R. BaerwaldH. RennerMFKW. StaudingerBeneke | ||||
Ist Beneke Materialist? [ 1 / 2 ]
An der guten Absicht von Pfarrer GIESELER will ich eben darum nicht zweifeln; was als Mode in der Luft liegt, macht zu gründlich eingehender Prüfung unfähig, und das Urteil ist fertig, ehe man die Akten hinlänglich studiert hat. Wie wir es daher bei allen Widersachern der neuen Psychologie bisher fanden, so zeigt sich auch bei Pfarrer GIESELER ein sehr mangelhaftes Studium von BENEKEs Werken, von welchen er bloß das "Lehrbuch der Psychologie als Naturwissenschaft" zu kennen scheint. Zumindest bezieht er sich überall nur auf dieses, und diese Schrift reicht dann freilich nicht aus, sich mit der neuen Wissenschaft vollkommen vertraut zu machen, selbst wenn sie gründlicher studiert und besser verstanden wird, als wir solches GIESELER nachrühmen können. Darum zeigt derselbe auch überall, daß er gar nicht den Standpunkt der Forschung einzunehmen vermocht hat, von welchem aus allein die neue Lehre geprüft und ein sicheres Urteil über deren Wert oder Unwert gewonnen werden kann. Dieser Standpunkt ist ein ebenso neuer, wie bei mehreren anderen Wissenschaften unserer Tage, die erst von ganz veränderten Standpunkten der Forschung aus zur Höhe der Ausbildung geführt werden konnten, die sie in neuerer Zeit erreicht haben. So wird gewiß Jederman zugestehen, daß es unmöglich ist, die neuere Astronomie mit Hilfe der Begriffe als richtig zu erkennen, die aus dem Standpunkt des ptolemäischen Weltsystems gebildet sind und dann auf die neue Astronomie übertragen werden; wer das versucht, kann nur Verkehrtes herausbringen, und die Wahrheit muß ihm als Irrtum erscheinen. Man muß in astronomischen Dingen den Standpunkt der Beobachtung und des Denkens einnehmen, KOPERNIKUS innehatte, als er sich im Geist in die Sonne stellte und von da aus den Bewegungen der Himmelskörper zusah; von der Erde aus gesehen bleibt alles unverständlich, und man kommt immer wieder auf das Falsche zurück, weil das Kleben am Schein jederzeit nur ein scheinbar richtiges Denken zur Folge hat. Der astronomische Standpunkt in der Sonne ist freilich nur ein gedachter, die wirklichen Wahrnehmungen werden immer von der Erde aus gemacht, aber ihre so vielfache Verwicklung kann nur durch ein dem Erdenstandpunkt entgegengesetztes Denken gelöst werden, d. h. durch Hypothesen, die dem Sonnenstandpunkt gemäß gebildet sind. Natürlich kostet es Anstrengung, sich auf einen ganz neuen Standpunkt in irgendeinem Wissensgebiet zu versetzen, weil die auf dem früheren Standpunkt gebildeten Begriffe sich nicht sogleich aus dem Bewußtsein verdrängen lassen; aber diese Anstrengung muß gedacht werden, wenn man Wahrheit gewinnen und sich von einem irrigen Schein losmachen will. In Sachen der neuen Psychologie ist es nicht anders. Es möge mir verstattet sein,zuerst über den richtigen Standpunkt bei der psychologischen Forschung zu sprechen und dann die Einwendungen des Herrn GIESELER in solche Gruppen zu ordnen, wie sie sich am Besten hintereinander beleuchten lassen; man wird sich überzeugen, daß ich seinen Worten keinen Sinn unterlege, der ihnen fremd ist. Wenn ich mich dabei länger aufhalte, als die Einwürfe des Herrn GIESELER es eigentlich erfordern und verdienen, so geschieht es deshalb, weil ich auch die Vorurteile, die auch anderwärts gegen die neue Psychologie herrschen, bei dieser Gelegenheit widerlegend eingehen und das gute Recht der neuen Psychologie gegen die Ankläger überhaupt in Schutz nehmen will. Namentlich ist es mir um den genaueren Nachweis zu tun, daß niemand weiter vom Materialismus entfernt sein kann, als BENEKE. Was nun zunähcst den alten Standpunkt bei der psychologischen Forschung betrifft, so ist es dieser. Man beobachtet, was im Selbstbewußtsein vorgeht, läßt es gelten, wie es sich unmittelbar ankündigt, und bildet dann diejenigen Hypothesen hinzu, die dieser unmittelbaren Ankündigung zu entsprechen scheinen. So kommt man notwendig zu der Annahme (Hypothese) eines Willens, eines Verstandes, einer Urteilskraft etc., kurz zu den abstrakten Seelenvermögen, die so lange in der Psychologie gegolten haben. Das Wollen z. B. zeigt sich bei aller Verschiedenheit seiner Stärke, Dauer, Stimmung etc.. doch immer in der gleichen Form des Hinstrebens auf einen Zweck, einen Gegenstand, und faßt man, wie dies bisher immer geschah, diese Form allein ins Auge, so muß man sich berechtigt glauben, bloß einen Willen vorauszusetzen. Daher sagt auch Herr GIESELER: "Bleibt denn eine Kraft darum nicht dieselbe Kraft, weil sie sich in ungleicher Fülle auf verschiedene Gegenstände richtet?" "Unser Bewußtsein sagt uns nichts von den unzähligen Urvermögen; es bekundet uns nur eine einheitliche Seelenkraft." Die letztere Behauptung ist ganz parallel der anderen: die Sinne sagen uns nichts von einer Bewegung der Erde, also bewegt sie sich nicht. Wirklich? "Und sie bewegt sich doch!" sagte GALILEI. Der Sinneneindruck hat hier Unrecht, und jene unmittelbare Ankündigung des Bewußtseins hat auch Unrecht. Warum richtet sich denn die angeblich eine Kraft zu verschiedenen Zeiten in so "ungleicher Fülle" auf verschiedene Gegenstände? Das muß doch seine Ursache haben, und über die Frage nach dieser Ursache gleichgültig hinweggehen, heißt das gründlich erforschen? Man könnte sagen: die stärkere und schwächere Anregung der Kraft ist Schuld, daß sie sich in verschiedener Mächtigkeit äußert, damit aber reichen wir, wie das Folgende zeigen wird, zur Erklärung der vorliegenden Tatsachen bei weitem nicht aus. - Die Behauptung eines Willens ist nur eine Hypothese, denn niemand hat den Willen jemals in der Hand gehabt, um ihn als einen anzuschauen; die Behauptung mehrerer Willen nebeneinander ist nicht weniger eine Hypothese, aber es fragt sich, mit welcher Hypothese wir die Tatsachen besser erklären. Wie nun, wenn bei ein und demselben Menschen mancher Wille aus mehr Spuren bestände, als dies bei seinen anderen Willen der Fall ist, würde sich jener dann nicht konstant mächtiger, in größerer "Fülle" äußern müssen, wie solche Äußerungen tatsächlich vorliegen? Und warum faßt denn der eine Verstand, den man zur Erklärung des Verstehens voraussetzt, so vieles nicht? Warum muß das Verständnis von etwas ganz Neuem immer besonders erworben werden, so viel Verstand auch sonst in jemandem schon da sein mag? Faßt denn der, der die alte Psychoogie versteht, ohne weiteres die neue? Solche Fragen kümmern freilich die Gegner der neuen Psychologie nicht, und sie berufen sich, wie auch Herr GIESELER in anderer Beziehung tut, auf die Sprache, die bei keinem Volk von mehreren Willen, Verständen, Urteilskräften etc. redet. SCHILLER, GOETHE, LESSING etc. würden, so schließt man, gewiß statt des Singulars "Wille" den Plural gesetzt haben, wenn sie mehr als einen Willen in sich gefunden hätten, und zum Finden waren solche Männer doch wohl nicht weniger geschickt, als BENEKE, der in den Augen so vieler als ein sehr kleines Licht neben jenen steht. Auch die heilige Schrift weiß nichts von vielen Willen. Freilich! Was folgt daraus? - "Es ist ein Hunger (eine Hungersnot) ins Land gekommen". Das heißt einer solchen Argumentationsweise gemäß: es hungert bloß ein Mensch, denn "Hunger" ist der Singular, und hinter diesem den Plural (viele hungernde Menschen) zu denken, wäre ja wider die Sprache. Folglich kann hinter dem Singular "Wille" keine Mehrheit von wollenden Vermögen stecken und die neue Psychologie gilt für widerlegt. Herr GIESELER vermag darum bloß zuzugeben, daß bei "objektiven Erscheinungen wohl manches im Widerstand gegen den gemeinen Menschenverstand (z. B. das Stillstehen der Sonne) sich behaupten" läßt, aber "doch wohl am wenigsten bei Tatsachen des subjektiven Lebens, weil hier ja gerade das Tiefste und Innerste dem wahrnehmenden Selbstbewußtsein am nächsten steht." Also das Tiefste und Innerste tut sich Herrn GIESELER kund; BENEKE leugnet eine solche Kundgebung, und so wird er wohl Unrecht haben. "Darum möchte" (fährt Herr GIESELER fort) "schwerlich für das neue System der Umstand sprechen, daß dasselbe mit dem Sprachgebrauch aller Völker" (die nur von drei Hauptmanifestationen des Seelenlebens: dem Erkennen, Fühlen und Begehren wissen) "im Widerspruch steht." Ganz dasselbe Argument, das man gegen KOPERNIKUS aufstellte! BENEKE lehrt bloß (und Herr GIESELER widerspricht ihm hierin nicht), daß wir das Geistige wahrnehmen, wie es ansich ist, nicht als bloße Erscheinung, auf welche wir bei den Sinneswahrnehmungen beschränkt sind; aber er läßt diese Ansichwahrnehmungen nur so weit gelten, als das Geistige wirklich bewußt wird, und weit ist er von der Meinung entfernt, daß ein psychischer Akt uns unmittelbar alles kund macht, was er enthält, z. B. die Anzahl seiner Spuren. Diese wirken, ohne doch ihre Einzelheit kund zu geben. Darum hält es BENEKE auch für unmöglich, die Wirksamkeit des Geistigen zu berechnen, wie HERBART versucht hat, und es ist eine grobe Unwahrheit, wenn man behauptet: "Nach dem naturwissenschaftlichen System ist das ganze Seelenleben ein Rechenexempel." Gar vieles, was in der Seele ist und wirkt, entzieht sich der speziellen Beobachtung; wir haben dann nur Schlüsse, die wir auf die uns bekannten Grundkräfte und Grundgesetze des Inneren bauen, mithin Schlüsse, die allerdings sicherer sind, als die auf Einbildungen gebauten Schlüsse der alten Psychologie; aber die Sicherheit des Rechnens schreibt der neuen Psychologie nur der zu, der sie entweder nicht kennt oder der sie verdächtigen, zu einem System des "Mechanismus" machen will. Unmittelbar nehmen wir z. B. nur die Stärkegrade und die qualitativen Verschiedenheiten bei den psychischen Akten wahr; wie diese, so treten auch jene als oft wechselnde bei ein und demselben Akt hervor, und wo wir diese Gradverschiedenheiten nicht als Folge zufällig stärkerer und schwächerer Anregung einer Kraft ansehen können, da müssen wir zu einer anderen Hypothese unsere Zuflucht nehmen. Dies macht sich nötig bei all den Akten, die fortwährend stärker als andere auftreten; hier bleibt uns nur die Annahme übrig: Jedes konstante Plus der Kraftäußerung ist bedingt durch ein Plus des Kraftseins, denn auch in der Seele wird niemals etwas beharrlich stärker durch Nichts. Wer klar denkt, kann sich in solchen Fällen dieser Hypothese und somit der Annahme vieler zu Spuren ausgebildeter einzelner Vermögen nicht entziehen. Ja ohne sie bleibt überhaupt alle Ausbildung der Seelenkräfte zu höherer Stärke unerklärbar. Der Einwand: "unser Bewußtsein sagt uns nichts von unzähligen Urvermögen", kann nicht gelten, weil uns dieses Bewußtsein von einem Seelenvermögen auch Nichts sagt. Darüber bald Näheres. Wem es freilich genügt, bei der Oberfläche der Ankündigungen stehen zu bleiben; wer also gewissermaßen das Äußerliche derselben zur Hauptsache macht: der braucht für das quantitativ Verschiedene im Seelenleben ebensowenig Erklärungsgründe, wie für das qualitativ Verschiedene; ein solcher kann aber alles sein und werden, nur kein Psychologe. Der Psychologe muß die Vorgänge von innen her konstruieren, nachdem er sie vorher einzeln aufgesucht und beobachtet hat; für alles Stärkere muß er eine stärkere Ursache, sei es der bloßen vorübergehenden Anregung oder des wachsenden sowie des bleibend stark gewordenen Seins, nachzuweisen bemüht sein; er darf nicht sagen: hinter die Ankündigungen zurückzugehen sei unnötig, nutzlos, wohl gar vermessen; der Versuch dazu muß ihm solange als Pflicht erscheinen, bis eine tiefere Erklärung entweder gelingt, oder sich als gänzlich unausführbar herausstellt. Folglich darf der Standpunkt bei der psychologischen Forschung kein so äußerlicher sein, daß er bloß die Region der unmittelbaren Ankündigungen überschauen läßt; er muß gleichsam im Innern der Seele genommen werden, damit auch die tiefer liegenden Ursachen zur Erkenntnis kommen, mag das Letztere zunächst auch nur durch Hypothesen geschehen können. In den meisten Zweigen der Wissenschaft von der äußeren Natur ist ja auch das Tiefste stets nur durch Denken, durch Hypothesenbildung, nicht durch unmittelbare Wahrnehmung gefunden worden, d. h. man hat es zunächst erraten, und als vollkommen richtig, als wahr, ist es erst dadurch festgestellt worden, daß es von den wahrgenommenen Tatsachen unaufhörlich bestätigt wurde. Man denke z. B. an die erst von NEWTON entdeckte gegenseitige Anziehungskraft der Himmelskörper. In der Wissenschaft von der menschlichen Seele kann der Weg zur Wahrheit nicht wesentlich ein anderer sein. Daraus erklärt sich zugleich, daß und warum dieser Weg bei allen Wissenschaften durch den Irrtum hindurchgeht, und warum manche Wahrheiten erst nach Jahrtausenden gefunden werden. - Kurz: der richtige Standpunkt bei der psychologischen Forschung charakterisiert sich dadurch, daß man bei den unmittelbaren Ankündigungen des Geistigen nicht stehen bleibt. Die großen Fortschritte, welche sämtliche Wissenschaften in neuerer Zeit gemacht haben, sind Ursache, daß der mangelhafte Zustand der bisherigen Psychologie drückend fühlbar geworden ist, und so ist vielseitig das Bedürfnis entstanden, ihr eine bessere Ausbildung zu geben. Auf dem bisherigen Forschungsweg kann dies nicht geschehen, und so handelt es sich darum, Zweierlei zu tun, nämlich
2) richtigere Hypothesen über ihre Erscheinungen zu bilden; denn jede aufmerksame Beobachtung lehrt, daß die überlieferten alten Hypothesen durchaus nicht genügen. Diese Sätze, die bei Herrn GIESELER nicht in dieser Aufeinanderfolge vorkommen, werden wir im Folgenden zum Teil noch in anderer Beziehung ins Auge zu fassen haben; hier sind sie bloß zu dem Zweck zusammengestellt, um die Fragen daran zu knüpfen: Bleibt Herr GIESELER sich gleich? Erlaubt er sich nicht selber, was er BENEKE als Fehler vorwirft? Spricht er nicht von sehr verschiedenen Kraftexistenzen in der Seele, die doch nur eine einheitliche Kraft sein soll? Wird also nicht auch von ihm "die Seelenkraft zersplittert?" Nicht nur führt er Verstand, Vernunft, Gedächtnis, Einbildungskraft als einzelne "wohl berechtigte Vermögen auf, sondern auch die verschiedenen Begriffe kann man, wie er zugesteht, willkürlich verbinden, trennen, unterordnen, woraus doch folgt, daß sie verschiedene gesonderte Existenzen sein müssen, sonst hielten sie ja für diese Operationen nicht stand. Gleich zu Anfang fragt er: "Was könnte realer für uns sein, als das Selbstbewußtsein mit seinem ganzen reichen Inhalt?" Ist ein reicher Seeleninhalt, fragen wir dagegen, ein zusammengeknetete Masse, oder ist es tausenderlei Einzelnes, das sich bestimmt unterscheidet, wie z. B. die Begriffe rot, weiß, blau, lang, eckig etc. sich konstant in uns unterscheiden, ja oft gleichzeitig nebeneinander bewußt werden, ohne sich zu vermengen? Im Schlaf, sagt er ferner, sind die Seelenkräfte immer noch vorhanden, obgleich sie ruhen, was auch ein Satz von BENEKE sein könnte, der aber zu den Argumenten des Herrn GIESELER paßt, wie die Faust aufs Auge, denn diese Argumente sollen der Seele nicht viele, sondern eine Kraft vindizieren. Und wenn so vieles, wie er behauptet, angeboren ist, so muß es vor aller Seelenentwicklung da sein, folglich ist die Seele schon bei der Geburt, also ursprünglich, ein zusammengesetztes Wesen. Wie reimt sich damit die Einheit, die unzersplitterte Einkräftigkeit derselben? Auch die schon bei kleinen Kindern bestimmt und fertig auftretenden Gemütsanlagen, die er annimmt, sind eine Mehrheit von Kraftexistenzen, wie sie in der Tat vorkommen, ohne nach unserer Ansicht angeboren zu sein, und er statuiert deren eine unendliche Mannigfaltigkeit, wenn auch wohl nicht in jedem einzelnen Kind, worüber er uns jedoch im Unklaren läßt. Zum Einssein paßt dies ebensowenig wie zum Verschwommensein. Ferner wird der freie Geist von der Seele unterschieden, mithin wieder eine Zweiheit statuiert, und diese Zweiheit ist noch bestimmter hervorgehoben in dem Satz, daß das Sittengesetz oder die objektive Norm es sei, nach welcher sich das subjektive Leben (also das Mannigfaltige) zu richten hat, indem die Fähigkeit, dies zu bewerkstelligen, als freier Wille dargestellt wird. Nun hieß es aber vorher: "ein Subjekt-Objekt ist ein Unding", was auch ganz richtig sein würde, wenn dabei an keine Zweiheit gedacht werden dürfte, denn wie die Eins für sich allein ewig nur Eins ist und bleibt, so auch das Subjekt für sich allein nur Subjekt. Wir müssen also den Verfasser entweder als den Verfechter eines Undings betrachten, oder er muß zugeben, daß er die "einheitliche" Seelenkraft zersplittert hat. Wollte Herr GIESELER konsequent sein, so müßte er die einheitliche Kraft als eine solche darstellen, die gleichsam Blitze wirft, wenn sie tätig wird, Blitze, die nicht fortdauern, sondern augenblicklich in Nichts verschwinden. Er statuiert aber nicht bloß ein aufbewahrendes Gedächtnis, sondern er bekennt sich auch zur Spurenlehre der neuen Psychologie, indem er sagt: "Dort" (in DRESSLERs Aufsatz in DIESTERWEGs Jahrbuch 1861) "ist namentlich die Wahrheit zur lebendigsten Anschauung gebracht, wie alle Eindrücke,, welche die Kindesseele jemals empfangen mag, ihre Spuren in ihr zurücklassen, welche, obwohl dem Bewußtsein entfallen und scheinbar verwischt, dennoch, direkt oder indirekt erregt, in allen späteren Kraftäußerungen der Seele mitwirken, in allen ihren Stimmungen mitklingen. Zu welcher Sorgfalt in der Aufsicht und Behandlung des Kindes fordert diese Wahrheit auf?" - Was später mitwirkt in den Kraftäußerungen der Seele, muß also, da in der Seele nichts weiter ist, als Kraft, fortexistiert haben als gesonderte, einzelne Kraft; viele Spuren geben natürlich viele Kräfte, und wie kann da alles, wie kann die Seele nur eine Kraft sein? Oder wie denkt sich Herr GIESELER die Spuren? Etwa als das Gegenteil der Kraft? Ich bitte, mir dieses Nichtkraftsein zu demonstrieren, falls die Spuren etwa so gedacht werden sollen. Und wie kann Herr GIESELER neben den Spuren noch von einer Gedächtniskraft reden? Das ist ja eine abermalige Inkonsequenz. Denn nehmen wir die Gedächtniskraft an, so ist die Spurenlehre überflüssig, und nehmen wir die letztere an, so ist jene ganz müßig. Durch jene und diese soll nichts weiter erklärt werden, als die Fortdauer des in der Seele entstandenen Einzelnen, und da brauchen wir kein Gedächtnis, wenn Spuren entstehen und fortdauern. Das sogenannte Gedächtnis sollte freilich, wie man von jeher meinte, nur die Vorstellungen aufbewahren; wie die Empfindungen, die Gefühle, die Begehrungen, die Willensakte, die Neigungen usw. fortdauern, ließ man ganz dahin gestellt sein; höchstens sprach man da von "Gewöhnungen", und man ließ sie anwachsen, ohne sich die Frage vorzulegen: wer hält sie fest? Die Spurenlehre hat dieser Inkonsequenz abgeholfen. Doch vielleicht tue ich Herrn GIESELER Unrecht, wenn ich den Ausdruck "Einheit" ("einheitlich"), wo er von ihm gebraucht wird, im Sinne von "Eins" nehme. Bekanntlich hat jenes Wort verschiedene Bedeutungen, indem es nicht bloß Eins (als Gegensatz des Vielen), sondern auch Verbundenheit des Vielen zu Einem, d. h. zu einem Ganzen (als Gegensatz des isolierten Einzelnen), sowie auch eine Zusammenstimmung oder Harmonie des Verschiedenen unter sich bedeutet. Man sagt: die Drei besteht aus drei Einheiten, und hier heißt Einheit soviel wie Eins. Man spricht von Einheit bei Leib und Seele, von Einheit bei Staat, Kirche und Schule, und meint damit nur Verbundenheit oder Vereinigung des Verschiedenen zu einem Ganzen. Man sagt: Gesinnung und Tat müssen Eins, d. h. in Einheit sein, Handlung, Ort und Zeit bei einem Theaterstück müssen Eins, d. h. in Einheit sein, Handlung, Ort und Zeit bei einem Theaterstück müssen möglichste Einheit haben, und damit meint man Zusammenstimmung, Harmonie. Und so noch in vielen anderen Fällen. Diese drei Bedeutungen zu verwischen, zu verwechseln, kann dem Schriftsteller nie gestattet sein; wo eine solche Vermischung und Verwechslung zu befürchten steht, hat er ihr dadurch vorzubeugen, daß er die Bedeutung, um die es sich jetzt handelt, entweder bestimmt angibt oder sie aus dem Zusammenhang der Rede deutlich hervorscheinen läßt. Gegen diese Pflicht verstößt Herr GIESELER fortwährend. Er sagt z. B.: "Die Sehweite der menschlichen Erkenntnis reicht nicht einmal bis zur Einheit beider Formen des Daseins" (des Leibes und der Seele), und doch sagt er auch: "Der Leib steht mit der Seele in einem gewissen Parallelismus". Beide Sätze widersprechen einander, aber wir akzeptieren die Einheit (Verbundenheit zu Einem), die mit dem Ausdruck "Parallelismus" angedeutet ist. Auch der einfachste Bauernverstand sieht ein, daß Leib und Seele zur Einheit, d. h. zu einem Ganzen verbunden sind, er weiß nur nicht, wie und wodurch. Ferner heißt: "Das Lebensprinzip kann nicht gefunden werden in der elementaren Zerteilung, sondern nur in der Einheit." Hier ist Einheit für Eins genommen, und wir haben vorher gesehen, daß der Verfasser nicht weniger das Seelenleben zerstückelt, als BENEKE, folglich trifft er mit diesem Tadel zugleich sich selbst. Hinzugefügt wird: "Wie es" (das Lebensprinzip) "an der Pflanze sich bekundet in der einheitlichen schöpferischen Idee, so in der Menschenseele im einheitlichen Bewußtsein." Hier kann, da Herr GIESELER dem Bewußtsein einen "so reichen Inhalt" zuschreibt, der Ausdruck "einheitliches Bewußtsein" nur einen Sinn geben, wenn er mit "zusammenstimmend" gleichbedeutend genommen wird, während der Verfasser offenbar, wie bei der einheitlichen (= Einen) schöpferischen Idee, an eine Eins denkt. Weiter! "Bei Beneke kann von einer Verstandeskraft, Willenskraft etc. daher auch von einem Verstand, Willen etc. als Einheit nicht die Rede sein." Hiermit wiederum schlägt der Verfasser sich selbst. Er hat die Seelenkraft zersplittert und behauptet auf der anderen Seite doch ihre Einheit. Warum soll BENEKE nicht dasselbe Recht haben? Wo der Letztere von einer Einheit des Psychischen redet, versteht er darunter immer Verbundenheit, Vereinigung des Einzelnen zu einem Ganzen und das hat Herr GIESELER auch beim Verhältnis von Leib und Seele getan. Endlich: "Die älteren Psychologen verkannten nicht, daß die Seelenkraft in ihrem unerforschlichen Ansichsein eine einheitliche wäre." Hier haben wir abermals Einheit gleich Eins. Mit der gerühmten Einsicht der älteren Psychologen steht es jedoch etwas mißlich, denn sie nehmen die Seelenkraft bald als eine einzige und einfache, bald als eine aus Teilen zusammengesetzte an, indem sie von mehreren Kräften der Seele sprechen, die sie aber insofern wieder vereinerleien, indem sie auch sagen, die eine Kraft wirke nur gleichzeitig nach verschiedenen Richtungen hin. Sie hatten eben noch nicht erkannt, sondern gänzlich "verkannt", daß: eine Seele sein, und: eine einkräftige Seele sein - zwei ganz verschiedene Begriffe sind, und sie bewegen sich daher gerade so in Widersprüchen, wie unser Verfasser. Er nennt hier die Seelenkraft in ihrem Ansichsein unerforschlich, was zu seinen Widersprüchen einen neuen hinzufügt, denn er hat früher gesagt: "Von den Objekten der Außenwelt wissen wir nicht, was sie ansich sind. Dies wissen wir allein von dem, was ein unmittelbares Bewußtsein uns als Wesenheit unserer eigenen Existenz kund tut, was uns daher ebenso gewiß ist, wie unsere Existenz selbst"; ja ausdrücklich stimmt er BENEKE bei, wo dieser sagt: "Stellen wir die Frage auf das Reale, so unterliegt es keinem Zweifel, daß wir ohne allen Vergleich besser wissen, was eine Seele, als was ein Körper ist." Wie kann das, wovon wir bei der Erforschung eine Ansicherkenntnis, also den höchsten Grad menschlicher Einsicht gewinnen, unerforschlich heißen? Erkennen wir die Wesenheit unserer eigenen Existenz, was wollen wir in Sachen der Psychologie mehr? Der Ausdruck einheitliche Seelenkraft - wird also wohl vertauscht werden müssen mit dem anderen: einheitliche Seele, denn nur mit dem letzteren stimmen die Auslassungen überein, die wir bis jetzt bei Herrn GIESELER gefunden haben. Einheit kann auch eine vielkräftige Seele besitzen in ähnlicher Art, wie den vielen Kräften des Leibes Einheit (= Vereinigung oder Verbundenheit des Vielen zu einem harmonischen Ganzen) zukommt, und will Herr GIESELER nicht, daß wir seine dunkle, hin- und herschwankende Rede eine gänzlich verworrene nennen sollen, so müssen wir seine einheitliche Seelenkraft im Sinne dieser Einheit nehmen. Soweit haben wir dann in ihm freilich einen vollkommenen Benekianer. Merwürdigerweise finden sich in seinem Aufsatz Stellen, die uns noch mehr als die bisher angeführten, berechtigen, ihn als einen Mann anzusehen, der BENEKE auch da in die Hände arbeitet, wo er ihn durch Gründe bestreitet, die noch triftiger für die Einheit im Sinne von Eins oder Einkräftigkeit sprechen sollen. Man höre! "Die älteren Psychologen unterschieden, dem bestimmt ausgesprochenen Postulat des Bewußtseins folgend, die drei Manifestationen des Seelenlebens: Erkennen, Fühlen und Wollen, als drei verschiedene Akte. Sie verkannten darum nicht, daß die Seelenkraft in ihrem unerforschlichen Ansichsein eine einheitliche ist. Jene dreifache Entfaltung derselben findet ja auch in der Natur, wenn deren Gesetze denn maßgebend sein sollen, ihre Analogien. Jede Kraft schlummert, bis sie in spannende Gegensätze eingeht - so der Galvanismus, Magnetismus usw. Warum sollte nicht auch die Seelenkraft in den rezeptiven, negativen Pol der Erkenntnis, in den hinausstrebenden, positiven Pol des Willens und in den beide Pole vermittelnden Äquator des Gefühls auseinandergehen? - Doch solche Analogien bedeuten wenig. Mehr schon solche, die der Leib darbietet. Möge derselbe nun als Organ oder gar als integrierender Teil der Seele angesehen werden: gewiß wird er mit derselben in einem gewissen Parallelismus stehen. Treten aber an ihm nicht selbst die äußeren Organe des Erkennens, Fühlens und Begehrens auf das Bestimmteste auseinander? Und wiederholt sich diese Dreiteilung nicht am innersten Träger der Lebensfunktionen, an den Sinnen-, Gefühls- und Bewegungsnerven?" - In der Tat eine merkwürdige Stelle, da es BENEKE nicht im Traum einfällt, irgendetwas aus den Gesetzen der äußeren Natur, wie der Verfasser doch hier wie überall annimmt, auf psychologischem Gebiet zu erklären. Alles Psychische erklärt BENEKE lediglich aus den Tatsachen des Selbstbewußtseins, aus der inneren Natur der Seele, und die hierzu erforderlichen Hypothesen entlehnt er nirgends aus der äußeren Natur; seine psychologische Naturwissenschaft ist eine ganz andere, als die Wissenschaften von der äußeren, materiellen Natur sind. Davon später. Hier fragen wir bloß: Folgt aus jenem Parallelismus die Einkräftigkeit der Seele? Sprechen die verschiedenen Nerven, die Herr GIESELER nennt, nicht zumindest für drei verschiedene Seelenkräfte, die sich angeblich an ihnen manifestieren? ist eine Seelenkraft eine Parallele zu drei leiblichen Existenzen und nicht vielmehr das gerade Gegenteil des Parallelismus? - Allerdings können Parallelen oder Analogien mit dem Körperlichen nichts beweisen, sonst würden wir dem Verfasser noch schlagendere für die Zusammengesetztheit der Seele vorführen, nämlich die vier Sinnesorgane: Auge, Ohr, Nase und Zunge, die so gesondert voneinander sind, daß aus ihnen bestimmt vier gänzlich verschiedene Seelenkräfte gefolgert werden müßten. Dabei würden wir freilich voraussetzen, daß der Verfasser uns zugäbe: die Seele ist es, welche sieht, hört, riecht und schmeckt, nicht lediglich der Körper mit seinen Organen, und wir zweifeln hier auch an seiner Beistimmung nicht, da er Tote gesehen hat, welche diese Funktionen nicht mehr zeigten - etwa weil die Organe nicht mehr da waren? nein, weil die Seele entflohen war. - Nach dem Verfasser "treten die äußeren Organe des Erkennens, Fühlens und Begehrens auf das Bestimmteste am Körper auseinander", aber ich muß gestehen, daß ich von besonderen Organen des Begehrens bisher weder an mir noch an Anderen etwas bemerkt habe. Nicht einmal den begehrlichen Magen kann ich ausschließlich als ein solches Organ ansehen, da er auch (beim Erbrechen) widerstrebt, beim Hunger fühlt, unverdauliche Stoffe durch Druck etc. empfindet; und wie die Augen das Licht begehren, so erkennen sie zugleich die Gegenstände und fühlen zu starke Eindrücke des Lichts. Bei den Ohren (von anderen Organen abgesehen) kommen die drei Vermögen ebenfalls vor. Genaueres weiter unten. Mithin ist es mit allen diesen Analogien nichts, schon darum nichts, weil wir zwei Augen und zwei Ohren haben, die für zwei psychische Sehkräfte neben zwei psychischen Hörkräften sprechen würden, während es scheinbar an je einer genug wäre. Auch lacht BENEKE zu allen solchen Erklärungsarten des Psychischen. Aber man sieht doch aus diesen Berufungen des Herrn GIESELER, daß er, ohne es zu bemerken, der Zusammengesetztheit der Seele das Wort redet, indem er für deren Einfachheit kämpft. Was ist denn eine "dreifache Entfaltung der einheitlichen Seelenkraft?" Ist letztere nach der Entfaltung noch etwas Einfaches? Kann sich ein Keim dreifach entfalten, wenn er absolut Eins ist und bleibt? Wahrscheinlich soll das alles nur bedeuten: die eine Kraft wirkt gleichzeitig nach drei verschiedenen Richtungen, wie man sonst sagte, was die strengen Verfechter der Seeleneinfachheit aber auch noch nicht zugeben, da nach ihrer Ansicht das, was wie ein gleichzeitiges Geschehen aussieht, immer nur eine mehr als blitzschnelle Aufeinanderfolge sein soll. Ob sich durch alle diese Hypothesen die so höchst verschiedenen Seelentätigkeiten erklären lassen, wird sich weiter unten zeigen. Genug: ein dunkles Gefühl von der Zusammengesetztheit der Seele zwickt und zwackt Herrn GIESELER überall so, daß er nolens volens [wohl oder übel - wp] mit ihr sympathisiert. Jetzt fragen wir: Sind diese Widersprüche zu verwundern? Durchaus nicht; sie sind auf dem alten Standpunkt der psychologischen Forschung unvermeidlich. Infolge der allgemein herrschenden Meinung, die Seele müsse eine Kraft sein und bleiben, weil man sonst dem Materialismus und Mechanismus nicht entgehen kann, bildet man sich steif und fest ein, daß man überall nur eine Kraft wahrnimmt. Aber was nimmt man wahr? Lauter einzelne verschiedene Akte, in denen Seelenkraft liegt, denn ohne Kraft sind Akte unmöglich. Daß diese Kraft eine ist, nimmt man durchaus nicht wahr, sondern man denkt es nur hinzu trotz der Tatsache, daß diese Kraft im Laufe des Lebens wächst, also durch ihr allmähliches Mehrwerden für eine Zunahme an Elementen spricht. Konsequent zu denken ist auf dem Gebiet der alten Psychologie nicht einheimisch, sonst müßten jene beiden Tatsachen etwas ganz anderes lehren, man müßte einzelne Kräfte in den einzelnen Akten finden und müßte dem Selbstbewußtsein gemäß sagen: sie sind zu einem innigen unzertrennlichen Ganzen vereinigt. Diejenige Einheit in der Seele, die allein zu den einzelnen Kräften wie zugleich zu deren Verbundenheit paßt, wäre dann erkannt. Aber Tatsachen und Hypothesen in eine konsequente Zusammenstimmung zu bringen, so daß sie sich gegenseitig decken, ist man noch immer durch die tiefverwurzelten Vorurteile der bisherigen Psychologie gehindert, ganz in derselben Art, wie die Zeitgenossen des KOPERNIKUS durch tiefverwurzelte Vorurteile unfähig gemacht waren, das Richtige in Sachen der Astronomie zu erkennen, so daß selbst ein MELANCHTHON von denselben beherrscht blieb. Das kann erst nach und nach besser werden dadurch, daß man schärfer beobachtet und so jenen Vorurteilen allmählich die blendende Macht nimmt. Zu diesen Vorurteilen gehört es auch, daß nur das Einfache immateriell sein kann, während doch das einfache Gold, das einfache Silber etc. materiell ist. Doch hierüber jetzt nichts weiter; wir sprechen im Folgenden über den Materialismus, den man BENEKE vorwirft, noch besonders. Wenn nun Herr GIESELER mit Recht sagt: "Die Kräfte des Menschen sind überhaupt nur zeitweise tätig, und im Schlaf ruhen sie ganz: sind sie darum nicht vorhanden?" so hat er nicht bedacht, daß er sich in einen handgreiflichen Widerspruch mit sich selbst verwickelt. Nicht nur setzt er einzelne Kräfte, sondern er läßt sie im Wachen zeitweise tätig sein, was eine vereinzelte Tätigkeit derselben involviert, denn "nur im Schlaf" (im tiefen, traumlosen) "ruhen sie ganz." Vorhanden bleiben sie immer, aber da sie, wie die Erfahrung bestätigt, nicht alle zugleich tätig sein können, so sind sie eben einzeln oder auch in kleineren Gruppen tätig, was auch ein Glück ist, denn wir müßten ins Irrenhaus wandern, wenn der tausendfache Seeleninhalt auf einmal ins Bewußtsein träte. Auch liegt wohl zutage, daß nur dasjenige einzeln tätig sein kann, was einzeln ist. Das alles lehrt nun BENEKE genauso, und Herr GIESELER will uns weiß machen: BENEKE sei ein Psychologe, der Ungereimtheiten vorträgt? Huldigt Herr GIESELER nicht denselben "Ungereimtheiten"? Wenn das kein Selbstwiderspruch ist, so gibt es keinen. Hiermit könnte ich die Feder aus der Hand legen, denn mehr zur Verteidigung BENEKEs Herrn GIESELER gegenüber zu sagen, ist eigentlich unnötig, da die Wahrheit des ganzen neuen Systems zugestanden ist, wenn Herr GIESELER in diesen Sätzen mit BENEKE zusammenstimmt, und diese Zusammenstimmung liegt vor. Ich setze aber, wie ich gleich Anfangs erklärte, diese Erörterungen fort, weil jene Zusammenstimmung eine sehr unfreiwillige ist, und weil ich mich freue, daß mir noch andere Einwendungen des Herrn GIESELER Gelegenheit bieten, einmal in größerem Umfang die immer wiederkehrenden Schmähungen zu beleuchten, die man sich gegen die naturwissenschaftliche Psychologie und ihren Urheber erlaubt. Herrn GIESELER gehört noch zu den ruhigeren und bescheideneren Gegnern BENEKEs, andere machen es viel schlimmer (2). Herr GIESELER läßt sich weiterhin so vernehmen: "Wenn jeder Mensch nach Beneke Tausende von Verstandeskräften, Willensvermögen etc. hätte, so müßte man demgemäß auch sagen, der Mensch habe Tausende von Sehkräften, Hörkräften, Riechkräften etc., weil er das eine besser sieht, hört, als das andere, auch für manche Gerüche empfänglicher ist, als für andere. Aber bleibt denn eine Kraft darum nicht dieselbe Kraft, weil sie sich in ungleicher Fülle auf verschiedene Gegenstände richtet? - Beneke nimmt auch hier an, daß jene Kräfte erst in und mit den psychischen Gebilden entstehen, was ganz mit der oben erörterten Zersplitterung der Subjektivität gleichbedeutend ist. Dieselben Einwendungen wie dortI bieten sich auch hier an. Ist den nich schon zur Hervorbringung jener psychischen Gebilde Kraft nötig? Muß diese ihnen also nicht vorausgehen? Diese kann nicht in gesonderten, für jedes derselben gleichsam prädestinierten Urvermögen gegeben sein, da wir uns bewußt sein, daß bei allen ein und dieselbe Kraft in willkürlicher Anspannung tätig ist." - Diese Stelle beweist, daß Herr GIESELER BENEKE bestreitet, ohne ihn zu kennen, und daß er auch das Wenige, was er von ihm kennt, sich selber durch falsche Auffassungen zu Ungereimtheiten stempelt. BENEKE lehrt überall, daß die Gebilde Vermögen voraussetzen, weil aus Nichts Nichts wird, und er hat die Quelle der immer von Neuem zuströmenden Vermögen, wenn die früheren verbracht, d. h. zu Spuren ausgebildet sind, nachgewiesen. Da diese "Urvermögen" - nicht bloß die angeborenen, sondern auch die später auftretenden müssen diesen Namen führen, da sie jenen in ihren Leistungen ganz gleich stehen - bloße Vermögen oder Anlagen bleiben müßten, wenn sie keine Entwicklung erfahren würden, so ist gesorgt, daß eine solche Entwicklung nicht fehlen kann. Ihre erste Entwicklung empfangen sie von außen her durch äußere Eindrücke (Reize); durch diese werden sie in der Regel vervollkommnet, gekräftigt und dauern nun als gekräftigte Vermögen oder als Kräfte (Spuren) fort, während sie vorher bloß die Keime der Kraft waren. Diese Spuren oder Angelegenheiten sind demnach aus zwei Elementen zusammengesetzt: aus Vermögen und Reiz, denn kein Reiz oder Eindruck kann für sich allein in der Seele bestehen. Da die Urvermögen von Natur geistige Vermögen sind, so führen sie eben zur Erzeugung dessen, was wir Geist in einem engeren Sinn des Wortes nennen (zum Verstehen, Urteilen etc., zu sittlichen Gefühlen, Grundsätzen etc.), und da sie zugleich für äußere Eindrücke, unter Beihilfe der Sinnesorgane, empfänglich sind, da sie ferner diesen Eindrücken nicht mit mehr oder weniger Lebendigkeit zustreben, so führen sie andererseits den Namen: sinnliche Vermögen und ihre volle Benennung ist daher: geistig-sinnliche Urvermögen - Das und nichts anderes ist BENEKEs Lehre, wie sie in allen seinen Schriften dargestellt ist und von der Erfahrung überall bestätigt wird. Man sperre ein Kind bald nach der Geburt ein, füttere es, daß es am Leben bleibt und körperlich wächst, dabei aber weder etwas zu sehen noch zu hören bekommt, und man wird bald finden, ob die Anlagen (die Urvermögen) sich zu Kräften ausbilden werden oder nicht. KASPAR HAUSER (wie viele andere) haben an ihrem Beispiel die Nichtausbildung aufgezeigt. Und wenn Blindgeborene in späteren Jahren operiert werden und zum Sehen gelangen, was sehen sie denn anfangs? So gut wie Nichts, obgleich sie bereits zum Bewußtsein in anderen Kräften entwickelt sind. Wir haben auch hiervor mehrere Beispiele, worunter der von CHESELDEN operierte Blinde, der zwanzig Jahre alt war, das berühmteste ist. Wenn die Seele des Menschen bloß eine Kraft wäre, warum tut sie dann nicht sofort ihre Schuldigkeit, sobald sie für die Eindrücke zugänglich gemacht worden ist? Die infolge eines grauen Stars Blindgeborenen mußten alle, wie die Kinder, sehr allmählich nach der Operation sehen lernen, und sie lernten es, wodurch? Durch allmähliche Spurenbildung. Die fertigen Spuren kamen als Kräfte den gleichen Eindrücken entgegen, und der Fortschritt im vollkommenen Sehen hielt gleichen Schritt mit der Vermehrung der Spuren. Der Mensch ist daher nicht sehend geschaffen, wie Herr GIESELER behauptet, sondern zum Sehenlernen; nur zu diesem bringt er die Anlage oder, wie Herr GIESELER sich ausdrückt, die ruhende Kraft mit. Erst durch Entwicklung wird sie die sehende Kraft, wie sie der Erwachsenen besitzt, und es ist daher natürlich, daß, wie das Kind, so auch der Blindgeborene "sich seines Sehvermögens nicht bewußt ist." Das wirkliche Sehen des Menschen ist stets ein mehr oder weniger bewußtes, und daß das hier auftretende Bewußtsein aus den Sehvermögen selbst, nicht aus irgendeiner anderen Quelle stammt, beweisen die sehend gewordenen Blindgeborenen sonnenklar. Jedes einzelne Urvermögen des Gesichtssinnes nimmt einen einzigen Eindruck oder Reiz auf; dieser bildet sich mit ihm zusammen, die Anlage des Vermögens zur Bewußtwerdung erhebt sich zum wirklichen Bewußtsein. Könnte durch das erste so ausgebildete Vermögen bereits ein eigentliches Sehen zustande kommen, so würde die Behauptung richtig sein: der Mensch ist sehend geschaffen; aber erst Hunderte und Tausende von hinzuerregten fertigen Spuren steigern bei jedem einzelnen Akt das elementare Bewußtsein zu einem starken Bewußtsein, und wie im Gesichtssinn, so verhält es sich auch mit dem Gehörssinn. Nur so wird begreiflich, warum überhaupt das Bewußtsein wächst und immer nur für das Einzelne, was wir auffassen, wächst; nur so erklärt sich, warum das Bewußtsein des Übrigen, was durch Entwicklung bereits gewonnen ist, sich pausierend verhält und nicht störend und verwirrend in das jetzt zu Entwickelnde eingreift. Eine Kraft müßte ihren "reichen Inhalt" gleichzeitig bewußt machen, wenn sie überhaupt bewußt wird, und das geschieht nie. Bei den Blödsinnigen (den Kretinen) entsteht kein klares Bewußtsein, und manche dieser Unglücklichen bleiben noch hinter den Tieren in dieser Beziehung zurück. Gleichwohl wirken auf sie dieselben Eindrücke, wie auf die geistig gesunde Seele, ein, und daraus ist zu folgern, daß der Quell des Bewußtseins nur in der Eigenschaft der Urvermögen liegen kann, die wir Kräftigkeit (Festhaltungsfähigkeit) nennen. Das Wesen des angeborenen Blödsinns besteht darin, daß diese Kräftigkeit oder Energie fehlt, und darum fehlt eben die Entstehung wie namentlich die Fortdauer des etwa augenblicklich entstandenen Bewußtseins. Aus demselben Grund gelangen auch die Tiere zu keinem klaren, zu keinem menschlichen Bewußtsein, obgleich auch sie im Ganzen dieselben äußeren Eindrücke erfahren, wie der Mensch. Ja selbst die niederen Kräfte unserer Seele (die niederen Sinne) bewahren kein vollkommenes, klares Bewußtsein, so daß sie eine Fortbildung zulassen, wie die beiden höheren Sinne, warum? eben weil sie niedere und darum unkräftigere sind, als die höheren. Sie können im Augenblick der Erregung sehr stark bewußt werden, aber dieses Bewußtsein erhält und reproduziert sich sehr wenig; nur die daneben bewußt gewesenen höheren Kräfte (die innerlich fortgebildeten) bewahren die eigentliche Erinnerung an diese starke Erregung ihrer Nachbarkräfte. Manche Urvermögen werden durch unangemessene Eindrücke geschwächt, und wir erlangen dadurch Schwächegebilde, die so gut fortdauern, wie die Stärkegebildet (davon später). Gäbe es nun bloß eine Kraft, Seele genannt, so wäre diese hierdurch (weil teilweise geschwächt) teilweise zur Unkraft oder kraftlos geworden, und da ließe sich nicht einsehen, wie sie ein solches Zwitterwesen ertragen oder nur zulassen kann. Jeden Abend fühlt sich, wie der Körper, so auch die Seele ermüdet, während sie doch, bei angemessener Erregung durch das Äußere, den Tag über stärker geworden ist. Nach einem gesunden Schlaf aber ist das Schwächegefühl dem Gefühl der Gestärktheit gewichen, weil sich neue Urvermögen angebildet haben, welche zuvörderst die Erregung der Spren vermitteln. Ohne diese Erregung fühlen wir uns eben schwach, weil nur in den Spuren die eigentliche Kraft liegt, die wir ohne Erregung nicht empfinden. Die Verwendung der Urvermögen kann also auch eine innere sein, wie zugleich ein sehr beträchtlicher Teil derselben im Laufe des Tages durch die Ausbildung von außen her die Spurenanzahl vermehrt. Woraus die neuen Urvermögen werden, hat BENEKE nachgewiesen durch einen Schluß, welcher genau von den Tatsachen diktiert ist, also durch eine Hypothese, die niemand bisher mit einer vernünftigeren hat vertauschen können, wie vor ihm niemand eine bessere, sachgemäßere aufgestellt hat. Man sehe hierüber sein "Lehrbuch" § 335f. Aber das alles soll nicht wahr sein, "da wir uns bewußt sind, daß bei allen Akten ein und dieselbe Kraft in willkürlicher Anspannung tätig ist." Was von diesem Bewußtsein zu halten ist, haben wir bereits gesehen; wir sind uns nur bewußt, daß die Seele eine, in allen ihren Tätigkeiten sich selbst angehörende, nicht in mehrere Seelen zersplitterte ist, weil ihre Vermögen eine unzertrennliche Einheit (Verbundenheit oder Vereinigung zu einem Ganzen) ausmachen. Nur so begreift sich, warum der entwickelte "Mensch das Eine besser sieht, hört etc., als das andere"; er hat eben "Tausende von Sehkräften, Hörkräften, Riechkräften etc.", und nur daraus resultiert die "ungleiche Fülle" von Kraft, die sich bei den einzelnen Seelenakten täglich und stündlich manifestiert. Ehe wir weiter gehen, sei nur noch ein vorläufiges Wort gesagt über die Frage: hat BENEKE diese seine Theorie von der Entstehung und Fortbildung des Bewußtseins aus der äußeren, materiellen Natur geschöpft, wie Herr GIESELER dies in Betreff seiner ganzen Seelenkunde behauptet? Lächerlich! Die ganze äußere Natur mit ihren Kräften und Gesetzen hat keine einzige Erscheinung, welche dieser Theorie zur Stütze dienen könnte. Die Außenwelt entwickelt sich, aber nirgends gelangt sie zu Bewußtsein. Selbst die Kräfte, welche den menschlichen Seelenkräften am nächsten stehen: die Seelenkräfte der edleren Tiere - liefern keine entsprechende Parallele; auch können wir ihr Inneres ebensowenig durch die Sinne wahrnehmen, wie unser eigenes durch das Auge, Ohr etc. Die Tierseelen zeigen nirgends ein menschliches Bewußtsein, dessen Wachstum und Ausbildung für das Einzelne ein unbegrenztes ist. Und BENEKE soll auf diejenigen Naturwissenschaften bauen, die sich mit der äußeren Natur beschäftigen? Hier, wo Nichts für seine psychologische Theorie zu finden ist, hier soll er diese Theorie gesucht und gefunden haben? Diese Ungereimtheit steckt nur in den Köpfen seiner Gegner, die nicht wissen, was BENEKE gelehrt hat. Nur aus den Tatsachen des Selbstbewußtseins konnte BENEKE seine Theorie abnehmen, und man findet darum bei ihm keine einzige Zeile, wo er das Psychische aus dem Materiellen ableitet, selbst da nicht, wo er die Wechselwirkung zwischen der Innen- und Außenwelt bespricht. Nur zur Erläuterung, niemals zum Beweis führt er manchmal Beispiele aus der äußeren Natur an. So wenn er sagt: die Annahme, immer sei die Seele als ein und dieselbe einzige Kraft tätig, ist um nichts besser, als die Behauptung, es sei die ganze Anziehungskraft der Erde tätig, wenn sie in Europa und Amerika einen emporgeworfenen Stein wieder herabzieht, und wir könnten als ähnliches Erläuterungsbeispiel hinzufügen: sind die Kräfte, die bei Leipzig eine Eiche wachsen machen, dieselben, welche eine Eiche bei Breslau oder sonstwo emportreiben? Gewiß nicht. Und doch kann damit nicht behauptet sein, daß diese Kräfte aller Einheit entbehren, daß sie total zersplitterte, zerstückelte Kräfte sind, denn sie stehen sicher in einem inneren Zusammenhang, den zu erklären wir Menschen freilich zu schwach sind. Ob die Gegner BENEKEs allesamt so viel Bildung besitzen, daß sie den Unterschied zwischen "erläutern" und "beweisen" fassen können, müssen wir dahingestellt sein lassen; genug, daß die psychischen Tatsachen als einzelne nur einzelne Kräfte voraussetzen.
1) Damit auch diejenigen, die GIESELERs Aufsatz nicht gelesen haben, meine Entgegnung vollkommen verstehen können, zitiere ich im Folgenden das Nötige aus jenem Aufsatz möglichst vollständig; meine Replik wird hierdurch erreichen, daß sie sich wie eine selbständige Schrift lesen läßt. - Aus BENEKEs Werken brauche ich wenig wörtlich zu zitieren. Wer sich von der richtigen Wiedergabe dessen, was ich als BENEKEs Lehrsätze aufstelle, überzeugen will, tut am besten, zu diesen Werken selbst zu greifen. Wer in das Innere (das Selbstbewußtsein) zu blicken versteht, hat auch das nicht nötig, denn BENEKE lehrt nicht, was nicht im menschlichen Selbstbewußtsein begründet läge. Sein "Lehrbuch der Psychologie als Naturwissenschaft", von welchem soeben die dritte, von mir neu bearbeitete Auflage erschienen ist, kann zu einem vollständigen Überblick der neuen Psychologie mit Grund empfohlen werden. 2) "Benekes Psychologie halten wir einer fruchttragenden Einwirkung auf die Pädagogik wohl für fähig, fürchten jedoch, daß seine metaphysischen Irrtümer, namentlich seine Ansicht von der Seele, die nach ihm, um einem hegelschen Ausdruck zu gebrauchen, ein mechanisches Objekt ist, d. h. ein Aggregat, ein Haufen von Urvermögen (die ihr auch später noch anfliegen, man weiß nicht, woher sie kommen) und die Meinung, daß die Dinge ineinander übergehen (nach welcher die Welt zuletzt ohne Zweifel wieder ins Chaos hingeraten würde), sehr viele abhalten wird, sich mit seinem System zu befreunden." - So urteil ein Herbartianer in Nr. 12 der "Berliner Blätter für Schule und Erziehung" (1861), hg. von BONNELL, FÜRBRINGER und THILO. Ich komme darauf noch zurück. Für jetzt will ich nur sagen, daß mir der Rezensent sehr konsequent zu urteilen scheint, denn ohne Zweifel hat er Rind-, Schöpfen- [vom Schaf - wp] und Schweinefleisch gegessen, und diese Dinge sind in ihn übergegangen, so daß sie ihn ernährt haben. Die Welt seines Verstandes ist ihm dadurch ebenso ins Chaos geraten, wie wahrscheinlich die Welt seines Leibes. Nur nach der Logik eines chaotischen Verstandes folgt, daß man die Jugend pädagogisch nach einer Theorie bilden kann, welche die Seele als eine Maschine dargestellt hat, und fruchttragend kann dieses System auf die Pädagogik einwirken, ohne daß man sich mit ihm zu befreunden vermag. Wer kann sich auch mit einer Maschinentheorie anfreunden, die ganz unberechtigt, weil verkehrt ist? und doch zwingt sie zu der Anerkennung, daß sie fruchttragend (im guten Sinne des Wortes) wirkt! Da lobe ich mir die metaphysische Weisheit der Herbartianer, sie bildet die Urteilskraft der Menschen ganz anders zur Klarheit aus. |