J. BahnsenA. BolligerP. RéeF. WollnyG. Noth | ||||
Eine Verteidigung der Willensfreiheit [ 1 / 3 ]
Die ideal Denkenden scheuen oft vor einem geistigen Determinismus zurück, weil sie seine Konsequenzen für die Moral fürchten. Aber auch wenn er falsch ist, bleibt das eine unwissenschaftliche Methode, welche die Wahrheit einer Lehre an ihren Früchten erkennen wollte. Die Naturforscher und diejenigen, welche sich an deren Prinzipien erfreuen, scheuen hinwiederum vor einem Indeterminismus zurück, weil sie in ihm eine Proklamierung einer Ausnahme vom Wirken bekannter Ursachen fürchten. Verfallen sie nicht in einen ähnlichen Fehler, wie jene? Verwechseln sie nicht ihre Wünsche - und zwar ungerechtfertigte Wünsche - mit deren Erfüllung? Warum soll es nicht etwas geben, was des Versuches, die Gesetze seiner Wirksamkeit zu durchschauen, spotten dürfte? Warum ist man so vorsichtig und behutsam, daß man wohl erst auf eine Bestätigung wartet, ob auch weit jenseits unseres Sonnensystems das bekannte Gravitationsgesetzt gilt und ist doch so rasch und kühn mit der Annahme bei der Hand, daß Willensentscheidungen nur bekannten Potenzen unterworfen sind? Wie der eroberungsgierige, seefahrende Held auf das nahe Gestade, an dem seine Schiffe doch nicht landen können, seinen Speer hinwirft mit dem Ruf, die Seinigen mögen ihn holen, so wirft der Geist der Naturforschung sein Prinzip des "erfaßten Kausalverbandes" voraus in unzulängliche Gebiete und triumphiet, als wären sie ihm schon unterworfen; noch aber sind sie es nicht. Es wird hier versucht werden, den Beweis zu erbringen, daß der Glaube, man habe die abstrakt gesetzmäßige Abhängigkeit der Willensentscheidungen von irgendwelchen Faktoren dargetan, ein höchst irriger ist. Dieser Beweis bleibt aufrecht, trotz der Anerkennung einer gewissen Regelmäßigkeit der menschlichen Handlung - wie sich im Abschnitt über den Motiv-Determinismus zeigen soll. Es wird in der eingehenden Untersuchung über die Natur des Wollens ein phänomenalistisches Resultat gewonnen werden. Mit Rücksicht darauf könnte es wunderlich erscheinen, daß vom "Willen", wie von einer Kraft, vielleicht in ungerechtfertigter, verdächtiger Hypstasierung, gesprochen wird. Dies geschieht nur, erstens, um sich dem praktischen allgemeinen Sprachgebrauch zu akkomodieren, zweitens aber, weil ein Hinweis auf die Ursachen der Abfolge der Phänomene - wenn auch mit einer prinzipiell weitestgehenden Unbestimmtheit - unvermeidlich ist. Wenn der Ton der Abhandlung, wider meinen Willen, etwas zu kampfesfreudig geworden sein sollte, so möge man dies dem Umstand zugute halten, daß ich die Überzeugung von der Richtigkeit des Willensdeterminismus für eine widerrechtlich allgemein verbreitete halte und daß ich manchmal die Hoffnung hege, die nachfolgenden Gedanken über die Psychologie des Willens, Motiv-, Assoziations-Determinismus und psychologischer Determinierung könnten einige Anregung zu Korrekturen auf verschiedenen Gebieten gewähren. 1. In diesem Abschnitt wird ein Determinismus vorgetragen, der, richtig verstanden, selbstverständlich und unwiderleglich ist. Er darf mit der herrschenden Theorie der eigentlichen Willensunfreiheit nicht verwechselt werden, die später untersucht, sich eben recht hinfällig zeigen wird. Seine Tragweite ist so umfassend, daß er - so paradox dies klingen mag - den eigentlich interessanten, speziellen Untersuchungen auf dem Willensgebiet gar nicht präjudiziert. Und dennoch ist er es wahrscheinlich, der dem Denken unklar vorschwebt, wenn es sich fälschlich für einen Willensdeterminismus in einem viel prägnanteren Sinn entscheidet. 2. Der gerühmte Determinismus, ohne Falsch, sagt aus: Jede Leistung ist determiniert, völlig bestimmt durch die Leistungsfähigkeit. Alles Wirken ist Folge der Natur der wirkenden Potenz. Man kann in diesem Sinne von einer Natur-, Wesens- oder Konstitutions-Determinierung sprechen. Sie wird ausgesagt in einer Theorie, die eben Determinismus heißt. Dort, wo es sich nicht um einfache Naturen handelt, dort, wo eine Leistung das Resultat mehrerer ineinander wirkender Potenzen ist, kann man den Ausdruck Organisations-Determinierung gebrauchen. Wird also ein Ding oder ein System überhaupt in Aktion treten, so kann diese Aktion nur von den Agentien abhängen. Wegen der Allgemeinheit dieser Wahrheit kann man ihr den Namen Universal-Determinismus geben. Damit im Zusammenhang steht ein anderer Satz; nämlich der: Es existiert für ein Ding absolut die Unfähigkeit, sich selbst zu produzieren. Kein Ding kann jene Kräfte, mittels derer es in einem gegebenen Moment wirkt, sich eben mittels dieser momentan spezialisierten Kräfte selbst erwerben. Ein Ding könnte sich allenfalls mit gewissen Stammkräften diese primären Kräfte selbst verschaffen können. Man wird diese Behauptung von der Unproduzierbarkeit der Urproduktionsmittel durch sich selbst, hoffentlich evident, wahrscheinlich auch überflüssig, finden. Kein Individuum oder Organismus oder System kann also etwas leisten, wozu seine Konstitution die Mittel versagt. Und mittels der seine Natur bildenden Mittel kann es sich wohl neue erwerben, aber sich nicht selbst die ureigene Natur geben. Es kann nicht selbst schon existieren, um sich erst zu schaffen. Es kann seine Machtsphäre erweitern, aber es kann sich nicht selbst auf seinen Ausgangspunkt setzen. Die Hand ist dem Menschen das Instrument der Instrumente, aber er kann nicht mit der Hand seine eigene Hand machen. 3. Man wird uns die Aufstellung dieser Selbstverständlichkeiten verzeihen, wenn man bedenkt, daß durch sie eine allgemeine Unfreiheit, eine allgemeine Abhängigkeit konstatiert wird, die auch den menschlichen Willen trifft, freilich ohne daß hier die Faktoren bezeichnet würden, von denen er, wie die speziellen deterministischen Theorien wollen, unbedingt beherrscht werden soll. Und die hervorgehobenen evidenten Gedanken enthalten implizit evident die Begründung einer allgemeinen absoluten Zurechnungsfähigkeit, in einem gewissen Sinne. Wir müssen sie dartun; sie darf nicht verschwiegen werden, weil sie sonst schädlich wirkt; aber sie hat mit nichts weniger Verwandtschaft, als mit dem irrtümlich behaupteten Willenszwang. Denken wir zur Vorübung an die Determiniertheit intellektueller Leistungen. Alle die vielen psychischen und physischen Eigenschaften, die den sogenannten natürlichen Fleiß eines Knaben erzeugen mögen, Lernbegierde, Klarheitsdrang, Freude an der Auszeichnung, Unlust an Körperübungen, bilden eine unerworbene Mitgift des glücklichen Knaben. Wenn wir sie Kraft oder Fähigkeit des Fleißes nennen, so wird man wohl sehen, daß man sich über den Gebrauch des Wortes Kraft, welches Abkürzungs- und nicht metaphysischen Zwecken dient, beruhigt fühlen darf. Die schöne Kraft nun hat der Knabe sich nicht geschaffen. Wie aber, wenn einer, unfleißig, sich zum Fleiß erzog? Nun dann hat er wohl den Fleiß, aber nicht die Fähigkeit, sich Fleiß zu erwerben, geschaffen; z. B. die Fähigkeit, von einer Beschämung oder Zurücksetzung einen tiefen Eindruck zu empfangen, sich der besseren Einsicht unterwerfen zu können etc. - das bildete wohl das Stammkapital seiner Natur. Hätte er aber die besseren Keime in sich ausgerottet, dann hätte er das vermöge seiner Vertilgungskraft getan, die er eigentümlich besessen hat, an der er unschuldig ist. Denken wir ferner, nur in problematischer, exemplifizierender Weise, um uns im Glauben an die absolute Zurechnungsfähigkeit zu festigen, an das Höchste, an Gott. Auch er kann nur, was seine Natur kann; er muß gut sein, er hat seine Güte nicht geschaffen. Kann er auch aus nichts eine Welt schaffen, so kann er doch nicht sich selbst schaffen, aus Nichts, vor sich schon existierend. Seine unendliche Vollkommenheit, Machtfülle ist mit der Schwäche begabt, daß er nicht schwach sein kann. An seinen Werken dürfte er sich freuen; an seiner Herrlichkeit ist er unschuldig. Kann er sich selbst restringieren, so ist er an der Restriktionskraft unschuldig. Er ist eben seine Natur, und seine Gedanken, Pläne und Fügungen sind bestimmt durch seine Natur. Er ist nicht der Inbegriff alles Möglichen nach der Phantasie, sondern ein bestimmtes Wirkliches. Er ist dasjenige, das z. B. diese Welt werden lassen wollte; er hätte nach der Phantasie noch andere werden lassen können und vielleicht hat er noch andere, von denen er uns nichts offenbarte, werden lassen, vielleicht wird er, während sich die Geschicke der Menschen in Ewigkeit erfüllen, neue Welten schaffen. Was er aber tut, tut er gemäß dem Gesetz seiner Natur - und allerdings auch frei; d. h. nicht kann Einfluß auf ihn nehmen. So aber kann er für die Theorie ein Ebenbild des menschlichen Willens sein. Denn auch dieser wird nichts anderes wollen können, als er eben will; er wird sich nicht selbst aus nichts schaffen können und kann sich nicht mit nichts ändern, sondern stets nur mit den gegebenen Mitteln. Aber frei kann er sein, weil nichts Körperliches und Geistiges, keine materiellen Vorgänge und keine Motive, ja nicht einmal eine göttliche Beeinflussung mit Notwendigkeit über ihn Gewalt haben muß. So mächtig kann ihn Gott geschaffen haben, so mächtig kann ihn Gott gewollt haben. Diese substantielle Freiheit bleibt dem Wollen gewahrt. Jetzt aber wollen wir ausführen, wie es in Bezug auf die Organisationsdeterminierung mit dem Willen steht. 4. Wie immer seine Organisation sein mag, er ist konstitutiv determiniert, absolut betrachtet: unverantwortlich; seinen Handlungen nach, absolut genommen: unzurechnungsfähig. Wir sagen nicht, daß der Wille von irgendwelchen anderen Faktoren abhängig ist, wir lassen es in diesem Abschnitt noch dahingestellt, ob seine Handlungen durch Charakter und Motiv oder durch seine eigene Natur, durch physiologische Kräfte, oder durch die Gnade Gottes bestimmt werden. Wäre er sein eigener Herr, wie Gott, so wäre doch jede seiner Handlungen durch seine Natur, durch die Natur eines Systems bestimmt, das sich nicht selbst schaffen konnte und daher an allen daraus resultierenden Taten unschuldig ist. Handelt er gut - so nur mittels seiner guten Kraft, ihm so ureigen, wie im anderen Fall eine böse oder Änderungskraft. Wird der Mensch von einem Saulus zum Paulus, so war er eben kein ganzer Saulus. Hat sich der Mensch der Reue und Veredlung ergeben, so dankt er das einem Gemüt, das den Gewissensbissen offen war, oder weil ihn die Gnade Gottes leitete, Gottes, der selbst durch seine Natur determiniert war, Gnade zu spenden. Es gibt ein unproduzierbares Talent des Zeichnens, sowie ein Talent zur Reue; es gibt Verbrecher mit dem unwiderstehlichen Talent der Verstockung und andere mit dem Talent des Selbsthasses - mit unschuldig überkommenen Mitteln. Man darf nicht glauben, daß man sich, durch fortwährenden Regress, zu allen Mitteln verhelfen könnte. Dächte man auf diese Weise zu einem Zweck Z zu gelangen, daß man sich das Mittel Y dafür verschaffen würde, um dieses zu erreichen aber ein vorhergehendes Mittel usw. ins Unendliche, dann wäre man im Irrtum. Denn wollte man jemanden unendlich weit senden, um zu den Mitteln zu gelangen, dann würde er, da er ja ohne Ende gehen muß, nie bei dem Mittel anlangen, mit welchem, als dem Mittel der Mittel er andererseits doch die Realisierung des Zweckes beginnen sollte. 5. Gegen die dargelegte Konstitutions-Determinierung, gegen die absolute Unverantwortlichkeit, Unzurechnungsfähigkeit darf kein Indeterminismus, keine Philosophie und Religion aus falscher Scheu und unbegründeter Furcht ankämpfen. Ihr ist das Universum und Gott unterworfen und ein gewisses fiktives Lob und Tadel ist aus der Welt ausgeschlossen. Was geschieht, ist notwendig - innerhalb des einmal etablierten Systems ist nur eine bestimmte Handlung möglich. Aber damit ist nicht gesagt, daß sie gerade durch Charakter und Motive bestimmt ist; der Wille kann eine Potenz sein, welche der Macht dieser Potenzen spotten könnte; und andererseits kann in die Organisation des Systems der Handlungen eine göttliche notwendige Assistenz eingeschaltet sein. Von zwei in einem gegebenen Moment in abstracto möglichen Willensentscheidungen wird in einem bestimmten Weltganzen nur eine bestimmte in concreto möglich sein und getroffen werden. Das besagt der Organisations-Determinismus. Aber er schweigt darüber, ob die Entscheidung durch die, von einem speziellen, heutzutage gangbaren, Willensdeterminismus aufgestellten Faktoren notwendig bestimmt ist. Eine gesetzwidrige, böse geschehene Handlung hätte nicht ungeschehen bleiben können; der Täter ist, absolut genommen, unverantwortlich, wie ein lebloser Gegenstand oder Gott. Aber deshal bleibt noch die Frage offen: Kann ein Wille unbestimmt von Charakter, Erziehungsmotiven etc. handeln? Und noch viele Fragen, die die Indeterministen gewöhnlich interessieren und erregen, bleiben durch den Universal-Determinismus prinzipiell unerledigt; nur dafür setzt er sich ein, daß die Unfähigkeiten alle Handlungen bestimmen und daß die Unfähigkeit irgendetwas zu unternehmen, was man nicht mit überkommenen Mitteln unternehmen müßte, absolut betrachtet, eine gewisse Zurechnungsfähigkeit begründet. 6. Man könnte den dargestellten Determinismus mit Argumenten bekämpfen, welche aus der Gruppe von Begriffen genommen werden, die auf Verantwortung und Zurechnung basieren und damit die absolute Zurechnungsfähigkeit verteidigen wollen. Es ließe sich der Einwand erheben: Die Anerkennung von Verdienst und Schuld, Lohn und Strafe sei so absolut notwendig, daß jedwede Art von Nichtzurechnung damit unverträglich ist. - Oder man könnte einwenden: die Verantwortungsbegriffe stehen als solche fest - was ihnen widerspricht, muß weichen. 7. Betrachten wir den ersten Einwand. Er gebraucht die Begriffe "absolut notwendig" jedenfalls nicht in einem logischen Sinn, nicht identisch mit denknotwendig, sondern ein einem beschränkenden Sinn: innerhalb einer Relation zu etwas Anderem "absolut notwendig". Dieses Andere ist ein willkürlich tendierter Zweck ethischer Natur; für diesen soll "Zurechnung" absolut unentbehrlich sein. Ihre Notwendigkeit wird also durch eine ethische Absicht gefordert und zwar durch die Absicht, einen sozialen Organismus zu stiften und zu erhalten. Das Notwendigsein der Anerkennung wäre keine logische Forderung, sondern das Postulat einer Gesellschaftsordnung; die absolute Zurechnung wäre nicht falsch, sondern nur unbrauchbar. Das könnte zwar die Wirkung haben, daß man den Universal-Determinismus verschweigen, nicht aber, daß man ihn für unrichtig erklären müßte. Soviel vorerst zur Zurückweisung des Einwandes. Ferner aber ist es gar nicht richtig, daß die Zurechnungsfähigkeit die conditio sine qua non [Grundvoraussetzung -wp] für eine Gesellschaftsordnung bildet. Diesen zweiten Teil der Zurückweisung des Einwandes werden wir später, im Zusammenhang mit anderen polemischen Betrachtungen bringen. Die tatsächliche Ordnung hat zur Basis einen gewissen Begriffsinhalt von Zurechnung, den wir dann aufzeigen wollen; und eine ideale Ordnung könnte dieser Mittel entbehren. Könnte doch mancher versucht sein, in der Gelehrtenrepublik einen Verband zu sehen, wo die Leistungen als solche, ohne Rücksicht auf den Verdienst des Arbeiters, hingenommen und nicht durch Lohn quittiert werden. Und viele einzelne Menschen leben so in trefflichen Handlungen, ohne sich selbst ein Verdienst beizumessen. 8. Doch wenden wir uns jetzt zum klaren Organisations-Determinismus zurück und beschützen ihn gegen den zweiten der Einwände: Er verstoße gegen die feststehenden Begriffe der Zurechnung und deren Derivate (Nr. 6). Wir werden erst feststellen müssen, was denn eigentlich wirklich feststeht und wie dieses Sichere schon, das einen viel kleineren Umfang hat, als die Gegner behaupten, - gemäß unserer obigen Anzeige - als ausreichend befunden werden kann für die ethisch-praktischen Bedürfnisse. Wenn man die Begriffe zum Kampf ins Feld führt, darf man natürlich nicht glauben, daß ein Begriff als Zeuge für die objektive Existenz seines Gegenstandes dienen kann; nicht einmal die Möglichkeit der objektiven Existenz kann er dartun. Der Begriff könnte höchstens als Zeuge dafür dienen, daß einzelne oder viele an die Existenz seines Gegenstandes glauben. Diese "vielen" - scheint man zu glauben - sollen in unserem Fall "alle Menschen" sein. Doch es läßt sich leicht zeigen, daß die Menschen diese Begriffsgruppe der Zurechnung etc. nicht als Ausfluß der Überzeugung handhabt, daß eine absolute Zurechnungsfähigkeit, im Gegensatz zur absoluten Un zurechnungsfähigkeit, besteht. Den Menschen liegt dieses weit zurückliegende Problem gar nicht im Sinn. Die fraglichen Begriffskonzeptionen entsprechen vielmehr ganz einfach dem, durch die Menschen geübten, Zuweisen der Handlungen an die Handelnden und der Konstatierung gewisser Qualitäten an den letzteren. 9. Im vulgären Leben betreiben die Menschen nicht Metaphysik. Die Begriffe der Menschen haben zur Basis Anschauungen und nicht Theorien. Die Ausdrücke "Außenwelt", "Körper" und die damit verwandten, besagen nichts von ursächlicher Wirksamkeit, sondern umfassen das Gegebene. Ebenso weisen die Begriffe der Verantwortung, Zurechnung etc. nicht auf ein doktrinäres Prinzip über die Freiheit hin, sondern formulieren unmittelbare Eindrücke. Die Handlungen werden, wie jeder sieht, vollführt durch die für das Auge und alle Sinne zirkumskripte [umschriebene - wp] Person; also sind die Handlungen ihre Handlungen. Niemand denkt daran, daß Handlungen seines Nebenmenschen nur die letzte Resultierende aus der Aktion der gesamten Naturkräfte sind. Die Grenze des Individuums ist die Grenze dieser Imputations[Zurechnungs- | wp]begriffe. Man hat keine Zeit, in Gedanken hinter das Individuum zurückzugehen, und kaum eine Möglichkeit, Reaktionen gegen Handlungen anderswo, als an ihm, anzubringen. Die Ansicht der Allgemeinheit, die sich die fraglichen Begriffe ausgeprägt hat, sagt, das ist der Handelnde und so ist der Handelnde und nichts als diese Beschränkung findet man in den betreffenden sprachlichen Ausdrücken niedergelegt. Die Frage: "Hätte der Mensch im Moment einer Handlung auch eine andere unternehmen können" legt sich die Allgemeinheit nicht vor und in den behandelten Begriffen ist deshalb auch keine Antwort darauf zu suchen. Betrachten wir kurz das phänomenale Substrat der Begriffe Zurechnung, Verdienst und was mit ihnen verwandt ist. Die Projektion der Handlungen auf das Individuum heißt Zurechnung. Das Standhalten der Person gegen Reaktionen auf seine Handlung heißt Verantwortung. Eine Handlung, welche den mittleren Fähigkeiten, der mittleren Handlungsweise der Menschen entspricht, bleibt als Kraftleistung, da sie normal und unendlich häufig ist, gleichgültig. Eine Handlung, welche ein Gut für die Menschen oder ein anerkanntes Edles anstrebt - mit einer das Normale überragenden Kraft, d. h. unter Überwindung ungewöhnlicher Hemmnisse, ist ein Verdienst. Eine Handlung, welche eine allgemeine oder gegen etwas Edles gerichtete Beeinträchtigung intendiert, ohne die Kraft, gewöhnliche Hemmnisse für ein normales Handeln zu überwinden, ist Schuld. Ersteres erzeugt Liebe, Wohltaten, Aneiferung der Menschen - Lob, Lohn, letzteres unmittelbar Haß, Verteidigung, - Tadel, Strafe. Sein Leben bewußt in die Schanze schlagen, gilt selbst für den Soldaten, da es die ungewöhnliche Überwindung des Hemmnisses der Lebenslust bedeutet, als ein Verdienst. Wer nicht die Kraft hat, ungewöhnlichen Hemmnissen seines Wohlergehens Widerstand zu leisten und dabei jemanden schädigt, lädt (rein moralisch gefaßt) keine Schuld auf sich. Wer nach fünftägigem Hunger einer Brot stiehlt, ist nach dem Urteil der gemeinen Menschensittlichkeit unschuldig; ebenso wer seinen zum Leben nötigen guten Ruf gewaltsam herstellt. Die Gesetze, die einen Schutz Aller herstellen müssen, weil sich ihnen sonst nicht alle unterwerfen wollten, können freilich solche unschuldige Gewalttaten nicht durchgehen lassen. Denn die, zwar von Unschuldigen, aber gewaltsam Angegriffenen (die Eigentümer, Verleumder z. B.) hätten moralisch wieder keine Schuld, wenn sie sich zum Schutz gewaltsam verteidigen würden. Diese berechtigten Konflikte würden aber das Gemeinwesen zerstören, das eben durch die Gesetze - manchmal vielleicht auf Kosten des moralisch Zulässigen - geschützt werden soll. Ebenso können Lohn und Strafe, diese tätig gewordenen Sympathien und Antipathien in den Dienst eines beliebigen juristischen oder politischen Systems, sei es pädagogischer, prophylaktischer oder revindikatorischer [zurückfordernder - wp] Natur gestellt werden; immer werden Reaktionen gegen eine Tat nur an den Täter angebracht werden können. In diesem Begriffsinhalt, glauben wir, hat die Gesellschaft, einen genügenden Anhaltspunkt, um das jetzige Postulat ihrer Ordnung, Vergeltung etc., durchsetzen zu dürfen. Damit ist die versprochene Erledigung des ersten Einwandes gegeben. Wir können also einsehen, wie die fraglichen Begriffe nur aus Urteilen hervorgehen, die sich auf die unmittelbare Täterschaft und auf das unmittelbar hervortretende Plus oder Minus in Bezug auf das Normale der Leistungen, beschränken, aber nichts enthalten, was gegen den allgemeinen Determinismus, für eine absolute Zurechnung, ins Feld geführt werden könnte. 10. Man würde erwidern: Die Menschheit sei nicht so harmlos, und treibe doch wohl Theorie, verstehe z. B. unter Schuld die Verübung einer bösen Handlung, trotz der Fähigkeit, sie unverübt zu lassen, sie sei für Freiheit, für Indeterminismus. Darauf wüßte man leicht zu antworten.
Zweitens: Es kann der gemeine Mann die Worte auch in einem indeterministischen Sinn gebrauchen, ohne deshalb dieser Theorie gläubig anzuhängen. Sagt doch auch der geschulte Determinist nach einem Fehler, den er begangen hat, ärgerlich: Ach, das hätte ich doch nicht tun müssen etc., während er glaubt, er habe es tun müssen. Drittens: Es kann der gemeine Mann wohl unter diesen Worten verstehen, - wenn er zur Reflexion gedrängt wird - daß der Mensch absolut ist, daß die Organisation der Welt nicht notwendig zu einer bestimmten Tat führt. Dann hat er einen Unsinn gedacht, den er nach kurzer Betrachtung unserer einleitenden, evidenten Erwägungen abstreifen würde. Viertens: Er kann gedacht haben, daß der Wille, wäre er nur gut gewesen, sich immerhin dem Einfluß der Motive und des Charakters usw. hätte entziehen können. Dann hätte er Recht, aber ohne uns und dem Universal-Determinismus Unrecht gegeben zu haben und ohne eingetreten zu sein für die Fiktion einer absoluten Zurechnung. 12. Nochmals könnte man uns opponieren und fragen: Gibt es nicht ein Gewissen und Reue? Setzen diese nicht Indeterminismus voraus? Wir leugnen das. Man kann alle unsere früheren Betrachtungen auf die Reue anwenden. Sie ist nichts, als der brennende Schmerz, eine elenede Handlung verübt zu haben. Ob man sie auch hätte unterlassen können, fragt das gemeine Denken nicht. Den Motiven und allen Reizen der Handlung hätte man vielleicht widerstehen können; nicht sie bildeten vielleicht die eigentliche Verführung zum Bösen, sondern die, von ihnen nicht tangierte, Natur des Willens; das alles muß noch dahingestellt bleiben. Die Tatsache, daß in einer Welt bestimmter Organisation die böse Tat nicht ungeschehen bleiben konnte, liegt so weit zurück im Denken, daß sie - zum Glück - von den meisten Menschen nicht erfaßt wird. Der reflektierende Determinist weiß wohl, daß er schlecht handeln mußte, aber deshalb verliert die Reue für ihn nichts von ihrer zerstörenden Gewalt. Er wird immer betrübt sein, daß in ihm solche Potenzen wirksam sind, daß er das Böse schaffen muß; er wird vielleicht sich selbst als Quelle des Leidens für die Menschen unschädlich machen wollen; er wird sich töten. Das ist noch immer deterministisch und bietet es nicht Kraft des Gefühls genug, um als Reue gelten zu dürfen? 13. Es ist also durchaus kein Anlaß, diese Ausdrücke der Zurechnung so zu respektieren, als hätte die Menschheit ihre Weisheit und ein Verdikt gegen den Organisations-Determinismus hineingelegt. Sie denkt grob naiv individualisierend, jeder Schritt zurück gegen die Urgründe, jede Spekulation über Möglichkeiten wird gescheut. Die Spekulation der Menge hat zum Typus einen alten Mythos. Die Erde wird von einem Elefanten getragen, und der, worauf ruht er? Auf einer Schildkröte! So, jetzt ist es genug, man ist befriedigt. Jene ethischen Begriffe enthalten keinen involvierten Indeterminismus. Sie gelten scheinbar absolut, als postulierten sie die absolute Zurechnung und Verantwortung. In Wahrheit gelten sie absolut nur in der Beschränkung auf sinnenfällig abgegrenzte Handlungen. Sie sind relativ-absolut. So sind z. B. auch die Ausdrücke der Wissenschaft, welche scheinbar ein absolutes Gewicht (4 Gramm) gegenüber einem relativen (14 mal das Gewicht eines Wasserstoffatoms) statuieren, doch nur relativ-absolut, denn die Bedeutung der scheinbar absoluten Einheit (1 Kilogramm) ist eine rein willkürliche, relativ-konventionelle, die jeder Kenntnis des Wesens der Schwere, des Wiegens etc. entbehrt. So unumgänglich notwendig und in sich klar die absoluten Gewichte sind, so auch die behandelten Moralbegriffe. Sie sind keine Zeugen des Indeterminismus. Zeuge, und zwar falscher Zeuge dafür, ist der von einem Frager überrumpelte gemeine Mann. Doch gibt man ihm Zeit und Anleitung, so wird zutage kommen, daß er das Problematische des Motivzwangs einsieht, das wir im folgenden Abschnitt behandeln wollen, aber zugleich auch die weltnotwendige Unmöglichkeit, daß er eine getane Handlung gar nicht oder anders hätte vollbringen können. Dieses absoluten Determinismus wird er sich aber nicht lange und nicht oft erinnern. Die Handlungen des Menschen in ihrem wahren Charakter, als Knotenpunkte im Durcheinanderwirken der dunklen Kräfte, aufzufassen, das ist nicht Menschenart; diese ist befangen in einem starken, wenn auch nicht unvermeidlichen, Schein des in sich gegründeten, einheitlichen Subjekts, in einer metaphysischen Eitelkeit. Man läßt sich auch nicht gerne beweisen, daß die Gedankeneinfälle ihre Ursachen haben. Man will originell und originär sein. Zu welcher Lebensansicht der Universal-Determinismus führen kann; wie er lehrt, uns einzufügen in den Weltlauf, geduldig tragend, was uns beschieden ist; wie er nicht das ernste Streben hemmt, aber einen Welthumor begründet; wie er einen Teil der Gottergebenheit bildet; wie die weisesten Männer, die Väter der Kirche wie der dunkle SPINOZA in seinem Licht wandelten - das wollen wir hier nicht besprechen; doch begründet er für sich allein, ohne größere Hoffnungen, noch kein wahres Glück. 14. Wir wollen hier nur der Befürchtung wehren, als müsse er zum Fatalismus führen. Der Fatalismus ist die Überzeugung, daß die Aktionen überflüssig sind, da das Eintreten eines vorausbestimmten Ereignisses ja doch jedenfalls notwendig gesichert ist. Er übersieht demnach, daß das Eintreffen der Ereignisse nur unter der Bedingung der Aktionen, unter der allgemeinen Herrschaft der Naturgesetze, von der Organisationskraft (Gott oder wem oder was anderem), eingesetzt wurde. Alle künftigen Ereignisse sind allerdings schon jetzt gesichert. Aber wir haben im Laufe der Zeit erfahren, daß sie - im Allgemeinen - stets nur durch ein Wirken gemäß der Naturgesetze realisiert werden. Stelle ich mir also ein Ereignis vor, welches durch die naturgesetzliche Wirksamkeit nicht realisiert werden kann, dann muß ich bestimmt wissen, daß dieses Ereignis nicht vorherbestimmt war. Stellt sich z. B. einer unter einen frei fallenden Stein, der nicht von seiner Bahn abgelenkt werden kann, dann kann das eventualle vorstellte Ereignis des Unbeschädigtbleibens nicht vorherbestimmt gewesen sein, denn es läßt sich unter den gegebenen Naturbedingungen nicht realisieren. In dem Moment aber, wo einer glaubt, daß er ein Begnadeter, Auserwählter ist, für welchen die Naturgesetze suspendiert würden, hat er ein Recht, das Widernatürliche zu erwarten. Zuerst aber müßte sein Glaube an eine Extra-Behandlung vernünftig bewiesen sein. Solange allgemeine Bedingungen gelten, ist nur jenes Ereignis vorher gesichert, welches durch diese allgemeinen Bedingungen verwirklicht werden kann; wird also das Eintreffen eines Ereignisses gesetzlich durch irgendwelche menschlichen Aktionen mitbedingt, so ist es einfach ein Unsinn oder die Anmaßung einer Sonderstellung im Weltall, wenn man trotz der Unterlassung der Aktion das Ereignis erwartet. 15. Die Zurechnung, die wir, absolut genommen, verworfen haben, wollte man durch das Aufzeigen einer Verträglichkeit zwischen Notwendigkeit und Freiheit herstellen; und zwar in der kantischen Theorie des intelligiblen Charakters, die von SCHOPENHAUER in der Schrift über die Freiheit des Willens als eine der schönsten und tiefstgedachten gepriesen wird. Kurz und populär könnte man sie so darstellen: In der Welt der räumlichen und zeitlichen Erscheinungen ist der Wille allerdings notwendig bestimmt durch Ursachen; aber die Vernunft in ihrem wahren Seine, als Ding-ansich, hat den Willen bestimmt, sich eben von einer gewissen Art von Ursachen bestimmen zu lassen; die wahre Verantwortung trifft also das Subjekt insofern es ein vernünftiges Ding-ansich ist. Mehr der spezifisch kantischen Terminologie folgend, kann man die Theorie folgendermaßen darstellen. Einem Subjekt muß man zwei Daseinsformen, zwei Naturen sozusagen, einräumen: die eine, in der dasselbe eine Erscheinung der Sinnenwelt ist, die andere, in der es ein intelligibler Gegenstand ist, eine reine Vernunft, welche natürlich nicht mit unserer Reflexion verwechselt werden darf, die zeitlich verläuft. Als erstere Natur steht das Subjekt unter den empirischen Gesetzen, ist also dem Kausalverband durchaus unterworfen, notwendig bestimmt, unfrei. Als zweite ist es ohne Zeitform, keiner Bedingung der Sinnlichkeit unterworfen, ansich, ohne Fesseln der Kausalität. Das Subjekt hat also einen emprischen und einen nicht sinnlich zu erfassenden, intelligiblen Charakter. Die reine Vernunft ansich, der intelligible Charakter, ist nun die beharrliche Bedingung aller willkürlichen empirisch notwendigen Handlungen, unter denen der Mensch erscheint. Jede Handlung, unangesehen des Zeitverhältnisses und der kausalen Abhängigkeit von anderen Erscheinungen, ist die unmittelbare Wirkung des intelligiblen Charakters der reinen Vernunft, welche mithin frei handelt, ohne in der Kette der Naturursachen durch äußere oder innere, aber der Zeit nach vorhergehende Gründe, dynamisch bestimmt zu sein. Die Verwertung dieser Theorie geschieht durch KANT scheinbar ganz zum Zweck der Rettung einer echten Verantwortlichkeit. Zum Beispiel meint er (Kr. d. r. V: Elementarlehre II. Teil, II. Abt. II. Buch, II. Hauptstück, 9. Abschnitt; Kehrbach 443, Rosenkranz 435, Hartenstein 384, Kirchmann 451):
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