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JULIUS KAFTAN
Sollen und Sein
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"Herbart macht es Kant gegenüber geltend, daß nicht ein Gesetz, nicht ein gesetzgebender Wille oder eine gesetzgebende praktische Vernunft der letzte Grund des Sittlichen ist, sondern ein Urteil der Wertschätzung über Willensverhältnisse."

"... denn das ist das Eigentümliche des sittlichen Phänomens, das wir Sollen nennen, daß ein zwingendes Gesetz sich geltend macht, ohne zu zwingen."

"Die praktische Philosophie soll nach Herbarts Behauptung ganz auf eigenen Füßen stehen, und er ist bemüht, die letzten Elemente des Sittlichen als solche aufzuweisen, die ganz für sich gegeben sind und in sich selbst gewiß jede Frage nach dem Sein, in dem sie etwa wurzeln, überflüssig machen: diese Frage war eben schon zu oft ein Hauptverderben der Wissenschaft."

"wenn es mit dem Sein eine solche Bewandtnis hat, daß nur das ist, was schlechthin positiv, gänzlich einfach und gegen alle Quantität gleichgültig ist, so ist unmittelbar gegeben, daß in diesem Sein, wie kein Werden, so auch kein Sollen rechtmäßig begründet ist."


III.
Die ethischen Grundbegriffe Herbarts
kritisch erörtert.

HERBART behauptete die gänzliche Unabhängigkeit der Metaphysik und der praktischen Philosophie voneinander. Voraussetzung dieser Behauptung ist nun zwar bei ihm die gegen allen Zweifel gesicherte Richtigkeit seiner Metaphysik, aber auch, wenn diese erschüttert sein sollte, ließe sich doch denken, daß seine praktische Philosophie ein in sich so voraussetzungsloses und geschlossenes Ganzes wäre, daß sie abgesehen vom Stehen und Fallen jener sich behaupten wird. Dann würde das der Fall sein, wenn jene Unabhängigkeit beider voneinander nicht bloß in der Behauptung HERBARTs, sondern in Wirklichkeit da ist. Das wird sich aus der Prüfung ergeben, die jedoch unabhängig von der vorangehenden der ontologischen Begriffe zu geschehen hat. Nicht aus dieser daher, sondern aus dem an die Spitze gestellten Thema entnehmen wir das Recht, wenn die Erklärung HERBARTs des für die praktische Philosophie vorliegenden Gegebenen sich an diesem nicht bewähren sollte, dann zuzusehen, ob seine Metaphysik etwa die Schuld daran trägt.

Über Willensverhältnise ergeht das moralische Urteil, und wenn das Begehren nicht bloß das allgemeinere Gebiet des Wollens ist, sondern es auch um den Unterschied beider so steht, daß er für die Betrachtung der praktischen Philosophie ganz verschwindet (1), so bietet sich das Begehren zuerst der Erörterung dar. Es fragt sich, ob HERBARTs Erklärung desselben seine Wirklichkeit deckt. Er begreift es aus den Gesetzen des psychologischen Mechanismus und nur aus diesen, wie seine psychologische Grundanschauung das mit sich bringt. Das Begehren ist eine bestimmte Art, wie eine Vorstellung im Bewußtsein ist. Ist eine solche nämlich unter die Schwelle des Bewußtseins gesunken und wird nun irgendwie - es sei durch eine gleichartige Vorstellung oder als Glied einer sich reproduzierenden Reihe - wieder hervorgerufen, so beginnt sie zu steigen. Geht dies ungehindert vonstatten, dann macht es kein besonderes psychologisches Phänomen aus. Stößt sie aber im Steigen auf Hindernisse und beginnt nun, sich wieder diese emporzuarbeiten, dann bestimmt sie, je stärker das Hindernis ist, desto mehr alle im Gemüt vorhandenen Vorstellungen nach sich, wird immer lebhafter, fordert dringend, zur vollen Klarheit zu gelangen und begründet so den bewegten Zustand der Seele, den wir eine Begierde nennen.

Das hier beschriebene Begehren deckt sich ziemlich genau mit einem Vorgang, der uns in der empirischen Wirklichkeit des Seelenlebens öfter begegnet. Wenn nämlich irgendetwas unserem Gedächtnis entfallen ist, und wir nun so oder so daran erinnert werden, so daß es dunkel aufzutauchen beginnt, dann springt das Verlangen hervor, es klar und deutlich zu denken. Je mehr sich dem widersetzt, desto heftiger wird das Verlangen oft auch bei ganz gleichgültigen Dingen, und es ruht nicht, bis es, wenn irgend möglich, den Widerstand besiegt und sich befriedigt hat. Hier handelt es sich eben um einen Vorgang, dessen Szene gänzlich innerhalb unseres Seelenlebens liegt; was begehrt wird, ist wirklich nichts als eine klare Vorstellung, und die Begierde ist eine solche, daß sie - auf den nötigen Höhegrad gelangt - von selbst und ohne weiteres in Befriedigung umschlägt. Ob aber dies eine Begierde im eigentlichen Sinn heißen kann, ja, ob es gar so sehr eine solche ist, daß nach seiner Analogie alles Begehren verstanden werden kann, das ist doch zumindest fraglich.

Wir wollen bei einigen Beispielen Anfrage halten; denn eine richtige Theorie muß alle Beispiele decken. Der Hungrige begehrt zu essen. Zunächst ist zu bemerken, daß die Begierde hier jedenfalls nicht durch eine zufällig steigende Vorstellung hervorgerufen wird, sondern durch den physiologischen Reiz aus denjenigen Realen her, mit denen zusammen die Seele das uns erscheinende Ganze eines beseelten Leibes ausmacht. Äußter sich nun dieser Reiz in der Seele als eine gegen Hindernisse sich aufarbeitende Vorstellung, kann doch nur die des Sattseins genommen werden, und daß diese - zuerst dunkel - in mir zu steigen beginnt, hat zur Voraussetzung, daß sie früher schon einmal da war und nur für jetzt aus dem Bewußtsein entschwunden ist: denn was nie unter der Schwelle war, kann nicht über dieselbe emporsteigen. Nun möchten wir aber wissen, wie es denn zugeht, wenn sich im Menschen zuerst, also im eben geborenen Kind das Bedürfnis nach Nahrung regt und unbefriedigt immer heftiger wird. Ist das auch die Vorstellung des Sattseins, die zu steigen beginnt? Wo in aller Welt kommt diese Vorstellung dann her, wie kann sie, die noch gar nicht da war, steigen? Nach HERBARTs Theorie muß vor jedem bestimmten Bedürfnis schon einmal der seine Befriedigung in sich schließende Zustand da gewesen sein. Daß es zu diesem kam, ist dann aber notwendig zufällig; denn ein innerer Grund dazu lag nicht vor in der einfachen Seele. Demnach müßten dann die Bedürfnisse jedes Menschen ein durchaus zufälliges Aggregat ausmachen. Daß aber eine gründlichere Umkehrung der vorhandenen Ordnung des Gegebenen, eine gewaltsamere Beugung desselben unter eine Theorie nicht wohl möglich ist, liegt doch auf der Hand. Oder soll die im Hunger tätige Vorstellung nicht die des Sattseins, sondern die des Hungers selbst sein? Dann besteht die Befriedigung nicht im klaren Vollzug der Vorstellung, welche, indem sie steigt, die Begierde ausmacht, sondern einer ganz anderen, hier des Gegenteils jener. Oder soll es die Vorstellung der Nahrung sein? Dann würde es sich empfehlen, Hungrige an einer reich besetzten Tafel vorbeizuführen, da würden sie eine recht klare Vorstellung von der Nahrung erhalten - würden sie aber auch satt?

Ich wähle ein anderes Beispiel, das mit dem physiologischen Reiz nichts zu tun hat. Ein Armer wünscht Reichtum zu besitzen. Zufällig, weil er nämlich Reiche in ihrem Reichtum gesehen hat, ist die Vorstellung desselben in den Kreis seiner Vorstellungen gekommen und wird nun bei irgendeinem Anlaß zur Begierde. Gehemmt wird die Vorstellung durch all das, was sich aus seinem eigenen Zustand der Armut ihm mit sinnenfälliger Gewalt aufdrängt, und dieses Hemmende steigert die Begierde, je lebhafter es sich dem Vollzug der Vorstellung des Reichtums widersetzt. Ist HERBARTs Theorie richtig, dann wissen wir einem solchen keinen besseren Rat als den, daß er fleißig in die Häuser der Reichen geht und da zu einer möglichst klaren Vorstellung des Reichtums gelangt. Aber nein - er selbst will besitzen. Den Reichtum anderer sehen - das hilft ihm nicht, sondern macht sein Begehren nur umso lebhafter, das Gefühl des Mangels umso bitterer. Mit einem Wort: die Vorstellung, die das Begehren ausmacht, ist eine ganz andere, als die, die er durch das Sehen des Reichtums anderer schon früher einmal hatte. Auch hier ist die Begierde keine einmal schon vorhandene und nun aus der Verdunkelung steigende Vorstellung: diese Vorstellung, daß er reich ist, hat er noch nie in der jetzt begehrten Klarheit (die durch das faktische Eintreten des Zustandes bedingt ist) vollzogen, sie war noch nie da und hätte füglich auch nicht steigen können. Und darum müssen wir urteilen, daß die Theorie HERBARTs das Entstehen der Begierde durchaus nicht erklären kann. -

Ebensowenig erklärt sie die Befriedigung. Geht es mit dieser so zu, wie HERBART meint, dann muß jede Begierde, zu einem bestimmten Höhegrad gelangt, unmittelbar in Befriedigung umschlagen. Seine Behauptung, daß die Vorstellung, um ganz klar vollzogen zu werden, der Gegenwart des vorgestellten Gegenstandes bedarf, ist ein durch die Wirklichkeit unumgänglich gemachtes Postulat, hört deshalb aber nicht auf, innerhalb seiner Theorie eine bloße Behauptung zu sein. Der Mensch, der sich danach sehnt, einen anderen geliebten Menschen um sich zu haben und seinen Umgang zu genießen, hat eine durchaus klare und deutliche Vorstellung von ihm und dem Verkehr mit ihm; je stärker das Verlangen, desto größer wird auch diese Klarheit der Vorstellung, und wenn es nur darauf abgesehen wäre, müßte dann auch Befriedigung eintreten, zumindes mit der zunehmenden Klarheit eine verhältnismäßige Befriedigung, aber es stehen im Gegenteil Klarheit und Befriedigung im umgekehrten Verhältnis zueinander. Man wird auch geradezu sagen können, daß die Vorstellung von einem Menschen, nach dem man sich heftig sehnt, während eben dieser Sehnsucht viel klarer ist, als vorher, wo mit ihm zusammen war: denn alles Zufällige, das sich während der sinnlichen Gegenwart damit vermischte, verschwindet jetzt: nicht aber dieses Zufällige, sondern der Mensch selbst ist das Objekt der Sehnsucht. -

Die breite Basis des Moralischen, die ganze Mannigfaltigkeit der Begehrungen entflieht überall der Theorie HERBARTs. Weshalb? Weil seine Metaphysik ihm nicht erlaubt, dem Gegebenen wirklich gerecht zu werden. Der Versuch, aus dem wirklichen Geschehen, den Selbsterhaltungen der einfachen Seele, das Seelenleben zu erklären, scheitert; denn das vor allem Vorstellen und abgesehen von demselben vorhandene wirkliche Wesen des Menschen verlangt im Begehren eine bestimmte Veränderung im Zustand dieses seines wirklichen Wesens, die in ihm angelegten Zwecke springen als Begierden hervor, später vielleicht auch eingebildete und daher bloß vorgestellte Zwecke, aber nicht als aufsteigende und gegen Hemmungen sich aufarbeitende Vorstellungen werden diese zu Begierden, sondern nur dann, wenn und sofern sie als im eigenen Wesen begründete Zwecke vorgestellt werden. Der Mensch in seinem wechselnden und werdenden Dasein ist ein Teil der wirklichen werdenden Welt und weil nicht für diese, deshalb hat die Metaphysik HERBARTs auch für ihn keinen Raum.

Wir gehen vom Begehren zum Wollen weiter. Dies unterscheidet sich nach HERBART von jenem nicht als ein neues Vermögen des oberen Begehrens etwa, sondernd dadurch, daß etwas hinzutritt. Es kommt zur Begierde die Voraussetzung des Erfolgs hinzu - dann will der Mensch, oder richtiger, dann wird das Begehren zum Wollen. Wir dürfen HERBART nicht unterschieben, daß notwendig der Mensch, wenn die Voraussetzung des Erfolges zu einer Begierde hinzutritt, dann auch will. Aber eben weil das nicht die Meinung ist, deshalb wird auch das Wollen gar nicht erklärt, sondern das, was die Begierde wirklich zum Wollen macht, wird in der Erklärung stillschweigend übergangen. Sobald die Voraussetzung des Erfolgs zu ihr hinzutritt, wird nämlich aus der Begierde nichts anderes als das, was HERBART als Willensbild bezeichnet: die Vorstellng von einem möglichen Wollen, und das ist nicht ohne weiteres mit einem wirklichen identisch. Und wenn etwa behauptet wird, der Unterschied besteht nur darin, daß zwischen das Willensbild und den Entschluß eine kürzere oder längere Erwägung eintritt, als ein Kampf gleichsam der verschiedenen Vorstellungsmassen, in denen die verschiedenen Willensbilder wurzeln, so dann schließlich das eine dieser als Entschluß das Feld behauptet - so kann auch das nicht zur Erklärung ausreichen. Zwar ist der Prozeß in den meisten Fällen ein so rascher, daß eins ins andere fließt, aber die um des Erkennens willen geschehene Zerlegung darf nicht übersehen, daß, wenn eins der Willensbilder sich im Bewußtsein behauptet, nun die Zustimmung des Menschen zu ihm noch dazu hinzutreten muß, und daß diese, nur diese den eigentlichen Charakter des Wollens ausmacht. Ohne sie bleibt das Willensbild mit seiner Vorstellungsmasse im Bewußtsein, alle andern müssen mehr oder weniger sinken, aber über dieses Herrschen im Bewußtsein führen die Prämissen auch nicht um ein Haarbreit hinaus. Dieses Moment ist bei HERBART stillschweigend übergangen, weil seine Theorie keinen Raum dafür hat. Denn allerdings wird es aus einem psychologischen Mechanismus nicht erklärt werden können. Es ist keine neue Vorstellung, auch keine neue Art der Vorstellung im Bewußtsein, denn all das war, wie beim Entschluß, so beim Willensbild schon im Bewußtsein vorhanden. Es ist das spontane Element im Menschen, und das geht aus den Vorstellungen nirgends hervor. Wie kommt es dazu, daß der vorstellende oder richtiger noch: der bloß Vorstellungen habende Mensch handelnd und tätig in die Welt eingreift? Wo ist der Nachweis geführt, daß die Vorstellungen dazu treiben nach ihrer Natur, aus sich heraus? denn sie sind das einzig konstitutive Element des Seelenlebens. Zu sagen, daß ja schon die Selbsterhaltung stets etwas Spontanes ist, trägt bei dem, was HERBART darunter versteht, nichts aus; denn da ist es eine bloße, unwillkürliche Reaktion gegen eine drohende Störung, völlig passiven Charakters. So wird das Wollen durchaus nicht erklärt, sondern das, was sein eigentliches Wesen ausmacht, mit dem bekannten Namen stillschweigend aus dem Gegebenen herübergenommen.

Die aus seiner Metaphysik hervorgehende Psychologie HERBARTs vermag eben dieser Metaphysik wegen das Wollen so wenig wie das Begehren zu erklären; denn aus dem einfachen Realen mit seinen Selbsterhaltungen läßt sich dasselbe nicht verstehen. Ich möchte aber nicht urteilen, daß der Übergang vom einen zum andern für die praktische Philosophie so gleichgültig ist, wie HERBART eben deshalb meint, weil er ihn in seiner Erklärung des Wollens gar nicht trifft. Denn der Entschluß ist es, der in der geschehenen Tat vom moralischen Urteil getroffen wird, auf ihn als einen künftigen bezieht es sich, wenn es warnend oder antreibend ein vorgestelltes Wollen begleitet, es kann gar nicht verstanden werden, wenn jener Übergang außer Acht gelassen wird.

Und damit gelangen wir zum eigentlich Moralischen, zum moralischen Urteil. HERBART macht es KANT gegenüber geltend, daß nicht ein Gesetz, nicht ein gesetzgebender Wille oder eine gesetzgebende praktische Vernunft der letzte Grund des Sittlichen ist, sondern ein Urteil der Wertschätzung über Willensverhältnisse. Diese Aussage kann in doppelter Weise verstanden werden. Einmal liegt in ihr, daß, wenn wir nicht nur die ersten Anfänge des Sittlichen in uns, sondern auch das, was immer wieder in jedem einzelnen Fall der ursprüngliche Quell seiner Äußerung ist, betrachten, sich dann herausstellt, daß es hier wie da stets ein solches Urteil ist. Es liegt aber auch das in ihr, daß ein solches Urteil in seiner eigentümlichen Dignität das letzte Element ist, auf welches die Erklärung des Sittlichen und seine Erforschung überhaupt zurück geht, die Reihe dieser Urteile die letzten Bestandteile desselben ausmacht über die hinaus jedes Fragen nach ihrem Ursprung wieder für die Erforschung des Sittlichen gleichgültig ist, jede Antwort auf eine solche Frage zwar das Entstehen eines so gearteten Urteils psychologisch erklären kann, aber ohne daß die praktische Philosophie ein Interesse daran hat. Mit einem Wort: es kann darin liegen, daß das moralische Urteil das auf uns hin erste, und daß es das der Sache nach erste Element des Sittlichen ist. Es unterliegt nun keinem Zweifel, daß HERBART beides zumal gemeint hat, und zwar ohne ausdrücklich zwischen diesem und jenem zu unterscheiden. Es ist nämlich bei ihm das eine unmittelbar auch das andere. Ist im Gegebenen das Gebiet des Sittlichen da, und finden wir bei näherer Erforschung desselben, daß es sich auf moralische Urteile als auf seinen Ursprung zurückführen läßt, so sind diese die ersten Elemente desselben in der einen wie in der anderen Bedeutung; denn eine Frage über sie hinaus würde sich an den psychologischen Mechanismus wenden müssen und deshalb notwendig nicht nach den letzten Elementen in diesem oder jenem Sinn gesondert, sondern, weil nach den einen, deshalb nach den andern fragen. Daß einzig und allein der psychologische Mechanismus das für uns erkennbare Wesen des Menschen ausmacht, bedingt, daß zwischen beiden nicht unterschieden werden kann.

Wenn ich daher diese Scheidung vollziehe und einmal frage, ob HERBART in diesem, und dann, ob er in jenem Sinn Recht hat, so gehe ich damit über ihn hinaus, und dazu entnehme ich das Recht aus den voranstehenden Auseinandersetzungen, so daß sich hier erhellen dürfte, weshalb ich die psychologische Erörterung des für die praktische Philosophie vorliegenden psychologischen Stoffs trotz der behaupteten gänzlichen Unabhängigkeit dieser in den Kreis meiner Betrachtung hineinziehen mußte. Hätte ich mich davon überzeugt, daß der psychologische Mechanismus das Begehren und Wollen genügend erklärt, so hätten wir uns damit zufrieden geben müssen, die ersten Äußerungen des Sittlichen in unserem Bewußtsein aufgezeigt zu finden. Ich habe aber gefunden, daß sich im Begehren ein vom Vorstellen zunächst unabhängiges wirkliches Wesen des Menschen mit in ihm gesetzten Zwecken offenbart, und daß ein eigentümliches, aus den Vorstellungen nicht zu erklärendes Moment der Zustimmung die Begierde erst zum Wollen macht: es ergibt sich daher von selbst die Vermutung, es könne, wie die Begierde, so das moralische Urteil in etwas auch unabhängig von den Vorstellungen und dem durch sie konstituierten Bewußtsein Gegebenen seinen Ursprung haben, und daher ein Unterschied zwischen den der Sache nach und den auf uns hin ersten Elementen des Sittlichen stattfinden.

Ich frage zunächst nach den ersten Äußerungen desselben in uns. Und hier muß ich HERBART Recht geben, daß sie nicht in einem Gesetz, sondern in Urteilen der Wertschätzung bestehen. Das Kind schämt sich, weil es die Stimme des Tadels im eigenen Herzen hört - das ist die erste Äußerung des Sittlichen. So regt sich dieses mit ursprünglicher Kraft im Menschen, ehe es die Form eines Gebotes annimmt. Erst aus dem mannigfachen Urteilen, wie sie bei gegebenen Anlässen ergehen erwächst nach und nach das Bewußtsein des Sollens, das vorher vollzogene Urteil der eigentümlich sittlichen Wertschätzung ist stets die Voraussetzung der vernommenen gebietenden Stimme "du sollst"; und wo diese ohne jenes da ist, liegt es nur daran, daß das schon oft ergangene Urteil über diese bestimmte Art von Fällen sich in einem ein für alle Mal feststehenden Resultat und dem Bewußtsein davon fixiert hat: erleidet dieses von irgendwoher einen Stoß, so wird sich das Subjekt vermöge der ursprünglichen Urteile, auf die es zurückgreift, wieder besinnen. Es ist nun aber nicht zu verkennen, daß KANT, welcher das Fundament der Moral in einem Gesetz findet, nach diesem Fundament überhaupt und nicht bloß nach den ersten Äußerungen des Sittlichen im Bewußtsein fragte: er wird deshalb zunächst nur insofern von der Polemik HERBARTs getroffen, als er den kategorischen Imperativ, das "Du sollst" für den ursprünglichen Quell des sittlichen Bewußtseins nahm. Daß HERBART hier das Richtige getroffen und, wie wir später sehen werden, für eine richtigere Bestimmung des der Sache nach letzten Fundaments der Moral einen über KANT hinaustreibenden Fingerzeig gegeben hat, das halte ich für sein Verdienst um die praktische Philosophie.

Nicht so das andere, daß er das moralische Urteil auf ein Urteil über Willensverhältnisse beschränkt und ihm also das einzelne Wollen als solches entzieht. Wo der Nachweis dafür geliefert werden soll, sehen wir uns stets auf das allgemeinere Gebiet der ästhetischen Urteile versetzt (2), und da wird es dann leicht, Beispiele aus den nicht-moralischen, ästhetischen Urteilen zu entnehmen, aus denen sich erhellt, daß in diesen alle Mal nicht ein einzelnes, sondern ein Verhältnis von Tönen, Farben usw. beurteilt wird. Fragen wir dann aber weiter, weshalb die moralischen Urteile in jene allgemeinere Klasse gehören, so lautet die Antwort, daß es sich hier wie da - um die Beurteilung von Verhältnissen handelt. Es bleibt daher nur übrig, um die Beschränkung der moralischen Beurteilung auf Willensverhältnisse und das Recht einer solchen Beschränkung zu verstehen, sich an die in der praktischen Philosophie aufgestellten Willensverhältnisse selbst zu halten: diese sind ganz auf ihre eigene Evidenz angewiesen. Gleich am Eingang begegnet uns die Idee der inneren Freiheit, bei der es sich um die Zusammenstimmung von Einsicht und Willen handelt. TRENDELENBURG hat schon hervorgehoben (3), daß hier kein Willensverhältnis im strengen Sinn vorliegt; denn ein Willensverhältnis ist ein Verhältnis zwischen Wollen und Wollen, aber die Einsicht ist kein Wollen. Und doch hat HERBART einmal selbst gefordert (4), daß die wahren Elemente der Verhältnisse nicht gänzlich ungleichartig sein dürfen, und wiederum selbst auf den spezifischen Unterschied zwischen Geschmack und Begehren hingewiesen, ihre Ungleichartigkeit hervorgehoben (5), ja scharf betont (6). Aber es sei - ich will darüber nicht rechten, ich will nur fragen, ob dieses an der Spitze stehende Verhältnis nicht die Einschränkung des moralischen Urteils auf Willensverhältnisse illusorisch macht. Steht es doch auch für HERBART fest, daß es ein eigentliches Wollen ohne begleitendes Wissen gar nicht gibt. Wo also gewollt wird, findet dieses Verhältnis statt und mit demselben fällt jedes Wollen unter die moralische Beurteilung. Diesem Schluß stellt sich entgegen, daß hier erst eine bloße Form vorliegt, der Inhalt für dieselbe dagegen aus den übrigen Ideen kommt. Nach der Idee der inneren Freiheit rein für sich genommen gefällt der mit sich einstimmige Mann, bei dem Wissen und Wollen in Einklang stehen, es sei nun jenes nach diesem, oder dieses nach jenem gebogen und geändert; denn in der Idee liegt nicht, daß die Einsicht das wirksame Prinzip ist (7). Sie wird erst dadurch, daß sie die sittliche Einsicht, nämlich die in die anderen Ideen und folglich eine feststehende Größe ist. So ist dieses Verhältnis als Gegenstand der moralischen Beurteilung nie für sich da, sondern immer nur an einer anderen Idee, welche die Einsicht jeweils zu einer sittlichen macht.

Der Einwand kehrt nur auf anderem Weg wieder; denn jetzt kehrt er sich gegen die Behauptung, daß diese Idee nie für sich gegeben ist. Weil wir bei jedem Menschen, d. h. bei jedem mündigen Menschen, nicht irgendeine Einsicht in die vier anderen aufgezählten Ideen, sondern sittliche Einsicht, sittlichen "Geschmack" überhaupt voraussetzen, darum fällt jede seiner Handlungen unter die Beurteilung nach der Idee der inneren Freiheit, und nur, wenn dies an der Spitze stehende Verhältnis, das selbst freilich gar kein Willensverhältnis ist, auf sich selbst gestellt wird, ist der Satz zu retten, daß nur Verhältnisse das moralische Urteil hervorrufen. SOll das aber nicht gelten, dann ist er überhaupt nicht zu retten. Eine Erörterung der einzelnen Ideen würde vielleicht zeigen, daß im letzten Grund das angebliche Verhältnis nicht eigentlich das ist, was beurteilt wird, sondern ein so oder so geartetes Wollen, wie z. B. in der Idee der Vollkommenheit nicht das Verhältnis zwischen dem mehr oder weniger beurteilt wird, sondern das eine oder das andere, wenn sie miteinander verglichen werden, und in der Idee des Wohlwollens nicht die bloß formale, inhaltslose Zusammenstimmung zweier Willen gefällt, sondern die Gesinnung, welche sucht, was des andern ist, unabhängig davon, ob auch der andere dies sucht und will, so daß das Wohlwollen oft auch in einem Nichtzusammenstimmen zweier Willen angeschaut wird wie überall, wo es sich im Streben, einen anderen Menschen zu besser, äußert (8). Aber nicht bloß das - es lassen sich Beispiele aufweisen, wo von einem Verhältnis auch nicht einmal scheinbar die Rede ist. Oder was tadeln wir denn an einem Trunkenbold? warum tadelt er sich selbst? Es handelt sich hier nur um den einen Menschen, das Verhältnis, welches das Urteil des Tadels hervorruft, muß unter den nur in einem Willen gegebenen Verhältnissen gesucht werden, und wir sehen uns also an die gewiesen, auf denen die Ideen der inneren Freiheit und der Vollkommenheit beruhen. Die Vollkommenheit gibt kein Motiv für die Beurteilung ab, da dieses kräftige Hervortreten eines bestimmten Wollens oder Begehrens höchstens ein Urteil des Mißfallens über die andern, ihm nicht nachkommenden Begehrungen hervorrufen könnte, und wenn man sich auf das Ebenmaß alles im Menschen Gegebenen berufen wollte, Gesichtspunkte in die Betrachtung hineingezogen würde, die HERBARTs Ethik fremd sind, weil sie eine Anthropologie voraussetzen, wie er sie nicht kennt. Es bleibt also nur die Idee der inneren Freiheit. Er handelt gegen seine bessere sittliche Einsicht! Aber diese sittliche Einsicht ist hier etwas auf sich selbst Stehendes und nicht eine Einsicht in die vier anderen Ideen, die mit der Sache nichts zu tun haben, da eine etwaige Verletzung des durch sie gebotenen Verhaltens zwar als die Folge jenes Lasters hervorspringen kann, aber nicht in Betracht kommt, wo es sich um die Beurteilung desselben rein für sich handelt. Das einzelne Beispiel weist über sich hinaus. Was von ihm, das gilt von allen moralischen Urteilen, in denen es sich um einen Menschen rein für sich handelt, denen der Wille nicht in einem Verhältnis zu einem anderen Willen vorgelegen hat. Hier wird die Idee der inneren Freiheit souverän, erfüllt sich selbst mit sittlichem Inhalt. Wie ist das möglich? Der sittliche Geschmack, auf dem sie ruht, ist eben auch die Eigenschaft des Menschen, vermöge deren das moralische Urteil notwendig ergeht und wird nicht bloß durch die Einsicht in die Ideen gebildet. Es kommt zu den Ideen durch die moralischen Urteile, die aus dem sittlichen Geschmack fließen, und der sittliche Geschmack soll dann wieder erst aus der Einsicht in die Ideen entstehen, die aus dem moralischen Urteil fließen - das ist der Kreis, in dem wir uns drehen und in dem unter anderem auch der letzte Schein dessen hängt, überall, wo eine sittliche Beurteilung geschieht, liege ihr eins der von HERBART aufgewiesenen Willensverhältnisse als das sie Hervorrufende zugrunde. Ich sehe mich daher auf die Aussage zurückgeworfen, daß das Sittliche sich im menschlichen Bewußtsein ursprünglich als Urteil der Wertschätzung äußert, ich kann mit ihr nicht die andere akzeptieren, daß dieses Urteil nur durch Willensverhältnisse hervorgerufen wird, weil die Begründung dafür nicht ausreicht, und das moralische Urteil in seiner Wirklichkeit über diese Grenze hinausweist.

Aber ich begreife, warum es bei HERBART so sein muß. Er findet eben im einzelnen Wollen für sich nichts, worauf sich das moralische Urteil beziehen könnte, und deshalb geht er über dasselbe hinaus und läßt das Urteil erst durch Verhältnisse hervorgerufen werden. Daß er nichts findet, hat dann wieder darin seinen Grund, daß er, von seiner auf falscher Metaphysik ruhenden und darum gerade hier schiefen Psychologie geleitet, den eigentlichen Nerv des Wollens übersieht und ihn weder seinem noch unserem betrachtenden Auge bloßlegt, nämlich die Zustimmung, die Bejahung des Menschen, die zu der sich regenden Begierde hinzutritt und sie erst zum Wollen macht. Über das Willensbild wird geurteilt, nur insofern es diese Bejahung begehrt, über die geschehene Tat wird geurteilt, weil sie durch diese Bejahung Wirklichkeit wurde. Schwindet dieser Gesichtspunkt, dann schweigt das moralische Urteil. Stellt sich bei einer Tat heraus, daß sie im Fieberwahn geschah, dann ist sie kein Gegenstand des moralischen Urteils, findet sich, daß sie im trunkenen Zustand erfolgte, dann springt es von der Tat ab und auf diesen Zustand und das ihn begründende Handeln zurück. Wird das Willensbild vorgestellt und dabei von diesem Gesichtspunkt abgesehen, wie z. B. wenn dasselbe als psychologische Erscheinung aufgefaßt und betrachtet wird, dann ist von einem moralischen Urteil nicht die Rede. Diese Bejahung ist der Nerv des Wollens, und um ihn dreht sich die Wirklichkeit wie das Recht der sittlichen Beurteilung. Und damit ist die erste Frage, ob HERBART die ursprünglichen Äußerungen des Sittlichen im menschlichen Bewußtsein richtig beschrieben hat, erledigt. -

Die zweite Frage war die, ob die moralischen Urteile auch das der Sache nach erste Element des Sittlichen sind. Es ist schon hervorgehoben worden, daß HERBART das eine nicht vom anderen trennt und wegen seiner psychologischen, also metaphysischen Anschauungen nicht voneinander trennen kann. Wenn er es aber deshalb in der praktischen Philosophie auch abweisen konnte, über das moralische Urteil zurückzugehen, so bleibt die Tatsache desselben doch nichtsdestoweniger ein eigenartiges, auffallendes psychologisches Phänomen und daher ein Problem für die Psychologie. Läßt sie es an einer genügenden Erklärung desselben fehlen, so kann das leicht zu einem schlimmen Defizit im Soll und Haben des psychologischen Mechanismus führen. Es muß daher als auffallend bezeichnet werden, wie sichtlich HERBART bemüht ist, hier einer Erklärung aus dem Weg zu gehen. So sagt er einmal in der "kurzen Enzyklopädie, aus praktischen Gesichtspunkten entworfen (9), es sei diese Untersuchung schwer und dunkel, und weist sie durch die Bemerkung von sich ab, daß sie auch ganz untauglich ist, der Moral ein neues Licht aufzustecken. In der Psychologie (10) selbst aber verweist er denen ihre Neugierde, die wiederholt bei ihm um diese Erklärung angefragt haben, er besitzt in diesem Punkt keine Neugier, genug, daß die ersten Elemente des Sittlichen ansich mit völliger Evidenz gegeben sind. Doch entschließt er sich, den Fragenden
    "seine Meinung zu sagen, wie sie ihre Untersuchung anzustellen haben, wenn sie sich nicht in Täuschungen über die wichtigsten Gegenstände verwickeln wollen."
Er scheint bei all dem zu vergessen, daß er, wenn nicht als praktischer Philosoph, so doch als Psychologe die Pflicht hat, Rechenschaft von diesem auffallenden Phänomen zu geben. Aber was ist denn jene Meinung? Sie basiert vor allem darauf, daß ein moralisches Urteil nur über Willensverhältnisse ergeht. Ein solches besteht aus zwei Gliedern, wie z. B. bei dem die innere Freiheit begründenden Verhältnis aus Wissen und Wollen. Beide werden nun als Anfangspunkte einer Reihe von Vorstellungen gedacht, und je nachdem diese Urteile zusammenstimmend ablaufen oder nicht, entsteht ein bestimmtes Gefühl, welches dann der unbefangene parteilose Zuschauer (der aber doch kein anderer ist, als der, in dem auch das Gefühl entsteht) in einem Urteil des Beifalls oder Tadels ausspricht. Also ein Gefühl ist die Wiege des moralischen Urteils! Auch anderswo kehrt ein solches wieder: so ist in der praktischen Philosophie von einem Zartgefühl als dem im letzten Grund hier Wirksamen die Rede (11) und in der Psychologie heißt es weiterhin (12), wo kein feines Gefühl, da keine Tugend. Aber nicht darauf vor allem möchte ich die Aufmerksamkeit richten, sondern darauf, woher es kommt, daß der Mensch bei diesem Vorgang, in dem es sich um dasjenige handelt, was für ihn das Nächste und Wichtigste von allem ist, so unbefangen und parteilos bleibt. Das war es ja gerade, was erklärt werden sollte - diese Unabhängigkeit und strenge Sicherheit des Urteils, und die tritt unerklärt als einfache Behauptung wieder auf. Im parteilosen Zuschauer hängt das Problem und harrt erst seiner Aufklärung.

Ein Urteil der Wertschätzung, des Tadels oder des Beifalls, ergeht im Menschen fort und fort über sein Wollen, über sein Tun und Lassen, und dieses Urteil ist vom jeweiligen Zustand seiner Begierden, seiner Lust und Unlust gänzlich unabhängig. Souverän tritt es auf und läßt seine Stimme erschallen, der Mensch mag sie nun hören wollen oder nicht, und wie sehr er sich auch in entgegengesetzter Richtung bemühen wollte, er kann diesem Urteil innerlich nicht die Anerkennung versagen, daß es richtig ist. Das war es, was KANT mit so hoher Bewunderung erfüllte, und worauf gestützt er lehrte, daß die praktische Vernunft selbst gesetzgebend für dieses ihr Gesetz mit absoluter Autorität Anerkennung fordert. HERBART stellt dem in der oben angegebenen Weise das Urteil der Wertschätzung als das Letzte im Sittlichen gegenüber. Ich behaupte nun aber wieder, ein Urteil der Wertschätzung kann nicht das Letzte sein, sondern setzt stets eine Norm des Schätzens voraus, und frage, was dies ist, d. h. ich frage nach dem der Sache nach ersten Element des Sittlichen, wie ich auch oben das Recht, mit einer solchen Frage über HERBART hinauszugehen, begründeterweise in Anspruch genommen habe.

Wenn geschätzt wird, liegt immer ein Maßstab zugrunde, nach welchem geschätzt wird, und dieser Maßstab ist dem, was geschätzt wird, nach eben der Beziehung, in der die Schätzung erfolgt, gleichartig. Ich schätze eine Fläche Landes, wie groß sie etwa ist, und kann es nicht ohn ein bestimmtes Maß zugrunde zu legen, hier also ein Längenmaß. Dies ist nicht dem Land ansich gleichartig, wohl aber insofern letzteres als eine Größe in Betracht genommen wird. Ich schätze eben dasselbe Stück Landes, wieviel es auch wert ist, und kann es nicht ohne eine bestimmte Einheit des Wertes, wie etwa das Geld, zugrunde zu legen. Das Geld ist dem Land an und für sicch nicht gleichartig, wohl aber insofern letzteres als einen bestimmten Wert für den Menschen repräsentierend in Betracht genommen wird. Alle derartigen Schätzungen sind relativer Art. Das Maß selbst ist willkürlich angenommen und erst aus einem Vergleich der verschiedenen Dinge oder Beschaffenheiten, die man schätzen wollte, entstanden; so wesentlich ist eben der Maßstab für das Schätzen, daß man denselben bei diesem Geschäft durchaus nicht entbehren kann.

Das wahre Kunstwerk entdeckt dem Kenner ein Urteil des Beifalls, er schätzt es dahin, daß es einen Wert hat nach seiner Art, und aufgefordert, Rechenschaft zu geben von seinem Urteil, wird er bestimmte Forderungen nennen, die an ein solches Kunstwerk müßten gestellt werden, und nachweisen, wie diese hier erfüllt sind. Er hat also einen Maßstab, nach welchem er schätzt, und denselben hat der Nichtkenner, der bewundernd vor dem Kunstwerk still steht, nur daß er keine derart bestimmte Rechenschaft davon geben kann. In den zuerst genannten Schätzungen wird ein Maßstab bestimmt um des Schätzens willen, hier ist die Schätzung unmittelbar da und wird aus der Sache selbst dem Schätzenden aufgezwungen. Wäre es nicht an dem, daß bei jeder solchen Wertschätzung ein vorschwebendes Ideal bestimmt oder unbestimmt der Maßstab derselben wäre, dann würde es gar nicht dahin kommen, daß bestimmte Regeln aufgestellt werden könnten, was schön ist und was nicht, sondern die Urteile dieser Art würden in derselben Unbestimmtheit und Einzelheit verharren, wie die des Angenehmen und des Unangenehmen, der Lust und der Unlust, die sich als festen Regeln unterliegend eben dadurch zu erkennen geben, daß in ihnen eine bestimmte Wertschätzung gar nicht vorliegt. Die Urteile sind zuerst da, das auf uns hin Erste, aber eben insofern sie durchstehend sind und sich bewähren, gewinnt die Reflexion auf sie das ihnen zugrunde Liegende, das der Sache nach Erste, den Maßstab, nach dem überhaupt geschätzt wird. Es läßt sich geradezu als ein Kennzeichen dieser Art Urteile bezeichnen, daß in ihnen ein bestimmter Maßstab der Wertschätzung, eine objektive Norm für diese zugrunde liegt, die sich aus ihnen erkennen läßt. Sie sind der Erkenntnisgrund, aber sie selbst werden hervorgerufen durch den Maßstab, den Realgrund, für den sie den Erkenntnisgrund abgeben.

In viel höherem Maße nun, als um die ästhetischen, steht es nun um die moralischen Urteile so, daß ihre Sicherheit und Bestimmtheit auf eine bestimmte objektive Grundlage hinweist, und die Frage geht dahin, was diese sein soll. Wonach wird hier geschätzt? Dem Geschätzten muß es gleichartig sein, das Geschätzte ist das Wollen, es liegt also der Schätzung ein bestimmt geartetes und geregeltes Wollen als Maßstab zugrunde. Wohlan - KANT hat dies schon gefunden, es ist eben das von der praktischen Vernunft selbstherrlich gegebene Gesetz, nach welchem geschätzt wird, dessen Verletzung sich am Menschen durch das tadelnde Urteil, das er alsbald über sich ergehen fühlt, bestraft. Aber hiergegen hat HERBART mit Recht geltend gemacht, daß man gar nicht weiß, woher der praktischen Vernunft eine solche Autorität zukommt, mit welchem Recht sie es für sich in Anspruch nehmen kann, zu gebieten und unbedingten Gehorsam zu verlangen. Dagegen wieder zu sagen, daß sie ein oberes Vermögen ist und deshalb zu einer solchen Forderung den unteren Vermögen gegenüber befugt, wird kaum genügen, bis ein besserer Unterricht als bisher über Zahl und Art, wie vor allem auch über die Stellung dieser Vermögen zueinander gegeben ist. Endlich aber wird dadurch der wirkliche ursprüngliche Hergang geradezu umgekehrt. Der Mensch wird sich nicht erst eines Gesetzes bewußt und urteilt nun danach, wie es doch sein müßte, wenn er selbst als der Gesetzgeber zu denken wäre. Vielmehr wird geurteilt ursprünglich, notwendig, und erst aus der Art des Urteils ist zu entnehmen, daß hier ein Gesetz zugrunde liegen muß, nach welchem das Urteil ergeht. Selbst gibt der Mensch sich dieses Gesetz nicht, und wiederum kann es ihm auch nicht von draußen gegeben werden; denn abgesehen davon, daß auch in einem solchen Fall das Bewußtsein vom Gesetz das Erste und Ursprüngliche sein würde, käme doch stets die Zustimmung zu diesem Gesetz, die unwillkürliche, notwendige Aneignung desselben aus dem Menschen selbst. Wo ist denn das Gesetz, nach dem geurteilt wird, zu suchen?

Nirgends sonst, als im Menschen selbst, aber nicht als ein Gesetz, das er sich, oder das seine praktische Vernunft ihm fort und fort gibt, sondern als das Gesetz seines eigenen Wesens. Das ist da, längst ehe es ihm vollständig zu Bewußtsein kommt, oft ohne daß es überhaupt bemerkt wird, und wirkt mit absoluter Autorität, ganz unabhängig vom jeweiligen empirischen Zustand des Menschen, von seinem Wollen und Begehren, von seinen Neigungen und Wünshen. So braucht es keiner Frage, woher es dem Menschen kommt, wie es eine solche Autorität haben kann, warum das danach gefällte Urteil eine solche Notwendigkeit für den Menschen mit sich führt, sondern das ist alles unmittelbar darin und damit gegeben, daß es dieses und kein anderes Gesetz ist. -

Zwei Punkte waren es, in denen wir uns bei einer Betrachtung der breiten Basis des Moralischen über die Theorie HERBARTs hinausgewiesen sahen. Der eine war dieser, daß er nicht imstande war, mittels des psychologischen Mechanismus das Begehren zu erklären. Es fand sich vielmehr, daß dies nicht begriffen werden kann, ohne ein unabhängig vom Vorstellen und Bewußtsein gegebenes Wesen des Menschen anzunehmen. In diesem begründeten Zweck, die aus ihm auf die umgebende Welt hinausweisen, kommen, indem sie auf Vollzug dringen, als Begierden zu Bewußtsein. Es ist zunächst nur dieselbe Erscheinung, die in den organischen Wesen überhaupt vorliegt, daß der Zweck in ihnen herrscht, und schließlich ein Zweck als der übergreifende alle andern nach sich bestimmt, so daß sie ihm gegenüber zu Mitteln werden. Dieser herrschende Zweckgedane ist die bestimmende Einheit des organischen Gebildes, aus der heraus es begriffen, durch die das es bestimmende Gesetz in seiner Einheit erkannt wird. Und was von ihm, das gilt vom Menshen, daß nämlich ein Gesetz in seinem Wesen begründet ist, das an einem herrschenden Zweckgedanken seine bestimmende Einheit hat. Was dieser ist, danach zu fragen führt über den gegenwärtigen Zusammenhang hinaus - genug, wenn sich erhellt, daß das moralische Urteil das Vorhandensein eines solchen Gesetzes bezeugt.

Der andere Punkt, der in HERBARTs Theorie nicht aufgehen wollte, hängt noch enger mit dem moralischen Urteil zusammen, weil dieses selbst nach seiner Wirklichkeit und seinem Recht sich um ihn dreht. Es ist dieser, daß die Zustimmung des Menschen den Kern des Wollens ausmacht, und daß, wenn ein Wollen oder ein Willensbild vom tadelnden Urteil getroffen wird, eben diese Zustimmung, diese Bejahung seitens des Menschen es ist, die er sich selbst vorwirft oder im Voraus als seine Schuld erkennt für den Fall, daß er dem Willensbild zur Wirklichkeit verhilft. Dadurch hebt sich das Ethische vom Organischen ab, wird das Gesetz aus einem Naturgesetz zu einem ethischen, dadurch nämlich, daß es zwar ebenso notwendig ist wie jenes, und jede Verletzung desselben sich sofort bestraft, daß es aber - ich kann hier das Wort nicht zurückhalten - frei bejaht sein will. Es ist eine Verneinung möglich, ist es so sehr, daß der Mensch bis zu einem gewissen Grad auch das verneinen kann, was in ihm scheinbar ganz unter das Naturgesetz fällt. In dieser Betrachtung des Ethischen, wie TRENDELENBURG sie in seinen logischen Untersuchungen andeutet, dürfte eine richtige Lehre von der Freiheit wurzeln, welche diese weder zu einem transzendentalen Vermögen des absoluten Anfangens macht, noch verkennt, daß Freiheit die Voraussetzung des moralischen Urteils ist, des Ausgangspunktes der praktischen Philosophie im Gegebenen.

Daß aber, wenn das moralische Urteil wirklich dazu führt, in einem so oder so gegebenen Gesetz die objektive Grundlage des Sittlichen zu finden, auch anders über das Sollen geurteilt werden muß, als HERBART es tut, erhellt sich von selbst. Zwar ist es richtig, daß das Bewußtsein des Sollens erst nach und nach durch das moralische Urteil im Menschen entsteht, aber dieses Bewußtsein von einem gebietenden Gesetz ist kein Schein, der sich bei genauerer Betrachtung in die moralischen Urteile als seine einzigen Elemente auflöst, sondern ein viel genauerer Ausdruck der objektiven Wirklichkeit, als das moralische Urteil selbst. Der Sachverhalt ist dieser: Zugrunde liegt jenes vom Willen des Menschen gänzlich unabhängige Gesetz seines eigenen Wesens, das von allen andern dadurch fundamental unterschieden ist, daß der Mensch es frei bejahen kann oder nicht, d. h. über sein eigenes Wesen, also über die einzelnen Zwecke oder einzelnen Elemente des Gesetzes kann er sich nie erheben, aber das Gesetz kann er zerstören, die rechte Unterordnung der Zwecke untereinander und aller unter den obersten herrschenden Zweck kann er aufheben, bejahen, wo er jetzt verneinen, und verneinen, wo er jetzt bejahen sollte. Geschieht das - und daß dies die gegebene Wirklichkeit, lehrt die gemeinste Erfahrung - dann reagiert "das Gesetz des Ganzen", das moralische Urteil als Tadel springt im Bewußtsein hervor; als Beifall dagegen äußert es sich bestimmt nur da, wo die Möglichkeit, das Gegenteil zu tun, welches der Tadel treffen würde, bei einer Tat zu Bewußtsein kommt und abgewiesen wird: wo das nicht der Fall ist, kommt der Beifall nie bestimmt zu Bewußtsein, sondern äußert sich höchstens als ein Gefühl der edlen Lust, wie ein solches dann auch jede sittliche Bejahung eines in uns begründeten Zwecks begleitet. Wie aber so ein Gesetz unter der eigentümlichen Bedingung der freien Bejahung dessen, in dem es gegeben ist, (was wieder mit dem in ihm herrschenden obersten Zweckgedanken zusammenhängt) die Grundlage der moralischen Urteile ist, so kommt dieser, gerade dieser objektive Grund durch ihre Vermittlung dem Menschen nach und nach zu Bewußtsein als das Sollen; denn das ist das Eigentümliche des sittlichen Phänomens, das wir Sollen nennen, daß ein zwingendes Gesetz sich geltend macht, ohne zu zwingen.

Ich fasse zusammen: Die praktische Philosophie soll nach HERBARTs Behauptung ganz auf eigenen Füßen stehen, und er ist bemüht, die letzten Elemente des Sittlichen als solche aufzuweisen, die ganz für sich gegeben sind und in sich selbst gewiß jede Frage nach dem Sein, in dem sie etwa wurzeln, überflüssig machen: diese Frage war eben schon zu oft ein Hauptverderben der Wissenschaft. Aber auch abgesehen davon, daß HERBART, wie schon hervorgehoben, einmal eine gelegentliche Antwort auf die unabweisbare Frage gibt, hat die kritische Erörterung gezeigt, daß die Anschauung, die er vom Sittlichen hat, die Wirklichkeit nicht deckt, und wiederum daß sich überall nachweisen läßt, wie der durch die Psychologie sich geltend machende Einfluß der Metaphysik es ist, der ihn daran hindert, dem Sittlichen, dem für die praktische Philosophie zur Bearbeitung vorliegenden Gegebenen, gerecht zu werden. Die Wirklichkeit des Sittlichen - ob nun das Objekt des moralischen Urteils, das Begehren und Wollen, ins Auge gefaßt wird, oder ob wir den Blick auf dieses selbst richten - die Wirklichkeit des Sittlichen, so wie es als Gegebenes vorliegt, drängt über die Metaphysik HERBARTs hinaus zu einer solchen hin, welche die werdende Welt und in ihr auch das Sittliche in seiner eigentümlichen Art grundlegend zu erkennen und zu begreifen sucht. So wenig bewährt sich die gänzliche Unabhängigkeit des Sollens vom Sein, daß HERBART selbst durch die Anschauung, die er von diesem hat, daran gehindert wird, jenes zu verstehen, daß seine Metaphysik seine praktische Philosophie verhindert, dem Gegebenen gerecht zu werden. -


Schluß

Das war die Behauptung HERBARTs, von der die Untersuchung ausging: daß das Sollen und Sein zwei ganz heterogene Gebiete sind, die Frage nach dem einen und dem andern in ganz verschiedene Richtungen ausschaut. Sie stützt sich vor allem auf die Lehre vom Sein und vom Seienden; denn wenn es mit diesem eine solche Bewandtnis hat, wie HERBART lehrt, daß nur das ist, was schlechthin positiv, gänzlich einfach und gegen alle Quantität gleichgültig ist, so ist unmittelbar gegeben, daß in diesem Sein, wie kein Werden, so auch kein Sollen rechtmäßig begründet ist. Aber nicht bloß das Sollen, die ganze gegebene Welt drängte über diese Fassung des Seins, der Existenz hinaus. HERBART konnte zwar den vermeintlich vom Gegebenen aus in die Tiefe zu den Realen führenden Bogen des Denkens (13) beschreiben, aber nichts half ihm von da wieder empor an die Oberfläche der lichten, lebendigen Welt. Zwar - es mußte die Forderung der absoluten Position als im Denken enthalten anerkannt werden, aber nichts berechtigte, in ihr den Ausgangspunkt zu nehmen, vor allem sie zu befriedigen; denn der daraus sich ergebende Begriff der absoluten Realität konnte nur für einen Grenzbegriff des Denkens gelten. Gerade von HERBART aber wird es auf das Stärkste betont, daß man aus Begriffen keine Realität herausschlagen soll, und mehr als ein Begriff lag hier nicht vor; denn jede Anknüpfung an das Gegebene wurde vermißt.

Der Einfluß der ontologischen Begriffe reicht durch alle Teile von HERBARTs Philosophie hindurch, ebenso weit folglich das andere, wenn sie sich gegen die Kritik nicht behaupten können. Nur sie waren es, die da verboten, in der praktischen Philosophie über die moralischen Urteile hinaus weiter zu fragen, deren Bedinungen und deren Möglichkeit zu untersuchen. Es lag daher, abgesehen von ihnen, kein Grund dazu vor, dem Zug des Sittlichen, so wie es sich gibt, nicht Folge zu leisten und über die Theorie HERBARTs von demselben hinauszugehen. Da find sich denn, daß es ebensowenig wie alles Gegebene geneigt war, sich durchaus in die Begriffe HERBARTs zu schicken.

Daher: ob wir die Metaphysik oder ob wir die praktische Philosophie ins Auge faßten, es fand sich nirgends etwas, das eine fundamentale Kluft zwischen dem Sollen und dem Sein zu befestigen zwang. Vielmehr hier wie da nötigte alles zu einer anderen Auffassung der wirklichen Welt, die, wie sie überhaupt der gewöhnlichen Anschauung von den Dingen näher kommt, so auch die Meinung "des unverkünstelten Verstandes" bestätigt, daß das gegebene Sollen in einem gegebenen Sein begründet ist und neues Sein begründen will. Diese Auffassung des weiteren zu entwickeln und nach allen Seiten zu rechtfertigen war hier ebensowenig meine Aufgabe, wie das andere, nun meinerseits nach dem Zusammenhang zwischen dem gegebenen Sollen und dem Sein im Sinne HERBARTs zu fragen und zu untersuchen, ob etwa die Forderung der absoluten Position sich bei einem volleren Ausgangspunkt als im formalen Denken bloß abgeleiteterweise enthalten und ursprünglich im Kern des menschlichen Wesens begründet erweisen würde, so daß von daher sich gar eine besonders enge Verbindung gerade zwischen dem Sollen und der absoluten Position heraustellt. Es handelte sich hier nur darum, zu zeigen, daß die Angriffe HERBARTs gegen jene Auffassung nicht Stand halten, daß das von ihm selbst so richtig betonte Maß der Wissenschaft, nämlich das Gegebene sich gegen ihn kehrt, und es wäre daher genug geschehen, wenn dies gelungen sein sollte.

Aber wenn dann eine innige Verbindung zwischen den beiden Gebieten des Seins und des Sollens stattfindet, jenes in diesem liegt - stehen dann nicht die in der Einleitung erwähnten Gefahren vor der Tür und drohen, die strenge Moral wie die reine Wissenschaft zu beeinträchtigen? Wenn nur die Gefahr für das Sittliche - um von dieser zuerst zu reden - es überall mit der wissenschaftlichen Betrachtung zu tun hätte! Das ist sie doch, daß Einer das natürliche und sittliche Gebiet völlig gleichsetzend die eigentümliche Natur des letzteren verkennt und seine Autorität untergräbt. Er tut es aber nicht, weil er eine falsche Theorie hat, sondern er entwirft eine falsche Theorie, weil er es tut. Wenn nur dem Menschen die Autorität des Sittlichen vor aller wissenschaftlichen Forschung feststeht, so hat es keine Gefahr, daß er sich in eine Wissenschaft schickt, welche diese unmittelbare Wahrheit gefährdet. Geschieht es dennoch - und wer will leugnen, daß es bei aller sittlichen Unantastbarkeit des Forschers geschehen ist? - so hat das allein darin seinen Grund, daß das Gegebene nicht als Ausgangspunkt und Maß der wissenschaftlichen Forschung genommen ist. Steht einmal fest, daß es so das Gebotene ist, dann kann von der Wissenschaft her dem Sittlichen niemals Gefahr drohen; denn es ist selbst in seiner eigentümlichen, von allem andern spezifisch unterschiedenen Art eine der hervorragendsten und gewissesten Tatsachen des Gegebenen, also des Maßes aller Wissenschaft. Der Gelüsten aber, falsche Theorien zu erfinden, um der sittlichen Fahnenflucht den Rücken zu decken, kann sich die Wissenschaft nicht erwehren, sie kann solches Unkraut abschneiden, wo es sich zeigt, aber sie kann seine Wurzel nicht zerstören. Sie tut es am wenigsten, wenn sie eine Kluft zwischen dem Sollen und dem Sein befestigt; denn die Theorie, die das tut, läßt sich mit weniger Kopfzerbrechen gegen das Sittliche kehren, als die andere, welche neben dem Müssen - um es so auszudrücken - das Sollen im Sein findet.

Nicht weniger aber entschwindet bei näherer Betrachtung die Gefahr für die Reinheit der Wissenschaft, der HERBART durch diese Trennung von Sollen und Sein zu begegnen meinte, d. h. so weit sie dadurch beseitigt wird. Mag sie vorhanden sein, mögen manchen Beispiele aus der Geschichte der Wissenschaft zeigen, daß das reine Suchen nach Wahrheit durch das praktische Interesse der Suchenden beeinträchtigt und auf eine schiefe Bahn bedrängt wurde. Um ihr zu entgehen, dazu kommt es nicht auf eine Sonderung der Gebiete an, sondern einmal auf den ursprünglichen Entschluß, das wissenschaftliche Geschäft unbekümmert um alles andere rein zu verrichten, und sodann auf die Fähigkeit, diesem Entschluß überall Folge zu leisten. Die Sonderung selbst kann erst aus der wissenschaftlichen Forschung hervorgehen und nicht schon vor ihr feststehen, also entgeht auch uml;berall Folge zu leisten. Die Sonderung selbst kann erst aus der wissenschaftlichen Forschung hervorgehen und nicht schon vor ihr feststehen, also entgeht auch der sondernde Denker dieser Gefahr nicht. Es könnte ja gerade die Sonderung aus einem praktischen Interesse hervorgegangen sein. Es könnte gerade gegen sie gesagt werden, daß sie eine Fiktion im praktischen Interesse ist, um nämlich die Autorität des Sittlichen zu retten, obgleich es nach der Lehre von dem, was ist, dem Schein verfällt; daß man ihm noch eine Bedeutung beimißt, ist eine Schwäche, die der Denker um der Reinheit der Wissenschaft willen zu überwinden hat. Wir sagen: es könnte so geredet werden. Wir können auch sagen: es wird heutzutage nicht gerade gegen HERBART, nicht gerade in dieser Fassung, aber ähnlich sehr viel gegen alle die geredet, welche treu zur Autorität des Sittlichen als zu einer ursprünglich gewissen Tatsache stehen - zum deutlichen Beweis, daß, wie jeder so auch dieser Bogen überspannt werden kann. Es wird auch hier nur darauf ankommen, mit der Nüchternheit, deren ein Jeder fähig ist, das eigene wissenschaftliche Denken zu überwachen; neben der Gefahr, daß das praktische Interesse fremde Motive in die Wissenschaft einschmuggelt, steht die andere, daß vermeintlicher Eifer für die Wissenschaft die Tatsache des Sittlichen um das Gewicht bringt, das sie in der wirklichen Welt und darum für das Begreifen derselben hat.

Aber ganz abgesehen von dem allein bleibt eine oft von HERBART hervorgehobene Schwierigkeit stehen, die ihn nicht zum Wenigsten jene Trennung für notwendig halten ließ. Wenn nämlich das Sollen im Sein begründet ist, so verlangt es wiederum ein Sein und setzt daher ein Können voraus. Das unbedingte Gebot: "Du sollst" sagt in seiner Unbedingtheit dem Menschen das andere: Du kannst - und doch kann der Mensch oft schließlich nicht, was er soll. Daher wird man der Annahme gar nicht entgehen können, daß hier ein Irrtum, wie etwa eine Verwechslung von theoretischen und ästhetischen Urteilen zugrunde liegt. So scheint es zumindest! Es ist aber doch eigentümlich, daß jeder Mensch, der sich für sein Tun und Lassen sittlich verantwortlich fühlt, das im Sollen und mit demselben gegebene Können unbedingt voraussetzt und sich für schuldlos hält, sobald das Können verschwindet, ja aufhört, den einzelnen Fall sittlich zu beurteilen, immer wenn er das Können aus ihm hinwegdenken muß, es ist das eigentümlich; denn es ist eine harte und unerfüllbare Forderung, den Kern des Sittlichen für einen aus Verwechslung hervorgegangenen Irrtum und dabei das Sittliche für unverkürzt und für begriffen halten zu sollen. Der Mensch, der in einem einzelnen Fall sich gegen das deutlich vernommene Gebot "Du sollst" vergeht, nachdem er, ehe es zum Fehltritt kam, einen harten Kampf gegen die Tat gekämpft hat, der findet, wenn er nun, was geschehen ist, denkend betrachtet, ein Doppeltes darin. Einmal hätte er anders können, die bitteren Vorwürfe, die er sich willenlos macht, ruhen auf dieser Voraussetzung, daher es vor allem andern feststeht: er hätte anders können. Wiederum aber war in ihm selbst eine zwingende Macht, die ihn zu dem drängte, was er tat; er hat sich bis aufs Äußerste widersetzt und ist ihr doch erlegen: so wie er sich vorfand, hat er nicht anders können. Wir sehen davon ab, woher das Nichtkönnen kommt und fassen nur die Tatsache, wie sie vorliegt, ins Auge. Es ist da ein Sollen gegeben ohne ein entsprechendes Können und doch setzt das Sollen ein entsprechendes Können voraus - ein Widerspruch jedenfalls, so scharf, wie er nur gedacht werden kann.

Im Allgemeinen nun hat HERBART gerade keine Scheu vor Widersprüchen, sonder er geht ihnen, sie scharf ins Auge fassend, gerade entgegen, indem er der Energie des Denkens vertraut, die sie wird lösen können. Diesem Widerspruch sucht er vielmehr von hinten beizukommen und nachzuweisen, daß er nicht einmal wie jene andern zum objektiven Schein gehört, sondern ganz und gar auf Täuschung beruth. Hier scheint ihn eben das Vertrauen auf eine mögliche Lösung durch das Denken verlassen zu haben. Und das mit Recht! Entweder ist der Widerspruch gar nicht da, oder, wenn er es ist, wird das Denken ihn nie zum Weichen bringen; er ist eben kein bloß logischer Widerspruch gegebener Formen, sondern ein Lebenswiderspruch, der den Kern des menschlichen Wesens zerreißt, er ist nicht bloß dem Denker aufgegeben, sondern in erster Linie jedem ernsten Menschen. Ist nun aber die vorstehende Untersuchung der HERBARTschen Grundbegriffe richtig, so ist sein Bemühen, diesem Widerspruch von hinten beizukommen, vergeblich, dieser ist in der Tat und viel gewisser, als die in der Metaphysik aufgewiesenen, gegeben, ist es so schneidig und so ungebärdig, wie kein anderer. Die Philosophie wird ihn stehen lassen müssen; denn es wird sich vor allem darum handeln, eine Lösung desselben im Leben zu finden, und dann erst wird von einer solchen in der Wissenschaft die Rede sein können. Wenn es aber richtig ist, daß das Christentum - wie es denn selbst so von sich behauptet - diese allererst geforderte Lösung bringt, so wird die wissenschaftliche Behandlung derselben gar nicht der Philosophie, sondern der christlichen Theologie anheimfallen, und hier ein Punkt sein, wo diese an jene anschließt.
LITERATUR - Julius Kaftan, Sollen und Sein in ihrem Verhältnis zueinander [eine Studie zur Kritik Herbarts] Leipzig 1872
    Anmerkungen
    1) Herbart, Praktische Philosophie, Werke 8, Seite 29 und 30.
    2) Praktische Philosophie (Werke 8), Seite 18, 20, 21.
    3) Trendelenburg, Historische Beiträge III, Seite 143.
    4) Praktische Philosophie, Seite 19
    5) a. a. O. Seite 40.
    6) a. a. O. Seite 13
    7) Praktische Philosophie, Seite 91.
    8) Die Idee des Wohlwollens fordert nämlich, daß die beiden Willen, deren Verhältnis zugrunde liegt, dasselbe für den einen Wollenden wollen, sonst würde sich die Zusammenstimmung auch im passiven Gehorsam darstellen.
    9) Werke II, Seite 254, § 184
    10) Psychologie als Wissenschaft II, Seite 95f.
    11) Praktische Philosophie, Seite 31
    12) Psychologie als Wissenschaft II, Seite 430.
    13) Metayphysik, § 164 II, Seite 16.