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ERNST von ASTER
Prinzipien der Erkenntnislehre
[4/5]

"Ein Urteil nenne ich ein Gebilde, dem gegenüber ich mit Sinn die Frage nach der Wahrheit stellen, das ich bejahen und verneinen, also als wahr und falsch bezeichnen kann. Daß ich jeden Satz als Ausdruck einer Behauptung fassen kann, nach deren Wahrheit ich fragen kann, macht den Sinn jedes Satzes zum Urteil."

"Eine Wahrnehmung ist mir gegeben, ich sehe ein Rot oder höre einen Ton. Hat es einen Sinn, diese Gegebenheiten als solche wahr oder falsch zu nennen? Nach ihrer Wahrheit auch nur zu fragen? Offenbar nicht: ich kann fragen, ob dem gehörten Ton ein realer entspricht oder obe es sich um eine subjektiv bedingte Erscheinung handelt, ob der gesehene Gegenstand wirklich rot und das Urteil, das dies aussagt, daher wahr ist, aber die gesehene Farbe als solche oder der gehörte Ton als solcher ist nicht wahr oder falsch."


Zweites Kapitel
Das Wesen des Urteils

1. Wort und Satz. Die Frage
nach dem Sinn des Satzes.

Es sei zunächst noch einmal an das Problem erinnert, von dem die Betrachtungen des ersten Kapitels ausgingen. Jeder Begriff, den wir in wissenschaftlicher Absicht gebrauchen, muß erkenntnistheoretisch "geklärt", d. h. zunächst seinem Inhalt nach eindeutig festgelegt sein. Begriffe treten uns entgegen als sinnerfüllte Worte; es handelt sich also darum, die Bedeutung bestimmter Wortsymbole eindeutig zu bestimmen. Das kann, so scheint es, endgültig nur geschehen, indem wir dem betreffenden Wort einen unmittelbar oder mittelbar gegebenen Tatbestand zuordnen, als dessen Eigennamen wir das Wort betrachten dürfen. Daraus entstand die Frage: Läßt sich für jedes Wort ein solcher Tatbestand finden, läßt sich jedes Wort, das wir gebrauchen, als Name eines Gegenstandes auffassen, den wir uns zur Gegebenheit bringen können? Die Antwort auf diese Frage nun lautete verneinend. Wir finden, daß alle unsere Begriffe, die oder sofern sie ideale oder reale Gegenstände bezeichnen, keine Gegebenheiten als solche benennen, in ihrer Bedeutung also über das Gegebene hinausgehen. Das Ergebnis bezeichnete ich als "nominalistisch", der vergebliche Versuch, den Sinn der betreffenden Worte selbst zu erfassen, charakterisiert uns dieselben als "bloße", sinnleere "nomina", als bloß scheinbare Namen, denen gar kein benannter Gegenstand entspricht, als Namen fingierter Gegenstände, oder noch besser: als fingierte Namen; denn eben daß sie Namen für etwas sind, ist "fingiert".

Hier aber entsteht nun die Frage: Wie kann das so sein, wenn doch jedermann der Meinung ist, mit diesen Worten einen bestimmten Sinn zu verbinden, wenn wir uns doch bewußt sein, sie sinnvoll zu gebrauchen?

Eben diese Frage weist uns nun bereits den Weg zur Lösung. Wir gebrauchen die Worte in einem bestimmten Sinn, wir glauben mit ihnen einen Sinn zu verbinden, wenn wir sie verwenden. Wir müssen also, um die Frage zu beantworten, inwiefern hier doch von einem Sinn die Rede sein und dieser Sinn uns bekannt sein kann, auf diesen Gebrauch reflektieren, wir müssen die Worte als Bestandstücke der lebendigen Sprache aufsuchen.

Auf denselben Weg weist mich ein anderer Gedanke. Ich fragte nach dem Sinn eines Wortes. Aber ein Wort für sich genommen kommt ja eigentlich nie vor, es kommt nur als Glied eines umfassenderen sprachlichen Ganzen, eines Satzes. So enthält also die Frage nach dem Sinn eines Wortes streng genommen etwas Naturwidriges Und es könnte so sein, daß das Wort für sich genommen gar keinen Sinn hat, sondern ihn erst erhält im Zusammenhang des Satzes, oder daß der sogenannte "Sinn" des Wortes darin besteht, als Teil eines wirklich sinnvollen Ganzen zu fungieren.

Um den Gedanken zumindest etwas von seinem paradoxen Anstrich zu nehmen, erinnere ich an Worte, bei denen wir alle der Meinung sind, daß für sie wenigstens etwas Ähnliches gilt: die sogenannten synkategorematischen Ausdrück "und", "oder" usw. Es könnte sein, daß auch die Substantiva allgemeiner und dinglicher Bedeutung in gewisser Hinsicht "synkategorematische Ausdrücke" sind.

Das sprachliche Ganze einheitlichen Sinnes, dem sich ein Wort als Bestandstück einfügt, wurde schon als "Satz" bezeichnet. Der Frage nach der Bedeutung der von uns gebrauchten Worte soll die entsprechende Frage bezüglich der Sätze vorausgehen.

Die Bedeutung eines Wortes bezeichnete ich auch als den dem Wort zugehörigen Begriff (wobei freilich das Wort "Begriff" selbst in der denkbar weitesten Bedeutung genommen ist). Entsprechend können wir allgemein den Sinn eines Satzes als das dem Satz zugehörige Urteil bezeichnen.

Die Bedeutung jedes Satzes ist ein Urteil. Sie kann außerdem noch allerhand anderes sein: ein Wunsch, ein Befehl, eine Frage. Aber auch wenn ich z. B. einen Wunsch äußere: "Möchte es doch morgen nicht regnen", liegt doch in dieser Äußerung unzweifelhaft die Konstatierung, daß ich, der Sprechende, eben diesen Wunsch hege. Und diese Konstatierung ist ein Urteil, nach dessen Wahrheit ich fragen kann (Möchtest du das wirklich? Ist es wahr, daß du das wünschst?). Natürlich ist diese Konstatierung nicht dasjenige, was der Sprechende dem Hörer mitzuteilen, was er auszudrücken strebt (insofern sind die sprachlichen Ausdrücke "Möchte dies geschehen" und "ich hege den Wunsch, daß dies geschehen möchte" in ihrer Bedeutung verschieden), aber sie liegt unweigerlich in dem Satz impliziert: ich kann keinem Wunsch Ausdruck geben, ohne implizit zu urteilen, daß ich den Wunsch habe, oder allgemeiner: ich kann keinen Satz aussprechen, ohne daß dieser Satz ein Urteil enthält. Die Bedeutung eines Satzes hat allemal Urteilsform, wenn es sich auch hier bisweilen gewissermaßen um eine bloße Form handeln kann.

Die Untersuchung der "Begriffe" also führt uns zur Untersuchung des "Urteils", weil, wie es vorhin ausgedrückt wurde, Worte möglicherweise überhaupt erst im Zusammenhang eines Satzes einen Sinn oder wie wir jetzt dafür sagen können, Begriffe vielleicht erst als Teile von Urteilen einen festen Inhalt gewinnen. In der letzten Form liegt der Gedanke der Geschichte der Philosophie nicht absolut fern. Ich erinnere an KANTs Bezeichnung der Begriffe als "Prädikate möglicher Urteile" (Kr. d. r. V., Ausgabe KEHRBACH, Seite 89).

Endlich fühhrt uns so der Gang unserer Überlegung von selbst auf das Gebiet, auf das uns der früher zitierte Einwand HUSSERLs gegen die nominalistische Position weist. Dieser Einwand behauptete, daß der Nominalismus eine Relativierung der Erkenntnis und des Wahrheitsbegriffs zur notwendigen Folge hat. Die Erkenntnis vollzieht sich in Urteilen, der Begriff der Wahrheit findet seine ausschließliche Anwendung auf Urteile. So kommen wir bei dieser Wendung der Untersuchung von selbst zum Kernproblem der Erkenntnistheorie und zu der Frage, welche Stellung der nominalistische Standpunkt diesem Problem gegenüber fordert.


2. Das Kriterium des Urteils.
Das Urteil als unmittelbar gegebener Tatbestand.

Wollen wir einen Tatbestand kennenlernen, in seiner Eigenart uns deutlich machen, so müssen wir ihn direkt zu erfassen, ihn also unmittelbar uns zur Gegebenheit zu bringen versuchen. Wollen wir also die Frage nach dem Wesen des Urteils beantworten, so müssen wir uns ein Urteil zur Gegebenheit bringen. Die Aufgabe scheint nicht schwer zu lösen: wir brauchen, so scheint es, nur ein Urteil im Bewußtsein zu vollziehen und nur hinzublicken auf den Urteilsvorgang und seinen sachlichen Gehalt, wie sie sich für unser Erleben darstellen. Noch genauer: Urteile sind ja der Bedeutungsgehalt von Sätzen. Es handelt sich also darum, einen Satz "sinnvoll", mit dem "Bewußtsein seines Sinnes" auszusprechen, zu lesen oder zu hören und zugleich diesen Sinn im Bewußtsein zu fixieren.

Muß nun dieser Weg zum gewünschten Ziel führen? Muß, wenn wir einen Satz sinnvoll auffassen, der Sinn des Satzes jedesmal dem Hörenden oder Sprechenden als gegeben gegenwärtig sein? Wir wissen bereits, daß dem nicht so ist. Ein Wort sinn gebrauchen und den Sinn desselben gegeben vor sich haben, ist zweierlei, und was vom einzelnen Wort in dieser Hinsicht gilt, muß natürlich auch vom Satz gelten.

Ob uns aber tatsächlich die einfache, direkte Beobachtung dessen, was sich im Bewußtsein abspielt, während wir einen Satz mit Sinn aussprechen, zum gewünschten Erfolg in irgendeinem Fall führt, das kann natürlich nur die Erfahrung lehren. Mir scheint in dieser Hinsicht lehrreich die uralte, bis auf ARISTOTELES zurückgehende Definition vom Urteil als der "Zusammensetzung von Vorstellungen". Daß die Definition vom sprachlich formulierten Satz ausgeht, liegt auf der Hand. Der Satz ist die Zusammenfügung zweier Worte - er besteht aus Subjekt, Prädikat und der verbindenden Kopula. Jedes dieser einzelnen Worte hat seinen Sinn, der doch als Bestandteil in den Sinn des Ganzen eingeht. Es ist augenscheinlich: die Definition schließt von der Eigenart des Satzes auf die Beschaffenheit des im Satz Gemeinten. Sie konstruiert das Urteil uns sein begriffliches Wesen, indem sie den sprachlichen Satzausdruck analysiert, anstatt sich auf eine direkte Analyse des Urteilstatbestandes selbst zu stützen. Wenn wir das Urteil fällen: Alle Menschen sind sterblich: stellen wir dann wirklich erst Menschen und "Sterblichkeit" vor, um dann beides zu verknüpfen? Zeigt uns die direkte Beobachtung, das unmittelbare Bewußtsein etwas von solchen Vorgängen? Ich meine, schon der Streit darüber, ob nicht eher vielleicht das gerade Gegenteil, die Zerlegung einer "Gesamtvorstellung" in zwei Einzelvorstellungen stattfindet, zeigt, wie wenig Anteil die direkte Analyse irgendeines nicht rein sprachlichen Gebildes an der ganzen vom Satz ausgehenden Urteilslehre hat. Man würde aber nicht aus dem Wesen des Satzes das Wesen des Urteils herauskonstruiert, man würde nicht diese Konstruktion mit einer direkten Analyse verwechselt haben, wenn das gesuchte Urteil selbst sich der Analyse ohne weiteres dargeboten hätte. (Was endlich die Schlußkette selbst angeht, durch die die Begriffsbestimmung des Urteils entstanden ist: Muß wirklich, wenn der sprachliche Satz ein Zusammengesetztes ist, auch der Sinn ein Zusammengesetztes sein? Muß jedem selbständigen Wort im Satz ein Bestandteil des Sinnes entsprechen? Muß das Urteil verknüpfen oder sondern, wenn der Satz es tut? So viele Schlüsse, so viele Fragezeichen.)

Mir scheint, der ganze Weg, den man hier zur Analyse des Urteils verfolgt, ist ein Irrweg. Und er kennzeichnet sich uns von vornherein als ein solcher. Wir wollten vom Sinn des Satzes, des sprachlichen Ganzen ausgehen, um zu verstehen, worin der "Sinn" eines einzelnen Wortes überhaupt besteht; die hier erwähnte Definition geht aus von dem Gedanken, daß der Sinn des Satzes den der einzelnen Worte in sich enthält, setzt also den letzten als bekannten voraus.

Wenn wir nun aber so nicht zum Ziel gelangen, welchen Weg müssen wir dann einschlagen? Der Fehler lag im Ausgehen von einem sprachlichen Satz. Das sinnvolle Gebrauchen eines Wortes oder Satzes ist nicht identisch mit dem Gegebensein des Sinnes und setzt das Letztere auch in keiner Weise voraus. Wir müssen uns also umgekehrt von einm Achten auf den sprachlichen Ausdruck nach Möglichkeit freimachen. Wir müssen mit anderen Worten: das sonst in Worten, im Satz Gemeinte zu fassen suchen in einem Fall, in dem es eben nicht als Gemeintes, sondern als Gegebenes da ist. Wir müssen ohne Worte vom Gegebenen ausgehen und es daraufhin durchgehen, ob sich in ihm etwas findet, dem wir in einem Satz bestimmter Art Ausdruck geben würden. Oder, um es noch anders zu sagen: Der Sinn jedes Satzes (im Unterschied zu dem des einzelnen Wortes) kennzeichnete sich uns als "Urteil". Deshalb gaben wir der Frage nach dem Sinn des Satzes die andere Form der Frage nach dem Wesen des Urteils. Wollen wir diese Frage beantworten, so müssen wir uns ein Urteil in seiner Eigenart zur Gegebenheit bringen. Das kann nicht so geschehen, daß wir einen Satz aussprechen und das Urteil gleichzeitig zur Gegebenheit zu bringen suchen, sondern nur so, daß wir die uns bekannten Gegebenheiten daraufhin untersuchen, ob sich unter ihnen ein Tatbestand findet, den wir als Urteil bezeichnen und ansprechen dürfen. Haben wir einen solchen Tatbestand gefunden, so haben wir uns damit zugleich ein Urteil zur Gegebenheit gebracht.

Nun ergibt sich aber zunächst die Frage: woran erkennen wir denn einen Tatbestand als Urteil? Was ist das Kennzeichen, das Kriterium des Urteils? Wann reihen wir einen Tatbestand unter den Begriff Urteil ein?

Die Antwort auf diese Frage ist alt, und ich habe mich des gesuchten Kriterium schon weiter oben bedient: Ein Urteil nenne ich ein Gebilde, dem gegenüber ich mit Sinn die Frage nach der Wahrheit stellen, das ich bejahen und verneinen, also als wahr und falsch bezeichnen kann. Daß ich jeden Satz als Ausdruck einer "Behauptung" fassen kann, nach deren Wahrheit ich fragen kann, macht den Sinn jedes Satzes zum Urteil.

Selbstverständlich handelt es sich in dieser Bestimmung nur um ein äußeres Kennzeichen, nicht um eine Wesensdefinition des Urteils, die wir ja erst zu gewinnen suchen. Im Besonderen setze ich keineswegs den Wahrheitsbegriff selbst als endgültig geklärten oder philosophisch definierten Begriff voraus, ich gehe nur von der allbekanten Tatsache aus, daß wir diesen Begriff verwenden und in bestimmter Weise verwenden. Was wir aber mit der Frage nach der Wahrheit eigentlich meinen, diese Frage wird sich in einem philosophischen Sinn erst zugleich mit der Frage nach dem Wesen des Urteils für uns beantworten.

Eine Wahrnehmung ist mir gegeben, ich sehe ein Rot oder höre einen Ton. Hat es einen Sinn, diese Gegebenheiten als solche wahr oder falsch zu nennen? Nach ihrer Wahrheit auch nur zu fragen? Offenbar nicht: ich kann fragen, ob dem gehörten Ton ein "realer" entspricht oder obe es sich um eine subjektiv bedingte Erscheinung handelt, ob der gesehene Gegenstand wirklich rot und das Urteil, das dies aussagt, daher wahr ist, aber die gesehene Farbe als solche oder der gehörte Ton als solcher ist nicht "wahr" oder "falsch".

Es ist das ein Gedanke, der auch schon früh ausdrücklich betont worden ist. Es ist eine alte Lehre, daß nicht die Sinne als solche, sondern nur der Verstand irren kann.

Wie mit den Inhalten der Wahrnehmung, so steht es offenbar mit den Gefühlen und Willensakten. Ein Gefühl der Trauer, des Zorns oder der Freude ist da oder nicht da, es kann ferner tiefer oder weniger tief in der Persönlichkeit wurzeln, es kann berechtigt oder unberechtigt, aber es kann nicht "wahr" oder "falsch" sein. Wir sprechen freilich wohl einmal von einem "wahren Gefühl", aber wir meinen mit dieser offenbar bildlichen Redeweise genauer ein "echtes", "aufrichtiges" Gefühl, d. h. wir meinen, daß die Art, wie die betreffende Person ihr Gefühl äußert, ihrem wirklichen Fühlen entspricht und daß ihr Gefühl selbst nicht das bloße Produkt einer vorübergehenden Autosuggestion ist.

Man sieht zugleich, warum in allen diesen Fällen der Wahrheitsbegriff keine sinngemäße Anwendung finden kann. Es handelt sich hier um bestimmte einfache Gegebenheiten - solche Gegebenheiten sind vorhanden oder nicht vorhanden, was sollte es für einen Sinn haben, sie, wenn sie da sind, noch besonders zu bejahen oder gar zu verneinen?

Nun stelle man diesen Gegebenheiten gegenüber einen Inhalt unserer Vorstellung, ein beliebiges Gebilde der Phantasie. Auch hier handelt es sich zunächst einfach um einen gegebenen Inhalt, für den als solchen dasselbe gilt, wie für Wahrnehmungsbilder und Gefühle. Aber das Phantasiebild ist doch zugleich nicht ein bloßer auf sich beruhender Gegenstand, es weist auf etwas anderes hin, auf etwas, das zugleich nicht, nämlich nicht unmittelbar gegeben ist, es hat eine "symbolische Funktion". Indem ich mir einen goldenen Berg vorstelle, stelle ich mir in Form eines Phantasiebildes etwas vor, das an und für sich kein Phantasiebild ist, nämlich den Anblick, den mir ein solcher Berg gewähren würde, wenn er leibhaftig vor mir stünde.

Und nun verändern wir zunächst das Beispiel ein wenig, indem wir an die Stelle des Phantasiebildes ein Erinnerungsbild setzen. Auch das Erinnerungsbild weist auf etwas anderes hin, wir erinnern uns durch das Erinnerungsbild an etwas anderes, früher Dagewesenes, das in diesem Erinnerungsbild "repräsentiert" ist. Ich stelle mir nun einen vergangenen Vorfall vor, ich suche ihn mir möglichst deutlich zu vergegenwärtigen, dann kann ich offenbar fragen, ob denn auch jener Vorfall "Wirklichkeit" sich so abgespielt hat, wie meine Erinnerung ihn mir zeigt, ob mein Erinnerungsbild also "richtig" ist oder das Erinnerte "verfälscht". Erinnerungsbilder können wahr oder falsch sein, es hat einen guten Sinn, ihnen gegenüber die Frage nach der Wahrheit zu stellen. Man sieht, worauf dasa beruth: Ein Erinnerungsbild ist zwar freilich ein gegebener Inhalt, aber es ist mehr als das: es ist ein Inhalt, der einen anderen darzustellen oder abzubilden den Anspruch erhebt.

Zugleich beantwortet sich die Frage, was denn eigentlich die "Frage nach der Wahrheit" bedeutet. Nach einer alten Definition ist "Wahrheit" die "Übereinstimmung mit dem Gegenstand". Schließen wir uns dieser Definition an, so kann ein Gebilde sinnvollerweise nur dann "wahr" genannt werden, wenn es erstens einen "Gegenstand" hat, also sich auf etwas außerhalb seiner bezieht und zweitens mit diesem "Gegenstand" "übereinstimmen", d. h. ihn darstellen oder abbilden soll. Dafür können wir in unserer Sprache sagen: Wahr kann nur ein Gebilde sein, das erstens ein Symbol und zweitens ein natürliches Symbol ist.

Dazu kommt nun freilich noch eins: ich kann die Frage nach der Übereinstimmung eines Gebildes mit einem anderen offenbar nur da stellen, wo es sich wirklich um zwei Gebilde handelt, wo ich mit Sinn Darstellung und Dargestelltes zumindest theoretisch voneinander unterscheiden kann. Ich kann fragen, ob Oktavio Piccolomini wirklich einen solchen Sohn gehabt hat, wie SCHILLER ihn im Max ihm andichtet, ich kann aber nicht im selben Sinn fragen, ob der alte Moor wirklich zwei solche Söhne wie Franz und Karl Moor besessen hat, weil die letzteren drei Persönlichkeiten eben nur als dargestellte, in der SCHILLERschen Darstellung existieren, weil es daher keinen Sinn hat, sie selbst ihrer Darstellung gegenüberzustellen und nach abweichenden und übereinstimmenden Zügen zu suchen. Aus demselben Grund können wir nicht nach der Wahrheit eines bloßen Phantasiebildes fragen. Das Phantasiebild hat zwar einen Gegenstand, den es repräsentiert, aber dieser Gegenstand führt keine Sonderexistenz, er existiert nur als Gegenstand des momentanen Phantasiebildes. Wir können jedoch auch ein Phantasiebild in Gedanken so verändern, daß die Frage nach seiner "Wahrheit" einen entsprechenden Sinn bekommt, wie beim Erinnerungsbild. Ich erwarte einen Freund, den ich seit zwanzig Jahren nicht gesehen habe. Und nun stelle ich mir vor, wie er jetzt aussehen wird, ich verändere in Gedanken das Bild, das mir die Erinnerung von ihm zeigt, so, wie sich meiner Meinung nach das Aussehen eines Menschen in zwanzig Jahren zu verändern pflegt. Ich schaffe mir damit ein Phantasiebild, aber dieses Phantasiebild will oder soll mir etwas repräsentieren, das ich in einigen Minuten wahrzunehmen erwarte. Und nun kann ich fragen, ob dieses Bild, das sich meine Phantasie vom Erwarteten macht, richtig ist, sich bewahrheiten oder sich als falsch erweisen wird. Ich kann nach der Wahrheit des Phantasiebildes fragen, wenn das Phantasiebild zum "Erwartungsbild" (1) wird.
Im Erinnerungs- und Erwartungsbild finden wir einen uns gegebenen Tatbestand, dem gegenüber wir mit Recht die Frage nach seiner Wahrheit stellen können. Also ist jedes Erinnerungs- oder Erwartungsbild ein "Urteil" zu nennen, denn "Urteil" sollte das und nur das heißen, das wahr oder falsch sein kann. Man beachte: ein Erinnerungsbild ist ein Urteil, es "fundiert" oder "begründet nicht etwa ein solches. Die Aufgabe, die ich mir stellte, war die, mir ein Urteil zur Gegebenheit zu bringen, ich wollte diese Aufgabe dadurch lösen, daß ich unter den mir bekannten Gegebenheiten nach einem Inhalt suche, der als Urteil angesprochen werden darf, durch den Hinweis auf ein Erinnerungs- oder Erwartungsbild habe ich also soweit dieser Aufgabe entsprochen.


3. Erinnerung, Erwartung und Einfühlung als die drei
Formen, in denen ein Urteil unmittelbar gegeben sein
kann. Sonderstellung des Erwartungsurteils.

Das bloße Phantasiebild auf der einen, das Erinnerungs- und Erwartungsbild auf der anderen Seite unterscheiden sich in bestimmter Weise voneinander; und ebenso ist wieder das Erinnerungs- und Erwartungsbild charakteristisch unterschieden. Wir können diese Unterschiede bezeichnen, indem wir davon sprechen, daß im Erinnerungs- und Erwartungsbild der vorgestellte Gegenstand zugleich als wirklich gesetzt oder gedacht ist, und zwar einmal an einer bestimmten Stelle des vergangenen, das andere Mal aner einer Stelle des zukünftigen eigenen Bewußtseinslebens. Ich bemerke ausdrücklich, daß ich damit nur eine Bezeichnung, nicht etwa eine "Erklärung" des Unterschiedes gebe. Ich kann nicht die Tatsache der Erinnerung erklären, indem ich den Begriff der Vergangenheit einführe, sondern umgekehrt: was "Vergangenheit" ist, lernen wir durch die Tatsache der Erinnerung. Ohne Erinnerung gäbe es für uns keine Vergangenheit, d. h. das Wort Verangenheit wäre für uns ebenso sinnlos, wie der Begriff "rot" für den den Farbenblinden. Und ebenso erhält der Begriff "Zukunft" für uns erst seinen Sinn durch den Tatbestand der Erwartung. Der Unterschiied von Erinnerungs- und Erwartungsbild und ebenso der von beiden einerseits und dem bloßen Phantasiebild andererseits ist ein unmittelbar erlebter oder gegebener Unterschied. Er besteht in der eigentümlichen Stellung des mittelbar Gegebenen oder Vorgestellten, ich bezeichne ihn, indem ich die Begriffe "Zukunft" und "Vergangenheit" einführe. Was diese Worte besagen, kann also nur erlebt oder zur Gegebenheit gebracht werden in der Form jener elementaren Urteile, die wir Erinnerung und Erwartung nennen. Freilich erhalten dann beide Begriffe noch einen erweiterten Sinn durch den Zusammenhang der Erinnerungen und Erwartungen miteinander, so wie jeder Begriff sich durch die genauere Kenntnis der Relationen erweitert, in denen der Tatbestand, der zunächst in ihm gedacht worden war, sich zu anderen befindet.

Die besprochene Eigenart des Erinnerungs- und Erwartungsbildes, die sie vom bloßen Phantasiebild unterscheidet, macht sie zu primitiven Urteilen. Wir können ihnen aber in dieser Hinsicht noch einen dritten Tatbestand anreihen.

Ich sehe mir gegenüber einen Menschen, dessen Gesichtszüge in mir den Gedanken erwecken, daß er Schmerzen leidet. Ich stelle mir diese Schmerzen vor. Dann sind sie für mich eben vorgestellt, also mittelbar, nicht unmittelbar gegeben; ich empfinde die Schmerzen nicht, sondern der andere, wenn auch unter Umständen vielleicht das Leiden des andern mich "mitfühlen", also wirklich einen entsprechenden Schmerz mich empfinden läßt. Stelle ich nun den Schmerz vor, so ist doch diese Vorstellung nicht ein bloßes Phantasiegebilde, sondern sie gehört mit Erinnerung und Erwartung in dieselbe Kategorie, das Vorgestellte ist "als wirklich gesetzt", nur nicht in die eigene Vergangenheit oder Zukunft, sondern in ein "fremdes Bewußtsein". Und auch hier können wir wieder fragen, ob nun diese Vorstellung richtig oder falsch ist, d. h. ob der andere wirklich so empfindet, wie ich es mir vorstelle, ob meine Vorstellung mit ihrem Gegenstand übereinstimmt. Wir wollen diese dritte Form des Urteils als "Einfühlung" (Einfühlungsbild) der Erinnerung und Erwartung zur Seite stellen. Der Ausdruck ist insofern nicht ganz glücklich, als er den Gedanken nahelegt, als ob nur "Gefühle" in dieser Weise in ein fremdes Bewußtsein hineinverlegt würden, während dasselbe natürlich für Wahrnehmungsinhalte usw. gilt, aber es ist nun einmal der übliche Name für das eigenartige, jedermann bekannte Erlebnis, in dem wir einen Inhalt als einem fremden Bewußtsein zugehörig erfassen.

Für den Begriff des "fremden Bewußtseins" gilt nun wiederum dasselbe, wie für die Begriffe der Vergangenheit und Zukunft. Er soll nicht den Tatbestand der Einfühlung erklären, er ist also nicht als ein anderswoher bekannter Begriff vorausgesetzt, sondern er bekommt für uns erst seinen Sinn durch die Tatsache der Einfühlung. Ohne Einfühlung gäbe es für unser Bewußtsein kein fremdes Bewußtsein, so wie es ohne Erinnerung für uns keine Vergangenheit gäbe. Zukunft, Vergangenheit und fremdes Bewußtsein haben das Gemeinsame, daß sie nur in der Form des mittelbar Gegebenen für uns existieren, oder umgekehrt: der Gegenstand eines Vorstellungsbildes kann für uns diese dreifache Form annehmen, die Vergangenheit, Zukunft und fremdes Bewußtsein für uns entstehen läßt.

Erinnerung, Erwartung und Einfühlung sind also die drei Formen, in denen ein Urteil von uns unmittelbar erlebt oder uns unmittelbar gegeben sein kann. Denn sie stellen die drei Fälle dar, in denen ein uns gegebener Bewußtseinsinhalt einen "Gegenstand" darstellt und diesen dargestellten Gegenstand zugleich "als wirklich setzt", welches als Wirklichsetzen in die eigene Vergangenheit, das eigene zukünftige Bewußtseinsleben und den fremden Bewußtseinsumfang geschehen kann.

Von diesen drei Formen des unmittelbar erlebten Urteils nun nimmt eine, nämlich die Erwartung, insofern eine besondere Stellung ein, als sie die einzige ist, bei der ich nicht nur nach der Wahrheit mit Sinn fragen, sondern die ich auch, zumindest in einer Reihe von Fällen, direkt auf ihre Wahrheit hin prüfen kann. Ich erwarte etwas, das sofort eintreten soll, ich stelle mir etwa den Schall vor, den ich hören werde, wenn ich den in der Hand gehaltenen Gegenstand zur Erde fallen lasse. Nun führe ich das Experiment aus, und die Erwartung "erfüllt sich", d. h. es stellt sich der von mir erwartete Schall ein, und ich erlebe die Übereinstimmung meines Vorstellungsbildes mit dem eintretenden Wahrnehmungsinhalt. Ich erlebe damit unmittelbar die Wahrheit, das Sichbewahrheiten meines Erwartungsurteils, so wie ich im Sichenttäuschen meiner Erwartung, im Nichtzusammenfallen, sondern Auseinandertreten von Erwartungsbild und eintretendem Gegenstand die Falschheit meines Urteils erlebe.

Etwas Entsprechendes ist natürlich im Fall der Erinnerung und Einfühlung nicht möglich. Ich kann nicht in die Vergangenheit zurückkehren und mein Erinnerungsbild mit dem, worauf es sich bezieht, vergleichen, und ich kann ebensowenig in das fremde Bewußtsein hineinschauen. Ich kann daher hier nicht wie im Fall der Erwartung die Wahrheit und Falschheit meines Urteils direkt erleben, Erinnerungs- und Einfühlungsurteile sind Urteile, die ich nicht direkt, sondern nur indirekt auf ihre Wahrheit hin prüfen kann. Diese indirekte Prüfung besteht streng genommen darin, daß wir eine Erwartung auf ihre Wahrheit hin prüfen, aus der wir uns zu einem Schluß auf die Wahrheit der betreffenden Erinnerung bzw. Einfühlung berechtigt glauben. Ich glaube, daß ein anderer zornig ist auf mich, hineinschauen kann nicht in ihn, ob sein Gefühl mir gegenüber wirklich so ist, aber ich kann zusehen, ob sich der andere weiterhin mir gegenüber so verhält, wie es einer solchen Stimmung entsprechen würde. (Allerdings können auch viele Erwartungen nur mittelbar auf ihre Wahrheit geprüft werden, nämlich sobald sie sich auf einen erst später eintretenden Gegenstand beziehen. Wenn ich jetzt erwarte, daß in einem Jahr etwas geschehen wird, so kann ich natürlich nicht die Wahrheit dieser meiner augenblicklichen Erwartung, sondern nur die eines inhaltsgleichen Erwartungsurteils, das ich in einem Jahr fälle, erleben.)

Erinnerungs- und Einfühlungsurteile sind als solche nicht verifizierbar. Sie unterliegen daher einem prinzipiell unlösbaren Zweifel, und wem es Freude macht, am Dasein einer Vergangenheit und am Dasein eines fremden Bewußtseins zu zweifeln oder Erinnerung und Einfühlung in Bausch und Bogen für Lügner zu halten, kann sicher sein, nie widerlegt werden zu können. Da er aber keine positiven Gründe für seinen Zweifel anführen kann, so bleibt dieser natürlich eine bloße Spielerei, zumal der Zweifler niemals aufhören kann, Erinnerungen und Einfühlungen zu vollziehen, also die Urteile zu fällen, an deren Wahrheit er ein für allemal zweifelt.

Das gilt im Besonderen für den Vertreter eines "Solipsismus". Wobei nur, wie aus den obigen Ausführungen hervorgeht, hinzuzufügen ist, daß die Frage nach der Wirklichkeit der eigenen Vergangenheit mit der nach der Wirklichkeit eines fremden Bewußtseins auf durchaus gleicher Stufe steht. Etwas ganz anderes dagegen als dieser Zweifel am Dasein anderer Bewußtseinssphären ist der phänomenalistische Zweifel am Dasein einer "realen Außenwelt", wie ich diesen Begriff im vorigen Kapitel besprochen und fixiert habe. Das reale Ding, das Ding "außerhalb des Bewußtseins" ist etwas, das, wie wir gesehen haben, weder mittelbar noch unmittelbar zur Gegebenheit gebracht werden kann, deshalb entsteht hier die Frage, was wir denn überhaupt unter seinem solchen "Ding", unter einer dinglichen Außenwelt verstehen, wieso diese Worte überhaupt Gegenstände bezeichnen können und nicht bloße, leere Worte sind. Das fremde Bewußtsein und was in ihm vorgeht aber können wir uns sehr wohl mittelbar zur Gegebenheit bringen, der Begriff des fremden Bewußtseins ist also für uns jedenfalls ein sinnvoller Begriff, aber das zur Gegebenheit bringen geschieht allerdings nur mittelbar und in Form von unverifizierbaren Urteilen, so daß hier die andere Frage offen bleibt, ob es dergleichen, wie wir uns hier vorstellen, "wirklich gibt" (2).


4. Die Möglichkeit allgemeiner und individueller
Repräsentation im Vorstellungsbild und Urteil.

Das Urteilen, wie wir es jetzt kennen, besteht in einem Vorstellen und Alswirklichsetzen des Vorgestellten. Dieses Alswirklichsetzen geschieht in der dreifachen Form der Erinnerung, Erwartung und Einfühlung, oder der vorgeestellte Gegenstand wird als wirklich gesetzt in den Zusammenhang der vergangenen, der zukünftigen oder der Gegebenheiten eines fremden Bewußtseins. In den Zusammenhang dieser Gegebenheiten. Denn zunächst bilden die vergangenen Gegebenheiten eine in sich zusammenhängende Reihe, die bis zum gegenwärtigen Bewußtseinstatbestand reicht oder besser von ihm seinen Ausgang nimmt. Alle Inhalte dieser Reihe umgekehrt sind dadurch ausgezeichnet, daß sie nur in der Form von erinnerten Inhalten uns gegenwärtig oder mittelbar gegeben sein können. Auf der anderen Seite haben wir die Reihe der "zukünftigen" oder der Inhalte, die uns nur in der Form von Erwartungsbildern gegeben sein können. Auch sie bilden eine Reihe, die von der "Gegenwart", d. h. vom dem einzig unmittelbar gegebenen Bewußtseinsinhalt ausgeht. Endlich ordnen sich auch die Inhalte, die einem fremden Bewußtsein angehören, die Inhalte der Einfühlung, in eine solche Reihe, oder vielmehr eine Mehrheit von Reihen, die wir die Reihe der eigenen Erlebnisse, die von einer Vergangenheit oder einer Reihe erinnerter über eine Gegenwart zu einer Zukunft oder einer Reihe erwarteter Gegenstände führt, analog denken.

Von der unmittelbar gegebenen Gegenwart, der Summe der unmittelbar gegebenen Inhalte a aus zieht sich einerseits die Reihe der vergangenen Gegenstände a1, a2, a3 ..., andererseits der zukünftigen a1, a2, a3 ... Wenn wir uns nun an etwas erinnern, so weisen wir ihm in dieser Reihe a1, a2 ... einen bestimmten Platz an. Wollen wir diesen Platz selbst genauer bestimmen, so geschieht das, indem wir das wirklich ausgedehnte Ganze von Bewußtseinstatsachen angeben, dem der erinnerte Tatbestand als Teil angehörte, die seine zeitliche Umgebung bildeten. Wann trug sich der Vorfall zu, den ich jetzt in meiner Erinnerung vor mir sehen? Es war, als ich auf dem Bahnhof in Gütersloh stand, auf meiner Reise nach Tirol. Und nun können wir weiter nach dem Platz fragen, der diesem Ganzen im Zusammenhang der Vergangenheit, der erinnerten Gegenstände, zukommt? Die Antwort erfolgt natürlich entsprechend: durch die Angabe eines umfassenderen zeitlichen Zusammenhangs. Endgültig bestimmt ist die Stellung eines vergangenen Inhalts dann und nur dann, wenn wir diesen Zusammenhang bis zur Gegenwart ausgedehnt haben, wenn wir also die Glieder der Reihe kennen und angeben können, die den erinnerten Gegenstand von der unmittelbar gegebenen Gegenwart trennen. Die Reise fand vor zwei Jahren oder sie fand im vorigen Sommer statt, damit hat die Zeitbestimmung die gewünschte Präzision erhalten, aber diese Zeitbestimmung hätte für uns gar keinen Sinn, wenn sie nicht eine Reihe von Erlebnissen, wahrgenommenen Gegenständen usw. bedeuten würde, die in geregelter Folge von uns der Gegenwart bis zu einem Komplex von Erinnerungen hinführt, den ich als die damalige Reise bezeichne. Diese Reihe vergangener Gebilde brauche ich mir nun nicht mehr einzeln vorzustellen, aber ich weiß, ich könnte sie zumindest kursorisch, in den Hauptpunkten durchlaufen, wenn ich wollte. Ein vollständiges Erinnerungsurteil also wäre ein Urteil der Form: auf a folgt a1, a2, a3 bis zu dem erinnerten ax.

Ganz dasselbe gilt natürlich für das Erwartungsurteil. Auch das Erwartungsurteil ist erst vollständig, wenn es dem erwarteten Gegenstand zugleich seine Stellung im Zusammenhang der zukünftigen oder erwarteten Gegenstände anweist, also die Inhalte a1, a2, a3 ... angibt, die von der Gegenwart zu ihm hinführen.

Nun können aber Erinnerungen und Erwartungen noch eine andere Form annehmen vermöge einer besonderen Eigentümlichkeit unserer Vorstellungsinhalte. Ich stelle mir jetzt das Gesicht eines Menschen vor, mit dem ich täglich zusammenkomme. Dann kann ich das Bewußtsein haben, das Bild, das mir hier vorschwebt, repräsentiert mir den Anblick, den mir das Gesicht des Freundes zu einer bestimmten Zeit und bei einer bestimmten Gelegenheit dargeboten hat. Es kann sich aber auch anders verhalten, ich kann das Bewußtsein haben, ich stelle mir das mir bekannte Aussehen dieses Menschen vor, ohne daß sich mein Vorstellungsbild auf einen bestimmten, zeitlich fixierbaren früheren Anblick bezieht. Anders gesprochen: ich habe den gleichen Anblick so und so oft gehabt, ich könnte aus der Erinnerung die einzelnen Wahrnehmungsbilder gar nicht mehr auseinander halten, und nun tritt an ihre Stelle ein Erinnerungsbild, das mir den einen jeder früheren Anblicke ebenso gut wie den anderen repräsentiert. Dasselbe gilt natürlich für die Phantasiebilder. Ich kann mir einmal den Anblick vorstellen, den ich in fünf Minuten erwarte, und ich kann mir ein andermal nur überhaupt eine Farbe von bestimmter Qualität, "ein" Bordeauxrot etwa vorstellen.

Dadurch erhalten Erinnerungs- und Vorstellungsbilder eine gewisse Allgemeinheit. Es ist dabei freilich deutlich zu scheiden: das betreffende Vorstellungsbild ist damit kein allgemeiner Begriff geworden. Das Vorstellungsbild selbst ist ein individueller Gegenstand, und was es repräsentiert, sind auch individuelle Gegenstände - weder ist das vorhin erwähnte Phantasiebild identisch mit der Farbgattung, die ich als bordeauxrot benenne, noch repräsentiert das Phantasiebild diese Gattung als für sich vorstellbaren Gegenstand. Sondern lediglich die Bedeutung des Vorstellungsbildes ist insofern eine allgemeine, als das eine Erinnerungsbild eine Reihe von ansich individuellen Wahrnehmungsbildern - das eine ebenso gut wie das andere - darstellt oder repräsentiert, oder daß das eine Wahrnehmungsbild ebenso wie das andere als das im Erinnerungsbild symbolisch Gemeinte bezeichnet werden kann. Auch ist diese "Allgemeinheit" eines Erinnerungsbildes selbstverständlich gewissen Einschränkungen unterworfen. Es gibt kein Phantasiebild, das mir spitz-, recht- und stumpfwinklige Dreiecke gleichermaßen repräsentiert. Vielmehr können mehrere individuelle Gegenstände, nur soweit sie untereinander qualitativ gleich oder besser: aus der Erinnerung ununterscheidbar sind, durch dasselbe Erinnerungsbild dargestellt werden (3).

Wenden wir das noch speziell auf die Erwartungen an. Ich stelle mir einen bestimmten zukünftigen Inhalt meines Bewußtseins vor. Dann sehen wir, diese Vorstellung wird zu einem vollständigen Erwartungsurteil erst dann, wenn wir die Stellung des Erwarteten im zukünftigen Bewußtseinsablauf fixieren, also in der Vorstellung die Inhalte durchlaufen, die den erwarteten vom gegenwärtigen Bewußtseinszusammenhang trennen. Angenommen nun, wir geben dem Erwarteten diese vollständige zeitliche Bestimmtheit nicht, wir stelles es uns in der angegebenen Weise "allgemein" vor, und weiter angenommen, wir vollziehen auch die Vorstellungen der das erwartete a von der Gegenwart trennenden Inhalte nur in einigen wenigen Gliedern b, c, nicht vollständig und stellen uns endlich auch diese dem a unmittelbar voraufgehenden Inhalte allgemein vor, so erhalten wir ein Urteil, das sprachlich ausgedrückt lautet: Auf "einen" Inhalt b c (einen Inhalt, der in diesen Erinnerungsbildern gemeint ist) folgt "ein" Inhalt a. Das heißt, wir erhalten ein allgemeines Urteil der bekannten Form: unter den Bedingungen b tritt a auf. Dieses allgemeine steht gegenüber dem singulären Erwartungsurteil, d. h. dem Urteil, das einen individuell bestimmten Einzelinhalt voraussagt und damit - vollständig ausgeführt - die Form hat: auf den gegenwärtigen Bewußtseinsinhalt B folgt b c d ... bis a. Ich werde auf diesenn Unterschied noch in einem anderen Zusamenhang zurückzukommen haben, hier bemerke ich nur noch zweierlei: Erstens: es sollte hier nur deutlich gemacht werden, in welcher Form sich ein allgemeines Urteil darstellt und inwiefern wir daher mit solchen Urteilen als eigenartigen Gegebenheiten rechnen dürfen. Nicht dagegen ist bisher die Frage erörtert, wie wir zu solchen Urteilen kommen und mit welchem Recht wir sie als wahr ansehen dürfen. Und zweitens: Das speziell mit Bezug auf das singuläre Urteil Gesagte bezog sich nur auf dieses Urteil, sofern es vollständig ausgeführt ist - ich sage damit nicht, daß solche vollständig ausgeführten Urteile im Bewußtsein wirklich vorkommen.

Noch ein Punkt. Schon früher wurde der Fall betrachtet, daß wir uns zu verschiedenen Zeiten an dasselbe vergangene Erlebnis erinnern. Wir haben dann zwei Erinnerungserlebnisse, die aber dieselbe, identische Bedeutung haben, insofern in ihnen derselbe eine Gegenstand erinnert oder dargestellt wird. In demselben Sinn können wir offenbar von zeitlich verschiedenen Urteilserlebnissen reden, die dieselbe Bedeutung oder denselben Gegenstand haben, also insofern dasselbe Urteil enthalten. Dieselbe allgemeine Erwartung z. B. kann zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Individuen in Form eines Erwartungsbewußtseins erlebt werden. Daß wir in diesem Sinn das eine identische Urteil den numerisch verschiedenen Urteilserlebnissen, in denen es sich dem individuellen Bewußtsein darstellt, gegenüberstellen oder daß wir, was dasselbe besagt, von demselben (identischen, nicht bloß gleichen) Urteil reden können, das jetzt von diesem, dann von jenem gefällt wird, ist eine selbstverständliche Folge der Symbolnatur des Urteilstatbestandes - bei Symbolen und nur bei ihnen kann, wie wir von früher wissen, von Identität gesprochen werden.


5. Das sprachlich formulierte Urteil als
Ausdruck einer Summe von Erwartungen.

Die Frage nach dem Wesen des Urteils, von der wir ausgegangen sind, führte uns zunächst auf die drei Gruppen von Bewußtseinserlebnissen, die wir als Urteile ansprechen dürfen, die Erinnerungen, Einführungen und Erwartungen. Ist nun damit wirklich die Frage nach dem Wesen des Urteils beantwortet? Offenbar nur dann, wenn jedes Urteil seinem Sinn oder seinem Inhalt nach aus solchen Erinnerungen, Erwartungen und Einfühlungen besteht, wenn auch der Sinn jedes von uns ausgesprochenen Urteilssatzes sich auf solche Gebilde der Erinnerung usw. zurückführen läßt.

Das scheint nun zunächst eine sehr paradoxe Behauptung zu sein. Wenn ich ein beliebiges Urteil fälle: "die Rose ist rot", "alle Menschen sind sterblich", so sind es doch nicht Erinnerungen und Erwartungen, denen ich hier in meinen Worten Ausdruck geben will oder die den Sinn meiner Worte ausmachen?

Um dem Gedanken etwas von seinem scheinbaren Widersinn zu nehmen, frage ich mich zunächst: Hat vielleicht der Sinn unserer Urteile etwas mit Erwartungen zu tun, steht er irgendwie mit solchen in einem Zusammenhang? Der Chemiker behauptet, daß Gold nicht in Salpetersäure, wohl aber in einer Mischung aus Salpeter- und Salzsäure löslich ist. Wir zweifeln an der Wahrheit dieses Urteils, und der Chemiker beweist sie uns durch das Experiment. Aber was beweist und das Experiment eigentlich? Kurz gesagt die Wahrheit einer Voraussage über das Verhalten des Goldes, die im Urteil des Chemikers steckt, einer Voraussage, also: einer Erwartung.

Solche Voraussagen aber stecken offenbar in jedem Urteil. Denn jedes Urteil muß sich wenigstens in der Idee auf seine Wahrheit hin prüfen lassen, wenn wir auch vielleicht nicht imstande sind, diese Prüfung auszuführen. Das heißt, es muß für jedes Urteil Kriterien, Prüfsteine seiner Wahrheit geben, also Tatsachen, die wir uns zur Gegebenheit bringen können und deren Eintreten uns von der Wahrheit, deren Nichteintreten uns von der Falschheit des Urteils überzeugt. Nehmen wir noch zwei Beispiele. Ich sage von einem Kleid, daß es weiß ist. Jemand anderer bestreitet mein Urteil: nein, das Kleid ist gelblich oder cremefarben. Zum Beweis nun kann ich ihn nur hinweisen auf die Farbe anderer Gegenstände, die wir beide als reinweiß oder als gelblich bezeichnen. Ist es gleich dieser oder gleich jener Farbe, steht es diesem oder jenem Farbeindruck näher? Hier haben wir das gesuchte Kriterium und hier haben wir auch eine Reihe von Voraussagen oder Erwartungen, die in dem Urteil: "das ist weiß", liegen, d. h. die sich bewahrheiten oder als falsch erweisen müssen, wenn sich das Urteil bewahrheitet oder als falsch erweist. Oder: ich sage von einem Körper: dies ist eine Kreide. Wer das Urteil bewiesen haben will, dem kann ich nur eines zeigen: daß der Körper sich physikalisch, chemisch, praktisch so verhält, wie es dem uns beiden bekannten Begriff der Kreide entspricht, d. h. dem kann ich nur zeigen, daß sich gewisse Voraussagen erfüllen, die danach irgendwie in dem Urteil "dies ist eine Kreide" enthalten sein müssen. Es handelt sich hier freilich, wie uns gerade dieses Beispiel deutlich zeigt, keineswegs immer bloß um eine, sondern um eine ganze Reihe von Erwartungen: Kreide muß auf Flächen, über die ich damit hinfahre, einen weißen Strich hinterlassen, ein bestimmtes spezifisches Gewicht haben, sich in Salzsäure unter Aufbrausen lösen usw. Dazu kommt, daß in dem Urteil: "dies ist eine Kreide" noch andere Urteile eingeschlossen liegen, vor allen Dingen das Urteil: "dies, was ich hier sehe, ist - zunächst einmal - ein wirklicher Körper" (kein Spiegelbild, keine Halluzination und dgl.), also: es muß sich in die Hand nehmen lassen, dem tastenden Finger einen Widerstand entgegensetzen, von verschiedenen Seiten her wahrnehmbar sein usw.

Solche Voraussagen, wurde gesagt, "stecken" oder "liegen" im betreffenden Urteil, sie "gehören zu ihm". Das heißt genauer: Wenn wir das Urteil auf seine Wahrheit hin prüfen, so sind es immer gewisse Voraussagen, die wir eigentlich unmittelbar prüfen. Oder: wir können und müssen jedem Urteil eine Reihe von Voraussagen und damit von Erwartungen zuordnen, die über seine Wahrheit entscheiden, so daß mit der Wahrheit der Erwartungen die des Urteils und ebenso umgekehrt eo ipso [schlechthin - wp] gesetzt ist. Die Summe dieser Erwartungen ist also dem Urteil "äquivalent", wenn wir unter äquivalenten Urteilen zwei Urteil verstehen, deren Wahrheit sich gegenseitig einschließt.

Mit diesen Erwartungen sind freilich unlösbar Erinnerungen und Einfühlungen verbunden. In meinem Urteil: "Gold ist in Scheidewasser löslich", stütze ich mich auf Erinnerungen und ich kann mich, um das Urteil als wahr zu erweisen und den Zweifler zu überzeugen, wie auf das jetzt auszuführende, so auch auf das früher ausgeführte Experiment beziehen, dem ich beigewohnt habe: ich habe gesehen, wie das Scheidewasser Gold angegriffen hat. Hier ruht die Wahrheit des Urteils auf der Wahrheit meiner Erinnerung. Oder ich beziehe mich auf die Aussage einer Autorität: Professor X in Y hat das Experiment gemacht. Dann tritt an die Stelle von Erwartung und Erinnerung ein Fall der Einfühlung. Aber wir wissen bereits: Erinnerungen und Einfühlungen sind von Erwartungen dadurch unterschieden, daß sie sich nicht direkt, sondern wieder nur auf dem Umweg über Erwartungen auf ihre Wahrheit hin prüfen lassen; insofern können wir uns hier auf die Erwähnung der Erwartungen beschränken.

Ich sprach mit Absicht von "Erwartungen", nicht von Erwartungserlebnissen, die sich erfüllen oder bewahrheiten müssen und die daher insofern im ausgesprochenen Urteil liegen. Noch genauer handelt es sich um "allgemeine Erwartungen". In dem Urteil: "Dies ist eine Kreide" steck die allgemeine Erwartung, daß jedesmal, wenn ich oder ein anderer den Körper in Salzsäure taucht, ein bestimmter Erfolg wahrnehmbar werden wird. Was wir unter einer solchen allgemeinen Erwartung verstehen, daß sie sich zwar in einem individuellen Erwartungserlebnis äußert, aber nicht mit ihm identisch zusammenfällt (vielmehr als "dieselbe" Erwartung in verschiedenen solchen Erlebnissen sich darstellen kann), darf aus dem vorigen Paragraphen als bekannt vorausgesetzt werden.

Jedem sprachlich formulierten Urteil läßt sich eine Reihe allgemeiner Erwartungen (einschließlich gewisser Erinnerungen und Einfühlungen) äquivalent setzen, allgemeiner Erwartungen der bekannten Form: auf den (vorstellbaren) Inhalt a folgt allgemein der Inhalt b. So ist dem Urteil "dieser Gegenstand ist weiß" das andere äquivalent: Jedesmal, wenn ich (oder ein anderer - Einfühlung!) diesen Gegenstand betrachte (Bedingung a), finde ich an ihm die meiner Vorstellung bekannte Farbe vor mit ihren (die entsprechenden Vergleichsakte vorausgesetzt) Ähnlichkeits- und Verschiedenheitsbeziehungen (und zugleich: wenn ich dies tat, habe ich die entsprechende Erfahrung gemacht Erinnerung!). So ist dem Urteil "dies ist eine Kreise" die Reihe von Erwartungen äquivalent, die sprachlich formuliert aussagen, daß der betrachtete Körper in bestimmter Weise behandelt, sich auch in bestimmter Weise verhalten, also bestimmte Wahrnehmungen darbieten wird. Die Äquivalenz aber besagt, daß wenn das Urteil auf seine Wahrheit geprüft wird, eigentlich immer nur diese Erwartungen geprüft werden, daß mit der Wahrheit des einen die der anderen und umgekehrt als unweigerlich verbunden angesehen wird.

Und nun gehen wir einen Schritt weiter. Läßt sich an die Stelle dieser Äquivalenz eine Identität setzen? Ist vielleicht das Urteil, von dem wir ausgingen, nur ein neuer sprachlicher Ausdrück, eine sprachliche Zusammenfassung dieser Erwartungen?

Nehmen wir zunächst an, daß es nicht so ist. Dann muß die Bedeutung des Urteilssatzes mehr oder sie muß etwas anderes enthalten, als jene Erwartungen. Wenn das aber der Fall ist, so ist dieses Mehr jedenfalls unbeweisbar oder auf seine Wahrheit hin nicht prüfbar, denn wir sahen: das, was wir prüfen und beweisen, sind immer jene Erwartungen. Ferner: es müßte dieses Mehr oder dieses Andere, der über die Erwartungen hinausgehende Sinn des Satzes in einer bestimmten Beziehung zu den Erwartungen stehen, aber diese Beziehung ist nicht weiter angebbar. Endlich: dieses "mehr" müßte irgendwie zur Gegebenheit gebracht werden können. Aber hier stoßen wir auf die uns schon bekannten Schwierigkeiten.

So bleibt schließlich kein anderer Ausweg, als der oben angegebene: Der fertige Urteilssatz "dies ist eine Kreide" etwa ist nur ein einheitlicher, zusammenfassender sprachlicher Ausdruck für eine Reihe von Erwartungen, die also in ihrer Gesamtheit seinen Sinn schlechthin ausmachen.

Läßt sich dieser Gedanke nun im Einzelnen durchführen? Die erste und Hauptschwierigkeit, auf die der ausgesprochene Gedanke stößt, ist nicht eigentlich logischer, sondern psychologischer Natur.

Wenn der Sinn unserer Urteile in Erwartungen besteht, so muß doch, so scheint es, das Urteilen als psychischer Prozeß ein Erwarten, d. h. ein Hegen, Erleben von Erwartungen sein. Oder es müssen mit anderen Worten, wenn wir ein Urteil fällen oder es verstehen, die den Inhalt oder Sinn des Urteils angeblich konstituierenden Erwartungen irgendwie für unser Bewußtsein vorhanden sein. Andererseits wäre es offenbar eine Vergewaltigung der Tatsachen, wenn man behaupten wollte, daß jedesmal, wenn wir einen Satz aussprechen, hören oder lesen, so und soviele Erwartungen von uns erlebt werden. Ich kann unzweifelhaft das Urteil "dies ist eine Kreide" fällen und verstehen, ohne an Salzsäure zu denken und bewußt zu erwarten, daß sich der Stoff, den ich hier vor mir habe, in bestimmter Weise der Salzsäure gegenüber verhalten wird. Wie kann dann diese Erwartung zum Sinn des Urteils gehören?

Ich betone noch einmal: der Einwand ist ein psychologischer, er betrifft den psychischen Vorgang des Urteilens, nicht die rein logische Frage nach dem Sinn des Urteils, die wir bisher, unabhängig von aller Psychologie, ins Auge gefaßt hatten. Wir werden also damit zu einer psychologischen Abschweifung von unserem bisherigen Weg genötigt, nicht um auf psychologischem Weg das logisch gegenständliche Problem zu lösen, sondern um die Psychologie des Urteilens mit dem, was sich uns für den gegenständlichen Sinn des Urteils ergeben hatte, in Einklang zu bringen.
LITERATUR - Ernst von Aster, Prinzipien der Erkenntnislehre [Versuch einer Neubegründung des Nominalismus] Leipzig 1913
    Anmerkungen
    1) Ich finde diesen Ausdruck und die darin liegende Parallelisierung von Erinnerung und Erwartung nur bei Groos, Das Seelenleben des Kindes, dritte Auflage, Berlin 1911; auf Seite 34 teilt Groos die Vorstellungsbilder ein in "Vergangenheitsbilder, Zukunftsbilder und freie Imaginationen".
    2) Das sage ich gegen die Polemik Eduard von Hartmanns gegen den Phänomenalismus ("Das Grundproblem der Erkenntnistheorie", Seite 57f) und gegen die entsprechenden Ausführungen bei Volkelt, "Die Quellen der menschlichen Gewißheit", Seite 45f.
    3) Ich muß mich hier in einem Punkt gegen Cornelius wenden, mit dem ich mich im Übrigen in der Lehre von der "symbolischen Funktion der Erinnerungsbilder" durchaus einig weiß. Cornelius bringt die Unbestimmtheit der Erinnerungsbilder mit ihrer Allgemeinheit in Beziehung (Psychologie als Erfahrungswissenschaft, Seite 62f), er läßt mit der Unbestimmtheit der Zahl der verschiedenartigen, in demselben Erinnerungsbild repräsentierten Gegenstände wachsen. Das ist nicht ganz richtig. Das nach einer bestimmten Richtung hin unbestimmte Erinnerungsbild repräsentiert die entsprechenden verschiedenen Gegenstände, auf die es sich bezieht, nur soweit, als sie nicht verschieden sind, oder es stellt streng genommen die gleichartigen Gegenstände dar, die aus jenen verschiedenen Gegenständen werden, wenn wir die Punkte, in denen sie verschieden sind, unbeachtet lassen.