle Substanz der verschiedenen Eigenschaften zu berauben, auf die Spitze. Sie verwerfen die Härte der Atome, sie verwerfen selbst die Unterscheidung des erfüllten vom leeren Raum, um die Materie nach einem Wort von LEIBNIZ (1) mit "der Ausdehnung und ihrer bloßen Änderung" zu identifizieren. So läßt jede kosmologische Schule in ihren Erklärungen gewisse Eigenschaften der Materie zu, welchen die folgende Schule die Anerkennung als Realitäten verweigert, die sie bloß als Worte betrachtet, die die viel tiefer liegenden Realitäten anzeigen ohne sie aufzudecken, die sie mit einem Wort zu den verborgenen Ursachen rechnet, die die Scholastik im Überfluß geschaffen hat. Es ist kaum nötig daran zu erinnern, daß alle anderen kosmologischen Schulen es verstanden haben, der peripatetischen ihr Arsenal von Eigenschaften vorzuwerfen, welches sie in der substantiellen Form unterbringt, ein Arsenal, das jedesmal, wenn es sich darum handelte, ein neues Phänomen zu erklären, durch eine neue Eigenschaft bereichert wurde. Aber die peripatetische Physik war keineswegs die einzige, die solche Vorwürfe zu ertragen hatte. Die in der Entfernung bewirkten Anziehungen und Abstoßungen, die die Anhänger NEWTONs den materiellen Elementen zuschreiben, halten die Atomisten und Cartesianer für eine jener bloßen Worterklärungen, wie sie in der alten Scholastik üblich waren. Die "Prinzipien" NEWTONs hatten noch kaum das Tageslicht erblickt, als sie bereits die Spöttereien des atomistischen Clans, der sich um HUYGENS scharte, erregten: "Was die Ursache von Ebbe und Flut betrifft, die Herr NEWTON angibt", schrieb HUYGENS an LEIBNIZ (2), "so gebe ich mich damit absolut nicht zufrieden, ebensowenig wie mit seinen anderen Theorien, die er auf sein Anziehungsprinzip, das mir absurd erscheint, stützt". Wenn DESCARTES in jener Epoche gelebt hätte, würde er in analoger Weise gesprochen haben, wie HUYGENS. In der Tat hat Pater MERSENNE ihm ein Werk von ROBERVAL (3) vorgelegt, in dem dieser Autor lange vor NEWTON eine allgemeine Gravitation annahm. Am 20. April 1646 drückte DESCARTES seine Meinung darüber folgendermaßen aus: (4)
Es ist nun wohl klar, daß, wenn man die theoretische Physik in Abhängigkeit von er Metaphysik bringt, man nicht dazu beiträgt, ihr den Vorteil der allgemeinen Anerkennung zu sichern. den Aufbau einer physikalischen Theorie aus. Jede metaphysische Schule wirft ihren Rivalen vor, daß sie in ihren Erklärungen zu Begriffen greifen, die selbst unerklärt, die wirklich verborgenen Qualitäten seien. Könnte sie nicht beinahe immer diesen Vorwurf an sich selbst richten? Damit die Philosophen, welche einer gewissen Schule angehören, vollständig mit einer von den Physikern derselben Schule ausgebautn Theorie zufrieden sind, müssen alle Prinzipien, welche in dieser Theorie angewendet werden, aus der Metaphysik abgeleitet worden sein, zu welcher sich diese Schule bekennt. Wenn man sich im Verlauf der Erklärung eines physikalischen Phänomens auf irgendein Gesetz berufen hat, welches diese Metaphysik nicht beweisen kann, ist die Erklärung nicht gelungen, hat die physikalische Theorie ihr Ziel nicht erreicht. Keine Metaphysik gibt nun so scharfe und so detaillierte Anweisungen, daß es möglich wäre, aus ihnen die Elemente einer physikalischen Theorie abzuleiten. In der Tat bestehen die Anweisungen, die eine metaphysische Lehre in Betreff der wahren Natur der Körper gibt, meistens aus Negationen. Die Peripatetiker, und auch die Cartesianer leugnen die Möglichkeit eines leeren Raums. Die Anhänger NEWTONs verwerfen jede Eigenschaft, welche sich nicht auf eine Kraft, die zwischen materiellen Punkten besteht, zurückführen läßt. Die Atomisten und Cartesianer leugnen jede Fernwirkung. Die Cartesianer anerkennen keinen anderen Unterschied zwischen den verschiedenen Teilen der Materie als den der Gestalt und Bewegung. Alle diese Negationen liefern gute Argumente, wenn man eine von einer gegnerischen Schule stammende Theorie verdammen will, sie bleiben aber merkwürdig unfruchtbar, wenn man aus ihnen die Prinzipien einer physikalischen Theorie abzuleiten wünscht. DESCARTES zum Beispiel leugnet, daß die Materie ein anderes Merkmal besitze als die Ausdehnung nach Länge, Breite und Tiefe und deren verschiedene Formen, d. h. keine anderen als Gestalten und Bewegungen. Wenn aber diese Größen allein gegeben sind, kann er die Erklärung eines physikalischen Gesetzes nicht einmal beginnen. Zum allermindesten müßte er, bevor er den Aufbau irgendeiner Theorie versucht, die allgemeinen Regeln kennen, welche bei den verschiedenen Bewegungen zur Geltung kommen. Doch er geht sogleich daran, aus seinen metaphysischen Prinzipien eine Dynamik abzuleiten. Die Vollkommenheit Gottes erfordert, daß sein Wille unwandelbar sei; aus dieser Unwandelbarkeit ergibt sich die Konsequenz: Gott erhält die Menge der Bewegung in der Welt, welche er ihr am Anfang gegeben hat, unveränderlich. Aber diese Konstanz der Bewegungsmenge in der Welt ist noch kein Prinzip, welches genügend scharf und genügend definiert ist, um auch nur eine Gleichung der Dynamik aufschreiben zu können. Es muß von uns quantitativ formuliert werden, was dadurch geschieht, daß der in den bisherigen Entwicklungen enthaltene allzu vage Begriff der Bewegungsmenge in einen vollständig bestimmten algebraischen Ausdruck übersetzt wird. Welcher mathematische Sinn wird also vom Physiker dem Wort Bewegungsmenge zugeschrieben? Nach DESCARTES würde die Bewegungsmenge jedes materiellen Teilchens das Produkt aus seiner Masse - oder aus seinem Volumen, das in der cartesischen Physik mit der Masse identisch ist - in die Geschwindigkeit, die es besitzt, sein. Die Bewegungsmenge der ganzen Materie würde die Summe der Bewegungsmengen der einzelnen Teile sein. Diese Summe wird bei jeder physikalischen Änderung einen unveränderlichen Wert behalten. Die Kombination von algebraischen Größen, durch die DESCARTES den Begriff Bewegungsmenge auszudrücken sucht, entspricht sicherlich den Erwartungen, die unsere instinktiven Kenntnisse von vornherein in bezug auf einen solchen Ausdruck hegten. Er ist null für ein unbewegliches System, dagegen immer positiv für eine Gruppe von Körpern, die sich in Bewegung befinden. Sein Wert wächst, wenn eine gegebene Masse ihre Geschwindigkeit erhöht und ebenso steigt er, wenn man die Masse vergrößert, die eine gewisse Geschwindigkeit besitzt. Aber eine Unzahl anderer Ausdrücke hätten ebensogut diesen Bedingungen genügt. Anstelle der Geschwindigkeit hätte man bekanntlich auch das Quadrat der Geschwindigkeit setzen können. Man würde dann einen algebraischen Ausdruck erhalten, der mit dem übereinstimmt, den LEIBNIZ als lebendige Kraft bezeichnet. Anstatt die Konstanz der cartesischen Bewegungsmenge hätte man aus der Unwandelbarkeit Gottes auch die Konstanz der LEIBNIZschen lebendigen Kraft ableiten können. Ohne Zweifel stimmt also das Gesetz, das DESCARTES als Grundlage der Dynamik festzusetzen sucht, mit der cartesischen Metaphysik überein. Aber es ist keine notwendige Folge derselben. Wenn also DESCARTES zeigt, daß gewisse physikalische Erscheinungen nur Folgen eines solchen Gesetzes sind, so beweist er allerdings, daß diese Erscheinungen zu den Prinzipien seiner Philosophie nicht in Widerspruch stehen, aber er erklärt sie nicht aus seinen Prinzipien. Was wir eben vom Cartesianismus gesagt haben, kann man bezüglich einer jeden metaphysischen Lehre wiederholen, welche beansprucht, als Grundlage einer physikalischen Theorie betrachtet zu werden. Stets sind in einer solche Theorie gewisse Annahmen getroffen, die keineswegs die Prinzipien der metaphysischen Lehre zur Grundlage haben. Die Anhänger von BOSCOVICH nehmen an, daß alle Anziehungen oder Abstoßungen, die in wahrnehmbarer Entfernung erfolgen, umgekehrt proportional dem Quadrat der Entfernung sind. Diese Annahme ermöglicht ihnen eine Mechanik des Himmels, eine Mechanik der Elektrizität, eine Mechanik des Magnetismus auszubilden. Aber diese Form des Gesetzes ist ihnen durch den Wunsch diktiert, ihre Erklärungen mit den Tatsachen in Übereinstimmung zu bringen, sie ist nicht eine notwendige Folge ihrer Philosophie. Die Atomisten nehmen an, daß die Stöße der Atome einem gewissen Gesetz folgen. Aber dieses Gesetz leitet man nicht aus der epikuräischen Philosophie ab, sondern es ist eine merkwürdig kühne Erweiterung eines anderen Gesetzes auf die Welt der Atome, eines Gesetzes, welches man nur an Massen studieren kann, die genügend groß sind, um unseren Sinnen wahrnehmbar zu sein. Es ist somit unmöglich, aus einem metaphysischen System alle diejenigen Elemente abzuleiten, die nötig sind, um eine physikalische Theorie zu schaffen. Eine solche macht stets von Annahmen Gebrauch, welche durch das System nicht gegeben sind und infolgedessen für die Anhänger desselben Mysterien bleiben. Stets liegt Unerklärtes den Erklärungen zugrunde, die das System zu geben behauptet. Physikalische Theorie und naturgemäße Klassifikation § 1. Die wahre Natur der physikalischen Theorie und die Operationen, durch die sie zustande kommt. Wenn man eine physikalische Theorie als hypothetische Erklärung der materiellen Welt betrachtet, bringt man sie in Abhängigkeit von der Metaphysik. Man gibt ihr damit eine Form, die keineswegs geeignet ist, ihr die Anerkennung der großen Mehrzahl der Denker zu verschaffen, man beschränkt im Gegenteil die Zustimmung auf jene, die sich zur Philosophie bekennen, auf die sie sich beruft. Aber auch diese selbst fühlen sich von dieser Theorie nicht vollkommen befriedigt, denn sie leitet nicht alle ihre Prinzipien aus der metaphysischen Lehre ab, von der sie auszugehen behauptet. Diese Gedanken, die den Gegenstand des vorhergehenden Kapitels bildeten, führen uns naturgemäß dazu, uns die folgenden zwei Fragen zu stellen:
Könnte man nicht eine Methode ersinnen, die ausreichend wäre, um eine physikalische Theorie zu schaffen? Eine Theorie, die in Übereinstimmung mit ihrer eigenen Definition ist, wird kein Prinzip anwenden, wird auf keine Voraussetzung Bezug nehmen, von der sie nicht berechtigterweise Gebrauch machen kann. Von jetzt an sei folgende Definition der physikalischen Theorie aufgestellt, die im Verlauf unserer Ausführungen sich klären und deren ganzer Inhalt hervortreten wird:
2. Wir verbinden die verschiedenen Arten derartig eingeführter Größen untereinander in einer kleineren Zahl von Gleichungen, die als Prinzipien für unsere Deduktionen dienen sollen. Diese Prinzipien können - in einem etymologischen Sinn des Wortes - als Hypothesen bezeichnet werden, denn sie sind wirklich die Grundlagen, auf denen sich die Theorie erhebt. Aber sie erheben in keiner Weise den Anspruch, tatsächliche Beziehungen der realen Eigenschaften der Körper anzugeben. Diese Hypothesen können demnach in willkürlicher Weise formuliert werden. Der logische Widerspruch sowohl zwischen den Gliedern ein und derselben Hypothese als auch unter den verschiedenen Hypothesen derselben Theorie ist die einzige absolut unüberschreitbare Schranke, vor der diese Willkür Halt macht. 3. Die verschiedenen Prinzipien oder Hypothesen einer Theorie sind miteinander gemäß den Regeln der mathematischen Analysis verbunden. Die Erfordernisse der algebraischen Logik sind die einzigen, denen der Theoretiker beim Gang der Ableitung genügen muß. Die Größen, auf welchen seine Rechnungen beruhen, erheben keineswegs den Anspruch, physische Realitäten zu sein, die Prinzipien, auf die er sich bei seinen Deduktionen stützt, geben sich keineswegs als der Ausdruck tatsächlicher Beziehungen zwischen solchen Realitäten aus. Es ist somit belanglos, ob die Operationen, welche er ausführt, realen oder auch nur begreifbaren physikalischen Veränderungen entsprechen oder nicht. Alles, was man rechtmäßig von ihm fordern darf, ist, daß seine Schlüsse zutreffen und seine Rechnungen richtig sind. 4. Die verschiedenen Konsequenzen, die man so aus den Hypothesen gefolgert hat, können in ebensoviele Aussagen über die physikalischen Eigenschaften der Körper übersetzt werden. Die Methoden, die diese physikalischen Eigenschaften zu definieren und zu messen gestatten, sind gleichsam ein Vokabularium, gleichsam ein Schlüssel, der diese Übersetzung ermöglicht. Diese Aussagen vergleicht man mit den experimentellen Gesetzen, die die Theorie darstellen soll. Wenn sie mit diesen Gesetzen in der Annäherung, wie es die angewendeten Meßmethoden zulassen, übereinstimmen, hat die Theorie ihr Ziel erreicht, sie wird als gut erklärt. Wenn dies nicht der Fall ist, so ist sie schlecht, sie muß geändert oder ganze verworfen werden. Die Definition, welche wir eben skizzierten, unterscheidet an einer physikalischen Theorie vier fundamentale Operationen:
2. Die Wahl der Hypothesen. 3. Die mathematische Entwicklung der Theorie. 4. Die Vergleichung der Theorie mit dem Experiment physikalische Theorie? [Die Theorie als Ökonomie des Denkens.] Und wozu kann nun eine solche Theorie dienen. In Bezug auf die wahre Natur der Dinge, in Bezug auf die Realitäten, welche sich unter den Phänomenen, die wir studieren, verbergen, lehrt uns eine nach dem eben entwickelten Plan entworfene Theorie absolut nichts und beansprucht auch nicht diesbezüglich etwas zu lehren. Welchen Nutzen hat sie also? Welchen Vorteil finden die Physiker darin, die Gesetzmäßigkeiten, die uns das Experiment direkt liefert, durch ein System sie darstellender, mathematischer Lehrsätze, zu ersetzen? Vor allem ersetzt die Theorie eine sehr große Zahl von Gesetzen, die uns unabhängig voneinander gegenübertreten, deren jedes für sich gelernt und behalten werden müßte, durch eine ganz kleine Zahl von Sätzen, von grundlegenden Hypothesen. Kennt man einmal die Hypothesen, so ermöglicht eine vollkommen sichere mathematische Deduktion, die weder Lücke noch Wiederholung aufweist, alle physikalischen Gesetze wieder zu finden. Eine derartige Kondensation einer Menge von Gesetzen in eine kleine Zahl von Prinzipien ist eine ungeheure Erleichterung für den menschlichen Verstand, der ohne einen derartigen Kunstgriff die neuen Reichtümer, die er täglich erwirbt, nicht unterbringen könnte. Die Reduktion der physikalischen Gesetze auf Theorien trägt indirekt zur Ökonomie des Denkens bei, in der ERNST MACH (7) das Ziel, das Richtungsprinzip der Wissenschaft erblickt. Das experimentelle Gesetz repräsentierte bereits eine erste Ökonomie des Denkens. Der menschliche Geist hatte eine ungeheure Zahl von konkreten Tatsachen vor sich, deren jede in der Verwirklichung vieler einander unähnlicher Details bestand. Kein Mensch könnte die Kenntnis all dieser Tatsachen erlangen und behalten, keiner könnte sie seinen Mitmenschen mitteilen. Ist aber die Abstraktion ins Spiel getreten, so läßt sie das Eigenartige, Individuelle jeder dieser Tatsachen beiseite, sucht was an ihrer Gesamtheit allgemein und gemeinsam ist, und ersetzt so diese ungeheure Menge von Tatsachen durch einen einzigen Satz, der im Gedächtnis wenig Raum einnimmt und leicht im Unterricht mitteilbar ist. Die Abstraktion hat so ein physikalisches Gesetz formuliert.
Von den Lichtphänomenen hatten die Alten nur eine sehr kleine Zahl in Gesetzen zusammengefaßt. Die einzigen optischen Gesetze, die sie kannten, waren das der geradlinigen Fortpflanzug des Lichts und die der Reflexion. Dieser mäßige Bestand wurde in der Zeit von DESCARTES um das Brechungsgesetz vermehrt. Eine so eingeschränkte Optik konnte eine Theorie entbehren. Es war leicht jedes Gesetz für sich zu studieren und zu lehren. Wäre es dagegen einem Physiker, der die moderne Optik studieren will, möglich, ohne Hilfe einer Theorie eine auch nur oberflächliche Kenntnis des ungeheuren Gebietes zu erlangen? Die Tatsachen der einfachen Brechung, der Doppelbrechung durch ein- oder zweiachsige Kristalle, der Reflexion an isotropen und kristallisierten Medien, der Interferenz, der Beugung, der Polarisation durch einfache oder doppelte Brechung, der Rotationspolarisation usw., alle diese großen Kategorien von Phänomenen ermöglichen die Formulierung einer Menge von Gesetzmäßigkeiten, deren Zahl und Verwicklung das aufnahmefähigste und verläßlichste Gedächtnis erschrecken würde. Die optische Theorie tritt hinzu, sie bemächtigt sich aller dieser Gesetze und verdichtet sie in eine kleine Zahl von Prinzipien. Aus diesen Prinzipien kann man jederzeit exakt und sicher das Gesetz, von dem man Gebrauch machen will, ableiten. Man braucht sich sodann nicht mehr alle diese Gesetze, sondern nur die Prinzipien zu merken, auf denen sie beruhen. Dieses Beispiel läßt uns auf das deutlichste den Weg erkennen, auf dem die physikalischen Wissenschaften bisher nicht vermutete Tatsachen ans Tageslich und formuliert neue Gesetze. Damit aber der menschliche Geist die Reichtümer beherbergen kann, ersinnt der Theoretiker ununterbrochen Darstellungsarten, die immer kondensierter, Systeme, die immer ökonomischer werden. Die Entwicklung der Physik bewirkt einen fortwährenden Kampf zwischen "der Natur, die nicht müde wird, Neues zu zeigen" und dem Verstand, der "nicht müde werden will, zu begreifen". als Klassifikation. Die Theorie besteht nicht nur in einer ökonomischen Darstellung der experimentellen Gesetze, sondern auch in einer Klassifikation derselben. Die experiementelle Physik liefert uns alle Gesetze gemeinsam, sozusagen im gleichen Feld, ohne sie in Gruppen von Gesetzen zu teilen, denen eine Art Verwandtschaft zukommt. Sehr oft sind es ganz zufällige Gründe, ganz oberflächliche Analogien, die die Beobachter dazu geführt haben, in ihren Veröffentlichungen ein Gesetz neben einem anderen zu behandeln. So hat NEWTON im gleichen Werk die Gesetze über die Dispersion des Lichts beim Durchgang durch ein Prisma, und die Gesetze der Farben, die eine Seifenblase schmücken, behandelt, einfach deshalb, weil die Augen auf diese beide Arten von Phänomenen durch auffallende Farben aufmerksam werden. Im Gegensatz dazu stellt die Theorie bei der Entwicklung der zahlreichen Verzweigungen der deduktiven Schlußfolgerungen, welche die Prinzipien mit den experimentellen Gesetzen verbinden, unter letzteren eine Ordnung und Klassifikation her. Es gibt solche, die sie, eng aneinandergeschlossen, in derselben Gruppe vereinigt, wieder andere, die sie voneinandert trennt und in zwei äußerst weit entfernten Gruppen unterbringt. Sie gibt sozusagen das Verzeichnis und die Titel der Kapitel an, in welche die zu studierende Wissenschaft methodisch zerfällt, und bestimmt die Gesetze, die in jedes dieser Kapitel eingeordnet werden sollen. So setzt sie neben die Gesetze des durch ein Prisma hervorgerufenen Spektrums die Gesetze der Farben des Regenbogens. Die Gesetze aber, denen die Farben der NEWTONschen Ringe unterliegen, bringt sie in ein ganz anderes Gebiet, indem sie sie mit den Gesetzen der von YOUNG und FRESNEL entdeckten Interferenzstreifen vereinigt. In einer anderen Klasse werden wieder die feinen, von GRIMALDI untersuchten Farben in ihrer Verwandtschaft mit den von FRAUNHOFER hergestellten Beugungsspektren betrachtet. Die Gesetze aller dieser Phänomene, die ein einfacher Beobachter infolge ihrer auffallenden Farben untereinander vermengt, werden durch die Bemühungen des Theoretikers klassifiziert und geordnet. Klassifizierte Erkenntnisse sind leicht anwendbar und sicher zu gebrauchen. Aus kunstgerechten Werkzeugkästen, in denen die Instrumente, die demselben Zweck dienen, beieinander liegen, diejenigen aber, die verschiedene Aufgaben haben, durch Scheidewände getrennt sind, nimmt der Arbeiter blitzschnell, ohne Zögern oder Ängstlichkeit, das Werkzeug, das er braucht. Dankt der Theorie findet der Physiker mit Sicherheit, ohne Wesentliches außer Acht zu lassen oder Überflüssiges anzuwenden, die Gesetze, die ihm zur Lösung eines gegebenen Problems dienlich sein können. Überall, wo Ordnung herrscht, herrscht auch Schönheit. Die Theorie bewirkt daher nicht nur, daß die Gruppe von physikalischen Gesetzen, die sie darstellt, leichter, bequemer und fruchtbringender anwendbar werden, sondern daß sie auch schöner wird. Verfolgt man den Gang einer der großen Theorien der Physik, wie sie sich majestätisch entfaltet, wie aus den ersten Hypothesen ihre geordneten Deduktionen folgen, wie ihre Ergebnisse eine Fülle experimenteller Gesetze bis ins kleinste Details darstellen, dann ist es ausgeschlossen, daß man nicht von der Schönheit eines solchen Baues hingerissen wird, daß man nicht eine solche Schöpfung des menschlichen Geistes als wahres Kunstwerk empfindet. Dieses ästhetische Gefühl ist nicht das einzige Gefühl, welches eine Theorie, die einen hohen Grad der Vollkommenheit erreicht hat, hervorruft. Sie erweckt in uns auch die Überzeugung, daß sie als naturgemäße Klassifikation betrachtet werden muß. Was ist nun eine naturgemäße Klassifikation? Was will, zum Beispiel, ein Naturforscher sagen, wenn er eine naturgemäße Klassifikation, die er ersonnen hat, besteht in einem Zusammenhang geistiger Operationen. Sie behandelt nicht die konkreten Individuen, sondern Abstraktionen: die Arten. Diese Arten teilt sie so in Gruppen, daß die speziellen sich den allgemeineren unterordnen. Um diese Gruppen zu bilden, betrachtet der Naturforscher die verschiedenen Organe, - die Wirbelsäule, den Schädel, das Herz, den Verdauungskanal, die Lunge, die Schwimmblase - nicht in der besonderen, konkreten Form, die sie beim jeweiligen Indiviuum besitzen, sondern in abstrakter, allgemeiner, schematischer Form die allen Arten derselben Gruppe zukommt. Unter diesen derart durch die Abstraktion umgebildeten Organen, stellt er Vergleiche an, sucht er Analogien und Verschiedenheiten festzustellen. So erklärt er zum Beispiel, daß die Schwimmblase der Fische mit der Lunge der Wirbeltiere gleichbedeutend ist. Dieses Gleichbedeutendsein ist eine rein ideelle Zusammenstellung, welche nicht auf den wirklichen Organen, sondern auf den verallgemeinerten und vereinfachten Vorstellungen, die sich im Geist des Naturforschers gebildet haben, beruth. Die Klassifikation ist nur eine kurze Übersicht, welche alle diese Zusammenstellungen resumiert. Wenn der Zoologe behauptet, daß eine derartige Klassifikation naturgemäß ist, meint er, daß die ideellen Verbindungen, die durch seinen Verstand zwischen den abstrakten Gedanken hergestellt wurden, realen Beziehungen zwischen den konkreten Wesen, in denen diese Abstraktionen Gestalt gewinnen, entsprechen. Er meint z. B., daß die mehr oder weniger auffallenden Ähnlichkeiten, die er zwischen verschiedenen Arten konstatiert hat, der Beweis einer mehr oder weniger engen Verwandtschaft im eigentlichen Sinn unter den Individuen, die diese Gattung bilden, sind. Er meint, daß die Bindestriche, mit denen er die Abhängigkeitsverhältnisse der Klassen, Ordnungen, Familien und Arten versinnbildlicht, die Verzweigungen des Stammbaumes wiedergeben, der die Entwicklung der verschiedenen Wirbeltiere aus einem Stamm zur Darstellung bringt. Zu diesen Beziehungen der wirklichen Verwandtschaft, der Abstammung, kann die vergleichende Anatomie allein nicht gelangen, sie zu erfassen und zu bestätigen ist Aufgabe der Physiologie und Paläontologie. Der Anatom, der über die Ordnung, die sein Vergleichungsverfahren in die verwirrende Menge der Tiere bringt, nachsinnt, kann die Beziehungen, deren Prüfung über seine Methoden hinausgeht, nicht beweisen. Und wenn die Physiologie und Paläontologie ihm eines Tages zeigen würden, daß die Verwandtschaft, die er sich vorstellt, nicht besteht, daß die Evolutionshypothese erdichtet ist, würde er dennoch fortfahren zu glauben, daß das System, das durch seine Klassifikation entstanden ist, wirkliche Beziehungen zwischen den Tieren darstellt. Er würde zugeben, daß er sich zwar über die Natur dieser Beziehungen getäuscht hat, nicht aber über deren Existenz. Die Leichtigkeit, mit der eine jede Erfahrungstatsache in der vom Physiker geschaffenen Klassifikation untergebracht werden kan, die blendende Klarheit, die diese so vollkommen geordnete Gruppierung aufweist, wecken in uns die unbesiegbare Überzeugung, daß eine solche Klassifikation nicht rein künstlich, daß eine solche Ordnung nicht das Resultat einer rein willkürlichen Gruppierung ist, die ein erfinderischer Systematiker den Gesetzen gegeben hat. Ohne uns von unserer Überzeugung Rechenschaft zu geben, aber auch ohne uns von ihr befreien zu können, sehen wir in der exakten Ordnung dieses Systems ein Zeichen, an dem eine naturgemäße Klassifikation erkennbar ist. Wenn wir auch nur die Gesetze der Phänomene gruppieren und nicht vorgeben, die unter ihnen verborgene Wirklichkeit zu erklären, so fühlen wir doch, daß die durch unsere Theorie hergestellten Gruppen den wirklichen Beziehungen zwischen den Dingen selbst entsprechen. Der Physiker, der in jeder Theorie eine Erklärung sieht, ist überzeugt, daß er in der Lichtschwingung den eigentlichen und innersten Grund der Eigenschaft, die unsere Sinne uns als Licht und Farbe kundtun, gefunden hat. Er glaubt an einen Körper, den Äther, dessen einzelne Teile durch solche schnelle hin und her gehende Schwingungen belebt sind. Sicherlich teilen wir diese Jllusionen nicht. Wenn wir bei Gelegenheit einer optischen Theorie auch von der Lichtschwingung sprechen, denken wir doch nicht an eine wahrhaftige hin und hergehende Bewegung eines wirklichen Körpers. Wir stellen uns nur eine abstrakte Größe, einen rein mathematischen Ausdruck vor. Die periodisch wechselnde Länge dient uns dazu, die Hypothesen der Optik zu formulieren, durch regelrechte Rechnungen die experimentell feststellbaren Gesetzmäßigkeiten des Lichts abzuleiten. Diese Schwingung ist für uns ein Bild, aber keine Erklärung. Aber wenn wir nach langen Versuchen mit Hilfe dieser Schwingung dazu gelangt sind, einen Grundstock fundamentaler Hypothesen zu formulieren, wenn wir sehen, daß sich auf dem ungeheuren Gebiet der Optik, welches erst so verschlungen und verworren erscheint, aufgrund dieser Hypothesen Ordnung und Organisation einstellen, dann ist es uns unmöglich zu glauben, daß diese Ordnung und diese Organisation nicht das Bild einer wirklichen Ordnung und Organisation ist. Wir können nicht glauben, daß die Phänomene, die die Theorie zueinander in Nachbarschaft bringt, wie die Interferenzstreifen und die Farben dünner Blättchen nicht wirklich wenig verschiedene Kundgebungen des gleichen Merkmals des Lichts sind, daß die Phänomene, die die Theorie trennt, wie die Beugungs- und die Dispersionsspektren, nicht wesentlich verschiedene Eigenschaften aufweisen. So gibt uns die physikalische Theorie niemals die Erklärung der expermentellen Gesetzmäßigkeiten, niemals enthüllt sie uns die Realitäten, die sich hinter den wahrnehmbaren Erscheinungen verbergen. Aber je mehr sie sich vervollkommnet, umso mehr ahnen wir, daß die logische Ordnung, in der sie die Erfahrungstatsachen darstellt, der Reflex einer ontologischen Ordnung ist. Je mehr wir mutmaßen, daß die Beziehungen, welche sie zwischen den Beobachtungsergebnissen herstellt, den Beziehungen zwischen den Dingen entsprechen (10), umso mehr können wir prophezeien, daß sie sich einer naturgemäßen Klassifikation nähert. Diese Überzeugung könnte der Physiker nicht rechtfertigen. Die Methode, die er verwendet, ist auf die Ergebnisse der Beobachtung beschränkt, sie kann daher nicht beweisen, daß die Ordnung der experimentellen Gesetze der Reflex einer über die Erfahrung hinausgehenden Ordnung ist und ebensowenig kann sie die Natur der wirklichen Beziehungen ahnen, denen die durch die Theorie aufgestellten Beziehungen entsprechen. Aber wenn es dem Physiker unmöglich ist, seine Überzeugung zu verifizieren, so ist es ihm nicht weniger unmöglich, ihr den Boden zu entziehen. Vergebens sucht er sich mit der Idee zu durchdringen, daß seine Theorie unvermögend sind, die Wirklichkeit zu erfassen, daß sie einzig dazu dienen, eine zusammengefaßt und klassifizierte Darstellung der Erfahrungstatsachen zu geben, er kann sich doch nicht zu dem Glauben zwingen, daß ein System, welches so einfach und so leicht eine ungeheure Zahl anfänglich so unvereinbarer Gesetzmäßigkeiten ordnen kann, rein künstlich ist. In einer Intuition, in der PASCAL eines der Urteile des Herzens, "die die Vernunft nicht kennt", gesehen hätte, betont er seinen Glauben an eine wirkliche Ordnung, von der seine Theorien ein von Tag zu Tag klareres und treueres Bild geben. Derart beweist uns die Analyse der Methoden, auf denen sich die physikalischen Theorien aufbauen, mit vollkommener Sicherheit, daß diese Theorien nicht als Erklärungen der experimentellen Gesetze auftreten können. Andererseits erfüllt uns ein wirklicher Glaube, den diese Analyse ebensowenig rechtfertigen wie bezähmen kann, daß diese Theorien kein rein künstliches System, sondern eine naturgemäße Klassifikation sind. Man kann hier den tiefen Gedanken PASCALs anwenden:
vorangehende Theorie Es gibt einen Umstand, an dem sich mit besonderer Deutlichkeit unser Glaube an den natürlichen Charakter einer theoretischen Klassifikation zeigt. Dieser Umstand tritt auf, wenn wir von der Theorie die Angabe der Resultate eines Experiments fordern, bevor dieses Experiment ausgeführt wurde, wenn wir ihr ausdrücklich den kühnen Befehl erteilen: "Prophezeie uns!" Eine ansehnliche Gruppe experimenteller Gesetze wurde durch die Beobachter festgestellt. Der Theoretiker, der sich vorgenommen hatte, sie in einer ganz kleinen Zahl von Hypothesen zusammenzufassen, hat seine Aufgabe gelöst: Jedes dieser experimentellen Gesetze ist genau als Folgerung aus diesen Hypothesen darstellbar. Aber man kann aus diesen Hypothesen unbegrenzt viele Folgerungen ziehen, man kann auch solche ableiten, die keinem der früher bekannten experimentellen Gesetze entsprechen, die lediglich mögliche experimentelle Gesetze darstellen. Unter diesen Folgerungen gibt es solche, die auf praktisch realisierbare Bedingungen Bezug haben und daher besonders interessant sind, weil sie mit den Tatsachen konfrontiert werden können. Wenn sie die experimentellen Gesetze, denen diese Tatsachen unterliegen, genau darstellen, wird der Wert der Theorie wachsen, das Gebiet, auf dem sie herrscht, wird mit neuen Gesetzen bereichert sein. Wenn dagegen gewisse dieser Folgerungen in einem deutlichen Widerspruch mit den Tatsachen, deren Gesetz die Theorie darstellen sollte, stehen, muß sie mehr oder weniger modifizirt, vielleicht vollständig verworfen werden. Nehmen wir nun an, es gilt im Moment, wenn die Voraussagen der Theorie mit der Wirklichkeit konfrontiert werden, eine Wette für oder gegen die Theorie abzuschließen. Zugunsten welcher Seite würden wir unseren Einsatz wagen? Wenn die Theorie ein rein künstliches System ist, wenn wir in den Hypothesen, auf denen sie ruht, Ausdrücke sehen, die mit Geschick so aufgestellt werden, daß sie die bereits bekannten experimentellen Gesetze darstellen, wenn wir in ihnen aber keinen Reflex der wirklichen Beziehungen zwischen den Realitäten, die sich vor unseren Augen verbergen, vermuten, so werden wir denken, daß eine derartige Theorie von einer neu gefundenen Tatsache eher widerlegt als bestätigt werden wird. Es wäre ein wunderbarer Zufall, wenn die bisher unbekannte Gesetzmäßigkeit gerade einen ganz geeigneten Platz in dem Raum finden würde, der von den anderen Gesetzmäßigkeiten freigelassen wurde, und wir wären verrückt, wollten wir auf diese Hoffnung hin unseren Einsatz wagen. Wenn wir im Gegenteil in der Theorie eine naturgemäße Klassifikation erkennen, wenn wir wissen, daß ihre Prinzipien tiefe und wirkliche Beziehungen zwischen den Dingen ausdrücken, werden wir nicht erstaunt sein zu sehen, daß ihre Folgerungen der Erfahrung vorauseilen und die Entdeckung neuer Gesetze befördern. Wir werden kühn auf sie wetten. Wenn wir von einer Klassifikation fordern, daß sie von vornherein Tatsachen, die erst in Zukunft entdeckt werden, ihren Platz anweist, zeigt das am deutlichsten, daß wir diese Klassifikation für naturgemäß halten. Und wenn die Erfahrung die Voraussagen unserer Theorie bestätigt, dann fühlen wir, wie sich in uns die Überzeugung festigt, daß die Beziehungen, die unser Verstand zwischen den abstrakten Begriffen hergestellt hat, tatsächlich in den Beziehungen zwischen den Dingen entsprechen. So stellt die moderne chemische Bezeichnung, indem sie sich der Konstitutionsformeln bedient, eine Klassifikation her, in die sich die verschiedenen Verbindungen einordnen. Die wunderbare Ordnung, die diese Klassifikation in das gewaltige Arsenal der Chemie bringt, macht uns schon sicher, daß sie kein rein künstliches System ist. Die Bande der Analogie und der Ableitung durch Substitution, welche sie zwischen den verschiedenen Verbindungen herstellt, haben nur in unserem Geist Sinn. Und doch sind wir überzeugt, daß sie Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Substanzen selbst entsprechen, deren Natur uns zwar tief verborgen bleibt, deren Realität uns aber nicht zweifelhaft erscheint. Nichtsdestoweniger kann sich diese Überzeugung erst i eine unwiderlegliche Sicherheit verwandeln, wenn wir sehen, daß die chemische Theorie die Formeln einer Menge von Körpern im Voraus beschreiben kann, und daß die Synthese, indem sie diese Angaben befolgt, Substanzen herstellt, deren Zusammensetzung, ja sogar deren Eigenart wir kannten, bevor sie bestanden. Ebenso wie die vorausgesagten Synthesen bestätigen, daß die chemische Bezeichnung eine naturgemäße Klassifikation ist, ebenso beweist die physikalische Theorie, daß sie der Reflex einer realen Ordnung ist, indem sie der Beobachtung vorauseilt. Die Geschichte der Physik gibt uns nun eine Fülle von Beispielen solcher hellseherischer Wahrsagungen. Häufig hat eine Theorie noch nicht beobachtete Tatsachen und sogar solche, die unwahrscheinlich schienen, vorausgesehen, indem sie den Experimentator zur Entwicklung anreizte und zu ihr hinführte. Die Académie des Sciences hatte als Thema für die Bewerbung um den Preis für Physik, welchen sie in der Sitzung im März 1819 zuerkennen sollte, die allgemeine Prüfung der Beugungserscheinungen des Lichts festgesetzt. Von den zwei vorgelegten Arbeiten hatte die eine, die preisgekrönt wurde, FRESNEL zum Verfasser. BIOT, ARAGO, LAPLACE, GAY-LUSSAC und POISSON bildeten die Kommission. Aus den von FRESNEL aufgestellten Prinzipien leitete POISSON durch eine elegante Analyse folgende befremdende Folgerung ab: Wenn ein kleiner, kreisförmiger Schirm in den Weg der Strahlen, die von einem leuchtenden Punkt ausgehen, gestellt wird, dann existieren hinter dem Schirm, auf der Achse dieses Schirms selbst, Punkte, die nicht nur beleuchtet, sondern genau ebenso hell sind, als wenn der Schirm nicht zwischen sie und die Lichtquelle gestellt worden wäre. Eine derartige Konsequenz schien, da sie den frühesten und zuverlässigsten experimentellen Feststellungen scheinbar so entgegengesetzt war, wohl dazu angetan, zur Zurückweisung der Beugungstheorie, die FRESNEL aufgestellt hatte, zu führen. ARAGO hatte gestützt auf die Klarheit dieser Theorie Zutrauen zu deren naturgemäßen Charakter und versuchte eine Prüfung. Die Beobachtung ergab Resultate, die vollständig mit den so wenig wahrscheinlichen Voraussagungen der Rechnung übereinstimmten (11). So gibt die physikalische Theorie, wie wir sie definiert haben, eine gedrängte Darstellung einer großen Menge experimenteller Gesetze, die für die Ökonomie des Denkens förderlich sind. Sie klassifiziert diese Gesetze. Indem sie sie klassifiziert, macht sie sie leichter und sicherer brauchbar. Indem sie in ihre Gesamtheit Ordnung bringt, erfüllt sie sie gleichzeitig mit Schönheit. Sie nimmt, indem sie sich vervollkommnet, den Charakter einer naturgemäßen Klassifikation an. Die Gruppierungen, die sie herstellt, lassen die wirklichen Verwandtschaften der Dinge ahnen. Dieser Charakter der naturgemäßen Klassifikation macht sich vor allem durch die Fruchtbarkeit der Theorie bemerkbar, die bisher nicht beobachtete Erfahrungstatsachen vorhergesagt und deren Entdeckng beeinflußt. Das genügt, um zu vermeiden, daß die Forschung nach physikalischen Theorien als unnütze und müßige Arbeit angesehen wird, obgleich sie nicht der Erklärung der Erscheinungen anstrebt. ![]()
1) LEIBNIZ, Oeuvres, édition GERHARDT, Teil IV, Seite 464 2) HUYGENS á LEIBNIZ, 18. Novembre 1690 (Oeuvres complétes de Huygens, Teil IX, Seite 528. 3) Aristarchi Samii De mundi systemate, partibus et motibus ejusdem, liber singularis; Parisiis 1643. - Dieses Werk wurde 1647 in Band III der Cogitata physico-mathematica von MERSENNE reproduziert. 4) DESCARTES, Correspondance, ed. P. TANNERY et CH. ADAM, CLXXX, Teil IV, Seite 396 5) DENIS PAPIN an CHRISTIAAN HUYGENS, 18. Juni 1690 (Oeuvres complétes de Huygens, Teil IX, Seite 429 6) CHRISTIAAN HUYGENS an DENIS PAPIN, 2. September 1690 (Oeuvres complétes de Huygens, Teil IX, Seite 484) 7) ERNST MACH, Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung, Populärwissenschaftliche Vorlesungen, dritte Auflage, Leipzig 1903, Seite 215). - Die Mechanik in ihrer Entwicklung, historisch-kritisch dargestellt, Leipzig 1904, fünfte Auflage, Kapitel IV, Art. 4: Die Ökonomie der Wissenschaft, Seite 521. 8) MACH, Mechanik a. a. O., Seite 526 9) Ich habe bereits in dem Aufsatz "L'École anglaise et les théories physiques, art. 6." (Revue des questions scientifiques, octobre 1903) die naturgemäße Klassifikation als die ideale Form, nach der die physikalische Theorie streben sollte, bezeichnet. 10) vgl. POINCARÈ, La Science et l'Hypothese, Paris 1903, Seite 190 11) Oeuvres complétes d'Augustin Fresnel, t. I., Seiten 236, 365, 368. |