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BETTINA ULLMANN
Fritz Mauthners
philosophisches Werk


Wirkungsgeschichte
"Das Begreifen zerfällt, sobald der Künstler es für sich oder andere in Begriffe oder Worte bannen will. Das All-Eine war nur im schweigenden Ich verbunden, beim ersten lauten Wort verschwindet herabstürzend jede Einheit, auch die des Ich. Nichts läßt sich mehr sagen."

Am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erschien mit den "Beiträge zu einer Kritik der Sprache"(1) MAUTHNERs philosophisches Bekenntnis; ein Bekenntnis, das sich in beinahe dreißig Jahren entwickelt hatte. Eine erste Fassung datierte MAUTHNER in den "Erinnerungen" bereits auf das Jahr 1873:
"Die sprachkritischen Ideen, die ich erst siebenundzwanzig Jahre später, dreimal neun Jahre später, in den drei starken Bänden herausgab, bemächtigten sich meiner mit einer Macht, der ich nicht widerstehen konnte. Ohne jede Vorarbeit, wie man ein lyrisches Gedicht niederschreibt, so setzte ich mich eines Tages hin, um wie mit einem wilden Anlauf die Ideen, die mich bedrängten, für mich selbst zu gestalten und so im Grunde erst zu erfahren, was in mir denken wollte. Einige Wochen lang arbeitete ich Tag und Nacht an dieser ersten Fassung meiner Sprachkritik, leidenschaftlich und mit dem Bewußtsein, Unerhörtes zu sagen. Das Manuskript war nicht mehr ganz klein, als mir das Bedürfnis kam, mich mit der Lehre KANTs auseinanderzusetzen. Da wurde mir plötzlich klar, daß mir die allermeisten Vorkenntnisse für meine Arbeit fehlten. Von KANT und anderen Philosophen (SCHOPENHAUER etwa ausgenommen) wußte ich wenig, von der neuern Sprachwissenschaft so gut wie nichts. Ich war ein Ignorant auf dem Gebiete, auf welchem ich reformatorische Ideen zu haben geglaubt hatte."(2)
Er berichtete in den "Erinnerungen", daß er trotz intensivster Berufsarbeit während der Berliner Jahre seine sprachkritische Intention keinen Tag vergessen hätte; "zwanzig Jahre lang dauerte die Vorarbeit zu meinem sprachkritischen Werke (...). (3) Er begann allerdings nach eigenen Angaben erst im Jahre 1893 mit der Niederschrift der "Beiträge".(4)

Ich kann die philosophischen Grundgedanken MAUTHNERs nur in kurzen Zügen skizzieren, eine intensive Auseinandersetzung mit den Ideen, die er auf unterschiedliche Wissensgebiete ausdehnte,(5) bedarf eigener Untersuchungen, die die Berechtigung der Ausführungen kritisch durchleuchten und sie in ihren zeitadäquaten, wissenschaftstheoretischen Kontext einordnen.(6) Da ich die sprachphilosophischen Gedankengänge als Schlüssel für MAUTHNERs Kunst- und Kulturvorstellungen benutze, konzentriere ich mich auf die kunsttheoretischen Konsequenzen dieser Erkenntnisse aus MAUTHNERs Sicht.

Die "Beiträge" sind in einer charakteristischen, unkonventionellen Weise geschrieben. Bilderreich beschrieb MAUTHNER das Wesen einer Definition: "Was ist ein Dampfschiff?  Ein Schiff, das durch Dampfkraft fortbewegt wird.  So ist unser berühmtes Denken beschaffen; der eine macht es schlauer, der andere macht es dümmer, es ist aber immer dasselbe."(7) Das Verständnis der Grundgedanken der "Beiträge", das durch diesen feuilletonistischen Stil vereinfacht werden sollte, wird allerdings durch einen Hang MAUTHNERs zu einer unsystematischen Anhäufung vo Argumenten aus allen Bereichen seines Wissens erschwert.(8)

Der Leitgedanke von MAUTHNERs "Beiträgen" ist die Feststellung, daß eine Erkenntnis der Welt durch Sprache nicht möglich sei:
"Wollte ich meinen Gedanken, daß Welt#erkenntnis durch die Sprache unmöglich sei, daß eine Wissenschaft von der Welt nichts sei, daß die Sprache ein untaugliches Mittel sei für die Erkenntnis, - wollte ich diesen Gedanken, erschöpfend und überzeugend, klar und lebendig, nicht logisch und wortspielerisch, wachsen lassen und darstellen, so mußte ich als Kritiker der Sprache eben diese Sprache kennen in ihren Tiefen und Höhen, mußte dem Volke aufs Maul sehen können und den Forschern folgen können in ihr Ringen um wissenschaftliche Begriffe. Auf allen Gebieten wissenschaftlicher Arbeit mußte ich die Prinzipien der Arbeit, der Methode, die besondere Logik oder Sprache verstehen lernen."(9)
Mit einem profunden Wissen rezipierte MAUTHNER Einsichten der Wissenschaften der Zeit(10), um diese These zu stützen und die Konsequenzen wiederum für die Entwicklung der Wissenschaften aufzuzeigen.

MAUTHNERs sprachkritische Untersuchung steht vor einem zentralen Problem: "Will ich emporklimmen in der Sprachkritik, die das wichtigste Geschäft der denkenden Menschheit ist, so muß ich die Sprache hinter mir und vor mir und in mir vernichten von Schritt zu Schritt, so muß ich jede Sprosse der Leiter zertrümmern, indem ich sie betrete."(11) Er erkannte bewußt die Paradoxie des sprachkritischen Unterfangens; die Sprache, die als zweifelhaftes Erkenntnisinstrument entlarvt werden sollte, diente gleichzeitig als Instrument ihrer Enttarnung.

Im ersten Band der "Beiträge" "Zur Sprache und zur Psychologie" konzentrierte sich MAUTHNER auf eine Beschreibung von Wesen und Wert der Sprache. Er definierte sie als eine Gemeinsamkeit der Weltanschauungen von Individuen, die es ihnen ermögliche und erleichtere, sich miteinander zu verständigen und sich in der Wirklichkeit zu orientieren.(12) Sprache sei nichts anderes als ihr Gebrauch,(13) einem Gesellschaftsspiel vergleichbar, nach dessen Regeln sich Millionen richteten. Dennoch bliebe der Eindruck, daß gegenseitiges Verständnis möglich sei, nur ein Schein: "Weil jeder einzelne die in der Muttersprache scheinbar gleichmäßig angehäuften ererbten Erfahrungen ebenso individuell versteht, wie seine erworbenen Erfahrungen individuell sind, darum versteht kein Mensch den anderen."(14)

Funktion der Sprache ist es, den Menschen das Überleben in einer überschaubar geordneten Umwelt zu ermöglichen, nicht jedoch, die Wirklichkeitswelt realitätsgetreu widerzuspiegeln. Sie ist ein Werkzeug zum Verstehen der Außenwelt: "Die Sprache ist wesentlich materialistisch, sensualistisch, die Welt aber ist nur für die Zufallssinne der Menschen sinnlich, die Welt an sich ist für die Sinne und die arme Sprache nicht faßbar."(15)

Aus dieser Feststellung leitete MAUTHNER die Vermutung über den Ursprung der Sprache ab, sie sei durch ein Zusammenwirken der menschlichen Sinneswahrnehmungen und des Gedächtnisses entstanden. Die menschlichen Sinne seien wie eine Art Sieb zu denken, durch die die Menschheit die Wirklichkeit wahrnähme, das Gedächtnis nähme dann diese Sinneswahrnehmungen auf, um sie zu speichern, zu ordnen und zu benennen:
"Die Subjektivität unseres Weltbildes entsteht nun notwendig dadurch, daß einerseits die Empfindungen schon den subjektiven Zufallssinnen(16) entstammen, andererseits die anerkannt subjektiven Gefühlstöne der Empfindungen sich an den Wahrnehmungen, Vorstellungen oder Erinnerungen erhalten und so bei allen Assoziationen mitklingen, aus denen sich unser Denken oder Sprechen zusammensetzt.(17)
Daher ist jedes Wort ein Erinnerungszeichen an "schwebende, ungleiche, benachbarte Vorstellungen"(18).

Obwohl das Wesen der Sprache eine Wirklichkeitserkenntnis unmöglich mache, sei, so MAUTHNER, eine Erweiterung menschlichen Wissens möglich, in dem eine neue Sinneswahrnehmung den Wortschatz oder die Bedeutung eines Wortes vergrößere und damit in den Erfahrungsschatz der Menschheit eingehe.
"Alles, was Wissenschaft werden will, muß durch die Sinne wahrgenommen und durch den Verstand gedeutet werden. Worte helfen nichts. (...) Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß der stetige Fortschritt der Wissenschaften doch nur mit Hilfe der Sprache möglich war, weil nur durch sie der Bestand aller Erfahrungen auf die künftige Generation übergehen konnte. Ohne diese Mitteilung müßte jeder Forscher alle Erfahrung noch einmal machen.(19)
Die Menschen müßten danach streben, durch Verbesserung ihrer natürlichen oder durch künstliche Sinnesorgane neue Erfahrungen zu sammeln,(20) die dann in den Worten der Sprache niedergelegt würden. Dennoch bleibe das Wissen der Menschheit immer nur der Versuch einer Annäherung an die Wirklichkeitswelt:
"Wir dürfen nur etwa sagen: die Wirklichkeit besteht in irgend einer Art von Übereinstimmung zwischen der Außenwelt und unserer Innenwelt. (...) Wahrheit ist eine Art von Übereinstimmung unseres Innenlebens mit der Wirklichkeit, und Wirklichkeit ist eine Art von Übereinstimmung von etwas Unbekannten mit unserem Innenleben. Anstatt Innenleben können wir jedesmal Sprachesetzen."(21)
Sprachkritik, so MAUTHNERs Forderung, müßte zur Wissenschaft der Wissenschaften werden, da das gesamte Wissen der Menschheit in der Sprache präsent und aufgespeichert sei:
"Fassen wir aber Erkenntnistheorie als Sprachkritik, natürlich als eine Sprachkritik, weiche alle Beziehungen unserer Welterkenntnis oder Sprache zur Geschichte, zur Logik und zur Psychologie aufzuklären sucht, so wächst die von den Fachmetaphysikern verachtete Erkenntnistheorie langsam zur Wissenschaft der Wissenschaften heran, sie wird zur einzigen Wissenschaft, weil wir ja nichts wissen als etwa das bißchen, was wir vom Wissen wissen. Und auch die Grenzen der Erkenntnistheorie, die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Weiterkenntnis und der Wirklichkeitswelt, gewinnt vom sprachkritischen Standpunkte ein etwas verändertes Ansehen. Wir können aber Sprachkritik mit Erkenntniskritik gleichsetzen."(22)
Die den Wissenschaften übergeordnete Sprachkritik sei dazu verpflichtet, das Verhältnis der Sprache zum aktuellen Wissen zu überprüfen, um in der Sprache als dem uralten Gedächtnis der Menschheit wissenschaftlich überholte Vorstellungen aufzudecken, die den Fortschritt aufhielten. (23) MAUTHNER gestand allerdings selbstkritisch, daß er zwar die "Beiträge" der Befreiung vom Aberglauben an überholte Worte gewidmet hätte, doch daß auch er es nicht habe vermeiden können, an den relativen Wert von Wortgespenstern irrtümlich zu glauben.(24)
"Der Wortaberglaube ist aber ganz gewiß eine Folge der menschlichen Denkweise. (...) Denn das sogenannte Denken ist an das Wort, als das einzige Merkzeichen aller Erinnerungen, unlöslich gebunden. Der Wortaberglaube ist unausrottbar. Der Beweis ist leicht zu führen. Die Kraft eines einzelnen Menschen reicht nicht aus, um die vielen Tausende von Worten nachzuprüfen, in denen er sein geistiges Erbe, den Schatz aller Erinnerungen seiner Vorfahren, das heißt die zusammenfassenden Merkmale von Billionen von Empfindungen empfangen hat. Was der einzelne aber nicht selbst, das heißt an seinen eigenen Empfindungen nachgeprüft hat, das nimmt er auf Treu und Glauben hin (...). Auch der freieste Forscher kann sich vom Wortaberglauben nicht befreien, weil er nur auf dem engen Gebiete seiner eigenen Beobachtungen von seiner Sprache sagen kann, daß sie seine Sprache sei."(25)
Die Geschichte der Sprache sei daher die rechte Kulturgeschichte der Menschheit, die Geschichte der menschlichen Gedanken, der menschlichen Worte, Illusionen und Glaubenssätze.(26)

In den drei Bänden der "Beiträge" stellte MAUTHNER die philosophischen Grundgedanken dar, deren Propagierung er sein weiteres Schaffen widmete. 1906 erschien in der von MARTIN BUBER herausgegebenen Sammlung "sozialpsychologischer Monographien" der Band "Die Sprache"(27), in dessen Mittelpunkt die Behandlung der Sprache unter dem sozialen Aspekt steht. MAUTHNER beschrieb die Sprache darin als ein gemeinsames Denkorgan der Menschen; auch wenn Völker unterschiedliche Sprachen sprächen, gäbe es dennoch eine "gemeinsame Seelensituation",(28) die ein in den Sprachen verankerter gemeinsamer Besitz von Erfindungen und Entdeckungen, Kenntnissen, Scheinkenntnissen und Begriffen sei. Die Unvergleichlichkeit der Muttersprache sei deswegen eine Illusion:(29)
"Daß die Weltanschauung, welche in der Volkssprache niedergelegt ist, zusammengerafft und zusammengeborgt worden ist von allen Erdenvölkern, die im Laufe der Jahrtausende an dem gearbeitet haben, was jede Gegenwart für den Gipfel der Kultur hielt, was auch unsere Gegenwart Kultur nennt. Etwas Kostbares ist verloren gegangen: Der Glaube an die Eigenheit, an die Persönlichkeit, an das Ich der Muttersprache. Die Frage stellt sich von selbst: Wie kann der Einzelne noch Gut und Mut hingeben aus Vaterlandsliebe, die nur Liebe zur Muttersprache ist (...)."(30)
MAUTHNER selbst gestand, die Lösung nicht zu kennen, zumal er mit besonderer Liebe an seiner Muttersprache und seinem Vaterland hing.(31)

1910/11 erschien das "Wörterbuch der Philosophie" (32), das er im Untertitel als "Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache" deklarierte und als Fortsetzung und Ergänzung der "Beiträge" verstand.(33) Es sollte, wie er es in der Einleitung formulierte, die Vorarbeit für eine "Vorschule einer sprachkritischen Erkenntnistheorie"(34) leisten und "eine Revision der Grundbegriffe aller Wissenschaften" zumindest in Bruchstücken vollbringen. MAUTHNER versprach, daß er Scheinbegriffe, die nur in den Vorstellungen der Menschen existierten und denen nichts in der Wirklichkeit entspräche, durch ihre Entlarvung zerstören wollte. Begriffskritik nannte er diese Vorgehensweise, mit der er den Kampf gegen den naiven Glauben, ein scheinbar lebendes Wort müßte auch einen philosophischen Nutzen haben, führen wollte.(35)

Das letzte große Werk MAUTHNERs sind die vier Bände "Der Atheismus und seine Geschichte im Abendland" (36), die zwischen 1920 und 1923 erschienen und ebenfalls in einer engen Verbindung mit den Gedanken der Sprachkritik stehen Inhalt des Werkes ist eine Darlegung der "Geschichte der Befreiung vom Gottesbegriff" (37) vom Altertum bis ins 19. Jahrhundert hinein: (38) "Der große Pan ist tot oder liegt im Sterben; es ist Zeit, seine Geschichte zu schreiben, solange noch Zeugen seiner lebendigen Herrschaft da sind. Die Geschichte des gewaltigen Gedankenwesens, das in der Menschheit gewirkt hat. Die Geschichte der Gottesvorstellung oder des Gottes, je nachdem." (39) Große Teile des "Atheismus" sind ein Beitrag zur Begriftskritik, wie sie das "Wörterbuch" bietet, nur daß MAUTHNER sich hier auf im weitesten Sinne religiöse Begriffe konzentrierte. (40)

In der Gegenwart, so MAUTHNER, müßte sich nun endlich die sprachkritische Einsicht durchsetzen, daß die Welt ohne Gott nur einmal da sei: "Es ist töricht, in der Sprache der Vorstellungen nach der Gottheit hinter der Vorstellung zu fragen  Gottheit  ist ein sinnentleertes Wort." (41) Schon habe sich in vielen Bereichen der Kultur die Überzeugung durchgesetzt, daß es keinen Gott gäbe. "Die Literatur der Gegenwart ist überhaupt gottlos. Die Geisteswissenschaften möchten zwar eine Verbindung mit der Theologie heuchlerisch wieder anknüpfen, aber die Naturwissenschaften stehen längst außerhalb der Kirche und die Dichtung gar ist allgemein atheistisch." (42)

Der "Atheismus" ist MAUTHNERs letztes großes Werk; (43) er schloß es mit einem Bekenntnis, das er als sein persönliches Credo bezeichnete:
"Ich flüchte (...) in die Geborgenheit und Verborgenheit des Mystikers. In die letzte Einheit, in welcher kein Unterschied mehr besteht, zwischen meinem Ich und der übrigen Natur, in welcher die Welt oder die Natur nur einmal da ist, in welcher (...) ein Tier oder irgendein anderes Ich, wie z. B. das meinige, nur das gleiche Recht eines Gefühles hat, ein Traum, ein Wort der Sehnsucht ist, oder eine Illusion und dennoch das einzig Wirkliche. Und wenn ich diese (...) Mystik (...) auch mal gottlos nenne, so muß ich also bekennen, daß ich an dem alten Worte Mystik einen Bedeutungswandel verübt habe." (44)
Diese mystische Konsequenz ergänzte er allerdings mit einer lebensbejahenden Forderung nach einer Illusion, die das Leben - bei aller Skepsis - erleichtere:
"Und doch habe ich, bevor ich scheide, den Gegnern der bloßen Negation, wenn sie nur nicht zu einer Kirche zurückstreben, eine Möglichkeit zu bieten, eine biologische Möglichkeit, in dieser kalten und dünnen Höhenluft zu atmen. Das Ich, der Wille, das Denken, die Seele  sind  nicht, gewiß nicht. (...) Sie sind aber, was ich einmal normale Täuschungen genannt habe, gesunde Lebenslügen, unvermeidliche, nur mit dem Leben selbst auszulöschende Illusionen." (45)
Dennoch, so warnte er, Illusion sei niemals Wirklichkeit: "Der handelnde Mensch mag eine Illusion als Fiktion benützen ("als ob es Götter gebe"), der dichtende Mensch mag eine Illusion zu gestalten suchen (als sein "Ideal"); beide dürfen an ihre Illusion nicht glauben (...)." (46) Sprachkritik sei sein erstes und letztes Wort. Nach rückwärts blickend, sei Sprachkritik alles zermalmende Skepsis, nach vorwärts blickend, mit Illusionen spielend, sei sie eine Sehnsucht nach Einheit, sei sie Mystik. (47)

Bis zu seinem Tode arbeitete der unermüdliche Verfechter der sprachkritischen Idee an einer Vervollkommnung seiner Thesen, 1925 erschien posthum auf den in MAUTHNERs Testament ausdrücklich geäußerten Wunsch hin ein von MONTY JACOBS aus dem Nachlaß zusammengestelltes Buch "Die drei Bilder der Welt". In diesem Bändchen faßte er den sprachkritischen Gedanken noch einmal unter einem neuen Aspekt, der zwar in den drei großen sprachkritischen Werken (48) schon angeklungen, aber in der nun intendierten Systematik noch niemals dargestellt worden war.

Die zentrale These dieses Werks ist die Vorstellung, daß sich die Menschheit von der existierenden Welt, die sie nie wirklich erkennen könne, drei verschiedene Bilder unter drei unterschiedlichen Gesichtspunkten zeichne: ein substantivisches, ein verbales und ein adjektivisches Bild. (49) Diese Einteilung fände sich auch in der grammatischen Struktur der Sprache wieder, in der zwischen Dingwörtern, Eigenschaftswörtern und Zeitwörtern unterschieden werde. Jeder dieser Anschauungsformen läge ein anderes Weltbild zugrunde, deren Unterschiede MAUTHNER in seinem Buch schilderte.

Am schwersten sei nach MAUTHNER die substantivische Welt zu beschreiben: "Im Substantiv ist ein Schein verborgen (...). Die substantivische Welt allein ist das, was wir seit BERKELEY und KANT als bloße Erscheinung erkannt haben. Nur daß wir nicht wissen, wovon diese substantivische Welt eine Erscheinung ist." (50) Nur das Wesen Mensch, auf dessen Illusion des Ichgefühls das substantivische Weltbild beruhe, besitze diese schönste und falscheste Vorstellung. (51) Es unterstelle das ihm eigene Gefühl einer Kontinuität des Seins, das ihm vom Gedächtnis vorgegaukelt werde, auch allen übrigen Körpern und nähme sie als eine einheitliche Gruppe von Eigenheiten und Wirkungen wahr. Diese substantivische Welt sei eine rein anthropomorphische Welt-. "Die lebendigen und die leblosen Körper außer den Menschen, alle sind substantivisch nur für uns, nicht an sich, sie können nur insofern denken oder sagen, daß sie sind, als sie selbst etwas wie ein Ichgefühl hätten." (52)

MAUTHNER stellte dieser Auffassung von der Welt der Körper nun ergänzend eine verbale Welt zur Seite, die sich nicht auf das Sein der Dinge konzentrierte, sondern auf das Werden, es sei die Welt der Kräfte und Energien, die auf die Sinne und aufeinander wirkten. Diese Welt des Geschehens habe die Menschen geformt, denn durch ihre Einwirkung seien die Zufallssinne geschaffen worden, durch die die Menschen die Wirklichkeit erst wahrzunehmen gelernt hätten.

Die dritte Wahrnehmungsebene, die das Weltbild der Menschen bestimmte, sei die adjektivische Welt, die durch die Sinneseindrücke auf den Menschen eindringe. Diese Welt des Sensualismus war nach MAUTHNER die einzige Wahrheit, die dem Menschen zu erkennen vergönnt sei; sie sei ein Ausschnitt aus der Wirklichkeitswelt, der sich aus den Eindrücken, die durch das Sieb der Zufallssinne in das Bewußtsein drängten, zusammensetzte. Eine Einschätzung des Verhältnisses dieses Ausschnittes zur Wirklichkeitswelt sei dem Menschen allerdings nicht möglich, da er die Realität niemals erkennen könne.

MAUTHNER erblickte "in den Vorstellungen der adjektivischen, der substantivischen und der verbalen Weltanschauung drei gleichwertige, gleich richtige und gleich einseitige Bilder der Welt (...)." (53) Den Menschen sei es unmöglich, diese drei Weltbilder zu einem einzigen zu verbinden, sie nähmen entweder die adjektivische, die substantivische oder die verbale Komponente wahr. (54) Nur die echte Kunst sei in der Lage, eine Annäherung an die eine Welt zu erreichen und die verschiedenen Wahrnehmungsweisen zu vereinen. Der Künstler, der das vollbringen wollte, müßte jedoch ein echtes Genie sein, das die Welt ohne Begriffe und ohne Sprache verstände, durch die sie dem Menschen in ihre unterschiedlichen Bestandteile zerfiele. So endet auch dieses letzte kleine Werk mit Mystik: "Das Begreifen zerfällt, sobald er (der Künstler) es für sich oder andere in Begriffe oder Worte bannen will. Das All-Eine war nur im schweigenden Ich verbunden, beim ersten lauten Wort verschwindet herabstürzend jede Einheit, auch die des Ich. Nichts läßt sich mehr sagen." (55)
LITERATUR - Bettina Ullmann, Fritz Mauthners Kunst- und Kulturvorstellungen, Hamburger Beiträge zur Germanistik, Frankfurt/Berlin/Bern/NY/Bruxelles/Wien 2000
    Anmerkungen
    1) FRITZ MAUTHNER, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Ich zitiere aus der 3. um Zusätze vermehrten Auflage. Leipzig 1923.
    2) FRITZ MAUTHNER, Erinnerungen. Prager Jugendjahre, Ffm 1969, Seite 195
    3) FRITZ MAUTHNER, Erinnerungen. Prager Jugendjahre, Ffm 1969, Seite 196f
    4) FRITZ MAUTHNER, Erinnerungen. Prager Jugendjahre, Ffm 1969, Seite 196f
    5) Da jeder Band der "Beiträge" die Konsequenzen der sprachkritischen Erkenntnisse auf andere Fachgebiete ausdehnt, können nur Fachuntersuchungen die Ergebnisse des Autodidakten Mauthners beurteilen.
    6) Vgl. dazu u. a. Gershon Weiler, Mauthner's Critique of Language. Cambridge 1970. Elisabeth Leinfellner: Critique of Language and Language of Critique. Fritz Mauthner's Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Virginia 1987. LARS GUSTAFSSON, Sprache und Lüge. Drei sprachphilosophische Extremisten. Friedrich Nietzsche, Alexander Bryan Johnson, Fritz Mauthner. Frankfurt/Main 1982.
    7) FRITZ MAUTHNER, Beiträge. Bd. 1. Seite 297
    8) Leinfellner bemerkt: "Mauthners sprachkritisches Werk ist wegen der Fülle der behandelten Themen und seiner Gewohnheit, Unmengen von wissenschaftlicher Literatur heranzuziehen, nicht immer leicht zu lesen. (...) Und wirklich besteht bei Mauthner die Gefahr, daß man, wie es Borges in einer Parabel schildert, bei der Diskussion seines Werkes eine Landkarte zeichnet, die so groß wie das Land selbst ist." Elisabeth Leinfellner, Die böse Sprache: Fritz Mauthner und das Problem der Sprachkritik und ihre Rechtfertigung. In: Dies./ H. Schleichert (Hrsg.), Fritz Mauthner. Das Werk eines kritischen Denkers. Seite 57-82
    9) E. Leinfellner / H. Schleichert (Hrsg.), Fritz Mauthner - Das Werk eines kritischen Denkers. Seite IX.
    10) Mauthner beschäftigte sich gleichermaßen mit naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen.
    11) E. Leinfellner / H. Schleichert (Hrsg.), Fritz Mauthner. Das Werk eines kritischen Denkers. Seite X
    12) E. Leinfellner / H. Schleichert (Hrsg.), Fritz Mauthner. Das Werk eines kritischen Denkers. Seite 25
    13) E. Leinfellner / H. Schleichert (Hrsg.), Fritz Mauthner. Das Werk eines kritischen Denkers. Seite 24f
    14) E. Leinfellner / H. Schleichert (Hrsg.), Fritz Mauthner. Das Werk eines kritischen Denkers. Seite 93
    15) E. Leinfellner / H. Schleichert (Hrsg.), Fritz Mauthner. Das Werk eines kritischen Denkers. Seite 235
    16) Zu seinem Begriff der Zufallssinne schrieb Mauthner: "Zufällig sind unsere Sinne bloß im Verhältnis zu den unzähligen Erkenntnismöglichkeiten. Historisch sind sie gewiß notwendig geworden, wie alles geworden ist." Mauthner: Beiträge I. Seite 344. Im Kapitel "Zufallssinne" erläuterte er weiter: "Der Begriff der Zufallssinne ist nichts weiter als der vorläufige Ausdruck Dir die trübe Gewißheit, daß unsere Sinne sich entwickelt haben, allmählich entstanden sind, daß also ganz sicher Kräfte in der Wirklichkeitswelt wirken, die niemals Sinneseindrücke bei uns hervorrufen können und daß darum - weil nichts im Denken sein kann, was nicht vorher in den Sinnen war - unser Denken schon deshalb allein niemals auch nur zu einem ähnlichen Bilde von der Wirklichkeitswelt gelangen kann." Ebd. Seite 360.
    17) Mauthner: Beiträge I. Seite 419
    18) Mauthner, Beiträge I. Seite 91
    19) Mauthner, Beiträge I. Seite 650
    20) Mauthner, Beiträge I. Seite 680
    21) Mauthner, Beiträge I. Seite 696
    22) Mauthner, Beiträge I. Seite 686f
    23) Etwa der Ausdruck vom Aufgehen der Sonne
    24) Mauthner, Beiträge I. Seite 33
    25) Mauthner, Beiträge II. Seite 33
    26) Mauthner, Beiträge II. Seite 12
    27) Fritz Mauthner, Die Sprache. Frankfurt/ Main 1906, In: Martin Buber (Hrsg.): Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien. Bd. 9
    28) Fritz Mauthner, Die Sprache. Seite 45
    29) Fritz Mauthner, Die Sprache. Seite 82
    30) Fritz Mauthner, Die Sprache. Seite 79f
    31) Fritz Mauthner, Die Sprache. Seite 80
    32) Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. München und Leipzig 1919
    33) Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie. Seite XII
    34) Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie. Seite XII
    35) Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie. Seite XII, XIII
    26) Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Bd. 1 - 4. Stuttgart und Berlin 1920 - 1923
    37) Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Seite V
    38) Ausgehend vom Altertum beschrieb er den Kampf gegen den alten Gottesbegriff von zahlreichen Persönlichkeiten in verschiedenen Ländern und Kulturen.
    39) Fritz Mauthner, Atheismus. Bd. 1. Seite 3
    40) Schleichert kritisiert zu Recht. daß die meisten Rezensenten vom "Atheismus" nur den Anfang mit seinen sprachkritischen Versprechungen und den Schluß mit Mauthners Postulat von einer "gottlosen Mystik" gelesen hätten. Für meine Untersuchung sind allerdings nur sie von Relevanz, die erstaunliche Vielfalt von historischen Dokumenten und Gedankengängen, die sicherlich für einen Historiker interessant sind, sind für Mauthners Kunst- und Kulturvorstellungen nur von marginalem Wert. Hubert Schleichert, Mauthners Atheismusbuch. (Eine verspätete Buchbesprechung). In E. Leinfellner/Ders. (Hrsg.): Fritz Mauthner. Das Werk eines kritischen Denkers. Seite 137-144
    41) Fritz Mauthner, Atheismus. Bd. 4. Seite 443
    42) Fritz Mauthner, Atheismus. Bd. 4. Seite IV
    43) Sein letztes Buch "Die drei Bilder der Welt" konnte Mauthner nicht mehr vollenden. Fritz Mauthner, Die drei Bilder der Welt. Ein sprachkritischer Versuch. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Monty Jacobs. Verlag der philosophischen Akademie. Erlangen 1925
    44) Fritz Mauthner, Atheismus. Bd. 4. Seite 428
    45) Nicht nur Gott enttarnte Mauthner in seinem "Atheismus" als einen Scheinbegriff, auch die Vorstellung des "bleibenden Ich" hielt er für unrettbar. Als Beweis nannte er den traumlos schlafenden Menschen, der kein "Ich" mehr besäße. Mauthner, Atheismus. Bd. 4. Seite 446. Siehe auch schon Mauthner, Beiträge. Bd. 1. Seite 661ff
    46) Fritz Mauthner, Beiträge. Bd. 1. Seite 661ff
    47) Fritz Mauthner, Beiträge. Bd. 1. Seite 661 ff. Mauthners Wendung zur Mystik taucht schon in den "Beiträgen" und später im "Wörterbuch" auf. Die Forderung nach der Notwendigkeit der Illusion formulierte er allerdings erst im "Atheismus". Den ersten Anstoß für einen Zusammenhang zwischen Sprachkritik und Mystik hatte Mauthner sein Mitarbeiter und Freund Gustav Landauer gegeben. Vgl. Joachim Kühn, Gescheiterte Sprachkritik. Seite 217f
    48) In den "Beiträgen", Bd. 3. Seiten 10, 65, 102, im "Wörterbuch" u. a. Bd. 1, Seite 12 ff., Bd. 2, Seite 464 ff. und 526 ff. und im "Atheismus" u. a. Bd. 2, Seite 588 und Bd. 4, Seite 438ff
    49) Fritz Mauthner, Die drei Bilder der Welt. Bd. 2
    50) Fritz Mauthner, Die drei Bilder der Welt. Bd. 2. Seite 26f
    51) Fritz Mauthner, Die drei Bilder der Welt. Bd. 2. Seite 40
    52) Fritz Mauthner, Die drei Bilder der Welt. Bd. 2. Seite 40
    53) Fritz Mauthner, Die drei Bilder der Welt. Bd. 2. Seite 8
    54) Fritz Mauthner, Die drei Bilder der Welt. Bd. 2. Seite 24
    55) Fritz Mauthner, Die drei Bilder der Welt. Bd. 2. Seite 170. Hier drängt sich natürlich die Frage auf, mit welchen Mitteln solch ein Künstler seine Kunstwerke schaffen soll, denn um einen Wortkünstler kann es sich ja nicht handeln.