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FRIEDRICH EDUARD BENEKE
Kant und die
philosophische Aufgabe unserer Zeit

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"Das Grundverhältnis der Metaphysik, das Verhältnis unseres Vorstellens zum Sein, findet sich in der soeben bezeichneten Umhüllung auch im ungebildetsten Menschen; dem philosophischen Denker ist die Aufgabe gestellt, es von dieser Umhüllung frei und in allen Verhältnisse scharf und deutlich darzulegen, ohne daß er die geringste Veränderung vornehmen dürfte mit der in allen Menschen auf gleiche Weise unvertilgbar gegebenen Überzeugung."

II. Darlegung des Charakter der späteren deutschen Philosophie
und der Ursachen, welche denselben bestimmt haben.

Schon im vorigen Abschnitt hat sich uns in Hinsicht des Verhältnisses zwischen dem kantischen System und den aus ihm hervorgegangenen das Resultat ergeben: wo KANT auf dem Weg der Wahrheit ist, haben sie denselben verlassen und nur das in seiner Lehre Falsche haben sie aufgenommen und ausgebildet. Sehr wahr hatte KANT geweissagt, daß für die Philosophie, weit mehr als von den Verirrungen einer rohen und ungeübten Beurteilung, von den  "Genieschwüngen"  zu fürchten sei, "durch welche, wie es von den Adepten des Steins der Weisen zu geschehen pflegt, ohne alle methodische Nachforschung und Kenntnis, geträumte Schätze versprochen und wahre verschleudert werden." (1)

FICHTE übertrifft KANT an Strenge der Konsequenz und genial schaffender Kraft, SCHELLING an Phantasie und dichterischem Geist. Aber da sie einmal der Wahrheit den Rücken zugewandt, dienen diese Vorzüge nur dazu, ihren Traum und Truggestalten eine desto mehr von der Wirklichkeit abweichende Bildung zu verleihen. Ein aufmerksamer und scharfsichtiger Beobachter, welcher nicht nur die ganze Epoche der neueren deutschen Philosophie von Anfang an erlebt, sondern auch selber Teil genommen hat an ihren Bewegungen, sagt daher nur zu treffend in einer kürzlich über seine literarische Wirksamkeit abgelegten Rechenschaft (2): Die kantische Philosophie
    "war an sich selbst in ihren wesentlichsten Teilen zu stark, als daß ihre Gegner ihr viel hätten schaden können. Desto mehr ist dies von ihren Anhängern geschehen. Sie ward zur Parteisache; und daraus entstand eine Art von Revolution, in der es ging wie in anderen Revolutionen. Die Anhänger des Meisters, welche anfangs seine Lehren mit dem Eifer des Sektengeistes gepredigt hatten, erhoben sich  über  ihn und sobald es nur thunlich schien,  gegen  ihn. Jeder wollte ein System aufstellen. KANTs Triumph über seine Vorgänger war nur deswegen verkündigt, weil er das Feld frei gemacht und die Bahn geöffnet hatte, auf welcher nunmehr jeder seinen eigenen Ruhm suchen konnte. Die Anmaßung der Eigentümlichkeit und Unfehlbarkeit, der Dünkel der allein seligmachenden Lehre und des Selbstalleinwissens, brachen von allen Seiten wieder hervor; und KANT hat noch die traurige Erfahrung machen können, daß alles, was er in der Wissenschaft, welcher er die Kräfte seines Geistes und die Anstrengung eines langen Lebens gewidmet hatte, zu wirken gesucht, durch diejenigen selber vereitelt ward, die sich seine Schüler nannten und die Befreiung von den Fesseln der Schulweisheit nur dazu benutzten, neue für andere zu schmieden."
Diese traurige Erfahrung KANTs war freilich, wie wir uns überzeugt haben, nicht ganz unverschuldet. Aber wenn er, in gar nicht weiter Entfernung, neben der rechten Bahn besonnen fortgeht, so sehen wir dagegen seine Nachfolger, in ihrem schwindelnden Umherdrehen, bald in die der rechten Bahn völlig entgegengesetzte Richtung geraten. KANT hatte allerdings, mit Vernachlässigung der  inneren Erfahrung,  welche ihm doch allein die  wirklichen  Kräfte des menschlichen Geistes hätte offenbaren können, aus  bloßen Begriffen  eine systematische Darstellung derselben versucht; sein gesunder Sinn aber läßt ihn hierbei doch nie das im unmittelbaren Bewußtsein Gegebene aus den Augen verlieren. Ganz anders in den späteren Systemen. Die Erfahrung, heißt es hier, gibt nur ein gemeines, der Bemühungen erhabener Geister nicht würdiges Wissen; von einem einzigen, ohne alle Begründung und durch den reinen Machtspruch des Philosophen hingestellten Prinzip soll alle Philosophie, ja alles menschliche Erkennen abgeleitet werden: die ganze reiche, im Bewußtsein und in der Natur gegebene Mannigfaltigkeit nur in und aus dieser armen oder gar ganz leeren Einheit ihr wesentliches Sein und ihre Wahrheit haben. Daß solche Konstruktionen nicht die  wirklichen  Prozesse, durch welche der menschliche Geist und die Natur sich entwickeln, in sich abspiegeln konnten; daß vielmehr diese nur dem Namen nach wissenschaftliche Darstellung nichts anderes tun konnte, als mit  Bildern  und  Gleichnissen  spielen, bald in mehr phantastischer, bald in mehr begriffsmäßiger Form: davon ist schon oben die Rede gewesen. Hatte KANT die  Objektivität  unserer Erkenntnisse aus dem Verstand des  Subjekts  abgeleitet: so stehen wir diesen falschen Gedanken bei FICHTE gleichsam toll werden. Nicht das Mindeste soll aus dem Objekt stammen bei der Erzeugung unserer Erkenntnis; es gibt überhaupt nichts, was dem erkennenden Geist gegenüber oder zur Seite stände, sondern alles mit dem Charakter der Objektivität in unserem Bewußtsein Gegebene zeigt sich, bei tieferer Erfassung, als ein rein subjektives Erzeugnis: hervorgegangen aus der unendlichen Tätigkeit des Ich, welches, als das einzig Reale, die ganze Welt und Gott aus sich selber herausspinnt. Wir bewundern allerdings die dialektische Gewandtheit, mit welcher FICHTE, in einer langen Reihe immer neuer Darstellungen seiner Wissenschaftslehre, diesem widersinnigen Grundgedanken einen täuschenden Schein zu geben gewußt hat; aber wir können den genialen Geist, der auf diese Weise über eine, von unglückseligen Zeitverhältnissen ihm aufgedrungene, überspannte Idee zugrunde ging, nur bedauern, nicht wahrhaft achten.

Daß die Philosophie, solle sie Wissenschaft im höchsten Sinne dieses Wortes sein, aus  einem  Prinzip abgeleitet werden müsse und daß KANT das dem Ich gegenübergestellt objektive  X  nicht streng hatte nachweisen können und folglich die Realität eines solchen zweiten Prinzips überhaupt als ungewiß zu betrachten sei: diese beiden Sätze, der erste ein Zeitvorurteil, der zweite der Ausdruck eines zufälligen historischen Verhältnisses, bildeten sich in FICHTE zum Grundgedanken des Systems zusammen, welches, nach seinen hochtönenden Weissagungen, für alle Zukunft das menschliche Wissen mit absoluter Notwendigkeit feststellen, dem menschlichen Handeln einen höheren Charakter mitteilen sollte und schon jetzt - nach 30 Jahren - so gut wie gänzlich verschollen ist! Die glühende Begeisterung FICHTEs für seine Grundidee kann uns nicht den Mangel an Sinn für Wahrheit ersetzen; die, jede Schwierigkeit verachtende und niederwerfende Riesenkraft, mit welcher er diese Grundidee verfolgte, nicht für den Mangel an Besonnenheit schadlos halten, der ihn außer dieser Grundidee gar nichts sehen ließ. Und wenn nun SCHELLING und seine Schule den krampfhaft gesteigerten Idealismus mit einem ebenso krampfhaft gesteigerten Realismus vertauschten, wie ihn die gesunde Menschenvernunft nicht kennt und welcher alles ignoriert, was die ausgezeichnetsten philosophischen Forscher alter und neuer Zeit in Hinsicht der Unmöglichkeit einer  vollen  Übereinstimmung des Subjektiven mit dem Objektiven erinnert und über den Grad und die Art festgestellt haben, in welchen das menschliche Erkennen das ihm äußere Sein zu erfassen imstande sei: so zeigt sich hierin nur wieder dasselbe willkürliche und blinde Festhalten an einem zufällig aufgefaßten Grundgedanken, ohne umfassendere und tiefer dringende Überlegung und Besinnung. Dazu dann noch das tote Formelwesen, welches das höchste Heil der Wissenschaft in der steten Wiederkehr gewisser für allein vernünftig erklärter Zahlenverhältnisse zu finden meint und einen aus eigener Willkür für notwendig erklärten Begriffsschematismus zum Prokrustesbett macht, in welchem der menschliche Geist und die Natur der Wirklichkeit entgegen, bald ausgedehnt, bald zusammengepreßt und verstümmelt werden. Dazu die gänzliche Selbstunkenntnis und die auch in unseren Tagen leider noch immer im Wachstum begriffene hochmütige Anmaßung, welche alles außer der beschränkten Idee des Systems Liegende verachtet und tyrannisch niederwerfen will.

Obgleich aber alle diese Verderbnisse im kantischen System selber schon gewissermaßen im Keim gegeben, so bleibt es doch, nach dem Bisherigen, noch immer rätselhaft, wie sich diese Keime so schnell zu einer Größe haben entwickeln können, welche uns mit dem Untergang aller gesunden philosophischen Bildung bedroht. Um dieses Rätsel zu lösen, müssen wir zunächst einige Blicke auf die allgemeinen Entwicklungsverhältnisse der intellektuellen Bildund des menschlichen Geschlechts werfen.

Der menschliche Geist zeigt sich im Allgemeinen in zwei Formen tätig: in der  Analysis  und in der  Synthesis.(3) Der  Analysis  gehört nicht nur die Begriffsbildung durch Abstraktion, sondern auch jede Zerlegung einer Verbindung von Vorstellungen, Gefühlen, Bestrebungen: mögen nun dieselben unbewußt oder mit Bewußtsein, unabsichtlich oder absichtlich, geordnet oder ungeordnet, den Regeln des Wahren, des Schönen, des Guten gemäß oder denselben entgegen miteinander vereinigt worden sein. ALle Begriffszergliederungen also, alle Besinnung über die einzelnen Bestandteile eines zusammengesetzten Gefühls, eines Affekts, eines leidenschaftlichen Strebens, alle Kritik usw. haben wir als in dieser Richtung liegend zu betrachten. Dagegen auf der Seite der  Synthesis  teils die Auffassung der unter den Eigenschaften der Dinge und unter den Erfolgen gegebenen zufälligen und notwendigen Verknüpfungen, teils alles innere Schaffen liegt, sei es nun eines praktischen oder eines intellektuellen oder eines künstlerischen Ganzen.

Wenden wir dies auf die Philosophie an, so zeigt sich: die Grundaufgabe aller gesunden Philosophie ist die  Zergliederung des menschlichen Bewußtsein.  Was sich uns im unmittelbaren Selbstbewußtsein der ausgebildeten Seele darstellt, ist, als Produkt der unendlich vielen Entwicklungen, welche vom ersten Augenblick unseres Lebens an in unserer Seele statt gefunden und Spuren hinterlassen haben, ein  unendlich Zusammengesetztes.  Daher die Unklarheit und Unbestimmtheit, welche, mehr oder weniger, die Anschauungen, Gefühle, Urteile des nicht wissenschaftlich gebildeten Bewußtseins an sich tragen. Das Denken des gewöhnlichen Lebens kann ihrer nicht Herr werden; für die wissenschaftliche Betrachtung sind sie die Quelle so vieler verschiedener Auslegungen und infolge dessen so vieler Streitigkeiten geworden. Eine gesunde Philosophie kann nun und soll nichts anderes behaupten und keine andere Gewißheit haben, als die allgemein-menschliche Vernunft. Aber sie soll dasjenige klar, in seinen einfachen Elementen, in bestimmter und scharfer Begrenzung darstellen, was in der allgemein-menschlichen Vernunft mehr oder weniger verwirrt, unklar, verschmolzen und mit ineinander fließenden Umrissen gegeben ist. Das Grundverhältnis der Metaphysik z. B., das Verhältnis unseres Vorstellens zum Sein, findet sich in der soeben bezeichneten Umhüllung auch im ungebildetsten Menschen; dem philosophischen Denker ist die Aufgabe gestellt, es von dieser Umhüllung frei und in allen Verhältnisse scharf und deutlich darzulegen, ohne daß er die geringste Veränderung vornehmen dürfte mit der in allen Menschen auf gleiche Weise unvertilgbar gegebenen Überzeugung. Hat die Metaphysik eine solche Veränderung versucht, sei es idealistisch oder realistisch: so ist früher oder später die Reaktion nicht ausgeblieben und der Irrtum als solcher aufgedeckt worden. Und welches ist das Grundproblem der Moral? Etwa ein moralisches Bewußtsein zu erdenken nach einer neuen, selbstgebildeten Norm? Keineswegs; sondern sie soll zunächst die  einfachen  Grundverhältnisse darstellen, welche in allen moralischen Urteilen, auch nicht wissenschaftlich gebildeter Menschen, die  gemeinsame, unerschütterliche  Grundlage bilden; und wo sie diesen fremdartige untergeschoben hat, werden sie gewiß wieder ausgestoßen werden im weiteren Fortgang der Wissenschaft.

Infolge dieses Verhältnisses nun sehen wir, durch die ganze Geschichte der Philosophie, einen höchst merkwürdigen Wechsel sich wiederholen. Das im unmittelbaren Bewußtsein Gegebene ist so zusammengesetzt und das Allgemeinm-menschliche im Erkennen, im Wollen, im Fühlen so innig verschmolzen und verstrickt mit dem Individuellen, daß die Zergliederungen, nicht nur anfangs, sondern lange Zeit hindurch, mißraten und, statt der wahren Elemente, entweder ganz falsche oder doch Elemente einer individuell beschränkten Entwicklung als allgemein-menschliche aufführen mußten. Was wird geschehen, diese Irrungen zu verbessern? Zunächst unstreitig: man wir  zurückkehren zum unmittelbaren Bewußtsein,  wird das unrechtmäßigerweise Übersehene oder dasjenige, mit welchem die untergeschobenen fremdartigen Elemente in Widerspruch stehen, seinem Recht gemäß geltend machen. So war es unstreitig falsch, wenn HELVETIUS behauptete, das moralische Bewußtsein lasse sich in einen verfeinerten und modifizierten Eigennutz auflösen: er hatt die in allen Menschen, selbst unter dem größten Verderbnis, unvertilgbare moralische Grundlage mit den, in der vornehmen Welt  seines  Vaterlandes und  seiner  Zeit, jener allgemeinen Grundlage aufgebildeten Ansichten verwechselt. Sogleich aber trat auch in allen gebildeten Ländern eine mächtige Reaktion dagegen hervor, gestützt auf das Zeugnis der im unmittelbaren Bewußtsein gegebenen moralischen Überzeugungen. Oder ein anderes Beispiel. HUME glaubte bei der Zergliederung derjenigen Erkenntnisse, welche sich auf einen ursächlichen Zusammenhang beziehen, nichts als die  stete Folge  gewisser Entwicklungen als Grundelemente finden zu können. Aber dies ist unrichtig: wir denken etwas ganz anderes im Verhältnis von Ursache und Wirkung, als wenn wir von zwei Dingen (z. B. Tag und Nacht oder zwei hintereinander aufsteigenden Sternen) das eine und sei es auch ohne alle Ausnahme, stets nach dem anderen denken und das unmittelbare Bewußtsein mußte daher, in REID und STEWART, gegen diese Zergliederungen appellieren. Aber durch diese Rückkehr zum unmittelbaren Bewußtsein kommen wir doch nur wieder zu dem Punkt, von welchem die philosophische Forschung ausgegangen ist; das Problem derselben bleibt dabei ungelöst; und nach einem kurzen Beruhen auf dem unmittelbar Gegebenen (während dessen man freilich nicht selten fälschlich behauptet, ein weiteres Zurückgehen sei überhaupt unmöglich) müssen demnach die Versuche zur Zergliederung desselben von Neuem beginnen, bis einmal die wahren Grundelemente aufgefunden und allgemein überzeugend dargelegt sein werden: wo dann die Philosophie zu einer allgemein-geltenden und positiven Wissenschaft werden wird, wie die Mathematik und die Naturwissenschaften.

Neben diesem Wechsel und vielfach mit demselben verschlungen, zeigt sich jedoch noch ein anderer. Die Aufgabe der Philosophie ist, wie wir oben bemerkt haben, nicht bloß Analysis, sondern auch  Synthesis.  Die Begriffe, welche wir im gewöhnlichen Leben zerstreut und einzeln anwenden, sollen von der Philosophie in einer  vollständigen und gegliederten Übersicht  dargestellt, die bruchstückweise, bald in mehr allgemeiner, bald in mehr besonderer Form, bald einfacher und unmittelbarer, bald mehr zusammengesetzt oder angewandt, in unserem Bewußtsein erscheinenden metaphysischen, ästhetischen, moralischen Urteile und Überzeugungen, sollen, in strenger Unterordnung und Ableitung, zu einem systematischen Ganzen' verbunden werden. Der Synthesis also gehört die Aufrichtung von Systemen aus den durch das Leben oder durch die Analysis gegebenen Erkenntnismaterialien. Hierzu kommen theoretische und praktische Anwendungen von den durch die Wissenschaft festgestellten Gesetzen. Überdies aber sehen wir in der Geschichte der Philosophie die Synthesis keineswegs auf diese eigentlich wissenschaftlichen Formen beschränkt, sondern von jehr hat sie auch, besonders bei denjenigen Problemen, deren Lösung über die Grenzen des menschlichen Erkennens hinaus liegen möchte, in mannigfachen Dichtungen sich geltend gemacht, welche, bald Phantasien, bald Begriffe kombinierend, doch eben darin übereinkommen, daß die Gewähr der Wirklichkeit ihnen gänzlich angeht und auch später auf keine Weise für sie gewonnen werden kann.

In ihrer reinen und unverfälschten Gestalt sind Analysis und Synthesis in gleichem Maße notwendig für die Philosophie. Das in verwirrender und unklarer Zusammengesetztheit Gegebene muß zergliedert und aufgeklärt, die einfachen Elemente wieder vereinigt werden zu einem wissenschaftliche Ganzen: Eins kann so wenig entbehrt werden als das Andere. Auch bedingen sie einander gegenseitig in ihrer Entwicklung; und wir sehen daher, wie die übrigen Wissenschaften, so auch die Philososphie von Zeit zu Zeit, mit Bewußtsein oder unbewußt, die eine Richtung mit der anderen vertauschen. Ist die Zerlegung bis zu einem gewissen Punkt vorgeschritten, so fühlt man die Gefahr, über die Beschäftigung mit dem Einzelnen das Ganze aus den Augen zu verlieren und eine rückgängige Bewegung führt die Philosophie zu diesem zurück. Hat man, im Interesse der Einheit des Ganzen, eine zeitlang mit Vernachlässigung einer genaueren Kenntnis des Einzelnen kombiniert, so geben sich der Mangel an Sicherheit und Klarheit und die Willkühr des Verfahrens in mancherlei Widersprüchen kund, in welch verschiedene Systeme untereinander und mit der Wirklichkeit geraten; und man fühlt die Notwendigkeit, durch die Analysis wieder Klarheit und Sicherheit zu erwerben.

Auch zeigt uns die Geschichte der Philosophie, wenn wir gleich ganze Zeiträume überwiegend in  einer  Richtung fortschreiten sehen, doch auch auf der anderen Seite vielerlei Mischungen von beiden, sogar in einem und demselben philosophischen  System.(4) Am hervorstechendsten unter diesen ist der  Eklektizismus,  in welchem man, mehr oder weniger bewußt oder unbewußt, das Gute beider Richtungen zu vereinigen sucht. Doch ist zu bemerken, daß eine eklektische Philosophie keineswegs immer gerade auch in dieser Hinsicht eklektisch zu sein braucht; vielmehr möchte sich in den meisten Philosophemen dieser Art eine dieser Richtungen als ziemlich stark überwiegend nachweisen lassen. Sie können eklektisch sein, d. h. von mehreren anderen entlehnen, aber nur von Systemen, welche die eine dieser Methoden anwenden. So waren die Neuplatoniker im höchsten Maße  synthetisch- eklektisch; der deutsche Eklektizismus des vorigen Jahrhunderts zeigt sich als ein  analytischer;  und der von COUSIN ausgebildete neueste französische ist wieder ein sehr überwiegend  synthetischer. 

Wir wenden nun diese allgemeinen Erörterungen zunächst auf KANT und sein Zeitalter an. Beim ersten Erscheinen seiner Kritik der reinen Vernunft war in Deutschland unstreitig die  analytische  Richtung die entschieden herrschende. Das leibniz-wolffsche System, welches die Synthesis in größerer Ausdehnung und Vollkommenheit, als irgendein anderes der neueren Zeit, durchgeführt hatte, war allmählich verfallen; die LOCKEschen Ansichten, die neben ihm auch in Deutschland zu großem Ansehen gelangt waren und dieses Ansehen noch in gewissem Maße bewahrt hatten, waren überhaupt zu wenig synthetisch oder systematisch, um jenen Verlust zu ersetzen. Noch war der  Scholastizismus  nicht ganz verbannt und also gegen diesen noch immer ein kritisches Verfahren notwendig; und überdies mußte schon die Verschiedenheit der Ansichten (denn neben den genannten noch mehr andere, an sich weniger bedeutende, doch für eine zeitlang Bedeutung und zahlreiche Anhänger gewonnen) zu einer gegenseitigen kritischen Analysis führen. Dazu kamen nun die kurz hintereinander bekannt werdenden Lehren BERKELEYs, CONDILLACs, ROUSSEAUs, HUMEs, der englischen Moralphilosophen, welche alle entweder einen überwiegend kritischen Charakter an sich tragen, oder in denen doch die Synthesis nur so im ersten Anfang gegeben ist, daß dieselbe auf keine Weise, unter dem Mit- und Gegeneinanderkämpfen der verschiedenartigsten Lehren, auch nur annähernd zum Gleichgewicht mit der Analysis gelangen konnte. Wir sehen daher die philosophischen Bestrebungen in Deutschland teils in rein negativer Richtung, mit der Widerlegung früherer unvollkommener Philosopheme, teils, wo sie mehr positiv verfahren, mit der Aufklärung und näheren Bestimmung  einzelner  Begriffe und Grundsätze beschäftigt. Über die Betrachtung des Einzelnen also hatte man die  Einheit  ganz aus den Augen verloren; und die kritische Analysis hatte so lange Zeit hindurch bloß niedergerissen, daß man sich kaum mehr das dringendste Bedürfnis verheimlichen konnte, nun auch einmal wieder aufzubauen.

Fassen wir auch den ersten der vorher entwickelten Gegensätze ins Auge: so hatte sich die Analysis in den ursprünglich auf deutschem Boden gewachsenen Philosophemen allerdings im Allgemeinen innerhalb der richtigen Schranken und in Übereinstimmung mit dem allgemein-menschlichen Bewußtsein gehalten. Nicht so jedoch in den fremden, doch auch in Deutschland mehr oder weniger einheimisch gewordenen Lehren. BERKELEY hatte die Existenz der Körperwelt geleugnet; HUME die objektive Realität des ursächlichen Zusammenhangs in Zweifel gezogen und unsere Vorstellungen von denselben auf falsche Grundelemente zurückgeführt. In der Analysis des sittlichen Bewußtseins hatte HELVETIUS nur einen verfeinerten Eigennutz, WOLFF, in einer, wenn auch edleren, doch ebenfalls egoistischen Beschränkung, die Förderung der eigenen Vollkommenheit gefunden. CONDILLAC endlich hatte in allen Entwicklungen und Tätigkeiten der menschlichen Seele nichts als umgewandelte sinnliche Empfindungen erkennen wollen. Kurz, in Hinsicht aller Probleme der Philosophie war eine Reaktion der im unmittelbaren Bewußtsein sich ankündigenden gesunden Vernunft höchst nötig geworden.

Wie nun verhielt sich KANT zu allen diesen Richtungen? - Die Grundtendenz seines Hauptwerkes ist, wie wir gesehen haben, eine  analytische:  dies kündigt schon der Titel "Kritik der reinen Vernunft" an. Diese Kritik sollte widerlegend, durch Zergliederung umstürzend verfahren und zwar, nach KANTs ausdrücklichen Erklärungen, nicht nur gegen bestimmte philosophische Systeme (obgleich auch gegen diese und besonders gegen das leibniz-wollfisch), sondern gegen die menschliche Vernunft überhaupt, welche unausweichlich, durch die innerste Einrichtung ihrer Natur, zu gewissen Sophistikationen, zu grundlosen Anmaßungen geführt werde, die durch Kritik in ihrer Blöße dargestellt werden müßten. (5) Hiermit nun, wie paradox es auch klingen und mit voller Schärfe gefaßt, wirklich sein mag, sprach doch KANT im Grunde nur aus, was zu seiner Zeit von denjenigen philosophischen Köpfen aller Völker, welche sich von den früheren beschränkten Systemen losgemacht hatten, ziemlich allgemein als ausgemacht betrachtet wurde. Das Endresultat seiner Kritik der reinen Vernunft faßte nur das vor ihm von wissenschaftlichen und populären Schriftstellern wiederholt im Einzelnen Dargestellte zu einer umfassenderen Anschauung zusammen; war nun ein schärferer und allgemeinerer Ausdruck der seit mehreren Jahrzehnten gegen die scholastische Religionsphilosophie gerichteten Kritik. (6) Bis soweit also lag KANTs Unternehmen in der Richtung der  Analysis. 
LITERATUR - Friedrich Eduard Beneke, Kant und die philosophische Aufgabe unserer Zeit, eine Jubeldenkschrift auf die Kritik der reinen Vernunft, Berlin/Posen/Bromberg 1832
    Anmerkungen
    1) Kritik der praktischen Vernunft, 5. Auflage, Seite 284 - "Gerade das  Genie  (bemerkt ein anderer, durch Besonnenheit und Scharfsinn ausgezeichneter Denker) und nicht der Mangel desselben, hat von jeher die größten Irrtümer und falschen Theorien in die Philosophie gebracht. Eine schöpferische Einbildungskraft verachtet das gemeine Geschäft, einen Grund zu graben, die Erde wegzuräumen und gute Baustücke herbeizubringen; indem sie diese niedrigen Verrichtungen den wissenschaftlichen Tagelöhnern überläßt, richtet sie das Gebäude auf, sobald sie nur den Plan entworfen hat. Erfindung ersetzt die Materialien, wo dieselben fehlen und Phantasie gibt Farbe und allerlei Schmuckwerk hinzu. So gefällt das Werk dem Auge wohl und  es fehlt ihm nichts als Festigkeit und ein guter Grund.  Es scheint selbst den Werken der Natur den Rang abzulaufen, bis ein anderer Architekt hinzukommt,  dasselbe  in Trümmer zusammenstürzt und auf dessen Stelle ein ebenso treffliches Gebäude von seiner Erfindung aufrichtet." (REID in DUGALD STEWARTs Account of the life and writings of Thomas Reid, Edinburgh 1803, Seite 39)
    2) AUGUST WILHELM REHBERG in seinen "Sämtlichen Schriften", Band I, Seite 141f
    3) Man vergleiche hierzu die parallelen Erläuterungen in den Anmerkungen zu meiner Bearbeitung von "Benthams Grundsätzen der Zivil- und Kriminalgesetzgebung", Berlin 1830, Bd. 1, Seite 27 - 34
    4) Es versteht sich von selber, daß keine von beiden Geistestätigkeiten bei irgendeiner philosophischen Forschung und Darstellung ganz entbehrt werden kann. Es ist hier nur von der für den allgemeinen Grundcharakter überwiegenden die Rede.
    5) "Es sind Sophistikationen, nicht der Menschen, sondern der reinen Vernunft selber, von denen selbst der Weiseste unter allen Menschen sich nicht losmachen und vielleicht zwar, nach vieler Bemühung, den Irrtum verhüten, den Schein aber, der ihn unaufhörlich zwickt und zwackt, niemals los werden kann." (Kritik der reinen Vernunft, Seite 288; vgl. auch Seite 257
    6) Vgl. oben I