p-3
 
GERDA HASSLER
Sprachphilosophie in der Aufklärung
- I I -

"Wörter wie  öffentliches Eigentum, Vaterland  und Bürger dienen der Verschleierung sozialer Ungleichheit und sind in dieser Eigenschaft Indiz einer korrupten Gesellschaftsform."

Sprachrelativität des Denkens

Die Vorstellung von einem  Paradigma  der Sprachphilosophie der Aufklärung, das die Vielfalt der Sprachen universell gültigen Denkstrukturen nach- und unterordnet und für die Sprachbetrachtung feste Kategorien einer an streng rationalistischer Logik orientierten allgemeinen Grammatik vorschreibt, ist in der Forschung der letzten Jahre mehrfach relativiert worden.

Die These, daß die Sprachen in ihrer vielfältigen Gestalt nur in Abhängigkeit von einer universellen Struktur des Denkens existieren, ließe sich als eine der in der Sprachphilosophie der Aufklärung vorliegenden paradigmatischen Positionen charakterisieren, die sich vor allem mit der Begründung der Einheit und Unveränderlichkeit der Menschheit in Zeit und Raum verbindet. Mit der Erkenntnis der historischen Entstehung und Entwicklung des Menschen und all seiner Lebens- und Kommunikationsformen erlangt jedoch eine andere paradigmatische Position an Gewicht, die der Sprache einen formenden Einfluß auf das Denken zugesteht.

Die Sprachenvielfalt ist aus dieser Perspektive nicht mehr Hülle und Verkleidung des universellen Denkens, sondern Folge der unterschiedlich verlaufenen gemeinsamen Entwicklung von Sprache und Denken. In Anlehnung an später besonders explizite und wirksame Formulierungen dieser paradigmatischen Position ist der Gedanke,

"daß die Sprache, d.h. in erster Linie natürlich die Muttersprache, in irgendeiner Art und in irgendeinem Ausmaß (also keineswegs notwendigerweise vollständig) die  Weltansicht , das Denken, das Leben ihrer Sprecher beeinflußt" (CHRISTMANN 1981)
auch im Hinblick auf die Sprachphilosophie der Aufklärung als  These vom Weltbild der Sprache  oder als  Linguistic Relativism  bezeichnet worden.

Mit der Sprachrelativität des Denkens als Diskussionsgegenstand der Aufklärung ist die das Denken konstituierende und in seiner Spezifik gestaltende Funktion der Sprache gemeint. Diese Auffassung konnte sich vor allem auf der Grundlage einer neuen Einordnung der Problematik des arbiträren Zeichencharakters ergeben, die im Rahmen der sensualistischen Sprachtheorien erfolgte und mit einer Überwindung der dualistischen Interpretation des Verhältnisses von Sprache und Denken verbunden war.

Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß LOCKE die Tatsache der Sprachverschiedenheit und die damit verbundene unterschiedliche Bildung komplexer Ideen bei verschiedenen Völkern als Argument gegen die rationalistische Annahme angeborener Ideen verwendete.

Die Verschiedenheit der Sprachen konnte auch als sprachpraktisches Phänomen nicht ignoriert werden und mußte in der wissenschaftlichen Sprachbetrachtung zunehmend beachtet werden. Dabei verschob sich das Interesse von einer Begründung der Tatsache der Sprachverschiedenheit zugunsten der Notwendigkeit, den besonderen Charakter der Sprachen in der Bestimmung des Verhältnisses von Sprache und Denken zu berücksichtigen. Obwohl der Blick auf jene, die über andere Zeichensysteme verfügen, oft nicht ein Blick auf die Alterität (Veränderbarkeit), sondern auf die Vergangenheit war, wurde das Bewußtsein für die Verschiedenheit der Sprachen auch in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen geschärft.

Aus der Sprachdiskussion der Aufklärung erwuchs die Annahme einer Sprachrelativität des Denkens, die zur Überwindung der rationalistischen Erkenntnistheorie beitrug und den Aufruf zur verantwortungsbewußten Verwendung der Sprache unterstützte. Dabei ergab sich bereits als ein wichtiger Aspekt der intensiven Diskussion um den Zusammenhang von Sprache und Denken die Korrelation bwz. Wechselwirkung zwischen dem besonderen Charakter der Sprachen und der Denkweise ihrer Sprecher.

Die bei LOCKE vorhandene Tendenz zur Annahme einer Sprachrelativität des Denkens, die zunächst durch den Dualismus von Sensation und Reflexion eingeschränkt blieb, wurde durch die späteren Vertreter des Sensualismus in verschiedenen Richtungen weiterentwickelt. CONDILLACs Erklärung der höheren Denkprozesse als mit Hilfe sprachlicher Zeichen umgewandelte Sinneswahrnehmungen gibt auch der Besonderheit der einzelnen Sprachen als Erkenntnismethoden eine neue Tragweite.

Voraussetzung für das Funktionieren der Sprache als Kommunikationsmittel und Mittel der Erkenntnis ist die Berücksichtigung der durch ihren besonderen Charakter vorgegebenen inneren Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten. Die funktionelle Bestimmung der sprachlichen Zeichen als historisch motiviert eröffnet daher die Möglichkeit, daß bestimmte relativ selbständige und isolierbare Kategorien für einen konkreten Zustand der Sprache als vorgegeben angenommen und in ihrer Rückwirkung auf das Denken betrachtet werden können.

Die Annahme eines Denkens in der jeweiligen Einzelsprache verbindet sich dabei jedoch mit der Anerkennung einer über die Bedürfnisse vermittelten Bezogenheit des Erkenntnisprozesses auf die Außenwelt. Sprachen sind korrigierbar, sobald es der von den Bedürfnissen angeregte Erkenntnisprozess erfordert, denn die von CONDILLAC angenommene Wechselbeziehung zwischen Sprache und Denken schließt ein, daß zur Weiterentwicklung des Denkens eine Änderung der sprachlichen Konvention notwendig werden kann.

Er gesteht den Menschen, trotz aller Verbindlichkeit der sprachlichen Zeichen durchaus zu, die Sprache zu verbessern. Die Annahme einer Sprachrelativität des Denkens ordnet sich somit der aufklärerischen Forderung unter, sich der eigenen Vernunft zu bedienen und dabei scheinbare Schwierigkeiten, die sich aus der Sprache ergeben, zu überwinden.

Am Beispiel BERKELEYs hatten wir jedoch bereits gesehen, daß die Annahme eines formenden Einflusses der Sprache auf das Denken auch zu ausgesprochen pessimistischen Schlußfolgerungen hinsichtlich der Verläßlichkeit und Perfektibilität der menschlichen Erkenntnis führen konnte. Mit der an CONDILLAC gerichteten Aufforderung DIDEROTs zur Auseinandersetzung mit dem subjektiven Idealismus war deutlich geworden, daß die vom Sensualismus als erkenntnistheoretischer Richtung durchlaufene Entwicklung zwei gegensätzliche Tendenzen aufwies.

So stand Mitte des 18. Jahrhunderts die Auffassung der Sinneserkenntnis als Widerspiegelung der objektiven Realität im menschlichen Bewußtsein gegen die Isolierung der Perzeptionen von ihrer außerhalb des Bewußtseins liegenden Quelle, der  Materie , die in extremen Fällen bis zum Aufgeben des Materiebegriffs führte.

Daß sich dieser Gegensatz auch auf sprachphilosophischem Gebiet ausprägte, ist sicher nicht zuletzt auf die Bedeutung der Sprache als Methode zur Analyse der Perzeptionen zurückzuführen. Nicht zu übersehen ist auch, daß dabei das Problem der Sprachrelativität des Denkens im Mittelpunkt stand.


Thema "Mißbrauch der Wörter"

Nicht unbeeinflußt von der philosophisch -anthropologischen und erkenntnistheoretischen Problematik, wandte sich die Diskussion des 18. Jahrhunderts auch dem Sprachgebrauch in der gesellschaftlichen Kommunikation zu. Vehemente Kritik der Aufklärung richtete sich gegen die sprachliche Verfestigung und Überlieferung der Vorurteile als eine Form des Mißbrauchs.

Hatte die Betonung des Abstandes oder Gegensatzes zwischen Wörtern und Dingen eine lange, bis zu PLATONs  Kratylos  zurückgehende Tradition, so war insbesondere im 17. Jahrhundert der politische Sprachmißbrauch zu einem Thema geworden, zu dem sich Vorläufer der Aufklärung wie FRANCIS BACON, HOBBES, PUFENDORF, SPINOZA äußerten. LOCKE hatte darauf hingewiesen, daß die Sprache zu einem Instrument der Aufhebung des Völkerrechts werden und durch pompöse Terminologie den Weg zu wirklicher Erkenntnis verstellen kann.

Dem  abus des mots  (Mißbrauch der Wörter), der sich auf die Unklarheit der Wortbedeutungen stützte, schreibt HELVETIUS im Anschluß an LOCKE nicht nur die Verantwortung für philosophische und religiöse Streitigkeiten, sondern besonders auch für Blutvergießen und Kriege zu. Besonders spürbar werde die Verschwommenheit der Bedeutungen bei solchen Wörtern wie  liberte, vertu  (Freiheit, Tugend), die den Menschen sehr nah berührten und für deren Bedeutungsbestimmung sie oft aus Eigennutz kein Interesse hätten.

Der Sprachverbesserung, der Erfindung einer philosophischen Sprache, in der alle Bedeutungen genau definiert sind, steht HELVETIUS schon aus diesem Grund schon sehr skeptisch gegenüber. Da der Sprachgebrauch das Bewußtsein der Beherrschten ablenken soll, sei die Festlegung der Wortbedeutungen unter den gegebenen Bedingungen nicht möglich. Falls ein solches Projekt tatsächlich zu verwirklichen sei, könne es nur von einem freien Volk in Angriff genommen werden.

Mit deutlichen gesellschaftskritischen Akzenten wendet sich auch DIDEROT in seinem Enzyklopädieartikel  Bassesse  sprachkritischen Fragen zu und verwirft die Erklärung von  bassesse  und  abjection  als Synonyme, die von einer Verbindung von Bezeichnungen der sozialen Herkunft mit moralischen Wertungskriterien ausgeht und damit Vorurteile sprachlich anerzieht. Die Erkenntnis, daß die Verwendung der Sprache nicht außerhalb gesellschaftlicher Beziehungen und Interessen erfolgt, verleiht der Betrachtung des Einflusses der Sprache auf das Denken einen pragmatischen Aspekt, der auf die Problematik der Bewußtseinsbildung mittels Sprache hinweist.

Nach ROUSSEAUs Auffassung ist die gesellschaftliche Kommunikation seit dem Zustand der Ungleichheit ein Dialog zwischen Reichen und Armen, Mächtigen und Unterdrückten, in dem die Wörter zum Instrument der  Überzeugung  werden, mit dessen Hilfe die Zustimmung des Volkes zu den im Interesse der Herrschenden gesetzten gesellschaftlichen Normen erreicht werden soll. Bezeichnungen für  Gerechtigkeit  und  Gehorsam  sind deshalb in Wirklichkeit Instrumente der Gewalt und des Unrechts, und Wörter wie  öffentliches Eigentum, Vaterland  und  Bürger  dienen der Verschleierung sozialer Ungleichheit und sind in dieser Eigenschaft Indiz einer korrupten Gesellschaftsform.

Durch die Französische Revolution wurde der Auseinandersetzung um sozial und politisch relevante Worbedeutungen eine noch größere Aktualität verliehen. Anhänger wie Gegner der Revolution beschuldigten einander, die Sprache zu verfälschen und den Wortmißbrauch für ihre politischen Zwecke einzusetzen. Aus der Sicht der Konterrevolution wurde der Wortmißbrauch als Instrument der Verführung des Volkes sogar zur Ursache der revolutionären Umwälzungen erklärt.

Die Maßnahmen gegen den Wortmißbrauch gingen bis zu praktischen Vorschlägen und der Gründung verantwortlicher Gremien. So wurde 1791 eine  Societè des amateurs de la Langue Francaise  gegründet, die das Befreiungswerk der Revolution auf die Sprache übertragen sollte. Der vielleicht verhängnisvollste Irrtum, der die Menschen ins Unglück stürzte, nämlich der Mißbrauch der Wörter, der uns über die Natur der Dinge täuscht, sollte jetzt endlich beseitigt werden.

LITERATUR - Dascal/Gerhardus/Lorenz/Meggle (Hrsg), Sprachphilosophie - ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Berlin/New York 1992
    dow Download mit den Kommentaren [54 KB]