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(1843-1931) Die Kontinuität im philosophischen Entwicklungsgang Kants
Einleitung Es war natürlich, daß das Neue, Großartige und Bedeutende des Hauptwerks sowohl bei KANT selbst als bei seinen Schülern und Auslegern die früheren Schriften überschatten mußten. Erst während der letzteren Jahre hat man sie aus rein historischem Interesse hervorgezogen. Dann war es vorwiegend nur darum zu tun, die Übergangsglieder zum definitiven Standpunkt nachzuweisen. Dieses Studium hat - in Verbindung mit den kantischen Manuskripten, die während der letzten Jahre zum erstenmal ans Licht gezogen wurden - in mehreren Beziehungen Klarheit über KANTs Entwicklungsgang verbreitet, indem es sich zugleich an einigen Punkten als unmöglich erwiesen hat, ein bestimmtes Resultat zu erzielen. In diesem Aufsatz werde ich einige Hauptpunkte im philosophischen Entwicklungsgang KANTs zu erhellen suchen, und zwar so, daß ich namentlich dessen Kontinuität und die dauernde Bedeutung ansehnlicher Teile der früheren Schriften darlegen werden. KANT selbst äußerte gelegentlich wiederholt, daß seine Entwicklung bestimmte Wendepunkte gehabt hat. In einem Brief an Mendelssohn vom 18. August 1783 schreibt er von der Weise, wie die Kr. d. r. V. ausgearbeitet worden war:
Hier hat man also ein Datum für den Anfang der letzten Periode von KANTs Forschen und einen Beweis, daß er selbst dieses als ein zusammenhängendes Ganzes aufgefaßt hat. Ein Wendepunkt seines Entwicklungsganges ist festgestellt, und folglich wird es die Aufgabe sein - besonders, wenn man die Kontinuität des Entwicklungsganges zeigen will - zu erklären, wie dieser Wendepunkt durch die vorausgehende Periode vorbereitet wird und mit derselben in Zusammenhang steht. Ein anderes Problem hat KANT selbst denjenigen, die sich mit seinem Entwicklungsgang beschäftigen, gestellt, indem er darauf hinweist, was er DAVID HUME verdankt.
Es wäre sicherlich von nicht geringem Interesse, wenn sich der Zeitpunkt der Erweckung bestimmt angeben lassen würde. KANTs Beziehung zu HUME ist ein Hauptpunkt in der Geschichte der neueren Philosophie. Man wird diese Geschichte als einen großen Dialog darstellen können, in welchem HUMEs Replik und deren Erwiderung durch KANT als die bedeutendsten Aktenstücke dastehen. Sowohl wegen ihres Kontrasts wie auch wegen ihrer Verwandtschaft ist das Studium ihrer Werke eine Quelle stets neuer Orientierung mit Bezug auf philosophische Prinzipienfragen. Es würde nun von großem Interesse sein, zu erfahren, an welchem Punkt seiner Entwicklung KANT so recht eigentlich HUMEs Replik gehört hatte. Daß es nicht damals war, als er den HUME zum erstenmal gelesen hat, liegt in seiner Äußerung: "die Erinnerung des David Hume". - Es würde zugleich von allgemeinem psychologischen Interesse sein, wenn diese Frage sich näher erhellen ließe; wir würden hiermit ein klassisches Beispiel erhalten, wie ein entscheidender Einfluß auf eminent selbständige Weise angenommen werden kann. Eben in den Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, den Zeitpunkt der Erweckung nachzuweisen, erblicke ich aber einen Beweis der Kontinuität in KANTs Entwicklung. Eben weil KANTs Denken in fortwährender Entfaltung geblieben ist, - geradewegen seines unablässigen Strebens und seiner unermüdlichen Selbstkritik (wenigstens bis der ihm definitive Standpunkt erreicht war), ist es schwer zu entscheiden, wann und wie die äußeren Impulse, die unseres Wissens an einzelnen Punkten bestimmend waren, zum Eingreifen gekommen sind. - Diese Bemerkungen gelten übrigens nicht nur vom Einfluß DAVID HUMEs, sondern auch von der Einwirkung, die ein anderer großer Zeitgenosse auf KANT ausgeübt hat, und die auf moralphilosophischem Gebiet nicht weniger tief in KANTs Entwicklung eingegriffen hat als jener auf dem erkenntnistheoretischen, - die Einwirkung des JEAN-JAQUES ROUSSEAU nämlich. Auch auf diese würde man nicht aufmerksam geworden sein, wären nicht zufällig hierauf bezügliche Äußerungen KANTs aufbewahrt worden. Die hier erscheinende Schwierigkeit kehrt bei der Untersuchung des Entwicklungsprozesses, besonders auf geistigem Gebiet, häufig wieder. Die genaue Bestimmung des Verhältnisses zwischen innerer Entfaltung und äußerem Einfluß kann, wenn von Anfang an große Kräfte in Bewegung sind, leicht zur unlösbaren Aufgabe werden. Es kann hier oft scheinen, als vermöchte die innere Entfaltung alles, wenn sie nur günstigen Bedingungen erhält, ohne daß ein besonderer äußerer Impuls nötig wäre. So geht es uns gerade mit HUMEs und ROUSSEAUs Einfluß auf KANT; nur die äußeren Zeugnisse bewegen zu dessen Untersuchung., Wo die Kantforscher uneinig sind, wenden sie in der Debatte dann auch die Methode an, daß sie zeigen, wie der Fortschritt um den bestimmten Zeitpunkt, der vom Gegner als Zeitpunkt der Erweckung angenommen wird, ohne äußere Einwirkung verständlich ist. Diese Methode läßt sich umso leichter durchführen, als die Einwirkung auf die Entwicklung eines bedeutenden Geistes ihren Einfluß sehr oft auf indirekte Weise üben wird, indem sie vielmehr in der Auslösung der eigenen, bisher gebundenen Kraft als in der Mitteilung neuen Stoffes besteht. Wie dann das Resultat der Erweckung wird, braucht der erweckenden Einwirkung nicht ähnlich zu sein. Das erweckende Wort hat oft ja gar nichts mit der Handlung zu schaffen, zu der man erweckt wird. Obgleich ich mir im Folgenden gelegentlich eine Vermutung über den Zeitpunkt der Erweckung gestatte, lege ich dem Streit hierüber das größte Interesse doch darum bei, weil derselbe den Eindruck der Kontinuität in KANTs Entwicklung bestätigt hat. KANT selbst war übrigens auch nicht der Meinung, daß seine vorkritischen Schriften gänzlich ihre Bedeutung verloren hätten. In einem Entwurf zur Vorrede der Kr. d. r. V. sagt er: "Durch diese meine Abhandlung ist der Wert meiner vorigen metaphysischen Schriften völlig vernichtet. Ich werde nur die Richtigkeit der Idee noch zu retten suchen." (6) Es wird also trotz der Erweckung und des Wendepunkts doch eine Gedankenverwandtschaft anerkannt. Diese ist es, die im vorliegenden Aufsatz besonders behandelt werden soll. Der Übersicht halber teile ich die Darstellung in vier Abschnitte, so daß wir innerhalb jedes derselben das Verhältnis zwischen dem früheren und dem späteren Standpunkt mit Bezug auf einen einzelnen bestimmten Punkt untersuchen. 2. KANTs Interesse wurde während seiner Studienjahre vorzüglich von WOLFFs Philosophie und NEWTONs Physik gefesselt. Beiden gegenüber nahm er eine selbständige Stellung ein, was schon deswegen notwendig war, weil sie sich im Zwiespalt befanden, da WOLFF noch der cartesianisch-leibniz'schen Physik huldigte und NEWTONs Attraktionslehre bekämpft hat. Schon dieser Zwiespalt mußte das Nachdenken erregen, und wir sehen dann auch in der ersten selbständigen Periode KANTs (1755-1761) (7) Versuche hervortreten, seine philosophische Grundlage dergestalt zu ändern, daß NEWTONs Physik zu ihrem Recht gelangen könnte. KANT stand mit seiner Anerkennung NEWTONs in der wolffischen Schule nicht allein (8). Er trat aber selbständiger auf als andere Wolffianer, und zwar nicht nur WOLFF, sondern auch NEWTON gegenüber. In seiner berühmten Jugendschrift "Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" (1755) nimmt er das Problem von einem natürlichen Zusammenhang des Weltalls an dem Punkt auf, wo NEWTON dasselbe nicht nur verlassen, sondern auch als unlösbar erklärt hatte. Trotz seiner großen Ehrerbietung vor NEWTON konnte KANT sich nicht mit dessen Äußerung zufrieden geben, daß sich kein natürlicher Grund finden läßt, weshalb sich die Planeten in der nämlichen Richtung und ungefähr in der nämlichen Fläche in konzentrischen Bahnen um die Sonne bewegen und dasselbe Verhältnis in Bezug auf die Trabanten stattfinden soll. KANT betrachtete die Appellation an eine übernatürliche Ursache als nicht wissenschaftlich und versuchte zu zeigen, daß dieselbe gesetzmäßige Ordnung, die jetzt alle Körper und Elemente zu einem großen Ganzen vereint, auch bei der Entstehung der Weltsysteme gewaltet hat. Somit wurde er zu einer kosmogonischen Hypothese geführt, mittels deren er zu zeigen suchte, daß die Entstehung des Sonnensystems (und analog diejenige anderer Weltsysteme) durch die Tätigkeit von Kräften, die noch jetzt wirken, verständlich ist. Er wandte das Aktualitätsprinzip, die von NEWTON aufgestellte Forderung der vera causa [wahre Ursache - wp] auf das zeitlich Entfernte an, während NEWTON dieses nur auf das räumlich Entfernte angewandt hatte. KANTs Eifer für die Durchführung einer mechanischen Naturauffassung steht in enger Verbindung mit einem philosophischen Gedankengang, der sich schon damals in ihm entwickelt hat. Man gehe von einer falschen Voraussetzung aus, meint er, wenn man glaubt, die Natur würde, sich selbst überlassen, nur Unordnung und Chaos erzeugen. Nicht durch Zufall, sondern zufolge ihrer eigenen Gesetze bringt die Natur das Zweckmäßige hervor. Und eben die Tatsache, daß die verschiedenen Elemente solchergestalt von Anfang bis Ende zusammenwirken und von ein und derselben Naturordnung umspannt werden, bezeugt, daß sie ihrem Wesen und Ursprung nach nicht voneinander unabhängig sind. Der mechanische Zusammenhang zwischen allem in der Welt führt also gerade zur Annahme eines Einheitsgrundes für alles. Zwei Auffassungen bekämpft KANT - einerseits diejenige Atomistik, welche voneinander unabhängige Atome annimmt, die nur durch Zufall zusammenwirken sollten, - andererseits die Physikotheologie, die ein äußeres Eingreifen der Gottheit in die Weltmaschinerie annimmt. Die drei Begriffe: Element, Gesetz und Kraft wollte er nicht auf äußere Weise getrennt wissen (9). Diese Betrachtung erhielt eine besondere Bedeutung beim Problem des Ursprungs der in der Welt herrschenden Harmonie und Zweckmäßigkeit. KANT bedauert, daß ein fast allgemeines Vorurteil die meisten Forscher eingenommen hat, so daß sie das Vermögen der Natur, nach ihren allgemeinen Gesetzen ein Geordnetes zu erzeugen, nicht erblickten. In seinen Augen sind gerade die Ordnung und die Harmonie, die in dem erscheinen, was nach den Gesetzen der natur erzeugt wird, ein Zeugnis, daß das Wesen aller Dinge einen gemeinschaftlichen Ursprung in einem Urwesen hat. Die gemeinschaftliche Verbindung deutet auf gemeinschaftliche Abhängigkeit hin. Je mehr man die Natur kennen lernt, umso mehr wird man überzeugt, daß die Dinge der Welt ihrem innersten Wesen nach nicht voneinander getrennt und einander nicht fremd sind. In dieser seiner Jugendschrift findet KANT die Verbindung wissenschaftlicher Erkenntnis und religiösen Glaubens also nicht durch eine Unterbrechung des Zusammenhangs, den erstere in der Natur findet, sondern gerade, indem er von diesem Zusammenhang ausgeht. Und er faßt Teleologie und Mechanismus nicht als Gegensätze auf, sondern verlangt, daß das Zweckmäßige als das Ergebnis einer den allgemeinen Naturgesetzen gemäß stattgefundenen Entwicklung erklärt wird. 3. Denselben Gedanken, den KANT in seiner astronomischen Hypothese zur praktischen Verwendung gebracht hatte, sprach er gleichzeitig in seiner Habilitationsschrift über die Prinzipien der Erkenntnis (10) in abstrakter Form aus. Hier nennt er denselben das Prinzip der Koexistenz. Wollte man annehmen, - dies ist KANTs Gedankengang - daß die einzelnen Dinge (Substanzen) der Welt jedes für sich, voneinander unabhängig, existieren, so würde man nicht von einem einzelnen derselben auf die Existenz der anderen schließen können. So verhält es sich aber nicht. Wegen des gegenseitigen Zusammenhangs aller Dinge der Welt könne man von dem einen auf das andere Schlüsse ziehen. Dies sei nicht der bloßen Koexistenz der Dinge zu verdanken, sondern müsse auf eine Gemeinschaftlichkeit des Ursprungs, auf gemeinschaftlicher Abhängigkeit von ein und demselben Wesen beruhen. In der Naturordnung selbst liegt also ein Beweis einer höchsten Ursache. Diesen Nachweis eines gemeinschaftlichen Ursprungs aller Dinge der Welt als Voraussetzung der Wechselwirkung nach allgemeinen Gesetzen glaubt KANT zuerst gegeben zu haben (primus evidentissimus rationibus adstruxisse mihi videor [Ich denke, ich habe die ersten und offensichtlichsten Argumente dargelegt. - wp]). Wir haben hier einen Gedanken vor uns, dem KANT nicht nur in seinen ersten Schriften große Bedeutung beigelegt hat, sondern auf den er später stets wieder zurückkehrt, und der für seine Behandlungsweise der Probleme charakteristisch ist. Wo KANT sich einem großen Prinzhip (wie hier z. B. der mechanischen Naturauffassung) gegenüber befindet, nimmt er dasselbe in seiner ganzen Tragweite und sucht entweder zu zeigen, daß es bei näherem Nachdenken ganz andere Konsequenzen herbeiführt, als die anfänglich erscheinenden, oder auch, daß die gesamte Sphäre, welcher es gilt, nicht die absolute Wirklichkeit, sondern nur eine Seite derselben ausdrückt. Ersteren Verfahrens bedient er sich in seiner früheren, des letzteren ein seiner späteren Periode. Dieses Verfahren besitzt eine gewisse Erhabenheit; es zeichnet sich vorteilhaft vor dem so häufigen Halbieren der Begriffe und der Kurzsichtigkeit aus, die lieber in scheinbaren Ausnahmen ein armseliges Versteck sucht als das Prinzip resolut zu Ende denkt. Es enthält aber auch seine Gefahren, wie KANTs eigenes Beispiel uns später zeigen wird. 4. Sieben Jahre nach der Habilitationsschrift und nach dem Erscheinen der kosmogonischen Hypothese wurde derselbe Gedankengang, der diese Abhandlung beseelte, von KANT in der Schrift "Einzig möglicher Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" (1762) wieder aufgenommen. Hier wird die schon in der "Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" eingeleitete Kritik der Physikotheologie mehr im Einzelnen durchgeführt. KANT macht derselben den Vorwurf, sie betrachte die Harmonie und die Zweckmäßigkeit der Natur als Zufälligkeiten und suche deshalb deren Ursache außerhalb der Natur. Hierdurch werde sie unwissenschaftlich und habe sie oft die Fortschritte der Erkenntnis gehemmt, indem Nutzen und Vollkommenheit als Anzeichen betrachtet werden, daß ein dieselben besitzendes Ding keinen natürlichen Ursprung hat, weshalb man alles fernere Forschen unterläßt. Und selbst wenn man auf den physikotheologischen Gedankengang eingeht, führt dieser doch nicht zu dem, was der religiöse Glaube verlangt. Er erklärt nämlich nur die Ordnung, nicht aber den Ursprung der Elemente. Die Gottheit, auf deren Dasein sich nach diesem Gedankengang schließen läßt, wird dann nur der Baumeister, nicht aber der absolute Urheber der Welt (11). Auch die anderen landläufigen Beweise vom Dasein Gottes finden keine Gnade vor KANTs Augen. Schon in der Habilitationsschrift hatte er sich CRUSIUS' Kritik des ontologischen Beweises angeschlossen. CRUSIUS hatte dargelegt (12), daß dieser Beweis, auf welchen die vorhergehenden metaphysischen Systeme (namentlich das cartesianische und das wolffische) so großes Gewicht gelegt hatten, auf einem falschen Schluß beruth. KANT führt CRUSIUS' kritischen Gedankengang weiter, ähnlicherweise wie er dies in der bekannten Entwicklung in der Kr. d. r. V.) aus dem Unterschied zwischen Begriff und Existenz später fortsetzt. - Ebensowenig läßt er den kosmologischen Beweis gelten. Ein Schluß aus der in der Erfahrung gegebenen Welt kann nicht zur Annahme eines absolut notwendigen Wesens führen. Diejenige Kritik der natürlichen Theologie, die später in der Kr. d. r. V. so großes Aufsehen erregte, findet sich also schon im "Beweisgrund". Bliebe man bei KANTs Hauptwerken stehen, so würde man die bedeutungsvolle Tatsache übersehen, daß mehrere der wichtigsten Abschnitte weit früher entstanden sind. Jedoch hatte KANT 1762 noch nicht jeden Versuch einer theoretischen Begründung der natürlichen Theologie aufgegeben. Allerdings sieht er Beweise nicht für notwendig an, da der religiöse Glaube eine andere Grundlage als die der Beweisführung hat. Da er aber den Versuch, wie weit man auf dem Weg der Vernunft gelangen kann, als wertvoll ansieht, stellt er folgende Abänderung des ontologischen Beweises auf:
Was KANT bei dieser versuchten Umwandlung des ontologischen Beweises hauptsächlich interessiert, ist jedoch, daß dieselbe den völligen Abschluß des aus seinen früheren Schriften bekannten Gedankengangs ermöglichen würde, der wegen des mechanischen Zusammenhangs der Natur zu einem Einheitsgrund für Alles führen würde. Hätte jedes der Dinge der Welt seine besondere Notwendigkeit, so würde es ein Zufall sein, wenn sie so zusammenpassen, daß aus ihnen ein Ganzes entstehen könnte. Damit Wechselwirkung möglich wird, müssen die Dinge von Anfang an ein System bilden und alle von einem gemeinschaftlichen Grund abhängig sein. Es muß ein Prinzip geben, in welchem alles Verschiedenartige verbunden ist und alles Mannigfaltige sich in Einheit befindet. Dieser Einheitsgrund, aus dem die ersten Möglichkeiten der Dinge entspringen, muß zugleich der Grund aller Weisheit und Güte sein; nur hierdurch wird es möglich, daß das gesetzmäßige Zusammenwirken der Dinge mit den Forderungen der Weisheit und der Güte übereinstimmen kann. Dies ist der kühnste Aufschwung, den KANTs Denken in spekulativer Richtung genommen hat. Weit über den gewöhlichen anthropomorphistischen [typisch menschlichen - wp] Gottesbegriff hinaus greift er auf eine Grundlage zurück, aus welcher sowohl die sich in der Welt kundgebende Weisheit wie auch die in der Welt zusammenwirkenden Elemente entspringen. In seinem Eifer, die letzte Konsequenz aus dem Grundfaktum zu ziehen, von welchem er ausgeht, - aus dem mechanischen Naturzusammenhang nämlich und dem inneren Zusammenhang aller Weltelemente, den dieser voraussetzt, - verliert sich sein Gedanke zuletzt in mystische Tiefe. Hätte er hier unten seinen dauernden Sitz aufgeschlagen, statt an das Tageslicht des rationalen Bewußtseins zurückzukehren, so würde er unter den wenigen Denkern, die sich in dieser Dämmerung bewegen, JAKOB BÖHME und SPINOZA erblickt haben. Denn wenn KANT bei seiner ersten Aufstellung des Gedankengangs, dessen letzte Konsequenz er hier gezogen hat, erklärte, er sei dessen erster Urheber, so war dies historisch nicht richtig. In mystischer Form findet sich derselbe bei BÖHME, und in klarer Verbindung mit der mechanischen Naturauffassung und als deren Konsequenz bei SPINOZA, dessen ganzes System eigentlich eine Durchführung des Gedankens ist, daß der Kausalzusammenhang unverständlich ist, wenn die einzelnen Dinge der Welt als selbständige und unabhängige Wesen (als Substanzen im strengsten Sinn) betrachtet werden. In seiner Abhandlung "de emendatione intellectus" stellt SPINOZA eben den gesetzmäßigen Zusammenhang der Erscheinungen als die Urtatsache auf, von welcher das Denken seinen Ausgangspunkt nehmen muß. SPINOZAs einzige Substanz entspricht dem Einheitsgrund KANTs. - KANT hat SPINOZA nie aus erster Hand gekannt und wäre gewiß in hohes Erstaunen geraten über die Übereinstimmung, die sich zwischen ihm und dem einsamen Denker eingestellte hatte, für dessen Verständnis die Zeit noch nicht gekommen war, als KANT seine Habilitationsschrift und seinen "Beweisgrund" verfaßt hat. In neuerer Zeit haben zwei geistreiche Denker in ihrem Streben, eine idealistische Weltanschauung zu behaupten, ohne der Konsequenz der mechanischen Naturauffassung etwas zu vergeben, einen ähnlichen Gedankengang entwickelt wie jenen, dessen erster Urheber KANT zu sein glaubte. In FECHNERs und LOTZEs philosophischen Anschauungen spielt derselbe eine wichtige Rolle. Besonders hat LOTZE seinen idealistischen Monismus mit großem Scharfsinn auf die Analyse des Begriffes des Mechanismus gestützt (14). 5. Es läßt sich schwer denken, daß KANT einen Gedanken von solcher Tiefe und solchem Interesse wieder hätte fallen lassen, nachdem er ihn erst einmal zur Welt gebracht hatte. Derselbe durchflicht dann auch unter verschiedenen Formen seine spätere Philosophie, obgleich der veränderte Gesichtspunkt ihm eine andere Stellung und Form gibt. - Im selben Jahr, das den "Beweisgrund" entstehen sah, trat (wie ich später zeigen werde) eine wichtige Änderung in KANTs Interessen ein. Von den objektiven Problemen weg wandte er sich der Untersuchung einer Methode ihrer Behandlung zu. Auf diesem Weg war es, daß KANT sich dem oben erwähnten Wendepunkt näherte, an welchem die kritische Philosophie ihrem Prinzip nach entstanden ist. In der Schrift, die dieses Prinzip aussprach (Dissertatio de mundi sensibilis et intelligibilis form atque principiis, 1770), treffen wir (Kapitel 4) den aus älteren Schriften bekannten Gedankengang wieder an. Außer dem Zusammenhang der Dinge der Welt, der in den Formen der Zeit und des Raumes erscheint, wird ein objektives Prinzip der realen Wechselwirkung postuliert, welche die Welt als ein Ganzes ermöglicht. Die Frage lautet:
Als KANT die Dissertation an LAMBERT sandte, äußerte er (Brief an Lambert vom 2. September 1770), das Kapitel, in welchem sich dieser Gedankengang findet, kann als unerheblich übergangen werden. Es verhielt sich nämlich so, daß jetzt ein ganz anderes Problem in den Vordergrund getreten war, indem KANT die Überzeugung gewonnen hatte, daß Raum und Zeit nur subjektive Anschauungsformen sind, so daß die Dinge, insofern wir sie zeitlich und räumlich auffassen, nur als Erscheinungen erkannt werden. Noch jetzt nahm er allerdings noch an, wir könnten mittels des Kausalbegriffs und anderer Verstandesbegriffe die Dinge-ansich erkennen (Noumena). Gleich nach dem Erscheinen der Dissertation fühlte er jedoch die großen Schwierigkeiten dieser Ansicht. Indem er diese zu überwinden suchte, kam er nun (wie ich später etwas eingehender zeigen werde) zu dem Ergebnis, daß alle unsere wissenschaftliche Erkenntnis nur die Erscheinungen, nicht aber die Dinge-ansich betrifft. Es ist klar, daß er jetzt nicht mehr ebenso wie früher aus dem Naturmechanismus auf einen objektiven Einheitsgrund schließen konnte. Das Prinzip des festen Zusammenhangs in der Welt der Erscheinungen wurde ein rein subjektives Prinzip, die vereinende Kraft des Bewußtsein. Der Einheitspunkt der Weltanschauung lag jetzt nicht mehr in einem mystischen Urgrund, sondern eben im erkennenden Subjekt. So heißt es in einer Aufzeichnung, die aus den siebziger Jahren herzurühren scheint (aus dem Zwischenraum zwischen der Dissertation und der Kr. d. r. V.):
6. In der Kr. d. r. V. findet sich, was die Kritik der sogenannten Beweise des Daseins Gottes betrifft, nichts eigentlich Neues im Vergleich mit den vorkritischen Schriften. Das Neue ist hier ein Negatives: die Auslassung des Gedankengangs, der für KANT seiner Zeit (noch in der Dissertation) eine Brücke zwischen der wissenschaftlichen Erkenntnis und dem religiösen Glauben gebildet hatte. Diese Brücke war zerfallen, als die Anwendung der Verstandesbegriffe auf die Welt der Erfahrung beschränkt wurde. Denn nur mittels eines Sprungs ist es jetzt möglich, aus der bedingten Welt der Erfahrungen zu dem Unbedingten zu gelangen, das der religöse Glaube sucht, und dieser Sprung geschieht aus praktischen, moralischen Motiven, nicht aus Erkenntnisdrang. Die Erfahrung, die stets bedingt ist, kann den Gedanken einer unbedingten Ursache nicht begründen (18). Folglich läßt sich nicht mehr aus dem Kausalzusammenhang der Welt auf einen absoluten Einheitsgrund schließen (19). Das große Interesse für die Kausalerkenntnis und für deren konsequente Durchführung in ihrer streng wissenschaftlichen Form fällt jedoch nicht weg, weil ihre Anwendbarkeit auf die Welt der Erscheinungen begrenzt wird. Es kommt wieder zum Vorschein in der Weise, wie KANT alle verschiedenen Grundsätze, welche die Bedingungen einer möglichen Erfahrung enthalten, auf das Gesetz der Kontinuität zurückführt. Die vier Klassen von Grundsätzen, die in KANTs System den vier Klassen von Kategorien entsprechen (ebenso wie letztere wieder den vier Klassen von logischen Urteilen), werden in vier Mottos resumiert:
2) In Mundo non datur saltus. [In der Welt gibt es keine Sprünge. - wp] 3) In Mundo non datur casus. [In der Welt gibt es kein blindes Ungefähr. - wp] 4) In Mundo non datur hiatus [In der Welt gibt es kein Schicksal - wp]
Den ununterbrochenen Naturzusammenhang behauptet KANT energisch in Bezug auf die Erscheinungswelt. In dem interessanten Abschnitt von der "Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung der Hypothesen" verlangt er, daß keine Erklärungsgründe angewandt werden sollten, die nicht nach bestimmten Gesetzen mit den gegebenen Erscheinungen zusammenhängen. Dies ist das Prinzip der vera causa [wahren Ursache - wp], das er selbst in seiner kosmogonischen Hypothese auf so großartige Weise zur Verwendung gebracht hatte. Auch in seiner Methodenlehre wird es von Bedeutung. Und vorzüglich verlangt er dessen Anwendung da, wo sich die größte Versuchung zu seiner Übertretung gezeigt hat, nämlich bei der Erklärung der Ordnung und Zweckmäßigkeit der Natur.
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1) Eine ganz ähnliche Äußerung findet sich schon in Kants Brief an Garve vom 7. August 1783: "Den Vortrag der Materien, die ich mehr als 12 Jahre hintereinander sorgfältig durchdacht hatte ... brachte ich in etwa 4 bis 5 Monaten zustande." (Dieser Brief ist abgedruckt in Albert Stern, Über die Beziehungen Christian Garves zu Kant, Seite 33f.) 2) Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie. Aus Kants handschriftlichen Aufzeichnungen herausgegeben von Benno Erdmann, Bd. II, Leipzig 1884, Seite 4 (Nr. 4). 3) Prolegomena zu jeder künftigen Metaphysik, Riga 1783, Seite 13. 4) Friedrich Paulsen, Versuch einer Entwicklungsgeschichte der kantischen Erkenntnislehre, Leipzig 1875, Seite 126f. 5) Prolegomena, Riga 1783, Seite 119. 6) Erdmann, Reflexionen II, Seite 5 (Nr. 7). 7) Dieser Periode voraus gehen nur eine Abhandlung über die Schätzung der lebendigen Kräfte (1747( und zwei kleine naturwissenschaftliche Abhandlungen. 8) Kants Lehrer, Martin Knutzen, hatte es bereits versucht, Newtons Physik mit Wolffs Philosophie zu verbinden, und er führte seinen Schüler in das Studium dieser Forscher ein. Vgl. Benno Erdmann, Martin Knutzen und seine Zeit - ein Beitrag zur Geschichte der wolffischen Schule und insbesondere zur Entwicklungsgeschichte Kants, Leipzig 1876. - In Dänemark erklärt sich der Wolffianer Jeus Kraft, Professor zu Sorö, in seiner "Kosmologie" (Kopenhagen 1752) gegen die cartesianische und für Newtons Physik. 9) Den innigen Zusammenhang der Begriffe: Element und Kraft behandelt besonders ein Aufsatz von Kant aus dem folgenden Jahr: Monadologia physica (1756), in welchem die Atome (die absoluten Atome) als Kraftpunkte aufgefaßt werden, ähnlich wie in neuerer Zeit Fechner sie in seiner "Atomenlehre" aufgefaßt hat. 10) Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio (Sämtliche Werke, hg. von Rosenkranz und Schubert, Bd. 1, Seite 41-44). 11) Es hat sein Interesse, zu bedenken, daß Kants Kritik der Physikotheologie bereits aus den Jahren 1755 und 1762 herrührt. Denn den Hauptzügen nach stimmt sie mit Humes Kritik in den "Dialogues on natural religion" überein, die 1779 erscheinen, zwei Jahre vor der Kr. d. r. V. (obgleich sie seit vielen Jahren ausgearbeitet waren). Kants Selbständigkeit ist also festgestellt. Als er später die "Dialogues" kennenlernte, schätzte er sie hoch. 12) Christian August Crusius, Entwurf der notwendigen Vernunft-Wahrheiten, Leipzig 1745, § 235 (hier nach der dritten Ausgabe zitiert). 13) "Einzig möglicher Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes", Königsberg 1763 (1762), Seite 29. - Schon in der Habilitationsschrift findet sich dieser Gedankengang (Sektion II, Prop. 7), nur in mehr dogmatischer Form. 14) Lotze, Drei Bücher der Metaphysik, Leipzig 1879, Seite 135f. (Schon im Mikrokosmus, Drittes Buch, Kapitel 5). In der jüngsten Zeit hat Friedrich Paulsen sich dieser Betrachtung angeschlossen (Einleitung in die Philosophie, Berlin 1892, Seite 212-224). 15) Totum e substantiis necessariis est impossibile [Die Gesamtheit aller notwendigen Substanzen ist unmöglich. - wp] (§ 18). Unitas in conjunctione substantiarum universi est consectarium dependentiae omnium ab Uno [Die Einheit in der Verbindung der Substanzen des Universums ist eine Folge der Abhängigkeit aller vom Einen. - wp] (§ 20) 16) Lose Blätter aus Kants Nachlaß. Mitgeteilt von Rudolf Reicke, Erstes Heft, Königsberg, 1899, Seite 16. 17) Lose Blätter I, Seite 19, 20. 18) Kr. d. r. V., zweite Auflage, Seite 665. - Auch den Gedankengang, mittels dessen Kant einst (siehe § 4) den ontologischen Beweis umzuwandeln suchte, hat er jetzt als nichts beweisend verlassen. Die Idee des absoluten Wesens als Grund aller Möglichkeit ist aber nicht zugleich weggefallen. Diese tritt als "das transzendentale Ideal" auf, als höchster Maßstab all dessen, welchem man Realität beilegt. Siehe Kr. d. r. V., zweite Auflage, Seite 600, 606. Schon in der Dissertation ist die höchste theoretische Idee exemplar aliquod, omnium aliorum, quoad realitates mensura communis [ein Modell für alle anderen als gemeinsames Maß der Realität - wp] (§ 9). Hier ist also eine der Subjektivierung des "Einheitsgrundes" analoge Metamorphose vor sich gegangen. 19) Das Problem der Wechselwirkung wird jedoch erwähnt in den Prolegomena Seite 98f und in der Kr. d. r. V., zweite Auflage, Seite 265, Note und 292f, 428, und zwar so, daß zu ersehen ist, wie Kant seinen alten Gedanken nicht vergessen hat. Vgl. Erdmanns Reflexionen II, Seite 219f und Lose Blätter I, Seite 274. 20) Kr. d. r. V., zweite Auflage, Seite 282. 21) Erdmann, Reflexionen I, Seite 308 (Nr. 1074). Vgl. Seite 514 (Nr. 1747-50). 22) Salomon Maimon, Versuch über die Transzendentalphilosophie, Berlin 1790, Seite 140: "Die Ursache der Erscheinung [aufzusuchen, heißt] das Stetige in derselben aufzusuchen und die Lücken unserer Wahrnehmung auszufüllen, um sie dadurch zu Erfahrungen zu machen. Denn was versteht man sonst in der Naturlehre unter dem Wort Ursache als die Entwicklung einer Erscheinung und Auflösung derselben, so daß man zwischen ihr und der vorhergehenden Erscheinung die gesuchte Stetigkeit findet." 23) Kr. d. r. V., zweite Auflage, Seite 800. 24) Kritik der Urteilskraft, § 70 (vgl. § 76, 80, 88). |