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JULIUS KAFTAN
Sollen und Sein
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"Nicht willkürlich, nicht an irgendeinem in der Luft schwebenden Punkt, wurde von einem Gegebenen ausgegangen, sondern von der in der Empfindung enthaltenen absoluten Position. In der einfachen Empfindung ist eine solche unmittelbar enthalten, durch die einfache Empfindung stellt das Gegebene selbst die Forderung an das Subjekt, absolut gesetzt zu werden."

"Wir haben niemals eine wirklich einfache, isolierte Empfindung, sondern diese ist in ihrem Eintreten schon eine Verbindung mit anderen und dem im Gemüt Vorhandenen eingegangen."

"Die einfache Empfindung, von der gesagt wird, sie enthalte schon die absolute Position in der objektiven Bedeutung, ist nirgends gegeben, sondern sie ist ein Postulat der herbartschen Lehre von den einfachen Realen als dem letzten Grund all dessen, was erscheint, sie ist die im Denken erzeugte absolute Position, die in die Empfindung zurück übersetzt worden ist. Aber die Begründung darf nicht das Resultat voraussetzen, und daher taugt die absolute Position in der Empfindung nicht dazu, das Recht zu begründen, mit dem die im Denken erzeugte nun auf das Gegebene übertragen wird."


II.
Die ontologischen Grundbegriffe
Herbarts kritisch erörtert

An der Spitze der ontologischen Begriffe steht der der absoluten Position, und er bietet sich daher zuerst der Erörterung dar. Es sind Bedenken gegen denselben erhoben worden, die - unbeseitigt - den Bau des ganzen Systems zu erschüttern drohen. TRENDELENBURG hat nämlich behauptet (1), es werde die absolute Position in einem doppelten Sinn gefaßt. Zuerst in der Ableitung - meint er - kann unter derselben nichts anderes verstanden werden, als daß etwas als unabhängig von unserem Empfinden und Vorstellen gesetzt wird, woraus aber für die Qualität dessen, was so gesetzt wird, schlechterdings gar nichts folgt. In der weiteren Verwendung des Begriffs wird diese Unabhängigkeit unserem Vorstellen gegenüber dann stillschweigend in das andere umgesetzt, daß das Ding an ihm selbst absolut ist. So kommt es darauf hinaus, daß alle Sätze, die nun aus der absoluten Position als von der Qualität des Seienden geltend gefolgert werden, auf Schlüssen mit doppelsinnigem Mittelglied beruhen gleich den Paralogismen [Widersprüchen - wp], die KANT in der reinen Seelenlehre entdeckte.

Daß der Ausdruck "absolute Position" in einem doppelten Sinn genommen werden kann, nämlich in subjektiver und objektiver Bedeutung, und daß die Unabhängigkeit des Gesetzten vom setzenden Subjekt - wie das z. B. die des kantischen Dings ansich ist - von einer schlechthinnigen Beziehungslosigkeit sehr weit entfernt ist, wird von einem Verteidiger HERBARTs (2) gegen diesen Einwurf als selbstverständlich eingeräumt. Nur daß es hier als ganz unbedenklich für die herbartsche Fassung der absoluten Position bezeichnet wird. HERBART hat die absolute Position nie anders als in einem strengeren und unbeschränkten Sinn genommen: als solche ist sie schon in der Empfindung, von der er ausgeht, gegeben. TRENDELENBURGs Mißverständnis ist etwa durch eine Verwechslung mit dem kantischen Ding-ansich hervorgerufen, da ja auch HERBART sich dieses Ausdrucks "ansich" bedient.

Ich halte zunächst fest, daß ein doppelter Sinn des Ausdrucks "absolute Position" überhaupt als konstatiert angesehen werden kann, und indem ich die Berufung auf die in der Empfindung gegebene für jetzt beiseite lasse, frage ich, ob die von HERBART im Denken erzeugte absolute Position, so wie sie dort entsteht, vom Einwand TRENDELENBURGs getroffen wird. Es hat so den Anschein; denn es kommt dadurch zu ihr, daß das Denken sich dem Gegebenen gegenüber genötigt sieht, das, was überhaupt ist, aus sich hinauszuwerfen, als außerhalb von ihm gegeben anzuerkennen. Und was besagt denn die so erfolgte Setzung anders, ls daß das Gedachte auch ganz abgesehen vom Denken vorhanden ist? Aber was dem Einwand seinen Schein gibt, das zerstört ihn näher betrachtet. HERBART hebt es oft hervor, daß der wahre Realismus wie der seinige aus der Widerlegung und Umkehrung des Idealismus hervorgeht - und das kommt hier in Betracht. Die Frage, ob das Denken etwas absolut setzen soll, wird gar nicht ohne Weiteres aufgeworfen; die Besinnung, die auf diese Frage hin erfolgt, ist gar nicht mehr die einfache, ob etwas außerhalb dem Subjekt gegeben oder nicht. Vielmehr: die Frage entsteht erst auf Umwegen. Durch die Relativität in den Formen der Erfahrung beunruhigt und geneigt, sie deshalb als Schein auf sich zu nehmen, sieht sich das Subjekt doch wieder von ihnen als von gegebenen ergriffen. Es muß sich daher vom Skeptizismus losmachen und indem es das tut, bejaht es die Frage, daß etwas "absolut" gesetzt werden muß. Aber nicht in dem Sinn, daß es so, wie es ihm erscheint, außerhalb seiner selbst gegeben ist. Wäre das die Meinung, dann würde derselbe Prozeß aufs Neue beginnen und so bis ins Unendliche weiter. Vielmehr erfolgt die Setzung im Gegensatz zu dieser nach HERBART notwendigen skeptischen Beunruhigung, und der notgedrungene Entschluß, etwas außerhalb seiner selbst zu setzen, trägt in der Art und Weise, wie er erfolgt, das Absolutsein aus dem Akt des Setzens in das Gesetzte selbst hinüber. Beides ist in diesem Zusammenhang unmittelbar eins, kommt es nach diesen Antezedenzien [Annahmen - wp] im Denken wieder zu einer absoluten Position, so braucht es gar nicht besonders gesagt zu werden, sondern es ist mit dem Zusammenhang, in dem sie erfolgt, unmittelbar gegeben, daß sie in einem strengeren und unbeschränkten Sinn genommen wird. So nimmt jener Einwand seine scheinbare Richtigkeit aus dem Zusammenhang, in dem die Frage auftritt, aber eben dieser Zusammenhang macht ihn auch haltlos. Ober er nicht dennoch sein gutes Recht hat und einen bedenklichen Punkt der herbartschen Lehre trifft, wird sich später ergeben.

So ist die im Denken erzeugte absolute Position bei HERBART allerdings von Anfang an das, wofür er sie später nimmt. Sie muß scharf gefaßt werden, es handelt sich in ihr um nichts geringeres als darum, daß das, was durch sie gesetzt wird, als absolut gesetzt wird. Was ist, das ist absolut. Nur muß auch Acht gegeben werden, daß der Begriff überall in seiner vollen Schärfe genommen wird, selbst auf die Gefahr hin, daß er sich einmal gegen das auf ihm ruhende System wendet.

Die nächste Frage ist nun die, ob die Forderung, irgendetwas in dieser Weise zu setzen, wirklich im Denken vorhanden ist. TRENDELENBURG wirft in seiner Kritik HERBARTs diese Frage nicht auf. Unmittelbar nach jenen Ausstellungen an der doppelsinnigen absoluten Position geht er dazu über, die Widersprüche, die beim Messen des Gegebenen nach dem so gefunden Maß des Seienden entstehen, zu betrachten und von da aus, daß das Maß nicht taugt, zurückzuweisen (3). Und wenn er in der abschließenden Erörterung (4) darauf einzugehen scheint, so löst er doch die bestimmte Frage in die allgemeinere nach der Notwendigkeit auf. Das hängt damit zusammen, daß er für den wirklichen Gehalt der absoluten Position nur die das Subjekt zwingende Notwendigkeit, etwas außerhalb von ihm zu setzen, nimmt. Aber die absolute Position ist jedenfalls bei HERBART in objektiver Bedeutung genommen - mag das nun falsch abgeleitet sein oder nicht, es wäre doch angezeigt gewesen, dem Philosophen weiter nachzugehen und ganz abzusehen von der Ableitung nach dem Recht der absoluten Position zu fragen, die nun in Wahrheit das Fundament der Metaphysik ist. Will das Denken in dieser Weise etwas als absolut setzen? Wenn wir den Skeptizismus einmal festhalten - sagt HERBART - auch nur den Gedanken auf eine Weile fassen, wir müßten die wirkliche Welt ganz auf uns nehmen, und diese ist nichts als ein Spiel unseres willkürlichen Denkens (5),
    "dann möchte uns wohl eine Sehnsucht nach dem Seienden anwandeln, nach einem ruhenden Setzen anstatt des schwebenden und schwindenden."
In diesen Worten findet die im Denken enthaltene Forderung der absoluten Position einen klaren Ausdruck. Sie sind in einem bestimmten Gegensatz gegen das willkürliche Denken und das damit verbundene Setzen gesagt, aber sie haben ein allgemeineres Recht. Das Denken will irgendwo zur Ruhe kommen, es will erst an dem Punkt aufhören, über den hinaus es nun keine Frage mehr gibt: den will es erreichen und setzen. Wir sehen daher nicht anders, als daß die von HERBART geforderte absolute Position in einm objektiven Sinn wirklich mit dem Denken gegeben ist und ihre laute Stimme erhebend nicht zum Schweigen wird gebracht werden können, wenn es überhaupt ein Denken geben soll.

Und aus der absoluten Position wird nun wie oben gezeigt die Qualität abgeleitet. Diese Ableitung gerade wird vom Vorwurf TRENDELENBURGs getroffen: denn in ihr vollzieht sich die von ihm vermutete Verwechslung der Begriffe. Wir haben den Vorwurf zunächst abgewiesen; sollte er aber in der Weise stehen bleiben, daß gesagt wird, es könnten aus dem rein formalen Prädikat des Seins keine Realprädikate für das Seiende gefolgert werden, so ist dem schon in der Darstellung begegnet worden.

Die Prädikate sind samt und sonders negativen Ursprungs, sie klingen positiv, aber niemand verbindet mit ihrem Aussprechen einen Sinn, wenn er nicht ihr Gegenteil in Gedanken hält und sich dessen als des Inhalts seiner Aussagen bewußt ist, daß er eben dieses Gegenteil von denjenigen ausschließt, dem er die Prädikate beilegt. Soll das nicht gelten - wohlan, dann tritt dem durch KANT vernichteten Verfahren, das aus dem Begriff oder der vermeintlichen Essenz die Existenz herausschlägt, nur ein analoges gegenüber, das aus der Existenz die Essenz gewinnt. Ich glaube daher auch, mit unserem Verständnis den wahren Sinn des Philosophen zu treffen.

Was ist den nun aber demnach das Reale oder Seiende? Es ist ein schlechthin leerer Punkt, wir wissen von diesem Realen, sobald es gesetzt ist, nur, daß es ist, und was es ist, weil es ist, nicht ist, aber was es selbst ist, das wissen wir schlechterdings nicht. Es ist gesetzt, und dann sind sorgfältig nach allen Seiten Linien gezogen, damit sich ihm nichts Ungehöriges nähert; es ist die letzte Station auf der Reise, die nach STRÜMPELL (6) das Sein antreten muß und seiner Meinung nach zwar nicht im gemeinen, aber doch in einem empirisch-wissenschaftlichen Bewußtsein auch angetreten hat, es ist, wie DROBISCH ausführt (7) ein "Grenzbegriff" des Denkens. Es hat einen Inhalt, ja einen so gewichtigen, daß nicht weniger als alles, was ist, wie es in der gewöhnlichen Rede heißt, oder, wie es nach HERBART heißen muß, alles, was erscheint, darauf ruht, aber diesen Inhalt kennen wir nicht. -

Und damit lasse ich die bloße Analyse von Begriffen , wie HERBART das Bisherige nennt (8), und steige von der Höhe der Abstraktion zum Gegebenen herab. Wenn ich mich aber bis jetzt im Wesentlichen habe einverstanden erklären können, so ist hier im ersten Anfang, wo die Begriffserörterung verlassen und das Gegebene ins Auge gefaßt wird, der Punkt, der mir als der Grundfehler der herbartschen Metaphysik erscheint. Denn welches Verfahren schlägt HERBART jetzt ein? Doch dieses, daß er jetzt an das Gegebene, weil es gesetzt zu werden verlangt, das Ansinnen stellt, es solle sich absolut setzen lassen, und, weil das Gegebene dem nicht nachkommt, Widersprüche findet, deren Berichtigung dann das Hauptgeschäft der Metaphysik ausmacht. Nicht aber so geschieht es, daß er zuvörderst das Recht nachweist, dem Gegebenen trotz seines Sträubens diese "metaphysische Krone" des Seins aufs Haupt zu drücken. Dieses Recht wird für selbstverständlich genommen. Mag das Gegebene unter der fremden Last zusammenbrechen - die Trümmer erben die Krone, wenn sich das Ganze dessen unwert zeigt, sie zu tragen. Und dieser Punkt in der herbartschen Metaphysik, das Verhältnis der ontologischen Begriffe zum Gegebenen, ist es, den ich für gänzlich ungedeckt gegen feindliche Angriffe halte. -

Aber ich irre mich. Zwar wird jetzt nicht nachträglich das Recht erst bewiesen, kraft dessen vom Gegebenen verlangt wird, daß es sich als absolut setzen läßt; es geschieht aber deshalb nicht, weil dieses Recht von vornherein gesichert ist. Denn wie ist es zu der an der Spitze stehenden Erörterung der Begriffe gekommen? Nicht willkürlich, nicht an irgendeinem in der Luft schwebenden Punkt, sondern es wurde auch in ihr von einem Gegebenen ausgegangen, nämlich von der in der Empfindung enthaltenen absoluten Position. In der einfachen Empfindung ist eine solche unmittelbar enthalten, durch die einfache Empfindung stellt das Gegebene selbst die Forderung an das Subjekt, absolut gesetzt zu werden, und wenn dieses daher die im Denken erzeugte auf dasselbe überträgt, kommt es nur seiner eigenen Forderung nach. - Wo ist nun die Lücke in diesem Verfahren? Es ist diese, daß in der Empfindung nichts als die absolute Position in der subjektiven Bedeutung vorhanden ist, und so kommt hier der Einwurf TRENDELENBURGs zu seinem Recht. Denken wir uns eine einfache Empfindung, so ist allerdings in derselben gegeben, daß das Subjekt darin unmittelbar etwas außerhalb von sich selbst setzt, etwas außerhalb von ihm selbst Gegebenes voraussetzt, aber nie und nimmer, daß es dieses als ansich bedingungslos und absolut setzt. Eine solche Position ist gar nicht anders als im Denken vorhanden. Allerdings findet auch nicht ihr Gegenteil in der Empfindung statt, daß nämlich das darin Gesetzte als relativ und bedingt gesetzt wird. Will man aber deswegen eine Gleichheit der in der Empfindung sich vollziehenden und der im Denken erzeugten absoluten Positition behaupten, so soll man bedenken, daß es nur die des noch Unreflektierten, in dem alles noch liegen kann, mit dem Reflektierten ist, das, weil alles also auch in jenem enthalten sein könnte: diese Gleichheit schwindet mit der Reflexion auf die beiden Akte des Setzens. Es wird auch keine Empfindung in einem unbedingten, absoluten Urteil ausgesprochen, in einem Urteil von der Form "es ist dies oder jenes", sondern ein Hier oder Dort, ein Damals oder Jetzt wird zumindest auch darin enthalten sein. Und wenn man das abweist und behauptet, das liege nur daran, weil wir niemals, eine wirklich einfache, isolierte Empfindung haben, sondern diese in ihrem Eintreten schon eine Verbindung mit anderen und dem im Gemüt Vorhandenen eingegangen ist, so frage ich, ob denn eine Anknüpfung an diese Empfindung eine Anknüpfung an das Gegebene heißen kann, in dem sie eingestandenermaßen gar nicht vorkommt? Und wenn man etwa verlangt, wir sollten uns eine solche einfache Empfindung denken können und die Energie des Denkens nicht an die gemeine Erfahrung verkaufend uns vielehr mittels derselben über diese erheben und dann das von der einfachen Empfindung Ausgesagte anerkennen, so antworten wir, daß diese Forderung allerdings berechtigt ist, wenn die Richtigkeit der Metaphysik HERBARTs schon feststeht, aber nicht, wenn es sich zu aller erst um die Feststellung ihres Fundamentes handelt. Die einfache Empfindung, von der gesagt wird, sie enthalte schon die absolute Position in der objektiven Bedeutung, ist nirgends gegeben, sondern sie ist ein Postulat der herbartschen Lehre von den einfachen Realen als dem letzten Grund all dessen, was erscheint, sie ist die im Denken erzeugte absolute Position, die in die Empfindung zurück übersetzt worden ist. Aber die Begründung darf nicht das Resultat voraussetzen, und daher taugt die absolute Position in der Empfindung nicht dazu, das Recht zu begründen, mit dem die im Denken erzeugte nun auf das Gegebene übertragen wird. Auch in der Polemik gegen das Mögliche der alten Metaphysik handelt es sich zunächst nur um dieselbe in einem subjektiven Sinn, und der von KANT wieder hervorgehobene Begriff des wahren seins führt darüber nicht hinaus.

Soll ich dann aber, sobald ich die Begriffserörterung nur verlassen und mich wieder auf die Erfahrung besonnen habe, jene, die mir doch als zutreffend erschienen ist, fahren lassen und andere Wege suchen? Wenn Resultate des Denkens feststehen, wie die gefundenen ontologischen Begrife, dann sind sie doch auch notwendig und heischen zwingend ihre Anwendung, lassen sich nicht wieder abwesen wie Diener, die man ruft und dann gleich wieder fortschickt, weil die Laune mittlerweile eine andere geworden ist. Muß denn nicht das Gegebene sich beugen, wenn das Denken befiehlt? Wir sehen davon ab daß dies kaum im Sinne HERBARTs gesprochen wäre, der überall auf den festen Boden des Gegebenen kein geringeres Gewicht legt, als auf die reine Energie des Denkens, ich sehe ab davon und gehe dem Gedanken nach. Es läßt sich nämlich doch ein Fall denken, wo mit einigem Recht so gesprochen wird. Wenn es die Art des Denkens ist, daß es sich gar nicht anders vollziehen kann, als durch die Anwendung jener ontologischen Begriffe, dann bleibt nur die doppelte Möglichkeit entweder diese mit aller Konsequenz durchzuführen oder das Denken überhaupt aufzugeben; denn dann würde es auch hier heißen: sit, ut est, aut non sit [Laß es bleiben, wie es ist oder eben nicht. - wp]. Wie steht es denn darum? Es ist gesagt worden, das Denken will irgendwo zur Ruhe kommen in der absoluten Position, und es ist weiter anerkannt worden, daß die in dieser ausgesprochene Realität allerdings in der Weise, wie HERBART es tut, sorgfältig nach allen Seiten durch jene Prädikate abgegrenzt werden muß. Wogegen wird es denn abgegrenzt? Gegen all die Prädikate, die sich uns fort und fort aus dem Gegebenen aufdrängen als Mehrfachheit, Veränderung usw. Das Denken sträubt sich durchaus nicht gegen diese; denn wer kann es leugnen, daß wir alle diese Prädikate sehr wohl denken können und, wenn wir sie denken, wie das unaufhörlich geschieht, auch ganz bestimmt wissen, was wir damit denken? Nur das Eine darf nicht sein, daß sie sich auch an den letzten Punkt anheften, sondern als Grenzwächter steht die Forderung der absoluten Position und der damit gegebenen Realität da und verlangt, daß wir aus dem schwebenden und schwindenden Setzen endlich heraus kommen und uns an einen festen Punkt heften. Dies geschieht aber nicht so, daß wir diese Realität durch positive Prädikate klar und bestimmt denken und beschreiben, sondern
    "der Inhalt des Gedachten leidet hier an der abstrakten Leere des Gesetzten. Die Forderung steht fest, aber das Denken erweist sich als unzureichend, sie vollständig zu erfüllen, es kann ihr nur genügen durch die Selbstentäußerung, die in der Negation aller Relationen liegt, auf denen doch sein ganzer Gehalte beruth." (9)
So wenig sträubt sich das Denken gegen die aus dem Gegebenen sich aufdrängende Gestaltung der Dinge, daß es, um der in ihm selbst liegenden Forderung der absoluten Position nachzukommen, dies nicht anders kann, als durch Selbstentäußerung, als durch Negation all dessen, gegen das es mit dieser seiner Forderung Front macht, nicht anders also, als in seinem Ausdruck doch wieder an dieses gebunden. Woran liegt es? Daran, daß das Denken selbst ein Schweben und Schwinden ist, allerdings kein willkürliches, sondern ein solches, das dem Schweben und Schwinden der gegebenen Dinge nachzugehen und sie darin zu packen, zu begreifen versteht. Es liegt also die Art des Denkens durchaus nicht in jenen ontologischen Begriffen; denn wo lag jemals die Natur eines Dings, einer Tätigkeit in seiner Grenze, seiner "Selbstentäußerung"? Nur das ist zu verlangen, daß die Forderung, die fest steht, irgendwo zu ihrem Recht kommt. Sie tut es nicht aus sich heraus. Von anderswo her muß dem Denken gegeben werden, was diese absolute Position verträgt. Von eben daher entscheidet sich dann, ob eine Vielheit des Seienden muß angenommen werden oder nicht.

Es sind oben in der Darstellung außer den in der Metaphysik abgeleiteten Prädikaten des Realen noch zwei andere genannt worden, die HERBART demselben unbedenklich beilegt, und es wurde anerkannt, daß das mit Recht geschieht, da sie das, was jene enthalten, nur mit einem anderen Namen nennen. Es sind die Prädikate "ewig" und "unbedingt". Sie weisen uns durch den Zusammenhang, in dem sie gewöhnlich vorkommen, daraufhin, wo die gewöhnliche Denkweise der im Denken enthaltenen Forderung der absoluten Position nachzukommen pflegt. Dort nämlich, wo es sich um das Unbedingte handelt. Zwar ist es oft genug geschehen, daß man all das, was man durch diese Bezeichnung vom Gegenstand derselben ausgeschlossen hatte, ohne weiteres wieder darauf übertrug und so die heilloseste Verwirrung anrichtete. Wenn man sich eben dahin beschied, den Begriff als einen notwendigen Grenzbegriff des Denkens zu betrachten, der vom Denken aus nie einen Inhalt erhält, sondern in abstrakter Leere verharrt, so war es notwendig, daß, sobald man seinen Inhalt mittels des reinen Denkens entwickeln wollte, all die im Denken begründeten Relationen, durch deren Ausschließung der Begriff entstand, wieder in denselben hineingetragen wurden. Es ist daher sicherlich ein großes Verdienst HERBARTs, hier eine saubere Scheidung der Begriffe verlangt, wie gelehrt zu haben, und es liegt dem Theologen besonders nahe, dieses Verdienst hervorzuheben.

Wenn aber - wie das der Sinn der vorstehenden Erörterung war - die richtige Anwendung dieses Begriffs bei HERBART vermißt, jene Forderung zu sehr als der Mittelpunkt der Metaphysik betont wird, so können wir darin nur einen Rest der von ihm selbst so energisch bekämpften Methode erkennen, die das Unbedingte an die Spitze des Systems stellt; denn das erscheint als die in der Tiefe liegende Wurzel dessen, daß die absolute Position schon in jeder einfachen Empfindung enthalten sein soll, was doch nirgends im Gegebenen der Fall ist; und nichts anderes als dies liegt dem einleitenden Räsonnement [Argument - wp] zugrunde, das in einen angeblich notwendigen Skeptizismus hineinführt, der für das ganze System so verhängnisvoll wird, daß es nun dem Gegebenen niemals gerecht werden kann. Man muß von der Sache selbst ausgehen, nicht von der Grenze. In der Tatsache des Denkens, wie sie zunächst vorliegt, muß der Ausgangspunkt genommen werden, nicht im Grenzbegriff. In den bekämpften Systemen wird dadurch gefehlt, daß das Denken sich feindlich gegen seinen Grenzbegriff wendend ihn aufhebt, bei HERBART ist es umgekehrt: der Grenzbegriff wendet sich gegen das Denken und zwingt uns, das durch ihn Gedachte, d. h. das nur durch eine Selbstentäußerung Denkbare, also eigentlich Undenkbare als den in der Tiefe liegenden Grund der uns umgebenden Welt zu denken.

Und dagegen sträubt sich unser Denken! Zwar erkennt es den Begriff der absoluten Realität als von ihm selbst geforderten Grenzbegriff an, aber es findet nicht sein Wesen in diesem, es ahnt die Fülle aller Realität als die Wirklichkeit dieses Begriffs, aber es begreift sie nicht. Wo es bei ihm weilt, vergißt es sein eigenes Wesen, sucht sich selbst zu überspannen, um ihn ganz zu packen, bringt es aber nur bis zur Selbstentäußerung; wo es dagegen der uns umgebenden Welt gegenüber in seinem Element ist, da vergißt es den Grenzbegriff und denkt erst wieder an ihn, wenn es etwa Gefahr läuft, ihn anzutasten und seine Integrität zu verletzen. Mit einem Wort: es schlägt aus sich heraus keine Brücke, die von jenem zu diesem und von diesem zu jenem führt. HERBART schlägt eine solche und muß sie schlagen; denn es ist nun an ihm, uns aus der Unterwelt der Realen wieder an die Oberwelt der Erscheinungen zu führen und diese nicht bloß im Allgemeinen, sondern gerade, wie sie vorliegt, aus jener zu erklären. Es geschieht dies mittels der Theorie vom wirklichen Geschehen oder von den Selbsterhaltungen der einzelnen Realen. Diese zu prüfen ist nun noch meine Aufgabe; denn wie es in der Natur der Sache liegt, handelt es sich hier auch um einen ontologischen Grundbegriff HERBARTs.

So viel erhellt sich von vornherein, daß, wenn ich bisher recht gesehen habe, das Verfahren durch eine mit sich einstimmige und widerspruchslose Art kaum eine von selbst überzeugende Kraft in sich tragen wird; denn wenn es gelingt, einen sicheren Weg vom Realen zum Gegebenen zu finden, dann trägt die herbartsche Metaphysik, ganz abgesehen von Ausgangspunkt und Anknüpfung an das Gegebene, in sicherer Rundung eine Gewähr in sich selbst, der die sichere Anknüpfung auf die Dauer nicht entgehen kann. TRENDELENBURG richtet seine Aufmerksamkeit vor allem auf das wirkliche Geschehen, faßt dieses und namentlich das Zusammen, welches eine so wichtige Rolle in demselben spielt, direkt ins Auge und versucht den Nachweis, daß in ihm die angeblich in den Erfahrungsbegriffen vorhandenen Widersprüche nur in etwas anderer Form wiederkehren (10). Das mag durch den Ausgangspunkt seiner Untersuchung, wie durch die Form, in die er seine weiteren Erörterungen faßte, bedingt gewesen sein. Wir haben uns in den Gedankengang HERBARTs hineinzuversetzen und zu fragen, ob dieser hier mit sich selbst einstimmig bleibt. Dann lautet die Frage - allgemein gefaßt - aber so: leistet die Theorie vom wirklichen Geschehen, was sie leisten soll?

Zuerst wird es darauf ankommen, die Basis der Theorie hinzustellen. Es gibt eine für uns unübersehbare Menge von Realen. Jedes Reale ist, was es ist, und von ihm aus würde es gar zu keiner weiteren Aussage über dasselbe kommen. Aber das Gegebene verlangt, daß wir weiter gehen, wie uns schon die Nötigung, eine Vielheit des Seienden anzunehmen, aus ihm und nicht aus diesem selbst gekommen ist. Führt das einzelne Reale als solches nicht weiter, so sehen wir uns an die Vielheit derselben gewiesen, und in ihr ist nun in der Tat Raum für zufällige Ansichten, die in der Weise, wie die Darstellung zeigt, angebracht werden. Die zufällige Ansicht ist, was sie heißt: den Realen gänzlich zufällig. Man hat sie mit Unrecht von daher in Anspruch genommen, daß nun doch eine Zerlegung auf die unzerlegbaren übertragen wird; denn es wird wiederholt und nachdrücklich betont, daß es die vollkommenste Probe einer Irrlehre wäre, wenn dieses so gefundene Geschehen sich eine Bedeutung im Gebiet des Seienden anmaßen würde (11). Ich möchte daher lieber mit HERBART die Zufälligkeit dieser Zerlegungen und Ansichten auf das Stärkeste betonen und über ihn hinausgehend behaupten, daß sie eben wegen dieser Zufälligkeit gar nichts in das Reale hineinbringen, nicht bloß kein Geschehen nach Art des sinnlichen, was auch er nicht will, sondern ebensowenig etwas, was die Erscheinung erklärt, worin die Erscheinung ihren Grund haben könnte. Nicht bloß die Zerlegung der Realen, sondern auch das Resultat derselben ist den Realen gänzlich zufällig; dieses wie jenes bleibt in einem zusammenfassenden Denken hängen. Die bloß gedachte Möglichkeit gebiert auch hier keine Wirklichkeit. Jedes Reale für sich und alle zusammen verharren in gänzlich wandelloser Selbstgleichheit, eins völlig umbekümmert um das andere, denn sobald etwas anderes eintritt, fangen die Relationen an, und hört die Realität auf. Mag immerhin ein ihnen äußerliches, zusammenfassendes Denken sich erlauben, allerlei Kombinationen zu machen über Verhältnisse, die etwa zwischen ihnen vorhanden sein könnten, dagegen haben sie nichts, aber sie rufen ihm ein gebieterisches Halt zu, sobald es sich irgendeine Bedeutung für sie, das wandellos Seiende, anmaßt. -

HERBART vergegenwärtigt sich dieses Halt auch (12) und zieht sich davor zurück, aber wenn er dann auf das Gegebene blickt und sich von daher vergewissert hat, daß er nicht in einem willkürlichen Denken begriffen ist, indem er die Realen im Denken zusammenfaßt, schreitet er wieder mutig vorwärts und findet in der Selbsterhaltung das befreidende Wort, das ohne Verletzung der Realität ein wirkliches Geschehen zu denken erlaubt. Selbsterhaltung setzt einmal gar keine Relation voraus, sondern ist nur ein anderer Ausdruck für die wandellose Selbstgleichheit. In dem Sinn wird sie genommen, wenn behauptet wird, die Realität werde dadurch verletzt. Selbsterhaltung beruth aber andererseits völlig auf Relation, wenn sie nämlich als auf die beabsichtigte Störung seitens eines andern hin erfolgend gedacht wird. In dem Sinn wird sie genommen, wenn die Erscheinung daraus erklärt werden soll. Oder zeigt nicht schon dies, daß die Selbsterhaltung je nach der Verschiedenheit der Realen, die sie hervorrufen, so verschieden ist, wie die Vorstellungen in uns, zeigt nicht schon das zur Genüge, daß sie hier völlig auf Relationen beruth? Anstatt daher mit STRÜMPELL (13) zu sagen, daß in der Bezeichnung "Selbsterhaltung" eine unglückliche Wahl des Ausdrucks vorliegt, möchte ich lieber behaupten, daß sich die ganze Möglichkeit, die Theorie vom wirklichen Geschehen das leisten zu lassen, was sie leisten soll, um diesen glücklich gefundenen Ausdruck dreht und mit ihm, wenn er schärfer ins Auge gefaßt wird, verschwindet. So sieht die Brücke zwischen dem Realen und der Erscheinung aus, wenn man sie von der Realität her betreten will: sie weicht unter dem ersten Schritt, oder vielmehr das wandellos Seiende hält das Denken wandellos fest, so daß es zu einem ersten Schritt gar nicht kommen kann. -

Sehen wir aber andererseits auf das Geschehen, welches HERBART als Erscheinung gilt, und das uns tagtäglich als die bekannte und vertraute Welt der Dinge, der wir arglos Realität zuschreiben, umgibt, so ist derjenige Punkt in demselben, der uns nötigt, seine Erklärung im Seienden zu suchen, der, daß wir nicht Herren sind über seine Formen und seinen Wechsel, sondern es sich mit allem diesen uns ohne unseren Willen aufdrängt, so wie es ist, für uns mit Notwendigkeit da ist. Um die Erklärung dieser Notwendigkeit im Schein handelt es sich. Ist für dieses Geschäft nicht eine zufällige Ansicht von vornherein ein Bundesgenosse von zweifelhafter Art? Aber es gibt jedenfalls solche zufällige Ansichten, und ich will den methodischen Wert, den sie haben mögen, nicht bestreiten. X ist z. B. gleich 1 + X - 1 und es ist ihm ganz zufällig, daß wir es dem gleichsetzen. Geschieht dann aber nicht in der Folge etwas, daran das beteiligt ist, was ohne diese zufällige Ansicht nicht geschehen wäre? Der Mathematiker tut vielleicht etwas anderes. Grün läßt sich zerlegen in Gelb und Blau, und wir urteilen daher, daß es dem Blau ähnlicher ist, als dem Rot. Geschieht denn deshalb etwas mit dem Grün? Ja, doch nur im Urteil des Betrachtenden. Das soll sich aber auch nicht anders verhalten, das Geschehen soll ja vom eigentlich Seienden ferngehalten werden, das kann daher nicht gegen den Wert der zufälligen Ansicht, sondern nur für denselben sprechen. Gerade das letzte Beispiel zeigt es deutlich, wie die zufällige Ansicht das sich notwendig Aufdrängende erklärt: denn obgleich es dem Grün ganz gleichgültig ist, daß wir es im Denken in Gelb und Blau zerlegen, so springt doch das obige Urteil mit Notwendigkeit hervor, sobald die drei Farben nebeneinander gesehen werden. Unter einer Bedingung ist dies, daß die zufällige Ansicht etwas Notwendiges erklärt, richtig. Unter dieser nämlich, daß die Zerlegung in Gelb und Blau nicht bloß jetzt zufällig von uns angestellt wird, und dann wieder nicht, sondern dem Grün wirklich zufällig ist. Ist sie das - wohlan, dann wird sie nach Belieben auch eine andere sein können, und es steht bei uns, es einmal in Rot und Schwarz zu zerlegen. Aber nein! hier widerspricht die Sache. Im ersten Beispiel ist das anders. X läßt sich zum Zweck dieser Rechnung, gleich 1 + X - 1 und zum Zweck jener gleich 10 + X - 10 setzen und so in unendlichen Variationen weiter. Hier ist eine wirklich zufällige Ansicht vorhanden; denn nicht nur ist der Gegenstand, um den es sich hier handelt, ein bloßes Gedankending, das geduldig den Wendungen und Absichten des Denkens folgt, sondern es bleibt auch seine Integrität unverletzt. Ganz anders aber, wo es sich um die uns erscheinende Welt handelt. Allerdings ist es zufällig, ob wir uns beim Erblicken des Grün darauf besinnen wollen, daß es sich in Gelb und Blau zerlegen läßt, aber wenn wir an die Zerlegung gehen, ist nur diejenige möglich, welche die Sache erlaubt und das vergleichende Urteil über die Ähnlichkeit der Farben wurzelt in dieser Natur der Sache. Also das Zufällige dieser Ansichten liegt nur darin, daß es zufällig ist, ob sie von diesem oder jenem Subjekt in diesem und jenem Augenblick gefaßt werden oder nicht, aber auch die Sache gesehen sind sie notwendig.

Was folgt daraus für meine Erörterung? Es ist dieses: Entweder die zufälligen Ansichten, die in der Metaphysik zur Anwendung kommen, sind wirklich zufällig (gleich jener von X) oder nicht (wie die letzteren). Jenes ist in der Tat der Fall; denn da wir die Realen, von denen sie gefaßt werden, gar nicht kennen, so ist die Zerlegung so willkürlich, so zufällig, so mannigfaltig, wie im genannten Beispiel aus der Mathematik. Aber dann folgt aus ihnen niemals etwas, was ein wirkliches Geschehen anzunehmen veranlaßt. Was da geschieht, ist eben jenes zusammenfassende Denken, das die Realen nicht anficht, und das sie daher unbedenklich erlauben. Sollen es aber die zufälligen Ansichten der anderen Art sein - und die müssen es sein, wenn sie das wirkliche Geschehen begründen wollen - so fordert ihre Anwendung wie in den aus dem Gegebenen erholten Beispielen eine eingesehene Notwendigkeit der Sache, damit sie, wie geschehen soll, in irgendeiner bestimmten Weise und nicht anders erfolgen. Diese zufälligen Ansichten sind also in der Metaphysik unmöglich, weil sie, um überhaupt einen Sinn zu haben, notwendige Relationen der Realen voraussetzen und so die Realität aufheben. Sie gehören mit ihren Folgerungen zu jener Anmaßung des Denkens, der die einmal gewonnene Realität gebieterisch ein Ziel setzt. So sieht die Brücke zwischen dem Sein und dem Schein aus, wenn ich sie vom angeblichen Schein her betrete: ich werde den Schein nicht los, weil ich die notwendigen Relationen mit hinüber nehmen muß in das Sein. Die Methode zerbricht an dem Punkt, um dessen willen sie erfunden wurde: an der Unabhängigkeit des Scheins von unserer Willkür.

Das eine Mal - sahen wir - beruhte das Täuschende der Theorie vom wirklichen Geschehen auf dem Doppelsinn des Ausdrucks Selbsterhaltung, das andere Mal auf dem glücklichen Griff, zwei ganz verschiedene Arten des Verfahrens unter dem Namen "zufällige Ansichten" zu vereinen und aus der Anwendung des einen, die als berechtigt nachzuweisen ist, zu folgern, was nur aus dem andern folgt, das so wenig berechtigt ist, daß es vielmehr die eigenen Prämissen HERBARTs über den Haufen wirft. Und so wiederhole ich, was zu Anfang gesagt wurde, aber jetzt nicht mehr als vorläufige, sondern als nachgewiesene Behauptung: es führt keine Brücke von diesem Sein zum Schein. Nicht bloß hat HERBART sie nicht richtig gefunden, sondern es kann überall keine solche geben, solange der Begriff der Realität im herbartschen Sinn feststeht.

Ich fasse zusammen und zwar unter dem Gesichtspunkt, der für meine Untersuchung leitend ist. Die Metaphysik HERBARTs weigert sich, vom Sittlichen Notiz zu nehmen, und behauptet, es mit diesem durchaus nicht zu tun zu haben: sie schließt dadurch das Sittliche vom Seienden aus und weist die Frage desselben, wo es sich dann eingliedert, auf welcher der verschiedenen metaphysischen Rangstufen es zu Hause ist, als ungehörig ab; denn das Sittliche ist ihr nur ein gefährlicher Fremdling, dessen sich aufdrängende Gastfreundschaft so oft schon den eigenen Haushalt in die bedenklichste Verwirrung gestürzt hat. Sie weist die Frage ab, aber beantwortet die unabweisbare beiläufig in der auf ihr (der Metaphysik) ruhenden Psychologie, indem sie einen Platz für das Sittliche in der Mittelwelt des wirklichen Geschehens findet, es so vom Seienden fern hält und doch nicht dem Schein überantwortet. Nun aber hat die kritische Erörterung gezeigt, daß einmal das Recht, die absolute Realität auf die gegebene Welt zu übertragen, nirgends nachgewiesen ist, obgleich sie sich schlechterdings nicht darin schicken will; und sodann, daß die für eine Vermittlung des Seins und Scheins konstruierte Mittelwelt des wirklichen Geschehens diese Vermittlung zu leisten nicht imstande ist, ohne die Prämisse, die sie notwendig machte, nämlich die absolute Realität zu vernichten. Die Sache ist eben die, daß das Seiende schlechthin, die absolute Realität zunächst bloß ein völlig leerer, abstrakter, wenn auch im Denken gegebener Grenzbegriff desselben ist, daß sich aber auch aus ihm durch eine gewaltsame Übertragung auf das Gegebene keine Existenz herausschlagen läßt, sondern der Denker warten muß, bis sich auf dem sicheren Weg der Erfahrung etwa auch für diesen Begriff eine entsprechende Realität findet. Bis das geschieht, bleibt er in einer starren, wandellosen Ruhe als bloßer Grenzbegriff stehen, und wenn er wie bei HERBART vorher unrechtmäßiger Weise zur Anwendung gelangt, so nutzt er nicht bloß nicht, sondern zerstört von Grund auf das Begreifen des Gegebenen, der uns umgebenden Welt der Dinge. Diese ist im Wechsel und Wandel, diese ist im Werden begriffen, und das Denken fühlt sich wohl, wenn es sie im Wechsel und Wandel begleitet, wenn es ihrem Werden nachgeht, wenn es die Ursache in die Wirkung, den Grund in die Folge hinein verfolgt, und nur wenn es sich einsam auf sich selbst besinnt, findet es in sich die Forderung der absoluten Realität und harrt eines Inhaltes und sucht einen Inhalt für den notwendigen, abstrakten Begriff, kommt nicht zum Abschluß, ehe es ihn gefunden hat; ja, es folgert auch für die gegebene Welt etwas daraus, aber ohne Erschleichung nicht mehr, als dies, daß das Werden nicht absolut sein kann, sondern ein Ziel haben muß wie einen Anfang, daß das Werdende zum Seienden, die werdende Welt zu einer seienden hinstrebt, welche die absolute Position zu tragen imstande ist. Der Gegenstand der Metaphysik ist zunächst die werdende Welt. Mag man sie etwa eine Mittelwelt heißen, mag man ihr den Namen des Seins verwehren, weil sie - die liebgewordene, werdende, vergängliche - nicht absolut ist; auf den kommt es nicht an, sie existiert jedenfalls als eine werdende, und in dieser werdenden Welt hat das Sollen Raum. Eine Metaphysik daher, die richtig gestellt zunächst die werdende Welt begreift, findet in dieser das Sollen und wird sich des Geschäfts nicht erwehren können, es in seiner Eigenartigkeit in Betracht zu nehmen, ebenso wie es dasselbe vorfindet: als von allem anderen Werden und seinen Gesetzen spezifisch unterschieden.

So hat sich die herbartsche Metaphysik gerade in dem Punkt dem Gegebenen gegenüber nicht bewähren können, um dessen willen sie behauptet, es mit dem Sollen und dem Sittlichen nicht zu tun zu haben.
LITERATUR - Julius Kaftan, Sollen und Sein in ihrem Verhältnis zueinander [eine Studie zur Kritik Herbarts] Leipzig 1872
    Anmerkungen
    1) F. A. Trendelenburg, Logische Untersuchungen, zweite Auflage, Bd. 1, Seite 193f. "Historische Beiträge II, Seite 322f; III Seite 69f.
    2) Moritz Drobisch, "Über einige Einwürfe Trendelenburgs gegen die herbartsche Metaphysik", Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 21, Seite 14f.
    3) Trendelenburg, LU I, Seite 177f. Historische Beiträge II, Seite 327f.
    4) Trendelenburg, Historische Beiträge III, Seite 71f
    5) Herbart, Metaphysik, § 203 II, Seite 76.
    6) Ludwig von Strümpell, Einige Worte über Herbarts Metaphysik in Rücksicht auf die Beurteilung derselben durch Herrn Professor Trendelenburg, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 27, Seite 24 (vgl. Seite 6f).
    7) Drobisch, "Synechologische Untersuchungen", Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 26, Seite 35.
    8) Herbart, Metaphysik § 213 II, Seite 98.
    9) Drobisch, Synechologische Untersuchungen, a. a. O, Seite 35.
    10) Trendelenburg, LU I, Seite 185f. Historische Beiträge II, Seite 334f und III Seite 82f.
    11) Herbart, Metaphysik § 235 II, Seite 139
    12) Herbart, Metaphysik § 234 II, Seite 137
    13) I. H. Fichte, Herbarts psychologisches Prinzip und seine allgemeine Bedeutung für die Seelenlehre, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 27, Seite 268.