p-4ra-2O. KülpeR. HamerlingG. KerschensteinerR. Wahle     
 
JULIUS BAUMANN
Wille und Charakter
[2/2]

"Im Altertum und Mittelalter war es leichter, Charakter zu haben; im Altertum war alle Bildung politisch, unter überwiegendem Einfluß der Staats(Stadt-)gemeinde stehend, im Mittelalter war sie Standesbildung (Ritter, Geistlicher, Bürger, Bauer). Der einzelne hatte also die Bürgerart oder Sitte, die Standesart oder Sitte (mores) fest in sich aufzunehmen und sich danach bleibend zu betätigen, das war der Abschluß auch seiner Willensbildung. Seitdem mit der Renaissance die Individualität (eine besonders germanische Neigung) größeren Spielraum erhielt, ist einen Charakter zu haben oder ein Charakter zu sein viel schwerer geworden; denn es ist nicht mehr eine von anderen im Voraus für uns mitbesorgte Aufgabe, sondern ist von jedem von neuem für sich zu lösen."


Die Hauptgesetze der Willensbildung

Das erste Gesetz der Willensbildung, das der Verstärkung, leitet sich daraus ab, daß der Wille mit einer umgekehrten Assoziation vergleichbar ist. Nun herrscht bei den Assoziationen das Gesetz, daß der umgekehrte Gang zwar möglich, aber nicht so leicht ist. Das  ABC  kan man daher nur schwer von  Z  nach  A  rückwärts aufsagen, da sich die Umkehrungen hier häufen. Bei den Assoziationen erreicht man die Leichtigkeit der Umkehrung durch Übung, d. h. Wiederholung, z. B. beim Einmaleins. Das Gleiche gilt vom Willen, er ist abhängig von der Übung. Ist z. B. dem Kind etwas instinktiv geglückt oder hat sich instinktiv in ihm geregt, und war augenscheinlich Bewußtsein damit verbunden, so gilt es, die Aufforderung zur Wiederholung an sein Bewußtsein zu bringen, damit sich so an Vorstellung und Wertschätzung die vorhandenen Dispositionen zur Betätigung anschließen. Vielfach übt das Kind die effektive Betätigung sich selbst ein, eben von dem freudigen Bewußtseinszustand aus, der mit der instinktiven Betätigung des gelungenen Greifens, Aufrichtens zum Sitzen, Laufens, Hervorbringens artikulierter Laute verbunden war. Sehr vorteilhaft ist es, wenn die ursprüngliche Betätigung auf Lob und Aufmunterung der Umgebung trifft; denn das läßt das Bewußtsein beim ganzen Zustand verweilen und erleichtert eben dadurch die Reproduktion. Absichtliche derartige Übungen muß man aber nur anstellen, wenn voraussichtlich die betreffenden Muskelgruppen oder geistigen Elemente sich annähern im gleichen Zustand befinden, wie bei der früheren gelungenen Betätigung; denn ein Mißlingen, z. B. beim Üben willkürlich zu laufen, oder etwas aufzusagen, oder auch nur nachzusprechen, wirkt auf längere Zeit abschreckend. Ebenso müssen im späteren Knaben- und Mädchenalter die Einzelvorstellungen und mancherlei Kombinationen derselben geläufig geworden und dadurch leicht erweckbar sein, wenn eine zusammenhängende Verknüpfung derselben in einem Aufsatz z. B. auf Vorsatz hin gelingen soll, weshalb eine vorhergehende mehr freie Überdenkung etwa auf einem Spaziergang die Sache so erleichtert.

Selbst bei den Erwachsenen sind zum effektiven Wollen stets günstige Bedingungen der bezeichneten organischen oder psychischen Elemente der Betätigung (des Impulses) unerläßlich. Aus dem Fehlen solcher günstiger Bedingungen erklärt es sich, daß bei leiblicher oder geistiger Erschöpfung Vorstellung und Wertschätzung, die sonst effektiv waren, gar nichts mehr vermögen, daß bei geistiger oder leiblicher Ermüdung, z. B. Schlaftrunkenheit, schwer fällt und nur unsicher gelingt, was sonst leicht und präzise ausgeführt wurde, daß durch die bloße längere Unterlassung sonst geübter leiblicher oder geistiger Handlungen diese nicht mehr so vonstatten gehen wie früher. Darum ist z. B. eine Reihe von guten Tagen so schwer zu ertragen; denn da wir im Glück nicht von selbst Gelegenheit haben, uns in Geduld, Anstrengung, Enthaltsamkeit zu üben, so müssen wir erwarten, daß jene Tugenden, aus Mangel an Übung verloren gehen, und sich dafür andere Gewöhnungen einstellen, sehr verschieden von jenen. Darum müssen wir uns nach längerem Ausruhen z. B. in den Ferien erst wieder "einschießen"; selbst das Schreiben geht uns dann zuerst nur halb so schnell von der Hand, als zu dem Zeitpunkt, als wir von unserem Schreibtisch Abschied nahmen.

Aufgrund des Dargelegten ergeben sich als Detailregeln:
    1. Willkürliche Handlungen jeder Art erfordern für ihren Anfang günstige innere oder zugleich auch äußere Bedingungen, für deren Herstellung möglichst Sorge zu tragen ist, und werden nur durch Übung, d. h. Wiederholung, fest und sicher (habituell, zur anderen Natur);

    2. was stets unter der Herrschaft des Willens stehen soll, dürfen wir nie ganz außer Übung setzen. Man darf sich darum nicht zu sehr darauf verlassen, daß oft geübte geistige und leibliche Betätigungen sekundär-automatisch würden, d. h. in ähnlicher Weise stets zu unserer Verfügung ständen, wie vegetative und animalische Verrichtungen, die wie wir sagen, von selbst ablaufen. Erstens sind diese selbst mehr bedingt, als man früher wußte, und wenn eine ihrer Bedingungen fehlt, so versagen sie; zweitens erleben wir alle, wie selbst das Gehen, wenn wir es infolge von Krankheit, gar nicht in den Gehwerkzeugen selbst, längere Zeit nicht geübt haben, gleichsam erst wieder ins "alte Geschick" gebracht werden muß.
Die Bedeutung der Übung und Gewöhnung für die Willensbildung ist früh erkannt worden; in der Wissenschaft ist sie besonders von ARISTOTELES ins Licht gestellt, nur das höhere Denken, den  nous,  nimmt er aus; was das Denken einmal hat, das bleibt ihm; ein Satz, der ein Wunsch, aber keine Wahrheit ist; denn ohne alle Übung, absichtliche oder unabsichtliche, schwinden auch die geistigen Gedanken.

Allgemeine Grundforderung ist außerdem, stets für einen Vorrat an Muskel- und Nervenkraft zu sorgen durch Erholung nach starken Anstrengungen und durch zweckmäßige leibliche Pflege. Durch Übung und Ausruhen und mit Ersatz über den Verbrauch werden die leiblichen und geistigen Kräfte dann nicht bloß erhalten, sondern auch verstärkt, obwohl nicht ins Unendlich. Die leibliche Pflege muß nicht bloß Erregungsmittel, sondern auch plastische, d. h. substanzerhaltende Mittel den Muskeln und Nerven zuführen. Für Muskelkraft wird bei uns gesorgt, freilich nicht immer in zweckmäßiger Weise. Nach VIRCHOW sind Schwimmen und Dauerlaufen die einzigen allseitig wirkenden turnerischen Übungen. Die plastischen Stoffe werden überdies über den bloßen Erregungsmitteln oft vernachlässigt; für jene ist nach der Physiologie stickstoffhaltiges Material (Fleisch, Eier, Brot) erforderlich, für diese kohlenstoffreiches (Fett, Stärkemehl). Dagegen für Nervenkraft wird bei uns noch wenig gesorgt; daher die gelegentlich schrecklichen Zustände von Nervenerschöpfung, als Unfähigkeit etwas zu denken, plötzliches Abreißen einer Gedankenreihe, Schlafsucht schon bei unserer Jugend. Sehr oft werden die Nerven bei uns ernährt auf Kosten der übrigen Systeme, der Muskeln, des vegetativen Systems, also der Verdauung und was damit zusammenhängt. Dies wirkt auf die Nerven schließlich selbst zurück; daher die Sensibilität und Erregbarkeit nicht mehr bloß bei Gelehrten und Frauen der gebildeten Stände - die letzteren brauchen für das Gefühlsleben sehr viel Nervenkraft -, sondern schon in viel weiteren Kreisen. Schlimm, wo durch bloße Erregungsmittel den Nerven nachgeholfen wird, durch Kaffee, Tee, Spirituosen, kalte Abwaschungen. Am besten sind Ruhe, Aufenthalt in frischer Luft, leichte Gesellschaftsspiele. HELMHOLTZ lobt die englischen Spiele auf den dortigen Universitäten und setzt hinzu:
    "Man darf nicht vergessen, daß junge Männer, je mehr man sie von frischer Luft und der Gelegenheit zu kräftiger Bewegung absperrt, umso geneigter werden, eine scheinbare Erfrischung im Mißbrauch des Tabaks und der berauschenden Getränke zu suchen."
Die erste Anlage an einer Universität müßten daher Plätze für körperliche Bewegungsspiele in freier Luft sein, und man wird sich in künftigen Jahrhunderten nicht wenig wundern, wie anders es noch bei uns zugegangen ist. - Bei mangelhafter Ernährung bleibt auch die Willensenergie gering: es ist durchaus verständlich, was von Wien und London aus berichtet wird, daß, seitdem armen Kindern in der Schule Frühstück und Mittagessen gegen geringes Entgelt verabreicht werden konnte, Lernkraft und gutes Betragen bedeutend zunahmen. Selbst von Erwachsenen gilt das Gleiche; bei andauernden Strapazen und unzureichender Verpflegung verlieren kriegsgeübte Armeen Elan und Disziplin (werden demoralisiert).

Mit unserer Auffassung der Entstehung der willkürlichen Betätigungen könnte nicht zu stimmen scheinen, was man bei Kindern den Nachahmungstrieb, bei Erwachsenen die Macht des Beispiels nennt. Denn hier ist das Antezedens [Vorhergehende - wp] die Vorstellung eines wahrgenommenen Tuns und damit verbunden Wertschätzung (wozu auch Staunen, Verwunderung gehören), das Konsequens ist dann sofort oder allgemach die bezeichnete Betätigung. Kinder lernen so durch Nachahmung eine bestimmte Sprache sprechen, auch etwa zwei nebeneinander, wenn dieselben in ihrer Umgebung gesprochen werden, In ihren Spielen agieren sie alles, was sie durch die Sinne aufgefaßt haben; hat der Schieferdecker auf dem Dach gearbeitet, so "spielen sie Schieferdecker eine ganze Woche lang" (O. LUDWIG). Im späteren Knabenalter werden die Schlachten zwischen Griechen und Persern, zwischen Römern und Puniern, die der Freiheitskriege in den Spielen agiert. Aus dem reiferen Leben gehört hierher z. B. die Macht der Mode, die Gewalt der Gesellschaft über den einzelnen, der in ihr lebt (point d'honneur). In der Jugend am stärksten, ist der Nachahmungstrieb im Mannesalter auch da: ein Volk will eine Verfassung, weil das andere sich eine gegeben hat; bricht in einem Land eine Revolution aus, so wirkt das leicht ansteckend auf die angrenzenden Länder. TARDE (Les lois de l'imitation) will die ganze Geschichte auf Erfindung und Nachahmung zurückführen. Nach BALDWIN ist  Wille  eine beharrende Nachahmungssuggestion;  Trieb  Rest einer nachahmenden Reaktion, welche ihr Vorbild verloren hat; Nachahmung eine ganz regelmäßige sensomotorische Reaktion. - Alles Lernen von außen beruth in letzter Instanz auf Nachahmung eines zufällig oder absichtlich Vorgemachten.

Bei näherem Zusehen entdeckt sich jedoch leicht, daß Nachahmung oder Nachbildung nur eintritt, wo im Menschen die zu gleichen Effekten erforderten Vorstellungs- oder Bewegungsdispositionen bereits da waren, entweder ganz von Natur oder aufgrund der bereits geschehenen Entwicklung der Natur. Vieles können wir daher nicht nachahmen, vieles sehr ungenau, sowohl qualitativ wie quantitativ. Die nationale Betonung und Aktzentuierung einer fremden Sprache erreichen wir selten. Die Engländer sprechen mehr mit dem Vordermund, die südlichen Völker mit dem ganzen runden Mund; manche finden sich rasch zurecht, bei anderen will es nie recht gehen. Menschen von sehr verschiedener Art verstehen sich nicht, wie man sich ausdrückt, d. h. vermögen einander nicht ihre Art mit den Wertgefühlen derselben nachzuempfinden. Von den Chinesen, die in Europa reisen, erzählt man, daß meist alles, was sie dort antreffen, an ihnen wirkungslos abgleitet; die eingelebte Art macht sie unempfindlich für anderes. Erfahrungen anderer nützen uns im allgemeinen sehr wenig, weil wie dieselben, wenn wir nicht bereits ähnliches erlebt haben, nicht ganz nachzubilden vermögen; daher findet die ältere Generation mit ihren Ansichten und Mahnungen oft so wenig Boden bei der jüngeren; ein Student hat leicht mehr Einfluß auf Primaner als ihre noch so verehrten Lehrer. Die Nachahmung reicht daher nur soweit, als verwandte unwillkürliche Betätigungen der Anlage nach stark da sind. Diese werden durch das Beispiel bloß geweckt.

Da im Durchschnitt alle Elemente menschlicher Natur in jedem vorhanden sind, können wir menschliches Denken, Fühlen, Streben überhaupt auffassen und verstehen. Da aber diese Elemente in sehr verschiedenem Grad der Qualität und Stärke in uns sind, so werden wir so ungleich durch Vorbilder zu entsprechender Betätigung geweckt. Die meisten Menschen haben so viel natürliche Anlage, daß sie Poesie verstehen und sich daran erfreuen können; andere haben so viel, daß sie auch Gedichte machen, aber es sind Kopien; andere, geweckt durch große Muster, zeigen ein bedeutendes Talent; einige sind Genies, die auch ohne alle Weckung Musterdichter geworden wären. In den übrigen Künsten ist es ebenso; mit Wissenschaften und ihren verschiedenen Arten, mit den anderen Berufsarten gleichfalls. GOETHE besaß ein sehr scharfes Auffassungs- und Eindrucksvermögen. Ihm schrieb er es zu, daß er seine Gestalten so lebendig und scharf individualisiert hervorbringen konnte. Diese Deutlichkeit und Präzision der Auffassung hatte ihn seiner eigenen Angabe nach lange Jahr hindurch zu dem Wahn verführt, er hätte Beruf und Talent zum Zeichnen und Malen. Die Übertragung des geistig Geschauten auf Papier und Leinwand durch die Hand gelang ihm aber nie in irgendeinem bedeutendem Grad. Ebenso wahr ihm alle Anlage zur Mathematik fremd. Die Aussonderung bloß der Größe und Zahl aus den konkreten Gestaltungen und ihr Festhalten und vergleichende Betrachtung für sich brachte er nie fertig, weshalb er sich nie in NEWTONs Physik einzufinden vermochte.

Die Grundlagen unserer willkürlichen Betätigungen sind sonach teils völlig spontan, teils rezeptiv-spontan. Daher suchen wir instinktiv nicht bloß eine Verstärkung unserer Art durch den Anschluß an Gleiche, sondern auch eine Ergänzung derselben durch den Anschluß an solche, welche das, was als spontane Betätigung in uns nur schwach, aber wertvoll ist, in starken Zügen an sich tragen; so z. B. in Umgang, Liebe, Lektüre, Kunst. Manche gehen besonders mit Berufsgenossen um, denn sie sind anregend für ihre Hauptbeschäftigung, andere suchen gerade Umgang, der sie von der Hauptrichtung ihrer Tätigkeit mehr abzieht usw. Weit entfernt also, daß der Nachahmungstrieb und die Macht des Beispiels unserer Auffassung der Entstehung willkürlicher Betätigungen entgegen sind, geben sie vielmehr, recht gedeutet, eine Betätigung derselben und lehren uns den Menschen zugleich von nun an immer so auffassen, wie er wirklich gegeben ist, d. h. nicht allein und bloß auf Wechselwirkung mit der Natur angewiesen, sondern immer unter Menschen und in Wechselwirkung mit ihnen, teils so, daß er für sie anregend wird, teils so, daß sie es für ihn sind.

Wie jede unwillkürliche Betätigung des Menschen, so ist auch jede daraus entspringende willkürliche zunächst ein ganz konkreter Akt, bei dem das und das voraufging, das und das folgte, die Umgebung die und die war, die Stimmung so oder so usw. Der Wille entwickelt sich ursprünglich in lauter Einzelakten mit ganz besonderen  circumstantiis  [Umständen - wp], durchaus nicht als Art oder Gattung. Ein Kind kann damit, daß ihm das Gehen geglückt ist, nicht überhaupt gehen, sondern an seinem Stuhl gehen, oder von der Ecke seines Zimmers in die andere gehen, oder aus Mutters Arm in die Arme seiner Schwester laufen und dgl. Ein Kind kann damit, daß es vor der Mutter etwas aufsagt, noch nicht überhaupt aufsagen; es stockt damit vielleicht schon vor dem Vater; die andere Umgebung stört es. Da die äußeren und inneren Umstände zwar öfter dieselben sind, öfter aber auch wechseln, so ist es nicht auffallend, wofür es gewöhnlich im höchsten Grad gilt, sondern es ist genau das zu Erwartende, daß der Mensch vielfach ungleich ist mit sich selber nach den verschiedenen Umgebungen, Relationen und Stimmungen. Derselbe Knabe kann zuhause ungezogen, in der Schule brav sein und umgekehrt, munter draußen, daheim still und umgekehrt. Einem Kind mußte das Kratzen durch Schläge auf die Hände abgewöhnt werden, erstens vom Vater ihm selbst gegenüber, dann von der Mutter ihr gegenüber, dann von der Schwester, dann von der Kinderfrau; da es dann keine Übung mehr hatte in dieser Betätigung, so erlosch sie bald ganz oder konnte, wo sie im Zorn wieder einmal hervorbrach, rasch gedämpft werden. Ebenso gehört hierher, daß Mädchen Knaben gegenüber allein meist verzagt sind, in Menge aber umso dreister. Die Moral der meisten Menschen und ihre Religion hängt ab von der ganzen Umgebung, mit der sie zusammengelebt haben, und den ganzen Verhältnissen, indenen sie sich gebildet hat; wo diese daher ganz aufhören, werden auch Moral und Religion schwankend. Beispiel ist die Pest von THUKYDIDES an durch das Mittelalter hindurch; sie lockerten den ganzen moralisch-religiösen Bestand, die meisten wurden gesinnt nach dem Spruch: "Laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot", während andere, bis dahin Leichtfertige, z. B. Lustdirnen, aufopfernd in allgemeiner Pflege wurden und ihr Leben nicht schonten. Berührung mit fremder Kultur und fremden Sitten hat ähnlich lockernde Erfolge; dies wurde sehr bemerkt vom Altertum in Bezug auf die Sitten in den Seestädten, wo verschiedene Nationen zusammentrafen; im Mittelalter gleichfalls, besonders bei Gelegenheit der Kreuzzüge. Die Ritter nahmen viel orientalische Sitten an, nicht bloß im schlechten Sinne, sondern es bildete sich auch ein Begriff gemeinsamer Ritter- und Waffenehre unabhängig von der Religion. Beim Wiedererwachen der Wissenschaften in den Zeiten des Humanismus machte man dieselbe Erfahrung; ERASMUS eifert gegen das neue Heidentum der Gelehrten, das besonders stark war in Italien. Unsere Missionäre klagen sehr, wie die europäischen Handelsleute in den fremden Ländern, z. B. China und Japan, heidnisch lebten, besonders in Bezug auf Geschlechtsverhältnisse. Es empfiehlt sich daher allerdings, in unsere Kolonien nur starke moralische Charaktere zu senden. Dies sind Beispiele aus der größeren Geschichte. Beispiele aus dem täglichen Leben sind: Burschen und Mädchen, die im Dorf fleißig und brav waren, werden oft in der weiteren Welt träge und leichtsinnig; nur die Rückführung in ähnliche Verhältnisse wie früher, etwa durch Heirat oder Anschluß an einen besonderen Kreis, macht sie wieder der alten Art teilhaftig. Eine Dame kann auf einem Ball vier Meilen in einer Nacht zurücklegen, welche sonst keine Stunde zusammenhängend zu gehen imstande ist. Kinder, die sich den ganzen Tag im Garten tummeln, sind oft, auch wenn sie nicht müde sind, sehr unlustig zum eigentlichen Spazierengehen: dort wechseln die Bewegungen jeden Augenblick, hier sind dieselben Muskeln in gleichförmiger Weise dauern in Funktion. Es gibt Menschen, die glänzend in der Unterhaltung sind, trocken im zusammenhängenden Denken, kühn in Projekten, zaghaft im Handeln usw.

Eine größere Gleichmäßigkeit in der Betätigung, auch in der willkürlichen, wird meist bloß erlangt durch Zucht, ursprünglich durch andere, später durch uns selbst. Wenn nämlich eine willkürliche Betätigung unter bestimmten Umständen durch Übung fest und leicht gemacht ist, so müssen die Umstände variiert werden, zuerst wenig, dann immer mehr. Dadurch werden die einzelnen Willensbetätigungen allmählich unabhängig von Ort, Zeit, Umgebung, Stimmung usw. So lernt das Kind zuerst arbeiten nach den Forderungen der Schule unter steter Aufsicht der Eltern, dann auf bloß allgemeine Überwachung durch dieselben, weiter auf bloße Erinnerung durch sie, ferner auf den bloßen Antrieb der Schule, schließlich aus selbständigem inneren Antrieb. Bei uns lernen viele nie selbständig arbeiten, weil Lernen mit ihnen bloß geübt wurde unter Anleitung oder mit direkten Aufgaben von der Schule aus; sobald diese Umstände aufhören, wissen sie nicht recht, was sie eigentlich machen sollen, sie nehmen allerlei in sich auf, aber sie lernen nicht, bis das Examen mit seinen bestimmten Forderungen, durch seine Ähnlichkeit mit dem Aufgabestellen der Schule, sie wieder zum eigentlichen Lernen zurückbringt. Es ist daher schlechterdings in den höheren Klassen Zeit zu lassen für eine frei gewählte Beschäftigung, über welche sich der Schüler von Zeit zu Zeit nur auszuweisen hat, damit er gelernt habe, sich mit Erfolg selbst zu beschäftigen.

Da eine solche Zucht Zeit, Muße und eine verständnisvolle Leitung braucht, so ist die größere Unabhängigkeit des Willens von äußeren und inneren besonderen Bedingungen meist der Vorzug einer ernsten planmäßigen Bildung. Der Ungebildete hat eine gewisse Steifigkeit und Festgefahrenheit: in einer gewissen Art und von gewissen Punkten aus kann er willkürlich seine Kräfte in Bewegung setzen, jede Abweichung von der gewohnten Art stört ihn. Wer daher will, daß Ungebildete gern unter ihm arbeiten, der muß sich in ihre Art, die Sache anzufangen und zu betreiben, hineinversetzen, dann kann er viel mit ihnen aufstellen, andernfalls wird er wenig ausrichten und noch dazu lauter Verdruß machen und haben. Oft gelingt es auch nicht, die Unabhängigkeit des Willens von besonderen Umständen überhaupt herzustellen. Viele Menschen bedürfen, um in einer gewissen Weise zu sein, einer gewissen Umgebung, der steten Anregung und des weckenden Beispiels. Die moderne Lehre, jeden auf sich selbst zu stellen, ist für nicht wenige heilsam, die der hohen art von Selbständigkeit fähig sind, für andere ganz verderblich, mindestens die Gelegenheit zum Anschluß müssen die letzteren haben, wenn sie gedeihen sollen. Daher sind freie und doch feste Vereinigungen von Berufsgenossen z. B. durchaus wünschenswert. Aber auch in demselben Individuum ist jene Unabhängigkeit des Willens nicht überall gleich erreichbar: manchen Betätigung hängt ihrer Natur nach von Stimmungen ab, d. h. körperlichen und geistigen Dispositionen, deren Elemente sehr kompliziert und meist noch dunkel sind. Es kann einer ein wirklicher Dichter sein und kommandiert doch nicht die Poesie jeden Augenblick. JUSTINUS KERNER konnte nur in trüber Stimmung dichten.

Es ist nicht selten, daß gewisse Betätigungen sich weder spontan, noch auf Vorbild merklich regen, daß also auch in Bezug auf sie ein direkter effektiver Wille fehlt. In solchen Fällen kann ein indirekter Wille supplierend eintreten. Manchen Menschen gelingt es, namentlich in der Jugend, nicht, nach Willkür ernst dreinzuschauen, dagegen gelingt es ihnen, sich willkürlich an ein ernstes Erlebnis zu erinnern, infolgedessen sich bei ihnen sofort die damit verbunden gewesene ernste Haltung einstellt. GOETHE und seine Schwester fanden als Kinder nicht den effektiven Willen, im Dunkeln einzuschlafen. Der Vater suchte ihre Schreckhaftigkeit zu überwinden, indem er sie selbst erschreckte und dann den Schrecken aufklärte. Diese Verstandesaufklärung brachte das Schreckgefühl nicht weg. Die Mutter versprach ihnen nun, wenn sie ruhig einschlafen, täglich von den gerade reifen Pfirsichen zu geben. Im Dunkeln kam jetzt jedesmal die Vorstellung und Wertgefühl der Pfirsiche, die man durch ruhiges Einschlafen erhalten kann. Diese angenehmen Gefühle und Vorstellungen wirkten den schreckhaften entgegen, so starben diese allmählich weg und das ruhige Einschlafen blieb als Gewohnheit übrig. Indirekter Wille sind alle Betätigungen, welche nur auf dem Umweg durch den Anschluß an eine Vorstellung und Wertschätzung mit bereits gelingender Betätigung zustande gebracht werden. Alle Einwirkung auf Menschen durch Lohn und Strafe, Verheißung und Drohung, Schmeichelei und Schrecken gehören hierher. Sie setzen voraus, daß eine Betätigung, geistige oder zugleich auch leibliche, in uns eintritt, sobald die Vorstellung oder die Aussicht auf gewisse Güter und Übel stark in uns erregt wird. Es erklärt sich dies dadurch, daß freudige Gefühle eine anregende, Unlustgefühle eine hemmende Wirkung auf unsere Kräfte ausüben. Freude regt überhaupt an, das Blut strömt lebhafter durch den Körper, die Gefäße erweitern sich; infolgedessen werden auch die Nerven und Muskeln angeregt, die bei der schwerfallenden Betätigung besonders beteiligt sind, die Sache geht leichter. Daher die Wirkung des versprochenen Douceur [Süßigkeit - wp], der Aussich auf das der Ernte folgende Fest. So wirkten früher in den Kriegen die Feldherrn duch das Versprechen der Plünderung einer Stadt, so jetzt durch die Aussicht auf Beförderung, auf Ehrenzeichen.

Die indirekte Wirkung der Strafe oder Drohung auf den Willen ist womöglich noch größer als die der Belohnung. Wie wir ein empfundenes Übel fliehen (ein gebranntes Kind scheut das Feuer), so hat auch das sicher erwartete Übel eine hemmende Wirkung. Wie stark auf viele Menschen die Gesetze mit ihren Strafandrohungen wirken, das haben alle Zeiten gezeigt, wo die Gesetze schwach gehandhabt wurden, oder, wie in Revolutionen, zeitweilig gar nicht; die Übertretungen haben sich dann sehr gemehrt, und die schlimmsten Leidenschaften traten plötzlich wieder hervor. Eine wie große Rolle auch nur eine gefürchtete Mißbilligung spielt, das geben genugsam zu erkennen die Erwägungen der Kinder über das, was Vater und Mutter sagen würden, die zarte Scheu, welche oft der Gedanke an die oder den Geliebten in Jüngling und Jungfrau behütend erregt, aber auch die verbreitete Rücksichtnahme auf den guten Ruf usw.

So benutzte NAPOLEON die Abspannung der Geister infolge der Stürme der Revolution, um von der Freiheit und Gleichheit, welche ihm mehr eine vorübergehende Meinung gewesen zu sein schienen, an das seiner Ansicht nach eigentliche Grundgefühl der Franzosen,  l'honneur,  d. h. Auszeichnung vor anderen, Fremden und Einheimischen, zu appellieren, und gab diesem mit Erfolg Nahrung durch Kriegsruhm und Neubildung von Klassen der Gesellschaft, nur daß jetzt allen diese Ehren zugänglich waren. JUSTUS MÖSER hat in den "Patriotischen Phantasien" gelehrt, wie bei Landleuten Verbesserungen nicht anders eingeführt werden können als so, daß man selbst die Sache macht, sie dieselbe sehen läßt und dadurch den Nachahmungstrieb in einigen weckt; wenn dann die anderen wahrnehmen, daß die, welche es neu machen, sich dabei besser stehen, so wirkt das dahin, daß sie es auch so machen; denn der Bauer wird hauptsächlich vom materiellen Vorteil bestimmt.

Die Güter oder Üble, an welche beim indirekten Willen appelliert wird, brauchen nicht immer sinnlicher Art zu sein; daß sie es so vielfach sind, kommt davon, daß unser leibliches Leben in seinen Steigerungen und Minderungen uns so lebhaft zu Bewußtsein kommt. Aber auch an unser Interesse für Wissenschaft, Kunst, Staat, Moral, Religion kann in derselben Weise appelliert werden. Es kommt hierbei auf die objektive Wahrheit nicht an,  dans la sphére toute subjective des sentiments, illusion et réalité se valent  [im Bereich der subjektiven Empfindungen sind Jllusion und Realität gleich verteilt - wp]. (RIBOT). Was man gewöhnlich die Macht des Willens nennt, ist fast alles von so einem indirektem Willen zu verstehen. Die Befolgung des Rechts, der Moral, der Religion soll alles durch einen Hinweis auf diesseitig oder jenseitige Wohlfahrt bewirkt werden. Viele Moralisten haben hiergegen geeifert, auch in der Religion hat man den  amor dei filialis  [kindliche Gottesliebe - wp] weit über den  amor dei servilis  [unterwürfige Gottesliebe - wp] gestellt, dieser ist die Furcht vor der Hölle, jener die Verehrung Gottes um seiner selbst willen. Der indirekte Wille hat auch nur eine begrenzte Macht; bei ihm ist stets vorausgesetzt, daß die Betätigung, welche er anregen soll, irgendwie als Anlage vorhanden ist. Durch keinen noch so großen Anreiz kann man jemand Eigenschaften geben, die er nicht irgendwie schlummernd und entwickelbar in sich hat. Gewöhnlich muß sich beim indirekten Willen mit dem Anreiz zugleich Beispiel, Vorbild verbinden, an welche es nicht zu schwer ist sich anzuschließen. Überhaupt ist aber der indirekte Wille nur durch den Anschluß an einen andern da; sobald daher dieser andere Wille oder der Anschluß an ihn gelockert ist, ist nicht mehr mit ihm zu rechnen. Darum muß man immer versuchen, bei sich oder anderen, was anfangs etwa indirekter Wille war, in einen direkten zu verwandeln. So tun wir vieles ursprünglich bloß, um anderen gefällig oder nicht mißfällig zu sein; durch häufiges Tun kann aber das Wertgefühl der Sache selbst so in uns geweckt werden, daß ein direkter Wille daraus entsteht. Namentlich bei Kindern ist hierauf zu achten, daß sie nicht bloß lernen um der Schule willen, nicht bloß ordentlich sind den Eltern zuliebe, sondern daß allmählich Freude am Lernen selbst entspringt und der Wert des rechten Handelns in sich gefühlt wird; aber ganz ist der indirekte Wille auch im späteren Leben nicht zu entbehren. Handelt es sich z. B. um die Ablegung kleiner, aber eingewurzelter Gewohnheiten, so ist die Auferlegung einer geringen Geldbuße, so oft man wieder dabei ertappt wird oder sich selbst ertappt, oft von überraschender Wirkung, was natürlich unsere bürgerliche Gewöhnung voraussetzt, mit Geld sehr sparsam umzugehen.

Teils zur indirekten Herbeiführung eines Willens, teils zur Verstärkung eines direkten Willens dient die vorsätzliche Aufmerksamkeit. Von dieser hat man freilich in der gewöhnlichen Praxis eine sehr übertriebene Vorstellung, als ob sie die Zauberkraft sein könnte, welche einen nicht vorhandenen Willen schafft oder einem schwachen Kraft verleiht. "Wenn du nur ernsthaft wolltest", "wenn du nur Acht auf die Sache oder dich selbst gäbest", heißt es in diesem Sinne oft. Allein die Aufmerksamkeit kann weder schwache Sinne stark machen - jeder Kurzsichtige weiß das nur zu wohl -, noch die geringe Begabung in ein großes Talent verwandeln. Wenn den englischen Studenten so oft die Antwort vorgeführt wird, die NEWTON auf die Frage gab, wie er zu seinen großen Entdeckungen gekommen ist, "dadurch, daß ich immer an die Sachen gedacht habe", so ist damit nur die unerläßliche Vorbedingung gekennzeichnet, und die Hauptsache fortgelassen, daß es nämlich NEWTONs früh hervorgetretene mathematisch-mechanische Begabung war, welche daran dachte. Wenn die bloße Aufmerksamkeit auf die Probleme die Lösungen brächte, so wären wir in allem weiter; an dieser hat es auch in den Zeiten irrtümlicher Lösungen nie gefehlt. Die vorsätzliche Aufmerksamkeit erfordert außerdem, daß Aufmerksamkeit als unwillkürliche Betätigung (ursprüngliches Interesse, spontane Beschäftigung mit etwas) oder als durch Vorbild geweckte Betätigung (Sinn, Empfänglichkeit für etwas) schon mannigfach geübt und analog erweitert ist, so daß die Aufmerksamkeit im bloß formalen Sinn als Richtung der beweglichen Kräfte des Geistes auf etwas mit momentanem Ausschluß von anderem entwickelt ist und sich auf Vorsatz merklich regt. Die vorsätzliche Aufmerksamkeit hat dann eine in Bezug auf das, dem sie sich zuwendet, anregende Wirkung, aber
    1) sind die beweglichen Kräfte des Geistes, d. h. die Nervenkraft, welche dabei zur Verwendung kommt, selbst bei verschiedenen Menschen sehr verschieden, es sind nicht alle Menschen gleich intensiv und gleich andauernd der Aufmerksamkeit fähig, gerade wie die Ermüdbarkeit überhaupt individuell verschieden ist; und

    2) setzt die Aufmerksamkeit, wenn sie helfen soll, stets voraus, daß eine gewisse Anlage für das, dem sie sich zuwendet, da ist, und wenn diese Anlage gering ist, so kann man wohl durch Aufmerksamkeit eine schrittweise Entwicklung desselben, nicht aber plötzlich eine große Entfaltung erwarten. Alles Schwäche und alle Mängel der Menschheit mit manchen Moralisten von ihrer Unfähigkeit zur Aufmerksamkeit abzuleiten, erhebt eine Anklage, zu der kein Grund ist. Der Mensch vermag nichts als vorhandene Aufgelegtheiten zu benutzen; allerdings muß man auch solche Aufgelegtheiten zu wecken und intensiv und extensiv auszubilden suchen, und das ist es, woran es oft fehlt, aber man kann das immer nur in Anknüpfung an die vorhandenen Keime und mit den uns zu Gebote stehenden Mitteln. Dagegn vermag Aufmerksamkeit stets dazu mitzuwirken, daß eine irgendwie vorhandene Anlage allmählich mehr entwickelt wird, und ist stets notwendig, um etwaiger Geneigtheit zur Abschweifung, zur Zerstreutheit, zur Unachtsamkeit nach den verschiedenen Seiten unseres Lebens entgegenzuwirken.
Aufgrund der Willenstheorie und der damit stimmenden Auffassung der Nachahmung wird die große Bedeutung verständlich, welche Gelingen und Mißlingen für die Willensbildung haben. Ursprünglich gelingt uns willkürlich zunächst bloß, was sich zuerst unwillkürlich einstellte von Vorstellungen, Fühlen, Bewegungen und Kombinationen davon entweder ganz spontan einstellte oder durch Vorbild angeregt. Bei dem Versuch, spontanes Tun wieder zu erzeugen, kommt es nun bei der Anregung durch ein Vorbild häufig vor, daß ein gewisses Bestreben zur Hervorbringung des Gleichen eintritt, aber nicht sofort zum Ziel führt. Fehlt zum Gelingen nur wenig, so führt das überwiegende Gelingen zu immer neuen Versuchen, bis es ganz erreicht ist; fehlt aber viel, so ist Gefahr, daß wir zu früh Mißtrauen in unsere Kräfte setzen, und durch dieses Mißtrauen und seine Reflexionen selbst wieder den Trieb der Betätigung hemmen. Das lehrreichste Beispiel ist das Gehenlernen der Kinder: haben sie Glück bei ihren ersten mehr instinktiven Versuchen, so sind sie bald sicher darin; fallen sie dabei, so rutschen sie wieder wochenlang und versuchen erst von neuem das Gehen, wenn sie ihr Mißlingen vergessen haben. Nichts macht ein Kind so glücklich, als enn ihm etwas, gewöhnlich ihm selbst überraschend, gelungen ist; sie verfehlen nicht, es strahlend mit dem Wort zu melden: "ich kann etwas". Ihr Mißtrauen ist oft im Bewußtsein größer als in der Tat; sie sind wohl imstande "Onkel Ludwig" zu sagen, wenn sie aufgefordert werden oder "ich kann nicht Onkel Ludwig sagen" zu erwidern. Im heranwachsenden Leben ist es nicht anders. Es kommt in vielen Lebensbeschreibungen bedeutender Männer vor, daß sie zwar Talent in sich verspürten, aber der erste Wurf gelang nicht nach Wunsch, und so hatten sie lange mit dem Mißtrauen als dem ärgsten Feind ihrer Gaben zu kämpfen, bis dies auf einmal, vielleicht ganz zufällig, überwunden war, und sie nun siegesgewiß ihre reiche Natur entfalteten. Auf allen Gebieten des Lebens erzeugen so die Versuche, welche nicht gelingen wollen, meist sehr schnell jenen Unmut, den HERBART die Schwindsucht des Charakters genannt hat. Besserungsversuche, welche die Menschen mit sich selbst anstellen, geben sie oft genug auf, weil die Besserung nicht schnell genug eintritt; sie schließen: könnten sie gelingen, so würden sie schon gelungen sein, also ist mir so und so zu sein nicht beschieden, und dann lassen sie sich gehen.

Aus dem Gesagten erhellt sich die Wichtigkeit, die es hat, das Gelingen mit der Jugend zu üben und das anfängliche Mißlingen überwinden zu lehren. Zu diesem Zweck muß man stets anknüpfen an bereits gelingende Vorstellungsreihen, Gefühle, Bewegungen und diese durch Übung stärken, dann an das so erlangte sichere Können neue Glieder anfügen, welche sich leicht an jene anschließen, und diese wieder üben usw. Wer es so macht, dem folgen die Zöglinge mit Begeisterung. Denn nichts entzückt die junge Seele so sehr, als die Luft an immer weiter und weiter sich ausbreitendem Gelingen. Das anfängliche Mißlingen hängt vielfach davon ab, daß das Eintreten des Gelingens eine große Reihe von Zwischengliedern voraussetzt, welche alle erst gelungen sein müssen, ehe sich das intendierte Gelingen einstellt. Daher die Wichtigkeit der Vorübungen nicht bloß zu intellektuellen Auffassungen, sondern auch etwa zur Abhärtung, zum Ertragen von Strapazen, zu Beweisen hohen Mutes u. a. Vielseitige Übung des Gelingens ist das beste, was die Erziehung zu geben imstande ist. Zweierlei ist die Hauptsache:
    1) eine vielseitige Ausbildung des Tuns, d. h. der verschiedenen Arten von Bewegungen, denn ohne diese selbst bleibt es bald beim Wünschen und ergibt keinen effektiven Willen;

    2) eine vielseitige Ausbildung des Vorstellens, denn ohne diese bleibt der Geist dürftig und ungelenk.
Auf diese Weise kann dem Mißlingen vorgebeugt, dem Gelingen Leichtigkeit vorausbereitet werden. Da jedoch ein Mißlingen oder ein geringes Gelingen auch wegen mangelhafter Anlage bleibend sein kann, so ist besondere Achtsamkeit auf diesen Punkt zu richten. Nicht maßgebend z. B. für die Aussicht auf Erfolg ist die innere eigene Freude an einer Beschäftigung; denn diese Freude kann darin bestehen, daß alle übrigen Bedingungen eines erfolgreichen Betriebes fehlen. Es kann niemand viel Freude am Dichten, am Komponieren haben, aber was er hervorbringt, braucht darum noch nicht geeignet zu sein, in Anderen Freude hervorzurufen. Es ist nicht bloß in der Kunst so, auch sonst findet sich oft genug, daß jemand meint, seine Leistung sei gut, weil er an ihr mit Eifer und Anstrengung tätig war, während andere, denen bloß das Resultat seines Tuns vorliegt, wenig daran finden. Zum Beruf auch des Staatsmannes, des Feldherrn, des Mannes der Wissenschaft, gehört nicht bloß ein Inneres, sondern gar sehr auch ein Äußeres, eine äußere Technik und objektiv hervortretende Leistungen. Die alten Chirurgen unterschieden ihre Schüler in solche, die mit beiden Händen geschickt, die nur mit einer Hand geschickt, und die mit beiden Händen ungeschickt sind. Freilich, um etwas Ausgezeichnetes zu leisten, muß zur Virtuosität im Äußeren eine innere Genialität oder Talent treten: aber wo die äußere Seite nicht in solchen Anfängen da ist, daß von ihnen ein bedeutender Fortschritt erreicht werden kann, ist von der Berufswahl eher abzuraten.


Die Hauptgesetze der Charakterbildung

Der Höhepunkt der Willensbildung ist, daß der Mensch einen Charakter hat. Der Begriff des Charakters ist ein Zusammenwirken aller Hauptseiten menschlichen Wesens zu einer einheitlichen und dabei fest und grundsätzlich gewordenen Gesamtart. Bei der Kompliziertheit menschlichen Wesens, und da jede Seite an ihm wieder in besonderer Relation sehr verschieden entwickelt sein kann, ist Charakter zu haben gar nichts Selbstverständliches. Im Altertum und Mittelalter war es leichter, Charakter zu haben; im Altertum war alle Bildung politisch, unter überwiegendem Einfluß der Staats(Stadt-)gemeinde stehend, im Mittelalter war sie Standesbildung (Ritter, Geistlicher, Bürger, Bauer). Der einzelne hatte also die Bürgerart oder Sitte, die Standesart oder Sitte (mores, ethe) fest in sich aufzunehmen und sich danach bleibend zu betätigen, das war der Abschluß auch seiner Willensbildung. Seitdem mit der Renaissance die Individualität (eine besonders germanische Neigung) größeren Spielraum erhielt, ist einen Charakter zu haben oder ein Charakter zu sein viel schwerer geworden; denn es ist nicht mehr eine von anderen im Voraus für uns mitbesorgte Aufgabe, sondern ist von jedem von neuem für sich zu lösen. Die hohe Bedeutung des Charakters erklärt sich daraus, daß er dem Menschen etwas in sich selbst Einstimmiges und relativ Fertiges gibt, was 1. überhaupt allein einer bedeutenden Wirkung fähig ist, 2. anderen die Gewähr der Zuverlässigkeit und Stetigkeit im Zusammenwirken bietet. Kindheit und Jugend haben keinen Charakter, da sie die Zeit der Entwicklung sind, wo die mannigfaltigen Seiten der Natur hervortreten und sich ausbilden, das gerade Hervortretende also immer etwas dominiert, und nur allmählich ein Einordnen und Zusammenwirken der verschiedenen Seiten angebahnt werden kann. Kindheit und Jugend sind aber darum, daß sie keinen Charakter haben, noch nicht charakterlos; sie können sehr wohl in der Tendenz zu einem solchen begriffen sein, anfänglich mehr geleitet dabei, nach und nach mehr mitwirkend dazu.

Für die Bildung des Charakters sind außer den bisherigen Regeln über die Willensbildung noch, sofern es sich dabei um ein Ganzes handelt, besonders wichtig:
    1. Manchen Menschen sind als Kinder oder im Knaben- und Mädchenalter schon geneigt, sich in einer festen Gesamtart abzuschließen; sie machen alles in derselben Weise, gewöhnlich etwas altklug oder pedantisch, d. h. auf eine Art peinlich Ordnung haltend, welche gar nicht die einzige Art zu sein braucht. Sofern dies leicht zu einer gewissen Dürftigkeit des Wesens führt, ist dem unter Schonung der besonderen Neigungen doch durch mannigfache Anregung von außen entgegenzuwirken.

    2. Andere sind geneigt, sich in die jedesmaligen äußeren Verhältnisse ganz zu verlieren, immer andere und andere zu sein. Sie nehmen die Manieren, Ausdrucksweisen, Aussprache anderer ganz unwillkürlich an, so daß man sie oft gar nicht wiedererkennt, wenn man sie 14 Tage lang nicht gesehen hat, und sie unterdessen neue Bekanntschaften gemacht haben, oder von einem kurzen Besuch auswärts zurückkommen. Dem ist entgegenzuwirken durch eine öftere Wiederzurückführung in dieselben Verhältnisse und der Belebung einer mehr identischen Art zu sein. Wir müssen namentlich ihnen gegenüber immer dieselben bleiben, gelegentlich auch die Bemerkung machen: "wer wird denn alles immer gleich nachahmen?" usw.

    3. Phantasievollen Naturen fällt infolge ihrer starken und erregbaren Einbildungskraft immer etwas anderes ein; daher ist ihnen leicht eine Unentschiedenheit eigen, wo es um die Fassung bestimmter Entschlüsse geht. Solche Naturen sind früh in Lagen zu versetzen, welche rasche Entschließungen unausweichlich machen. Eine solche Natur war HALIFAX, der Staatsmann unter JACOB II. und WILHELM von ORANIEN; er brachte mit seiner "akademischen" Manier, eine Sache immer wieder von neuen Gesichtspunkten zu betrachten, WILHELM III., der früh an rasche Entschließungen durch die holländischen und holländisch-französischen Verhältnisse sich hatte gewöhnen müssen, im Staaatsrat zur Verzweiflung  (Macaulay) . Der Herzog von Braunschweig (1792) gehörte zu den Naturen, denen bei großen Geistesgaben und sittlich reiner Gesinnung die Stärke des Willens und der Mut der Seele abgeht, welcher zu jedem männlichen Wirken erforderlich ist. Er kannte das selbst und sagte:  Cela est plus fort que moi.  [Es ist stärker als ich. - wp]  (Sybel).  Zu diesen Naturen gehörte auch  Goethe,  und er selbst hat erklärt, daß ihm die Gelegenheit, früh sich zu entschließen, gefehlt hat. Bei solchen Knaben tut es schon oft gute Wirkung, wenn sie gelegentlich auf mehrtätige Fußtouren geschickt werden ohne voraus festgesetzte Marschroute; sie lernen dann schon bald, sich irgendwo zu einem Mittagessen oder Nachtquartier zu entschließen.

    4. Gefühlsmenschen sind solche Naturen, welche überwiegend durch das affektive Moment in allen Verhältnissen, d. h. durch die Wertgefühle derselben in Erregung versetzt werden, so zwar, daß ein klares allseitiges gegenständliches Vorstellen und ein den bestimmten Verhältnissen angepaßtes Tun davor zurücktritt. Der Zug ist in der Jugend sehr häufig, als Sturm- und Drangperiode in unserer Literatur vertreten. Ihm muß gleichfalls von früh an entgegengewirkt werden durch eine Belebung des klaren gegenständlichen Vorstellens und eine Gewöhnung an ein den Verhältnissen sich anpassendes Tun. Sehr nützlich ist es, von solchen öfter Bericht an Dritte erstatten zu lassen über gemeinsame Erlebnisse, wo man sie in ihren unwillkürlichen Streichungen und ihren instinktiven Färbungen kontrollieren kann.

    5. Zur Festigkeit des Charakters gehört die Unabhängigkeit der Gesamtart des Menschen von Umgebung, besonderen Relationen, Stimmungen usw. Dieselbe ist allmählich zu erlangen nach den oben angeführten Regeln. Der Übergang in neue Verhältnisse ist ja im späteren Leben selbst immer eine Klippe für den Charakter, an der nicht wenige scheitern.

    6. Zur Grundsätzlichkeit des Charakters gehört auch, daß er gegen Verlockungen zur Abweichung gesichert ist, daß er sich im Kampf mit solchen innerlich und äußerlich bewährt hat. Die instinktive Gesamtart muß eine von Reflexion, von Grundsätzen getragene worden sein oder, wie  Herbart  es ausgedrückt hat, Charakter ist Wollen aufgrund des Nichtwollens. Daher muß man die eigene Art unterscheiden von anderen Arten und ihren Wert gegenüber anderen Arten erfaßt haben. Aber stets muß erst die Gesamtart des Menschen in einem tüchtigen und doch nicht engen Familienleben Kraft in sich erlangt haben, ehe auf einen Widerstand gegen Verlockungen zur Abweichung gerechnet werden kann. Sehr wertvoll ist es, ehe man in die wirkliche Menschenwelt mit ihrer Mischung von Gut, Böse und Schwachheit eintritt, all das in einem klaren Bild kennen gelernt und sich in seiner Beurteilung geübt zu haben. Dies ist die Bedeutung einer klassischen, d. h. die Grundzüge menschlichen Wesens klar und doch edel darstellenden Literatur.

    7 . Die erworbene Grundsätzlichkeit des Charakters ist aber auch im späteren Leben keine absolute und bedarf in einzelnen Fällen noch der Behütung, etwa daß jemand Hasardspielen, Trinkgelagen aus dem Weg geht. Manche haben die klare Überzeugung von der Verderblichkeit der Glücksspiele, aber sie haben daneben eine Empfänglichkeit für den Reiz momentanen Wagens und möglichen Gelingens oder der abwechselnden Erregungen von Furcht und Hoffnung; sofern durch Zusehen diese Empfänglichkeit so könnte geweckt werden, daß jene Überzeugung von der Verderblichkeit dadurch zurückgedrängt würde, ist ihnen zu raten, sich vom Zusehen fern zu halten. Überhaupt aber können viele Menschen sich wohl einer Sache ganz enthalten, aber, sobald sie sich ihr einmal hingegeben haben, nicht darin maßhalten.

    8. Es ist eine alte Streitfrage, ob Eigensinn bei Kindern künftigen Charakter anzeigt und deshalb zu dulden ist. Zunächst deutet Eigensinn nichts weiter an, als eine gewisse Festigkeit des momentanen Vorstellens, Fühlens, Wollens. Dies kann sich bald wieder geben und so trotz seiner Stärke nicht dauernd sein und nicht in Bezug auf denselben Gegenstand wiederkehren. Eigensinn ist in diesem Fall nicht Stärke, sondern Schwäche, Unfähigkeit von einem Vorstellen, Fühlen, Wollen los zu kommen. Durch die Anregung eines mehr mannigfaltigen und wechselnden Vorstellens, Fühlens, Tuns ist hier entgegenzuwirken. Eigensinn kann aber auch das sein, was  Herbart  Gedächtnis des Willens genannt hat, wo also unter gleichen Umständen derselbe Wille wiederkehrt. Die ist zu schonen und zu begünstigen, jedoch darauf zu achten, daß keine Pedanterie entsteht, eisernes Festhalten an einem zufällig einmal so oder so Stattgefundenen, während anderes ebensogut oder noch besser wäre.
Das Formale des Charakters ist mitbedingt durch das Temperament; daher bei gleichem inhaltlichen Charakter (gleichen Zielen und Bestrebungen) doch verschiedene Menschen sich oft noch sehr verschieden darstellen. Das Temperament hat eine phsiologische Basis an der dem Organismus eigenen Konstitution, d. h. Reizempfänglichkeit oder Eindrucksfähigkeit, welche sowohl im Grad als in der Nachhaltigkeit bei verschiedenen Menschen sehr verschieden ist. Geringe Reizempfänglichkeit, aber mit Nachhaltigkeit des einmal gemachten Eindrucks ist das phlegmatische Temperament; viel Reizempfänglichkeit, aber ohne Nachhaltigkeit ist das sanguinische; viel Reizempfänglichkeit mit Nachhaltigkeit überwiegend nach der Seite äußerer Tätigkeit ist das cholerische, überwiegend nach der Seite des Gefühls das melancholische oder sentimentale Temperament. In Analogie mit der Spaltung bei den beiden letzteren Temperamenten kann man aber viel mehr Temperamente unterscheiden. In der Tat lassen sich diese vielen in der Wirklichkeit aufweisen. Geringe Reizempfänglichkeit ohne Nachhaltigkeit ist die stumpfe und dabei zugleich fahrige Geistesart, der wir öfter begegnen. Die geringe Reizempfänglichkeit des phlegmatischen Temperaments samt der Nachhaltigkeit des einmal gemachten Eindrucks kann sich verschieden wenden: bald werden mehr die Vorstellungen festgehalten, das sind die Menschen, die schwer zu einem Gedanken zu bringen sind, aber auch schwer von demselben wieder loskommen; bald mehr das Gefühl, Phlegmatiker haben oft sehr tiefe Gefühle; bald mehr die Bewegung, manche Menschen sind schwer in Gang zu bringen, aber einmal darin, traben sie in demselben stets fort. Viel Reizempfänglichkeit, aber ohne Nachhaltigkeit besonders nach Seiten des Vorstellens gibt die momentan gute Auffassung, aber ohne Gedächtnis und Erinnerung und daher auch ohne Verarbeitung und Urteil. Derselbe Grundzug überwiegend nach der Seite des Gefühls hin ergibt die Menschen, welche alle Augenblicke für etwas anderes schwärmen; überwiegend nach der Seite der Bewegung hin (Handlung) die Naturen, welche immer neues anfangen und darum nichts recht zu Ende bringen. Endlich viel Reizempfänglichkeit mit Nachhaltigkeit überwiegend nach Seiten des Vorstellens ergibt die lebhaften und ausdauernden Forscher, Denker, Künstler, je nach der Art des Vorstellens, welche jeden von ihnen fesselt. Im späteren Leben, wenn diese verschiedenen Temperamente sich erst fest mit den Inhalten des Vorstellens, Fühlens und Tuns verbunden haben, ist wenig an ihnen zu ändern, sie müssen dann selbst ihre guten und üblen Folgen tragen. In Kindheit und Jugend kann mehr geschehen. Da nämlich Temperament von Haus aus bloß einen Gradunterschied in der Eindrucksfähigkeit und Nachhaltigkeit des gemachten Eindrucks bedeutet, so liegt eben darin die Möglichkeit einer ergänzenden oder verstärkenden Wirkung. Der stumpfen und fahrigen Geistesart insbesondere ist durch Hebung der Nervenkraft und Beachtung der Ernährungsverhältnisse des Körpers abzuhelfen. - Heutzutage hört man oft: der Mann hat Temperament oder ist temperamentvoll, wo gemeint ist rücksichtslose Energie.

Für den Inhalt des Charakters, d. h. dafür, was der Grundzug im festen Zusammenwirken von Vorstellen, Fühlen, innerer und äußerer Betätigung in uns wird, ist entscheidend, welche von den Hauptrichtungen menschlichen Lebens im Einzelnen vorherrscht, was unzweifelhaft, gerade wie das Temperament, seine physiologisch-psychologische Grundlage hat. Es gibt Menschen, deren Denken und Tun früh auf materielles Wohl im weiteren Sinne gerichtet ist, nicht notwendig bloß das eigene, und deren Denken und Tätigkeit von daher stets ihren Impuls erhalten. Bei Frauen erscheint diese Richtung oft in ihrem ganzen Wert; sie gehen früh auf das Nützliche, in diesem Sinne Praktische aus. Anderen erscheint die praktische Betätigung wie eine Art Selbstzweck: es sind die militärischen, technisch-künstlerischen, technisch-industriellen Naturen, sie bringen es gar nicht immer zu Vermögen, bringen vielmehr oft dabei materielle Opfer. Anderen ist Wissenschaft, Kunst, überhaupt geistiges Leben im engeren Sinne, oft in religiöser Form, das Höchste und von ihnen früh Gesuchte. Mit all diesen Hauptrichtungen verschmilzt von der Pubertät an noch das sexuelle Leben mit seinem Einfluß auf das ganze Denken, Fühlen, Streben. Es ist ein großer Unterschied, ob jemand Erwerbssinn usw. ansich hat, oder ob er erst freudig und mit ganzer Seele wirkt im Hinblick auf eine zu gründende oder gegründete Familie. Wie das sexuelle Leben unzweifelhaft physiologisch fundamentiert ist, so ist anzunehmen, daß auch die anderen Hauptrichtungen menschlichen Lebens in ihrer Verschiedenheit einen physiologisch-psychologischen Anknüpfungspunkt haben. Dies erscheint sehr deutlich bei den für Charakterbildung so schwierigen Naturen, bei welchen mehrere dieser Hauptrichtungen stark sind, aber nicht zusammenwirken, sondern isoliert gegeneinander auftreten. Aus solchen entstehen die Kontrastnaturen, die bald Schlemmer, bald Asketen sind, bald eine außergewöhnliche Tätigkeit entfalten, bald ganz träge liegen. Gegen eine solche etwa hervortretende Isolierung der Hauptsysteme muß in Kindheit und Jugend nach allen Regeln der Willens- und Charakterbildung versucht werden zu wirken.  Saphir,  der Humorist, hat von sich bekannt: "Die Mischung von Güte, Gemüt, Wohltätigkeitssinn und Gastlichkeit mit Herbheit, Eigensinn, Trotz und zorniger Unbändigkeit die in meiner Individualität Wand an Wand atmen und abwechselnd über meine Stunden und Tage, über Schritte und Worte herrschen, habe ich wohl von meinem Elternpaar." Der österreichische General  Haynau  war ein Gemisch eines Helden, eines Henkers und eines Spaßmachers  (Hübner).  Nach METTERNICH befolgte die Periodizität in ALEXANDERs I. Ideen einen fünfjährigen Rhythmus. Ähnliche Gegensätze in abgeschwächtem Grad sind weit verbreitet; es ist schon viel bei uns, wenn das jemand von sich nur weiß und so eine Handhabe hat im erwachsenen Leben berichtigend in Bezug auf sich selber zu verfahren. Im allgemeinen ist die Mannigfaltigkeit von Charakteren nach ihrem Inhalt ansich einer sittlichen Verwertung nicht fremd; denn der Inhalt des Charakters läßt sich in einen Beruf bringen, d. h. in ein überwiegendes Betreiben gerade dieses oder jenes Zweiges von Betätigung infolge der Teilund der Arbeit; es findet also eine sittlich erlaubte Hingabe an den bestimmten Zug  a potiori  [der Hauptsache nach - wp] statt. Nur besteht die Gefahr, daß bloß jedem seine Art verständlich und sympathisch ist, wie dann ganz gewöhnlich der Krieger Gelehrte, Handwerker und Bauern verachtete, der Bauer und Handwerker im Gelehrten einen Müßiggänger sah, der Gelehrte oft einen Ungelehrten kaum als vollen Menschen gelten ließ. Eine solche Einseitigkeit der Lebensauffassung kann dadurch verhütet werden, daß in der Jugendbildung der einzelnen alle Hauptrichtungen menschlicher Natur etwas entwickelt werden, etwa durch einen allgemeinen Unterricht bis zu einer gewissen Höhe, durch das Betreiben von Gartenbau oder einer Technik im Knabenalter, durch allgemeine Militärpflicht, damit jeder auch die ihm von Natur fremdere Art zumindest verstehen kann; außerdem muß die Einsicht geweckt werden, daß jede dieser Richtungen sittlich gewendet werden kann, und für den Bestand der Menschheit alle erforderlich sind.

Selbst bei hoher Ausbildung des Charakters sind wegen der Kompliziertheit des menschlichen Wesens und der Mannigfaltigkeit seiner Erregungen zeitweilige Schwankungen und die Gefahr der Abweichung nicht ausgeschlossen. Im Drang vieler und notwendiger Betätigungen kann eine Seite unseres Wesens, von der wir wissen, daß sie, um wirksam zu sein, stets einer gewissen Übung bedarf, zeitweilig vernachlässigt werden müssen. Praktische Naturen z. B. bedürfen in ihrer Freizeit einer gewissen Beschäftigung der Intelligenz, sonst regen sich während der Muße bloß die animalischen Begehrungen; umgekehrt bedürfen theoretische Naturen in der Freizeit einer gewissen praktischen Betätigung, sonst geht es ihnen ebenso. Es kann nun sehr wohl vorkommen, daß beide Naturen einige Zeit auf eine solche Ausfüllung der Muße nicht achten konnten, dann wird sich leicht ein Widerstreben gegen deren Wiederaufnahme fühlbar machen, oder sie werden sich plötzlich auch in der Muße sinnlichen Trieben von ungewohnter Heftigkeit gegenüber finden. Andere Seiten unseres Wesens bedürfen etwa stets eine gewissen Niederhaltung; wir haben geglaubt, diese fortwährend zu üben, da stellt sich plötzlich heraus, daß, vielleicht sehr indirekt, eine solche Seite sogar eine wie dafür gemachte Anregung durch die Umstände erhalten hat. Oft ist es auch die Folge eines schwierigen Naturells oder einer mangelhaften Erziehung, daß solche Fälle nicht bloß gelegentlich, sondern mit einer gewissen Regelmäßigkeit wiederkehren. Vorübergehende Abweichungen vom Zustand des im Charakter gewonnenen Ganzen und Festen stellen sich dar in den Affekten (HERBART), fest und stark gewordene verkehrte sinnliche oder auch geistige Begierden in den Leidenschaften (ders.). Die alten Ratschläge für beide sind:
    1. im Moment der Erregung und des Schwankens die Entscheidung, also auch die Tat aufzuschieben;

    2. die Aufmerksamkeit von der Versuchung abzulenken.
Diese Regeln haben einen physiologischen Anhalt daran, daß es Hemmungsnerven und Hemmungsnervenzellen gibt  (Rosenthal,  Allgemeine Physiologie der Nerven und Muskeln, Seite 263, 277 und 8). Von da aus kann die Atembewegung gehemmt werden, die Reflexbewegung gehemmt und sogar unterdrückt werden (Niesen, Husten, Gähnen). Analoges findet sich durch das ganze geistige Leben. Der Hergang ist auch hier so, daß, wie die Betätigungen, so auch die Hemmungen zuerst unwillkürlich auftreten; wir können uns aber den geistigen Zustand merken, wie er bei der Hemmung war, wenn auch nur in dunkler Weise. Durch eine Wiedererzeugung dieses Zustandes können wir rückwärts die Hemmung herbeiführen, zum Teil schon bei den automatischen Bewegungen (langsamer atmen), noch mehr bei den Reflexen (Husten, Gähnen). Auch im bewußten Geistesleben treten die Hemmungen früh unwillkürlich ein, oft sehr indirekt. Ein Kind schreit, wird aber abgelenkt durch einen neuen Anblick oder eine zufällig vorbeikommende Musik. Belohnung und Strafe sind oft Hemmungsmittel, Belohnung z. B. dafür, daß man etwas unterläßt, Strafe etwa, damit man der der Naschlust nicht nachgibt. Vernünftige Motive im gewöhnlichen Sinn, also Erwägungen, welche die Zukunft und die Folgen aufgrund der Vergangenheit hereinziehen, gehören zu den Hemmungsmitteln.

Am leichtesten ist es, die äußere Betätigung zu hemmen, solange sie sich erst als bloße Tendenz regt; vielleicht, weil die Muskeln eine größere Beharrungskraft haben als die Nerven, also langsamer in Aktion geraten  (Rosenthal,  Seite 148); eben darum ist es aber auch schwierig, ein einmal begonnenes Tun anzuhalten. Zuckt es bloß in der Hand, so ist der Schlag noch leicht zu hemmen, und wir sind in solchen Hemmungen geringer Bewegungstendenzen sogar sehr geübt, aber die bereits zum Schlag erhobene Hand widerstrebt gewissermaßen dem, sich wieder zu senken: "wir können uns nicht mehr halten; jetzt mag es geschehen; es ist zu weit, um zurückzugehen." Im Völkerleben ist es in dieser Hinsicht nicht anders. Sobald der erste Schuß gefallen ist, ist der Krieg, dessen Ausbruch vielleicht noch zu verhindern gewesen wäre, unvermeidlich geworden. Um eine bereits begonnene Aktion zu hemmen ist Schmerz sehr wirksam, da er die Kräfte mindert. So bei Kindern und ihrer Unruhe, aber analog ist er auch bei Erwachsenen zu gebrauchen. Die Knaben dämpfen sich untereinander, indem sie sich balgen; viele Menschen verlieren bloß dadurch ihr Ungestüm, daß sie öfter, und nicht bloß im bildlichen Sinne, anrennen. Wer einmal zur Betätigung erregt ist, dem ist zu raten, nicht schon zufrieden zu sein, wenn ihm die momentane Hemmung gelungen ist, sondern sich aus der Nähe des erregenden Gegenstandes wegzubegeben, eventuell seinem Bewegungstrieb in anderer Weise Anleitung zu verschaffen, etwa durch eine saure körperliche Arbeit. Der Trieb, eine einmal in Affekt oder Leidenschaft begonnene Betätigung zu vollführen, ist ja in aktiven Naturen so stark, daß, wo sie nicht direkt beikommen konnten, sie zumindest  in effigie  [symbolisch als Puppe oder Bild - wp] den Übeltäter hängten, verbrannten usw.

Viel schwieriger ist es, den Gedankenlauf zu hemmen. Hier gilt es, in ruhigen Zeiten große und wichtige Gedankenmassen ausgebildet zu haben, so daß sie leicht und mit einer großen Stärke aufgeboten werden können: "Es geht gegen meine Grundsätze, im Zorn zu entscheiden". "Man muß auch die andere Seite hören." Oft wird es nötig, um die Gedanken erfolgreich abzulenken, noch die Unterstützung durch eine ableitende Muskelbetätigung zu suchen. Bei einem Mann ist hier die ernste, alle Kräft auf sich ziehende Berufsarbeit wirksam; wo diese wenig Körperbewegung enthält, muß dieselbe besonders hinzugefügt werden. Bei der Frau ist mehr Zerstreuung notwendig, weil sie bei der weiblichen Art von Arbeit noch viel Raum hat, ihren Gedanken nachzuhängen.

Am schwersten ist es, die Gefühle zu hemmen, da diese durch ihre Einwirkung auf das vegetative System (Atmung, Blutkreislauf, Ernährung usw.) sofort die ausgebreitetste physiologische Basis gewinnen. Selten hilft hier das bloße Aufbieten von Vorstellungen. Das  ABC  aufsagen, wenn man in Zorn geraten ist, verliert schnell seine ableitende Kraft; man sagt es auf, aber der Zorn bleibt. Mehr Hilfe bietet eine Ableitung durch Gegengefühle. Zorn kühlt sich ab, wenn der, welcher ihn erregt hat, dumm und albern erscheint. Sehr oft müssen Muskelbewegungen zuhilfe genommen werden; so verläuft man sich die unbestimmte Niedergeschlagenheit, welche manchmal aus organischen dunklen Ursachen entspring, leicht durch einige Stunden spazierengehen in Feld und Wald. Da die Gefühle besonders durch ihre physiologische Verbreitung haften, so sind besonders solche Muskelbewegungen zu wählen, welche indirekt andere Vorstellungen und Gefühle erwecken und dadurch den gerade wogenden und wallenden Abbruch tun. So richtet man den Verzagten auf, indem man ihm Gelegenheit gibt, etwas zu tun, was er gut kann, und was wertvoll ist; dadurch entsteht ihm wieder ein Kraftgefühl. So dämpft man den Übermütigen, indem man ihn zu etwas auffordert, worin er schwächer ist. Was andere so an uns fertig bringen, das können wir analog auch an uns selbst vollführen. Wo nichts helfen will, da bleibt nichts übrig als die Tat, zu welcher die Gefühle etwa drängen, zu hemmen und diese dann sich in sich selbst austoben zu lassen, was, je heftiger sie sind, wegen der physiologischen Erschöpfung umso schneller gelingt.



LITERATUR - Julius Baumann, Wille und Charakter, Berlin 1905